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2.3.5. Le Corbusier

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Hollenstein 2015

Kruft 1985, 456

Der 1887 im schweizerischen La Chaux-de-Fonds als Charles-Édouard Jeanneret geborene Architekt, der sich seit 1920 nach dem Mutternamen (Lecorbésier) Le Corbusier nannte, setzte sowohl als Architekt als auch als Theoretiker Meilensteine im 20. Jh. Roman Hollenstein nennt ihn einen »Kontinent […] Diesen versucht ein Heer von Wissenschaftlern mittels einer Flut von Publikationen, Retrospektiven und Spezialausstellungen […] zu erforschen.« Das trifft ins Schwarze und das Gesagte lässt sich mit Blick auf sein Selbstverständnis mit der Bewertung von Hanno Walter Kruft ergänzen: »Wir stehen bei Le Corbusier dem seltenen Fall gegenüber, daß die Klärung seiner theoretischen Position seiner Bautätigkeit voranging.« In der Tat betrieb Le Corbusier ausführliche theoretische Reflexionen.

Gresleri 1991

Viel Know How eignete sich Le Corbusier auf seinen Reisen an. 1910/11 traf er in Berlin Gropius, im Deutschen Werkbund Mies van der Rohe, in Wien Josef Hoffmann. Dann fuhr er nach Italien und unternahm 1911 seine persönliche Grand Tour mit seinem Freund, dem Schweizer Kunsthistoriker und Kunsthändler August Klipstein, die ihn in den Orient führte. 1917 übersiedelte er nach Paris und gab zusammen mit dem Maler Amédée Ozenfant ab 1920 (bis 1925) die Zeitschrift Esprit Nouveau heraus, in der er eine Ästhetik der Ingenieurs- und Maschinentechnologie beschrieb. Er pries die Industrialisierung und maß die Innovationen der Architektur am Maschinen-, Flugzeug- und Schiffsbau.

Viel Stoff zur Diskussion bieten seine eigenwilligen politischen (für seine Architektur wenig ergiebigen) Wendemanöver, wo sich Sympathien für die Sowjetunion, für Mussolini und das Vichy-Regime ablösten, bis er zuletzt die Résistance entdeckte. Inwieweit diese Sympathiebekundungen bloßem Opportunismus entsprangen, ist umstritten. Neuere Publikationen machen sich allerdings dafür stark, darin doch eher eine wechselnde ideologische Ausrichtung zu erkennen. Jedenfalls hat die Aufdeckung dieser Flirts mit totalitären Regimen sein Ansehen in letzter Zeit erheblich ramponiert.

Jarcy 2015; Chaslin 2015

Der besondere Reiz der Biographie Le Corbusiers ist sein vollzogener Paradigmenwechsel in der Architektur, der ihn gemäß seinem Motto »Baukunst ist Typenbildung« (und eben nicht Stil!) von einer strengen geometrischen Form zu organischen Naturformen führte und der ihm in der Fachwelt viel Ärger einbrachte. Dass Le Corbusier ursprünglich als Vertreter einer klinischen Moderne mit der Vision von Wohnmaschinen aus Linien und rechten Winkeln angesehen wurde, ist freilich eine allzu einfache Gleichung. Am Anfang prägte ihn an der Ecole d’Art in seiner Heimatstadt sein Lehrer Charles L’Eplattenier, der einen von der Landschaft inspirierten Heimatstil vermittelte. Daneben bildete sich bei Le Corbusier schon früh ein vom Sozialutopismus des französischen Architekten und Städteplaners Auguste Perret und von Nietzsches Elitarismus gespeistes Sendungs- und Erlösungsbewusstsein aus. Er brachte diesen Anspruch von Kunst und Architektur auf Menschheitsverbesserung mit der Formel auf den Punkt: Architecture ou révolution. Idealismus im Anspruch und Rationalismus der Form sollten kein Gegensatz sein und sie standen für eine evolutionäre Veränderung der Gesellschaft anstelle einer unberechenbaren Revolution.

Kruft 1985, 458

Maak 2010, 12

Angeregt vom Stahlbetonbau Perrets, in dessen Büro Le Corbusier 1908 kurzzeitig arbeitete, idealisierte er die architektonischen Einzelelemente wie Stütze und Fassade. Auf tragende Mauern lasse sich verzichten. Dies kam zunächst einer rationellen industriellen Fertigung entgegen: »Die Idealisierung der Funktionen führt zu ihrer Ästhetisierung. Wenig später erscheinen sie als Programmpunkte seiner Doktrin.« Den Stand dieser Zeit repräsentierten vielleicht am besten das Doppelhaus, das Le Corbusier zusammen mit dem Genfer Architekten und Corbusiers Vetter Pierre Jeanneret in der Weißenhof-Siedlung in Stuttgart 1927 baute, und die von ihm entworfene Villa Savoye in Poissy (1931). Die Villa Savoye »war ein ideologischer Hauptbau dieser Lebenshaltung: Sie […] machte Ernst mit der Idee des Internationalismus: Sie ignorierte die Welt, in die sie gestellt wurde […].« Diese Eigenschaft war eine gewollte Konsequenz aus den universellen Formen der Geometrie, die sich vermeintlich von jeder Schollengebundenheit abhoben. Anders als bei Mies van der Rohe, der in der Innenausstattung auch auf kostbare Materialien zurückgriff, waren Le Corbusiers Häuser technisch und puristisch gestaltet.

Fünf Punkte einer neuen Architektur

Le Corbusier 1923, 22

In diesen Bauwerken setzte er seine Fünf Punkte einer neuen Architektur um, die der Sache nach auch für Frank Lloyd Wright und Mies van der Rohe eine Grundlage bildeten: (1) Als Zeichen einer neuen Ästhetik ersetzen Betonstützen die tragenden Mauern, (2) die Flachdächer sind für Gärten zu nutzen, (3) offener Grundriss für einen flexiblen Umgang mit dem Raum, (4) große Fensterflächen in den Wänden und (5) freie Fassadengestaltung, unabhängig von der Baustruktur. Diese Prinzipien, die nach dem Motto »Stile sind Lüge« die neue Sprache der Architektur nach Verabschiedung des Stil-Eklektizismus und Historismus beschrieben, wurden weitgehend in den International Style übernommen. Sie wurden aber auch, vor allem von Traditionalisten im Deutschen Werkbund (wie von Paul Schulze-Naumburg), als »undeutsch« erbittert bekämpft.

2.2.8.

Wohnmaschine

Sigel Paul in ATh, 704

z.B. Le Corbusier 1923, 23

Die fünf Punkte flossen schließlich in das programmatische Buch Vers une architecture, das 1923 als Sammlung von seit 1920 in der Zeitschrift Esprit Nouveau publizierten Beiträgen erschien. Mit dem Buch erlangte Le Corbusier große Bekanntheit. Es fasziniert »durch manifestartige Schlagwortbildung, zahlreiche Wiederholungen, vor allem aber durch ungewöhnliche Text-Bild-Montagen. Polemik wechselt mit apodiktischen Feststellungen, subjektive Architekturästhetik wird als Summe anthropologischer Konstanten interpretiert.« Es war geradezu ein Katechismus eines selbstbewussten Erlöser-Architekten, der durch schräge Gegenüberstellungen wie jene griechischer Tempel mit Automobilen sowie mit dem dogmatisch klingenden basso continuo: »Das Haus ist eine Wohnmaschine« zu provozieren wusste. Die Moderne brach mit Schock in die alte Welt ein.

Ausgerechnet auf einer Exposition International des Arts Décoratifs et Industriels Modernes 1925 in Paris, bei der die Aussteller mit Art déco-Objekten warben, stellte Le Corbusier einen stapelbaren verglasten Pavillon de l’esprit nouveau vor, der als industriell produziertes Modul einer größeren Einheit dienen konnte. Die 25 Jahre später (im Zuge des Wiederaufbaus nach dem Krieg) realisierte Unité d’Habitation in Marseille und an anderen Orten ist die Umsetzung der Wohnmaschinen-Idee in großem Maßstab, gleichsam eine vertikal gestapelte Stadt. Dahinter stand ein Konzept der reinen Funktionalität und der Leere und Hygiene, wobei sich die Purifizierung ausdrücklich auch auf das Ornament bezog.

Ebd., 151

Sowohl Haus als auch Stadt galt es, architektonisch zu reformieren. Erste Ideen einer Hochhausstadt äußerte er in den Zwanzigerjahren, dabei von Perret beeinflusst und in seinem Buch Urbanisme (1925) theoretisch reflektiert. Schon damals schlug er eine Brücke von der idealen Geometrie, wie er sie etwa bei einer Griechenlandreise an den antiken Bauwerken bewunderte, zum Goldenen Schnitt, den er als Geometrie der Natur verstand, was letztlich die Verbindung herstellte zwischen den reduzierten Formen reiner Geometrie und jenen der Natur. Bei allem Bruch mit dem Alten gab es keinen Bruch mit der Harmonie-Lehre. »Es muß wohl jene Achse sein, auf der der Mensch aufgebaut ist, in vollem Einklang mit der Natur und wahrscheinlich auch mit dem Universum; es muß wohl jene Achse sein, die alle Erscheinungen, alle Dinge der Natur ausrichtet, die uns nahelegt, eine Einheit im Weltgeschehen anzunehmen und einen einzigen Schöpfungswillen vorauszusetzen.«

Le Corbusier, zit. nach Kruft 1985, 462

Ebd.; im Orig. kursiv

VII.2.2.1.

Trotzdem war der Wandel deutlich. Seine in Urbanisme diskutierte Planung einer Ville Contemporaine pour trois millions d’habitants von 1922 ist ein radikales Bekenntnis zu Geometrie und Funktion. »Die Geometrie ist das Wesen der Baukunst selbst.« Im Geiste des cartesianischen Rationalismus konnte er sagen: »Die gekrümmte Straße ist der Weg der Esel, die gerade Straße ist der Weg des Menschen und Der rechte Winkel ist das zum Handeln notwendige und ausreichende Werkzeug.«

Kruft 1985, 462

Um die Verdichtung der Menschen in Hochhäusern zu erreichen (und Raum für Grünflächen zu gewinnen), forderte er die Beseitigung der alten historischen Kerne. Um seine Ideen in Paris umzusetzen, sah er den Abriss des alten Paris nördlich der Seine vor. In Le Corbusiers Stadt bestimmt der Verkehr die Gestaltung. Die Straße nannte er Verkehrsmaschine. »Formal wird die Stadt zum geometrischen Muster, das der demiurgische, Ordnung setzende Architekt aus der Flugzeugperspektive schafft.« Die Stadt der Zukunft trennt seiner Ansicht nach die Bereiche von Wohnen, Arbeiten und Freizeit, was jeder gewachsenen Form widerspricht.

Ozenfant, zit. HW, 439

Le Corbusier verfolgte seine Sache in der Charte d’Athènes weiter, die beim 4. Congrès International d’Architecture Moderne (CIAM) 1933 in der griechischen Hauptstadt verabschiedet und von ihm 1943 in Paris als Manifest eines neuen Städtebaus veröffentlicht worden war (die Publikation in Deutsch erfolgte 1962). CIAM war als Forum für avantgardistische Architektur von ihm und anderen 1928 gegründet worden und hielt bis 1959 elf Konferenzen ab. In der Charta trieb er seine Geometrievorstellung in den Spuren der alten Anthropometrie weiter und setzte den Goldenen Schnitt mit dem Idealmaß des Menschen gleich. Dies sollte wiederum als Normierung von Industrieprodukten dienen. Sein enger Mitarbeiter bei Esprit Nouveau, Amédée Ozenfant, schrieb in seiner 1928 erschienen Streitschrift der Moderne, Art: »Das Werk muß das Gefühl erwecken, der tiefe Wille der Natur sei erfüllt […].«

Anfang der Dreißigerjahre war Le Corbusier in Algerien, zeichnete die dortigen traditionellen Wohnhäuser und entwarf einen Stadtplan für Algier. Der Traktat La Ville Radieuse (1935) war eines der deutlichsten Echos des im Gange befindlichen Paradigmenwechsels. Von nun an musste jede Konstruktion die höheren Weihen der kosmischen Naturgesetze haben und seien es auch Sandwichkonstruktionen von Flugzeug-Tragflächen, auf deren Prinzip das Dach von Ronchamp basierte.

Hess 2006, 12

Eine wichtige Inspiration ging von Paul Valéry aus, den er intensiv las und rezipierte und mit dem er in Briefwechsel stand. Valéry hatte in seinem Eupalinos ou L’architecte (1921) im ersten von drei Dialogen die Einheit von Geometrie, Musik und Architektur beschworen. Vielleicht verstand es Le Corbusier als unmittelbare und handgreifliche Umsetzung dieses Programms, als er 1929 in Sao Paolo Josephine Baker in seiner Schiffskabine nackt beim Tanzen zeichnete. Die Dynamik des Tanzes sollte von nun an die Bauten auszeichnen. In Brasilien, wo er einem Team zum Bau des Bildungs-Ministeriums angehörte, wurde ihm der zwanzigjährige Oscar Niemeyer als Assistent zugeteilt, der später selbst als berühmter Architekt »ungeniert die Formensprache der Moderne mit den weiter gefassten Konzepten von Fantasie und kulturellem Ausdruck vermischte.«

Kretschmer 2013, 179f

Kruft 1985, 461/462f

Mumford 1961, 717

In den Kriegsjahren irrlichterte Le Corbusier, wie angemerkt, zwischen Vichy und Résistance hin und her und war nach dem Ende des Krieges am Wiederaufbau von Städten beteiligt. Darunter fiel die bereits erwähnte Unité d’habitation von Marseille – gleichsam der Prototyp für »die Vision einer zukünftigen Gesellschaft […] So entstand eine vertikale Kleinstadt, eine kollektive Behausung als Sozialexperiment und ein Versuch gegen die Zersiedelung der Landschaft, aber auch ein massiver Vorstoß zur Zerstörung gewachsener Stadt- und Sozialstrukturen.« Vor allem die Stadtplanung Le Corbusiers polarisiert bis heute und löst heftige Kritik aus. Hanno Walter Kruft nannte Vers une architecture ein »demagogisches Buch« und Urbanisme »eines der verhängnisvollsten Bücher in der Geschichte der Architekturtheorie« und das Stadtkonzept Le Corbusiers totalitär. Lewis Mumford beklagte die »tödliche Gleichförmigkeit, die visuelle Öde, den unmenschlichen Maßstab und, was noch schlimmer ist, die menschliche Belanglosigkeit der grandiosen Stadtpläne […].«

der Modulator

1948 und 1955 verfasste Le Corbusier zwei Bände seines Modulator, in denen er die Umsetzung der menschlichen Proportionen in die Fibonacci-Zahlen betrieb. Der Modulator war ein idealer mathematischer Körper mit einer – aus der Form der Seeschnecke abgeleiteten – der Fibonacci-Reihe ähnlichen mathematischen Grundfiguration.

Maak 2010, 40

Ebd., 42

Eine der ersten Anwendungen war sein 1952 gebautes Cabanon aus Holz, ein winziges, mit 3,66 Meter Seitenläge quadratisches Häuschen, das er am Strand in Cap Martin zwischen Menton und Monaco aufstellte. Er brachte dort alles zum Leben Notwendige inklusive Tisch mit Sitzgelegenheit, Bad und Toilette unter. Vom Fenster aus kann man auf jene Stelle im Meer blicken, an der der gute Schwimmer 1965 in Folge eines Herzinfarktes ertrank. Der Cabanon war »ein Manifestbau, der zeigen sollte, wie Raumwirkung durch Materialien und Wegeführung erzeugt wird, und es ist kein Zufall, dass man sich in den Cabanon hineinbewegt wie in ein Schneckenhaus.« Was Heidegger seine Hütte in Todtnauberg war, zelebrierte Le Corbusier in Cap Martin: Er »setzte sich publikumswirksam als edler Wilder in Szene, der fern der verkommenen Zivilisation, im Angesicht des Meeres und seiner Formgeburten, eine neue Architektur erfindet […].« Das war nun ein anderes Image – er ließ sich nackt beim Malen fotografieren – als in den Tagen, wo der Maschinenverehrer in röhrenförmigen Anzügen posierte.

Sigel Paul in ATh, 706

Auslöser für seine Modulator-Idee war möglicherweise das Studium des Parthenon in Athen. Mathematisierung, man kann auch sagen: Platonismus, wurde hier in eindrücklicher Weise in ein dogmatisches Konzept übertragen, das als Architektur die Theorie vor die Bedürfnisse des Menschen stellte. Freilich kann man darin auch eine Rehabilitation »der Architektur als Kunstform« sehen, »wenn er dem Architekten die Aufgabe zuweist, über den bloßen Zweckrationalismus hinaus gestalterisch tätig zu werden«

Hülk 2012, 170

Ebd., 171

Aus dem hygienisch reinen Mathematiker wurde ein Strandläufer und Schnecken- und Muschelschalensammler. Was immer diese Konversion ausgelöst hatte, vielleicht war es tatsächlich die Begegnung mit einem Krebspanzer 1946 auf Long Island in New York, von wo aus er den Bau des UN-Hauptgebäudes am East River leitete. Corbusier selbst schildert jedenfalls sein durch dieses objet trouvé ausgelöstes Erweckungserlebnis ausführlich. Das Sammeln von Gehäusen am Strand war wieder eine Verbindung zu Paul Valéry. Wie Le Corbusier war er »ein Mann des Mittelmeeres, ein ›méditerranéen‹, […]. Die ihm vertraute maritime Flora und Fauna […] sind seinem Begriff von Kultur und Geschichte staunenswert eingeschrieben.« Valéry sammelte Seeschnecken- und Muschelgehäuse und ließ sich von den bizarren Formen der Klippen faszinieren – für ihn der Niederschlag des Liquiden im Kristallinen. In dieser Hinsicht war Leonardo da Vinci mit seinen Zeichnungen von Wasserstrudeln ein ferner Vorläufer. »Für Valéry […] wurden Pflanzen und Lebewesen des Meeres ebenso wie Fundstücke am Strand ein Anlass zu philosophischem, wissenschaftlichem und poetischem Träumen.«

Die Hinwendung zu den Formen der Natur machte aus Le Corbusier nicht nur einen Strandläufer, sondern auch einen Privat-Okkultisten, der sich für einen Eingeweihten in die Gesetze des Kosmos hielt. Er begeisterte sich für esoterische Autoren, unter ihnen war der in Straßburg geborene Theosoph Edouard Schuré mit seinem 1889 erschienenen Buch Die großen Eingeweihten. Aus solchem Geist plante er für den Pazifisten Paul Otlet den Bau eines Weltwissen-Speichers, des Mundaneums – nach der Formvorlage einer Seeschneckenschale. Der nach dem Goldenen Schnitt angelegte Spiralgang symbolisiert den gnostischen Weg zur Erkenntnis.

VII.2.2.1.

Maak 2010, 95

Le Corbusier bietet sich als idealer Beispielsfall für die Barockdeutung von Gilles Deleuze an. Seine Schneckengehäuse fungierten als Faltungen und in ihrer Verehrung traf er sich mit Borromini, der ebenfalls an den Spiralformen aufgeschnittener Gehäuse experimentierte. Dazu kam Corbusiers zweites Standbein, die Malerei, in der er Beachtliches zustande brachte. »In seiner Malerei folgt Le Corbusier dem Kubismus: Zerlegt die Bildebene, faltet sie zu einem unmöglichen Raum zusammen, in dem man einen Gegenstand gleichzeitig aus verschiedenen Richtungen betrachten kann.« Es sind Versuche mit dem Raum und mit Faltungen, die an Barock- und Rokokomalerei erinnern. Niklas Maak stellte dazu faszinierende Vergleiche zwischen Le Corbusier und Jean-Honoré Fragonard an.

Kirche von Ronchamp

Maak 2010, 13

Hitchcock 1958, 387

Hollenstein 2015

VII.2.2.1./VII.3.3.

Das vermutlich berühmteste Werk aus dieser Periode wurde die 1955 fertig gestellte Wallfahrtskirche Notre-Dame-du-Haut von Ronchamp. Sie rief heftige Reaktionen von allen Seiten hervor, denn sie war »ein doppeltes Sakrileg: ein Affront gegen die Dogmatiker in der Kirche und einer gegen die der architektonischen Moderne.« In der Tat war die Kirche Ausdruck einer vollzogenen Wende in der Architektur-Ästhetik Le Corbusiers: »He who once drove architecture towards the mechanistic, the precise, and the volumetric, now provides the exemplar of a new mode so plastic as almost to be naturalistic in the way of Gaudi’s blocks of flats of fifty years earlier.« Mit dieser Kirche avancierte Le Corbusier zum »Picasso der Architektur«. Vielleicht kann man bei Ronchamp mit seiner porösen Ästhetik der Durchlässigkeit und der Auflösung der Raumkategorien eine enge Berührung mit der Barockdeutung von Gilles Deleuze erkennen, für die Le Corbusier ohnehin bereits als Beispiel angeführt wurde.

Maak 2010, 13


613 Le Corbusier, Notre-Dame-du-Haut (1955); Ronchamp

Hielten ihn konservative Kirchenvertreter für einen Anhänger einer religiösen Magie, löste die Hinwendung zu einem – gemessen an seinen bisherigen Bauten – alternativen Formenschatz eine Debatte über die Krise des Rationalismus aus. Hatte dieser die Kraft für wegweisende Formgebung verloren? James Stirling äußerte in einem Essay diese Sorge und verglich Ronchamp mit der manieristischen Wende am Ende der Renaissance. Ronchamp markiert den Höhepunkt von Le Corbusiers Demonstration seiner Orientierung an der Natur. Dabei darf man freilich nicht über die hochtechnische Umsetzung des Baus hinwegsehen. Das Muschelpanzer-Dach ist nach der Vorlage einer Flugzeug-Tragfläche gebaut. Niklas Maak mutmaßt, es handle sich um eine bewusst gesetzte Anekdote, die auf Paul Valérys Eupalinos Bezug nahm.

Ebd., 124

Das würde passen, denn der Architekt, der in seinen Personalausweis unter der Rubrik Beruf Homme de Lettres eintrug, war nicht nur ein begeisterter Leser, sondern verstand sich als ein nicht minder engagierter Schreiber und Poet. Die Poesie sei nicht nur das höchste Ziel im Leben, meinte Le Corbusier, sondern auch das Ziel der Architektur. Nicht zufällig nannte er seine am Strand aufgelesenen Fundsachen Objets à réaction poétique. In seiner Sammlung von Gedichten und neunzehn Farblithografien an den rechten Winkel (Poème de L’Angle droit) 1955 ist wenig vom rechten Winkel, aber viel von allen möglichen Themen, darunter von Erotik die Rede (»die Hand und die Muschel lieben sich«): »Entwerfen als Liebesakt – da staunten auch wohlmeinende Avantgardisten.«

Kunstphilosophie und Ästhetik

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