Читать книгу CUBANO PANKOW - Bernd- Andreas Ulke - Страница 4
2 Das Haus mit dem Kartoffelladen.
ОглавлениеIm Dezember 1987 liegt der Ostberliner Bezirk Pankow unter einer dicken Schneeschicht begraben. Zumindest tun die Menschen in ihrer dicken Winterkluft schwer daran, sich durch das Gestöber zu bewegen, und gewiss ist auch so manche Nase dabei ganz rot vor Kälte.
An dem Abend, an dem die Geschichte tatsächlich beginnt, ist das Sternenzelt bereits in der früh einsetzenden Dämmerung über den eingeschneiten Ziegeldächern hoher Altbauten sichtbar. Antennen ragen dort in die Höhe, rauchende Schornsteine.
Was der Schnee nicht bedeckt, wirkt grau und dunkel. Die wenigen frei geräumten Straßen, die Häuserwände. Es riecht nach verbrannter Kohle der vielen Ofenheizungen.
Aber von Tristesse kann im Norden der größten Stadt der Republik keine Rede sein.
Immerhin funkelt das Licht nur so aus den Wohnungen. Und in der Dussekestraße, im Haus mit dem Kartoffelladen, ganz unten, aus dem Souterrain, könnte man meinen, da scheint durch die beschlagene, wellige Scheibe das Licht so golden und warm auf den Gehsteig, dass eigentlich der Schnee von dort wegtauen müsste.
Das sind die Kubaner im Souterrain, das weiß in der Dusekestraße jedes Kind.
Der Kachelofen im Wohnzimmer trotzt der eisigen Außenwelt und heizt die kleine Wohnung, die halb unter Tage liegt, gut ein. Dazu gibt es ein paar exotische Rhythmen vom Band. Das Kubanische Mädchen sitzt zwar in seinem Zimmer allein am Fenster und sieht nach draußen.
Doch in der Küche brutzelt es, und Martin, der Lehrer wird auch bald kommen, wovon vor allem die Mutter sehr angetan ist und beim Kochen bereits vor sich hin summt.
Helena Casera, das Mädchen mit der seidig braunen Haut, freut sich über die gute Stimmung in ihrem bescheidenen Heim, welches sich halb unter der Erdoberfläche befindet, und vor allem freut es sich über den Schnee. Helena kann davon nicht genug bekommen. Als vor ein paar Tagen die ersten Flocken vom Himmel fielen, da war sie sofort hinaus gerannt auf die Straße. Sie berührte den Schnee zunächst ganz vorsichtig und ließ sich dann mit geschlossenen Augen die Flocken aufs Gesicht rieseln. Später hatte sie etwas Schnee mit in ihr Zimmer genommen und in einem Glas beim Schmelzen beobachtet. Sie hatte noch am gleichen Abend in der Dunkelheit Schneemänner gebaut, war sogar barfuss vor der Tür gewesen. Sie wollte eben alles Erdenkliche ausprobieren mit ihrem geliebten Schnee, auf den sie über fünfzehn Jahre lang warten musste, der nun alles bedeckte und versöhnte und ihr endgültig das Gefühl gab, in der neuen Heimat angekommen zu sein.
Eine kleine Odyssee hatte sie gewiss hinter sich gebracht seit ihrer Ankunft im Spätsommer.
Sie hat Alleen gesehen mit Kopfsteinpflaster und hohen, dichten Baumkronen. Hochhäuser, Hinterhöfe und voll besetzte U- Bahnzüge, Kinder in Uniform, Gänge mit Linoleum, Menschen, die sie anstarren, höflich sind aber bestimmt, Menschen hinter Schreibtischen, neben Kaffeemaschinen, Warenhäuser, Gummistiefel, dreieckige Milch. Sie hat mitbekommen, wie die Blätter braun wurden, von den Bäumen fielen und ihre Mutter einen Freund gefunden hat. Wie die neue Sprache sich in ihrem Geiste manifestiert und sie manchmal gar im Schlaf begleitet. Helena Casera hat oft auf ihrem Fenstersims halb unter Tage gesessen und auf den Gehweg gestarrt, die Schuhe vorbei schreitender Leute beobachtet und es wie Kino gefunden. Sie hat Stunden verbracht, die einsam waren, voller Wehmut und Sehnsucht, gleichwohl in Akzeptanz, dass dies wohl Beiwerk sei des Anbeginns eines neuen Lebens.
Weil sie das Gute in den Menschen sehen kann, ist sie stets tapfer geblieben und hat sich auf jeden nächsten Tag gefreut. Helena Casera hat gespürt, dass da draußen etwas ist.
Etwas, das den Weg ganz allein zu ihr finden wird, wenn sie nur offen ist, wachsam bleibt und der Mut sie nicht verlässt.
Dieses Etwas kam in Form von weißen, flinken Turnschuhen, die täglich an ihrem Fenster vorbeihuschen, die Stufen des Hauseinganges mit einem einzigen gesprungenen Schritt nehmen und schließlich ganz oben, in der letzten Wohnung unter dem Dach des alten Hauses ankommen, dort gewiss lässig in die Ecke gekickt werden.
Die weißen Turnschuhe gehören Eduard Brink.
Er wohnt dort oben, zusammen mit seinem älteren Bruder und der Oma.
Eduard ist der tollste Junge überhaupt. Das sagt man über ihn auch in der Schule.
Das kubanische Mädchen mit der seidig braunen Haut macht sich aber lieber ihr eigenes Bild vom Leben. Da passt es ganz gut, dass sie zwar noch nie mit ihm gesprochen, aber zumindest schon mal seine Schuhe kennen gelernt hat.
Als Martin, der Freund der Mutter, halb untertage ankommt, mit seiner eleganten Hornbrille, hochgeschlagenem Jackettkragen und einer Flasche Wein, als er und die Mutter sich in die Arme fallen und sich beide riesig auf den Abend freuen, der Lehrer schon sein Jackett ablegt, das Essen auf dem Herd inspiziert und nach einem Flaschenöffner fragt, als sich die beiden das erste Mal wundern, wo die Helena eigentlich ist, warum sie den Gast nicht begrüßt, da kommt diese plötzlich durch die Wohnung gefegt, rennt den Martin beinahe um und eilt ins Treppenhaus. Dieser glaubt noch, gesehen zu haben, dass sie keine Hausschuhe anhatte, sondern auf Strümpfen hinausgerannt ist.
Helena Casera kommt sodann völlig außer Atem, in einem Kleid für das sie sich eigentlich schämen möchte und es deshalb nur Zuhause trägt, auf Strümpfen auf dem obersten Treppenabsatz an. Der Duft von Weihnachtsgebäck war ihr auf dem rasenden Weg die knarrenden Stufen nach oben begegnet, ebenso die hohlen Klänge einer Blockflöte.
Aber vor der unscheinbaren Tür, der sie allzu ehrfürchtig gegenübersteht, herrscht in ihrem Kopf ein einziges Gedankengewusel um den Jungen Eduard. Erst jetzt fragt sie sich, wie es zu dieser Kurzschlusshandlung kam. Schließlich hatte sie Wochen auf eine Zusammenkunft mit Eduard gewartet, ohne dass sie je stattgefunden hatte. Warum nun also diese Eile? Sie kann keine Antwort finden und drückt auch schon den Klingelknopf an der letzten Wohnung unterm Dach des alten Hauses. Da kommt ihr plötzlich dieser irrsinnige Gedanke. Über diese irrsinnige Geschichte, die selbstverständlich auch sie und ihre Mutter erreicht hatte, spätestens seitdem sie im Souterrain richtig eingezogen waren.
Es spukt im leeren Kartoffelladen.
Sie hat dieses Thema bisher gut verdrängen können. Sicherlich gibt sie eh nicht viel auf solches Gerede. Aber in direkter Nachbarschaft zu einer solchen Herberge zu wohnen, über die in der gesamten Gegend gesprochen wird, ist dann auch nicht immer einfach. Helena erinnert sich jetzt plötzlich an den netten Mann vom Kreisamt, der sogar den Hut gelupft hatte vor ihr und ihrer Mutter, wie er aufgeatmet hatte, wie kühl es doch im Souterrain im Sommer sei, als sie dort gemeinsam hineinkamen.
„Dit is aber schön kühl hier unten. Dit ist aber anjenehm.“, hatte er gesagt. Und trotzdem hatte er es ganz eilig gehabt, die beiden dort allein zu lassen, wollte man meinen.
„Besser als im Wohnheim. Die eigenen vier Wände.“, ließ der Mann die Damen abschließend noch wissen und klang nicht gerade sehr überzeugt dabei.
Und bei dem Hoffest am Ende des Sommers, fällt es Helena nun ein, da hatten die aus der Nachbarschaft noch draußen gesessen, in der tiefsten Nacht, mit einer Decke über dem Schoß. Alle waren versammelt. Nur nicht die Brinks. Da wurde das Thema wieder mal aufgegriffen. Es wurde zwar viel dabei gekichert. Aber so manch ältere Dame beispielsweise hatte ganz ernst, ganz ehrfürchtig genickt im Schein des Grillfeuers.
Helena konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht so viel verstehen. Aber sie wusste ganz genau- es geht um den Kartoffelladen.
Nun, da sie jetzt bei genau der Familie vor der Tür steht, die diesem unheimlichen Laden näher stehen muss wie kein anderer, heißt es doch, dass Eduards Eltern vor ihrem Tode diesen Laden führten und nun noch ihr Unwesen dort treiben, ist ihr für einen Moment ganz mulmig.
Das lange Warten auf ein Öffnen, anschließend das Knarren der Wohnungstür, dass sich diese auch nur einen dunklen Spalt breit öffnet, machen die Sache nicht besser.
Mit ihren großen Augen blickt sie aufgeregt auf den Spalt und ist dabei schnell wieder in der alten euphorischen Aufgeregtheit, den Jungen Eduard nun von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. Doch ist es nur die Oma, von der die junge Kubanerin da ganz verdattert angesehen wird.
„Ach… die neue Nachbarin.“, sagt die greise Stimme, erfreut aber auch ein bisschen verwundert.
„Guten Abend, Frau Brink.“, sagt Helena mit ihrem Akzent, der immer wie französisch klingt und grinst breit vor Überzeugung.
„Isch möschte zu Eduard.“
„Eduard? …Aber der Eduard ist gar nicht da.“
Helena ist verdutzt.
„Aber, er ist gekommen gerade.“
Die greise Dame wendet sich ungläubig dem Inneren der Wohnung zu, ein Prozess so schleichend als wäre die Zeit angehalten, Tippelschritte und das Abstützen am Türrahmen, und Helena spürt derweil das Bedürfnis, einfach wegzulaufen. Als würde ihr Leben in eine andere Bahn gelenkt, wenn sie bleiben würde, als erführe es eine Wendung mit unabsehbaren Folgen. Dieser Instinkt, dieser Animus, ruft ein nervöses, gleichwohl verheißungsvolles Kribbeln in ihr hervor. Helena Casera steht da wie angewurzelt und kann sich ein frohes Grinsen nicht verkneifen.
Kurz darauf sitzen die beiden im Wohnzimmer gemeinsam am Tisch. Niemand sagt etwas. Die Oma rührt in ihrer Teetasse herum. Eine goldene Uhr mit einem Drehpendel, eine Uhr, die das kubanische Mädchen noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen hat, tickt laut auf der Anrichte. Die Vorhänge sind zugezogen, obwohl es draußen noch nicht einmal ganz finster ist. Nur eine Stehlampe leuchtet, taucht das Zimmer in ein schummeriges Licht.
Es spukt im leeren Kartoffellladen.
Helena räuspert sich.
Sie muss die alte Dame nach Eduard fragen. Die muss doch etwas wissen. Oder steckt sie mit ihm unter einer Decke? Ist er sogar hier oben und gibt sich nicht zu erkennen? Aber warum? Und wenn er nicht hier oben ist, wo ist er dann? Sie hatte ihn doch ins Haus kommen sehen.
Helena will sich jetzt nicht vorhalten, wie seltsam das alles anmutet. Ebenso wenig wie den Umstand, dass sie auf Strümpfen hierher gekommen ist, in diese unheimliche Wohnung von ganz fremden Leuten und von der mysteriösen alten Damen direkt zu Tisch gebeten wurde, als sei dies vielleicht nur ein Ablenkungsmanöver. Schnell denkt sie an Kuba, wie sie es in undefinierbaren Situationen in ihrer neuen Heimat oft tut. In Kuba ist man ständig überall und bei jedem, fällt es ihr ein. Da spielt es meist auch keine Rolle, wie man da angezogen ist, und man ist im Prinzip immer willkommen. Sie spürt umgehend Trost bei diesem Gedanken und trinkt nun auch endlich einen Schluck aus der Teetasse, die ihr von der Oma gereicht worden war, lächelt dankbar dabei. Doch die greise Dame isst eine Stulle mit Pflaumenmus und erwidert das Lächeln nicht. Sie stiert sie nur an mit ihren starren Augen, diesen starren blauen Augen.
Die Tasse scheppert ein wenig als Helena sie auf dem Untersatz abstellt. Sie muss es jetzt wissen. Was wird hier gespielt?
„Wo ist der Eduard denn also?“
„Eduard? Ist er nicht in seinem Zimmer?“
Die Kubanerin eilt in den Korridor. Erst ist er nicht zu Hause, jetzt vielleicht doch in seinem Zimmer, denkt sie. Die alte Dame will einen also für dumm verkaufen.
Eben diese alte Dame, die so senil ist, wie sie eigentlich auch aussieht, ruft noch ganz verdattert hinterher mit ihrer zittrigen Stimme.
„Weißt du denn wo es ist, Kind?! Das erste Zimmer rechts!“
Helena eilt mit Tunnelblick auf dieses Zimmer zu, sieht im Flur gerade noch eine Bildergalerie an der bunten Tapete. Der dicke Bruder Benny, der Eduard so gar nicht ähnlich sieht, ist dort verewigt, die Eltern, mit bauschigen Frisuren, in kunterbunter Kleidung, zufrieden lächelnd. Ein unheimliches Lächeln in Anbetracht der Tatsache, dass sie tot sind, befindet Helena noch in ihrer Rage. Auch Eduard glaubt sie auf einem feschen Portrait gesehen zu haben. Aber dafür bleibt jetzt keine Zeit. Schon hat sie die Klinke ergriffen und schiebt die Tür auf.
In ein dunkles Zimmer.
Jetzt ist alles egal, nur noch das Licht anknipsen, geklopft hatte sie eh nicht in ihrem Wahn.
Nichts. Ein leeres Zimmer mit gelben Tapeten und einem flauschigen Teppich. Ein Bett, das wie frisch gemacht aussieht, völlig unbenutzt. So ein unscheinbares Zimmer. Hier soll der Eduard wohnen? Sie wagt sich einen Schritt hinein. Dann noch einen. Irgendetwas muss doch auf diesen fantastischen Jungen hindeuten.
Da. Am Schrank hängt ein Hemd auf einem Bügel. Ein ganz tolles, ausgefallenes Hemd. Es glitzert regelrecht im Schein der Deckenlampe. Helena ist beruhigt. Denn nur Eduard würde ein solches Hemd tragen. Langsam füllt sich der Raum mit Leben. Da sind noch die Pinnwand über dem Schreibtisch und ein peppiger Schuhkarton unter dem Bett. Und auch ein paar kleine Gewichte zum Trainieren. Ganz beklemmt vor Begeisterung schreitet die junge Kubanerin zuerst auf die Pinnwand zu. Sofort springt ihr ein Bild ins Auge. Eine Schwarzweißfotografie von einem hübschen Mädchen. Mit stark angemalten Augen und wilden Haarsträhnen im Gesicht. Nein. Kein Mädchen. Es ist Eduard. Helena ist erschrocken und fasziniert zugleich. Denn obwohl wie ein Mädchen, sieht er immer noch wie der selbstbewusste, kesse Eduard aus. Sie geht noch näher an das Bild heran, als eine Stimme hinter ihr sie erschrecken lässt.
„Und?“
Die Oma steht im Türrahmen. Ganz apathisch. Oder nein, eher ganz traurig, denkt Helena und schüttelt zaghaft den Kopf.
„Nein, Frau Brink. Hier niemand ist weiter.“
„Er ist eigentlich nie da. Ich bin hier fast immer ganz allein. Manchmal bringt er den Einkauf und dann sehe ich ihn erst am nächsten Tag wieder. Nur der Benny kümmert sich ein bisschen um mich. Manchmal sehen wir zusammen fern. Wenn er keine Nachtschicht hat. Benny ist bei der Polizei. ...Bei der Volkspolizei.“, sagt die Oma und nickt überzeugt.
Die junge Kubanerin sieht die greise Dame eine Weile fragend an mit ihren großen Augen.
„Aber wo ist Eduard?“
„Er ist nicht da.“
Die Antwort kam prompt und klang verzweifelt, fast protestierend, sie klang ehrlich und echt,
und Helena glaubt nun nicht mehr, dass die Oma falsches Spiel spielt.
Ein paar Schuhe schreiten am Fenster im Souterrain vorbei. Helena ist mit ihnen praktisch auf Augenhöhe. Sie kann Winterstiefel erkennen und auch Bommeln daran, die durch die Schrittfolge wild hin und her tanzen. Als der Bildausschnitt vor ihren Augen wieder zu einer bloßen Kulisse erstarrt, fällt das schummerig gelbe Licht der Straßenlaternen stur auf ihr Gesicht. Einer dieser aus Beton gegossenen Lichtmasten steht schräg vor ihrem Fenster, streckt sich aus ihrer Perspektive gewaltig in die Höhe.
Durch die beschlagende Scheibe blickt die junge Kubanerin gedankenversunken auf die mausgraue Hauswand eines Nachkriegsbaus auf der gegenüberliegenden Seite. Ein Bürogebäude, das zu einem so genannten Volkseigenen Betrieb gehört, zur Tageszeit erfüllt ist mit Licht und Leben hinter dicht gewebten Gardinen, jetzt mit toten Fenstern der Nacht überlassen.
Autos, mit Namen wie Trabant, Lada oder Wartburg, reihen sich dort drüben aneinander, Farbflecken, wässerig und fad.
Helena hat sich an den für ihre neue Heimat so repräsentativen Ausblick längst gewöhnt.
Hat ihn sogar mögen gelernt und interpretiert stets eine verklärte Romantik in ihn hinein.
Auch jetzt erkennt sie trotz ihrer Müdigkeit, dass der Schnee nicht nur die Wege und die Straße bedeckt. Er liegt wie Zuckerwatte auch auf den Fensterbrettern, Autodächern und den schwarzen Ästen der Bäume. Draußen scheint der Herzmuskel des Lebens knirschend im Eis stehen geblieben, doch verstecken sich irgendwo Vögel zusammengekuschelt in ihren Nestern, freut sich ein Arbeiter nach einer langen Schicht auf die geheizte Wohnstube, auf die Familie, auf Tee und Kekse.
Ein quietschender Wisch über die Scheibe. Doch diese hat von außen bereits eine dünne Eisschicht angesetzt. Etliche Minuten und genau drei Paar Schuhe später wird Helena durch sanfte karibische Töne aus ihrer Lethargie geholt. Es sind die typischen Salsa Klänge ihrer Heimat, die da von nebenan aus dem Wohnzimmer dringen.
Eine klare Vorstellung zeichnet sich vor Helenas regem Geiste ab: Martin, der Lehrer, mit einer Zigarette im Mund, gerade eine Weinflasche öffnend, ihre Mutter, ihn dabei fröhlich beobachtend, ebenfalls rauchend, in ihrem Hemd, das aussieht wie Wildleder, lässig im Schneidersitz an den Ofen gelehnt.
Die beiden wären ihr sicherlich nicht böse, würde sie sich jetzt noch ein wenig zu ihnen gesellen. Aber sie möchte sie lieber allein lassen.
So geht sie ins Badezimmer und widmet sich einer Zeremonie, die sie ganz allein für sich entdeckt hat, mit der sie sich so manchen Abend schon für ihre unermüdliche Aufgeschlossenheit ihrem neuen Leben gegenüber belohnt hat. Sie öffnet den Hahn der Badewanne, das Wasser poltert los, im Boiler flammt es mit einem dumpfen Fauchen auf, und schon bald duftet es nach Schaum. Helena taucht sobald ein, ins heiße, wohlwollende Nass, ist von riesigen Schaumhügeln umgeben.
Minuten später poltert das Wasser noch immer lautstark in den Korpus der Wanne, da sind Helenas Lider schon sehr schwer. Eine große Uhr hängt an der Wand mit alten Kacheln, von denen sich die eine oder andere schon gelöst hat. Das Gehäuse beschlägt. Der große Zeiger dahinter macht einen weiteren Satz in Richtung Nacht.
Draußen diese klirrende Kälte, das heiße Bad hier unten, im goldenen Schein.
Helena ist noch einmal ganz selig und dankbar bevor sie einschläft. Den Geschmack des neuen Lebens auf der Zunge, die Heimat im Herzen, so angenehm und spannend hatte sie sich das neue Leben vor wenigen Monaten nicht vorstellen können.
Der Boiler flammt noch mal auf, der große schwarze Boiler, wie ein guter Geist wacht er über das schlafende Mädchen im Korpus der Wanne. Das Wasser läuft in den Überlauf, fließt durch das kleine Gitter in die verborgene Welt dahinter. Es rauscht die Rohre hinab, schräg nach unten, fließt dann wieder fast eben durch ein Rohr, welches in den Speicher unterhalb des Kartoffellladens führt und dort entlang der Decke verläuft.
Der Junge Eduard schaut in diesem Moment kurz zu dem Plätschern hinauf. Dann widmet er sich wieder voll und ganz seiner Lektüre. Ein Plattenspieler dudelt dort, wo der Junge Eduard gerade ist, leise vor sich hin. Kerzen flackern. Eine Stehlampe, ein kleiner Gasheizer. Ausgemustertes Mobiliar erweckt den Anschein einer wohnlichen Einrichtung. Bücher und lose Schriften sind überall in diesem seltsamen unterirdischen Ort verteilt. Technische Zeichnungen hängen an der Wand, Lagepläne, Fotos vom Grenzstreifen. Eine antike Truhe steht am Ende des Raumes, fast im Dunkeln verborgen. Der alte Speicher unter dem Kartoffelladen gleicht einer mysteriösen Kommandozentrale. Zumindest aber wurde er zu einem geheimen Rückzugspunkt umfunktioniert.
Eduard klappt das Buch zu. Er muss daran denken, wie er damals als Kind unter der Bettdecke Comics aus dem Westen gelesen hatte. Während die Luft immer stickiger wurde, folgte er gebannt mit einer Taschenlampe Superhelden auf bunten Seiten, war ganz und gar eins mit der Geschichte.
Auch jetzt, im Speicher unter dem Kartoffelladen, ist er wieder mal in seine eigene geheimnisvolle Welt abgetaucht. Von der Außenwelt abgeschirmt widmet er sich nicht nur seinen Träumen, sondern lässt sie sozusagen auf dem Reißbrett und mit mutigem Kalkül Schritt für Schritt Wirklichkeit werden. Wenn er für sein waghalsiges Unterfangen eine zündelnde Idee hat, dann meist hier unten. Er nimmt sich während der Aufenthalte in seinem Versteck aber Zeit, sich auch mal in bloßen heroischen Fantasien zu weiden, stolz auf das bisher Geleistete zurückzublicken oder schwärmend zu studieren, wie die Superhelden des richtigen Lebens aussehen.
Eduard sitzt mit geschlossenen Augen da, das Buch noch zusammengeklappt in seinen Händen haltend. Er sieht einen glühenden Heißluftballon durch den finsteren Nachthimmel schweben, einen, der minuziös, von langer Hand geplant und im Verborgenen konstruiert wurde. Von Menschen, die einen Traum verfolgten und ihn umsetzten.
Den Traum, aus der Umschließung in die Freiheit zu entkommen.
Ehrfürchtig liest der Junge noch einmal den Stempel auf dem Einband des Buches:
Leihgabe. Amerikanische Gedenkbibliothek. Blücherplatz 1, 1000 Berlin 61
Westberlin.
Danke, Derrick, denkt Eduard und ist zufrieden angeregt. Er sieht auf seine Uhr.
Es wird Zeit, gleich eine kleine Maskerade zu vollziehen. „Wir wollen doch den grauen Männern keine Gelegenheit bieten, die Tauben beim gemeinsamen Turteln zu erwischen, wohlmöglich noch, ein paar hübsche Aufnahmen von uns zu machen. Und wie ich dich kenne, Derrick, wirst du aus dem Staunen nicht mehr rauskommen.“
Eduard durchfährt ein freudiges Prickeln, so etwas Hochmut und Aufregung in einem. Er sieht rüber zur geheimnisvollen Truhe.
Über deren Schloss befindet sich das Antlitz eines hämisch grinsenden Clowns. Den Schlüssel dazu, der das gleiche Motiv trägt, hat Eduard stets an einem weit gefassten Lederband um den Hals zu hängen. Er verbindet seine beiden Welten miteinander, glaubt er. Die alltägliche und die verborgene, in der er sich jetzt gerade befindet, in die er immer dann abtaucht, wenn er an seinem umfangreichen, höchst brisanten Projekt arbeitet.
Er nimmt einen Schluck aus einer Goldkroneflasche, setzt die Nadel von der Schallplatte und schaltet ein kleines Radio an. Eine junge Männerstimme singt gerade einen Vers, im Hintergrund agieren Rhythmen, die gut zu der verborgenen Welt passen, so fremd sind sie, so magisch, pulsierend und belebend.
„…Habt Mut, seid stark und seid bereit
die Mauer fällt im Kopf, bald ist´ s soweit
alles eine Frage nur der Zeit“
Eduard dreht sogleich lauter, ein kleines, gut kalkuliertes Stück. Dann schreitet er, sich leicht zu den Wogen der Musik bewegend, zu der Truhe hinüber, nimmt das Band mit dem Schlüssel ab und schließt auf. Er sieht einen Moment nach unten auf den Schatz, der sich ihm aus dem Innern der Truhe offenbart, tanzt dann wieder zur Musik, dreht sich einmal um die eigene Achse. Jetzt zaubert er aus der Truhe ein Kleidungsstück hervor, bewegt sich sodann wie ein Tänzer passend zur Musik durch den niedrigen Raum, schleift das Kleidungsstück dabei hinter sich her. Er schlüpft in eine glitzernde Bluse, in Stiefel mit Absätzen, seine dunkelblonden Haare verschwinden unter einer dunkel schimmernden Langhaarperücke, er benutzt Lippenstift, Rouge, Mascara, betrachtet sich sodann zufrieden im staubigen Spiegel.
Seine Stimme klingt nun femininer, melodiöser.
„Jean- Claude, … mein geliebter Mentor. Du solltest stolz auf mich sein.“
Dieses exotische Wesen, welches dort unten bei Kerzenschein und skurriler Musik sein geschminktes Gesicht bewundert, die Lippen schürzt, die Perücke zurechtrückt und hier und da etwas an der Kleidung richtet, ist nicht etwa ein Transvestit, eine gute Laune der Natur.
Es ist einfach nur Eduard. Nur dass der jetzt eben wie ein Mädchen aussieht. Und er weiß, dass ihn so, vermutlich nicht mal sein eigener Bruder erkennen würde.
Noch ein ordentlicher Schluck aus der Goldkrone Flasche, ein paar Spritzer West- Parfum, die Verwandlung komplett, geht es durch das Kellerlabyrinth, unter vielen Häuserblöcken entlang.
Eduard ist stolz auf sein Versteck. Der Speicher unter dem verwaisten Kartoffelladen, ist kaum jemandem bekannt, und um den unheimlichen Laden wird meist ein großer Bogen gemacht.
Perfekt.
Der Junge, der jetzt wie ein Mädchen aussieht, nimmt einen kleinen Draht zur Hand.
Wenn man den Dreh raus hat, die Verbindungstüren zu öffnen weiß, scheint die Verschachtelung endlos, strecken sich die katakombenartigen Gänge wie Flussadern aus unter dem Pankower Straßenland. Ein Verschlag reiht sich dabei an den nächsten, oft nur gefüllt mit Kohlebriketts, manchmal aber auch mit uralten Relikten. Vieles ist abgedeckt und erscheint in furchteinflössender Silhouette. Eduard weiß sogar, wo ein völlig eingestaubtes Klavier steht, wo Likörflaschen und längst abgelaufener russischer Kaviar eingelagert sind, wo sich eine Puppensammlung befindet und der alte Luftschutzbunker. Dort unten scheint die Zeit stehen geblieben, in dieser eigenen unterirdischen Welt, in der man tapfer sein muss, im Dunkeln, nur mit einer kleinen Taschenlampe bewaffnet, in der man sich zu orientieren wissen muss. Die Stiefel schreiten unbeirrt ihren Weg, und einen Häuserblock entfernt der Dusekestraße, vom Haus mit dem Kartoffelladen, hinterlassen die femininen Schritte, kurz darauf Spuren im Schnee.
Es ist still da draußen und schneit unaufhörlich. Kein Mensch ist zu sehen. Eduard hört, wie seine Schritte den Schnee unter ihm zusammenpressen. Er kann seinen Atem sehen, der in der freudigen Erregung etwas scherfälliger ist. Wenn jetzt irgendwelche Klassenkameraden an der Bushaltestelle stünden oder später im Bus noch dazu stiegen, sein Herz würde gewiss laut pochen. Aber er würde gelassen bleiben. Ganz abgekartet wäre sein Spiel, an dessen Ende sie nicht mehr wüssten, wo hinten und vorn ist.
An der Haltestelle steht nur ein älterer Mann, dick eingepackt, Fellmütze, eine Tasche, aus der eine Thermoskanne hervorlugt. Wohl ein Arbeiter auf dem Weg zur Nachtschicht. Eduard zündet sich eine Zigarette an und ist ganz mit seiner Rolle eins geworden.
Als der Bus weinige Minuten später über die Schneedecke an die Haltestelle schleicht, öffnen die Türen mit einem Zischen und schließen sich einen Augenblick später ebenso. Der Bus fährt an und bewegt sich durch die düsteren Nebenstraßen vor zur großen Schönhauser Allee.
Am Horizont ist dort schon der Fernsehturm zu erkennen, an dessen Fuße ein Modedesigner aus Westberlin mit interessanten Neuigkeiten wartet.
Als es schon wieder fast hell ist in der Dusekestraße, patrouilliert ein Lada der Volkspolizei über das Kopfsteinpflaster. Der junge Uniformierte am Steuer ist auf einer seiner ersten Streifenfahrten. Er ist ganz schön müde, hat er doch die halbe Nacht in einem Jugendtreff Kassetten gespielt, dabei alle Register gezogen, mit krachenden Gitarrenriffs und Breakdance das Publikum ganz schön zum Ausflippen gebracht.
Trotz der verantwortungsvollen Aufgabe, jungen Leuten die internationale Popkultur näher zu bringen, fühlt er sich dem Staatsdienst ungemein verpflichtet und ist mit Freude dabei, hat somit an diesem Morgen trotz Ohrensausen und einem leichten Kater schnell wieder ins dienstliche Geschehen gefunden.
„Regler voll hoch, Frequenzweiche, und dann nur so mama se- mama sa und so, die ganze Zeit astrein melodisch, voller gewaltiger Rhythmen, verstehen Sie!?“
Der junge Polizist heißt Maik Michalski.
Und er erwartet von seinem Vorgesetzten keine Reaktion.
Stolz lächelt er mit seinen Sommersprossen, als er den Streifenwagen vorsichtig über das vereiste Kopfsteinpflaster manövriert, das gesäumt ist von matten Farbtupfern, den Autos, die entlang der Straße geparkt sind, noch zugedeckt mit Schnee, bezeichnend, hat an diesem Samstag Morgen anscheinend noch kaum jemand die kuschelige Behausung verlassen.
An den Laternen hängen Eiszapfen, schimmern in der aufgehenden Sonne.
Maik ist frohen Mutes. An Pankow liebt er das Verwunschene, stets Verschlafene, die vielen grauen Altbauten, die von einem langen, außergewöhnlichen Leben erzählen, während ihnen hier und da der dunkel gewordene Putz abbröckelt.
Eines der Häuser ragt besonders geheimnisvoll und düster empor. Als sei es das Zentrum einer Märchenstadt, malt sich der frisch gebackene Uniformträger gerade tagträumerisch aus.
Zu schade, findet er es, dass seine Arbeit häufig allzu trocken daher kommt. Ein aufgebrochener Keller hier, ein Verkehrsunfall ohne Verletzte da. Es sind die nicht alltäglichen Dinge, die für ihn den besonderen Reiz ausmachen. Ein paar außergewöhnliche Geschichten aber hat er in seiner kurzen Amtszeit immerhin schon erlebt. Die alte Frau Marschner aus der Krusemarkstraße beispielsweise, die regelmäßig auf der Wache anruft und fragt, wann wieder Fliegeralarm ist. Der Geisterfahrer auf der Prenzlauer Allee, der volltrunken, wild hupend die entgegenkommenden Fahrer bepöbelte. Oder der Fall Paule Brenner, der Pensionär unter den Geldschrankknackern, der am Tatort ergriffen wurde, weil die Nachtwache im Altenheim ihn als vermisst meldete.
Die Vielzahl mysteriöser Ereignisse, wie sie in Pankow gerade in beispielloser Weise von statten gehen, sind da sozusagen ganz nach seinem Geschmack.
Bewusst steuert Maik das Haus mit dem Kartoffelladen an, fährt immer langsamer, als sie in dessen Nähe kommen. Er brennt nur so darauf, mehr über das sagenumwobene Haus zu erfahren und rechnet fest damit, dass sein Vorgesetzter, der auch im Fahrzeug seine schwere Fellmütze aufhat, ganz von selbst ein paar interessante Bemerkungen darüber machen wird.
Maik Michalski, mit feuerrotem Haar und kindlichem Gesicht, an dessen drahtigem Körper die Uniform wie anderthalb Nummern zu groß sitzt, ist direkt etwas aufgeregt, als er die gruselige Fassade zu seiner Linken erspäht, muss aber breit schmunzeln, als er den Hauptmann sogleich losbrabbeln hört.
„Halt mal an. Dieses Haus hier musst du dir merken. Dusekestraße 29. Das ist das Haus mit dem Kartoffelladen.“ Maik bremst langsam ab und betrachtet alles ganz genau.
Kartoffeln und Eier steht über der verschmutzten Schaufensterscheibe. Olle Fliesen neben der verrammelten Eingangstür sind das Resultat sozialistischer Behelfssanierung.
„Wir hatten damals diverse Einsätze hier. Besorgte Anwohner meldeten des Nachtens unheimliche Lichtstrahlen hinter der Scheibe des Ladens. Dazu ging auch noch das Gerücht um, die letzten Betreiber, das Ehepaar Brink, die sind damals bei einem Autounfall ums Leben gekommen, würde noch immer dort ihr Unwesen treiben. Da war die Legende endgültig geboren.
Tatsächlich konnten wir aber nie etwas feststellen, was uns dienlich gewesen wäre. Das ist eben nur ein eingestaubter Laden. Na ja. Die Leute sind wohl etwas gutgläubig hier oder haben Spaß an diesen Schauermärchen. …Obwohl, seltsam ist das Haus allemal. Oben in der letzten Wohnung unterm Dach. Da wohnt noch die alte Großmutter Brink mit den beiden Enkelsöhnen. Der ältere der beiden ist übrigens der dicke Benny Brink aus der 2. Dienstschicht. Der will davon nichts hören. Das geht ihm sicher alles sehr nahe, auch nach all den Jahren. Aber der Jüngere, das ist so ein Verrückter. Mit angemalten Augen. Der ist schon eigenartig. Dann die Ereignisse in der Nachbarschaft. Diese Plakate mit den bunten Figuren aus dem Westfernsehen, diesen...“
„Mainzelmännchen.“
„Richtig. Und dann ist da natürlich der Piratensender. Regelrechte Sabotage ist das.“
Beim Wort „Piratensender“ horcht Maik nervös auf. Im Jugendclub schwärmen alle nur so von diesem illegalen Radio, das angeblich alle paar Wochen einen neuen geheimen Stützpunkt bezieht, um den Messtrupps der Sicherheitsorgane nicht ins Netz zu gehen. Möglichst hoch oben gelegen seien diese Orte. Wie Storchennester. Um günstig die Antenne platzieren zu können.
So verbreiten die Macher ihre politischen Parolen ganz vogelfrei über den Äther, beschwören den Fall der Mauer, den Untergang des Systems. Sie kämpfen für Freiheit, propagieren Zusammenhalt unter allen Andersdenkenden, der mutigen Bevölkerung, der die Welt gehört, wie sie es ausdrücken. Sylvester soll es eine große geheime Party geben, zu der nur ausgewählte Personen Zugang haben. Maik hat davon Wind bekommen, weiß sogar, wo das Ereignis abgehalten werden soll. Aber statt sich auf Arbeit Karrierechancen zu verschaffen und diese wertvolle Information zu melden, überlegt er, tatsächlich selbst dort hinzugehen. Zu verlockend ist diese versteckte Welt. Und wenn sie sich als unhaltbar verboten entpuppen sollte, mit seiner Vorstellung von Moral und Gerechtigkeit nicht mehr vereinbar wäre, dann bliebe ihm ja immer noch die Möglichkeit, seines Amtes zu walten oder die Sache einfach nur hinter sich zu lassen. Jetzt aber schaut er auf das berüchtigte Haus.
Was mag dort vor sich gehen?
„Entschuldigen Sie die Frage, Herr Hauptmann. Aber was sollen die Plakate und der Piratensender mit diesem Haus zu tun haben?“
„Instinkt, junger Genosse… Intuition. Du wirst das noch lernen. Der gute Beamte prüft den Sachverhalt zunächst nach objektiven Fakten. Was ist passiert? Wann ist es passiert? Wer hat was gesehen? Und so weiter. Dazu kommen Berufs- und Lebenserfahrung, um alles vernünftig einzuordnen. Aber auch das gewisse Etwas, das einen guten Schutzmann auszeichnet- sein Instinkt. Wie dem auch sei. Dieses Haus ist seltsam und immer für etwas gut. Die Plakate tauchten im Übrigen zuerst in dieser Gegend auf.“
Der Hauptmann erkennt, dass ganz oben in der letzten Wohnung unterm Dach, von greisen Händen die Gardine zur Seite genommen wird.
„Fahr mal weiter.“
Maik fährt los und blickt noch schnell auf den Platz neben dem Haus. Dort gibt es eine kleine Grünanlage, eine Litfasssäule, eine Bank und eine Telefonzelle. Irgendwie fühlt sich Maik an eine Filmkulisse erinnert.
„Das ist noch nicht alles.“, setzt der Hauptmann fort. „Seit dem Sommer wohnen im Souterrain des Hauses Kubaner drin. Ein farbiges Mädchen und ihre weiße Mutter. …Weiß sag ich, ganz bleich ist sie.“
„Richtig unheimlich. Vielleicht zelebrieren die da unten irgendwelche exotischen Bräuche, kochen Wurzeln, tanzen sich in Rage. Voodoo!“, sagt Maik fasziniert.
„Das sind die Kubaner im Souterrain.“, ergänzt der Hauptmann ganz hochtrabend.
Maik sieht seinen Vorgesetzten an.
„Glauben Sie, dass an den Spukgeschichten nicht doch was dran sein könnte? Vielleicht liegt das gar nicht am Laden. Vielleicht ist es wirklich das Haus, so wie sie es sagen. Es übt eine Art Magie aus. Auf die Leute. Auf die Gegend. … Sonderbare Ereignisse.“
„Ich habe von Instinkt geredet, junger Genosse, um nicht zu sagen vom kriminalistischen Instinkt. Nicht von Magie.“
Der Hauptmann überlegt. Dann schreit er plötzlich auf.
„Pass doch auf!“
Ein mit einer Familie voll besetzter Trabant kommt von rechts aus einer kleinen Straße angefahren. Maik reißt im letzten Moment auf dem schlüpfrigen Kopfsteinpflaster das Lenkrad rum. Der Streifenwagen kommt ins schlingern, dreht sich auf der kleinen Kreuzung und prallt schließlich gegen den Bordstein, bleibt entgegen der Fahrtrichtung stehen.
Der Motor hat versagt. Maik würgt den Zündschlüssel, doch der Motor stottert nur.
„Genosse Mischalski.“
An diesem ruhigen, eingeschneiten Samstagvormittag bildet sich plötzlich eine Menschentraube um den grüngrauen Streifenwagen. Die Familie aus dem Trabant, eine ältere Frau mit prall gefüllten Einkaufsbeuteln, ein Betrunkener, der gerade vom Frühschoppen gekommen ist, weitere Schaulustige. Wie aus dem nichts tauchen sie auf. Ein regelrechter Querschnitt der Bevölkerung versammelt sich da neugierig um das Fahrzeug, dessen Scheiben schon ganz beschlagen sind.
In dessen Innern herrscht hektisches Treiben. Maik ist ganz warm in seinem dicken Uniformmantel. Er gibt alles, aber der Motor stottert und stottert nur.
„Genosse Mischalski.“, ruft der Vorgesetzte fordernd. „Genosse Mischalski!“
„Maik! Mein Name ist Maik. Und dieser gottverdammte Wagen …springt einfach nicht an!“
„Mischalski… rüberrutschen!“
„Jawohl!“
Der Hauptmann steigt aus und blickt mit seiner aufgedunsenen Visage, die überwiegend aus einer dicken Hornbrille und ebenso dicken Koteletten besteht, in die vielen neugierige Gesichter. Er schreitet aufrecht, die Leute etwas abfällig musternd, um das Fahrzeug zur Fahrertür, wobei ihm eifrig Platz gemacht wird, rutscht auf der spiegelglatten Straße aus, kann sich gerade noch am Türgriff festhalten. Steigt ein, schiebt sich rasch auf den Fahrersitz, schmeißt die Tür hinter sich zu, würgt den Zündschlüssel. Wieder und immer wieder.
„Ja das ist unsere Volkspolizei… die Pioniere in der Not!“, ruft der Betrunkene leicht lallend aber voller Überzeugung.
Die alte Frau mit den Stoffbeuteln meldet sich aus den hinteren Reihen:
„Vielleicht hilft anschieben.“
Dann heult der Motor schließlich auf. Der Hauptmann gibt ordentlich Gas im Leerlauf.
Vor der Windschutzscheibe überquert eine imposante Erscheinung die Straße. Ein sehr hübsches, aber, wie Maik findet, auch sonderbares, geheimnisvolles Mädchen, das ungefähr so alt ist wie er selbst. Es wirft Maik mit seinen grünen Augen noch einen aufmerksamen Blick zu. Dann verschwindet es aus dem Blickfeld des Polizisten mit den Sommersprossen, so plötzlich wie es vor ihm aufgestaucht war. Der Wagen braust los, Maik ist noch immer ganz verzückt.
Als sie in eine andere Straße abbiegen, sieht er das Mädchen wieder, gerade noch bevor es in einen Hauseingang verschwindet.
„Du musst noch viel lernen, Genosse Mischalski, du musst noch viel, lernen.“, tadelt der Hauptmann.
Der grüngraue Lada entfernt sich immer weiter vom Ort der ominösen Ereignisse.
Die Sonne ist den blauen Himmel schon ein ganzes Stück weiter hinaufgestiegen.
An der Dachkante des Hauses mit dem Kartoffelladen glitzern die Eiszapfen nur so vor der düsteren Fassade.
Hinter zugezogenen Gardinen, dort oben, direkt unter dem alten Ziegeldach, endet die Nacht erst jetzt und mit größter Zuversicht.
Das Schicksal wird bald eine gravierende Wendung nehmen.
Letzte Reste von Make-up verschwinden auf einem Taschentuch im Papierkorb, während draußen am Fenster ein schwerer Tropfen von der Rinne einen langen Weg zu Boden fällt, auf das Tretoir direkt vor dem Souterrain.
Das kubanische Mädchen räkelt sich wunderschön aus dem Bett, erblickt die frische Schneeschicht, juchzt fröhlich und schlüpft mitsamt Pyjama in ihren Anorak.
Maik Michalski schreibt derweil, von all dem nichts ahnend, eine Auflistung über entwendete Tabakwaren in sein Notizbuch.
In einen Zeitungskiosk hat es einen Einbruch gegeben.