Читать книгу Kunstphilosophie und Ästhetik - Bernhard Braun - Страница 41
3.2.3. Theodor Lipps und das Konzept der Einfühlung
ОглавлениеVIII.6.2.2.
VIII.6.1.7.
VIII.6.2.1.
Der im pfälzischen Wallhalben 1851 geborene Theodor Lipps prägte um die Jahrhundertwende den Begriff der »Einfühlung«. Der Begriff (der auch Friedrich Theodor Vischer zugeschrieben wird) markiert eine Reaktion auf die seiner Meinung nach naturalistische Reduktion der Psychologie durch Gustav Theodor Fechner, was wiederum Ausdruck eines zunehmenden Erstarkens des naturwissenschaftlichen Paradigmas war. Dem stand das Bedürfnis des Bildungsbürgertums nach geistigen Gehalten gegenüber, dem Lipps nachkam.
Lipps 1906, zit. nach Utitz 1924, 152
Allesch Christian in ÄKPh, 500
In der zweiten Hälfte des 20. Jh.s geriet der Begriff in Verruf, witterte man doch darin einen Irrationalismus. Er kehrte unter anderer Benennung als Empathie wieder. In der Einfühlung sah Lipps eine Quelle für das Wissen über andere. Einfühlung funktioniere durch Nachahmung. Durch das motorische Mitvollziehen von Ausdrucksbewegungen anderer werden im Wahrnehmenden Gefühlsbewegungen erzeugt, die objektiviert werden können. Den derart auf empirisch-psychologischer Ebene gewonnenen Einfühlungsbegriff wandte er auch auf die Ästhetik an. Er wurde für ihn der »Grundbegriff der heutigen Ästhetik«, wie er in Einfühlung und ästhetischer Genuß (1906) sagte. Es handelt sich dabei nicht nur um ein ästhetisches Erklärungsprinzip, sondern um »ein allgemeines Prinzip der Gestalt- und Bedeutungswahrnehmung.«
Einfühlung und ästhetisches Verstehen
Lipps, der letztlich eine Radikalisierung von Husserls Phänomenologie betrieb, indem er von dessen Bewusstseins-Ich zu einem existenziellen Ich wechselte, legte eine Fülle von einschlägigen Untersuchungen vor. Sein Hauptwerk Ästhetik. Psychologie des Schönen und der Kunst erschien in zwei Bänden: Grundlegung der Ästhetik (1903) und Die ästhetische Betrachtung und die bildende Kunst (1906). 1907 fasste er seine ästhetische Theorie unter dem Titel Die Kultur der Gegenwart in einem Sammelband nochmals in größerem Kontext zusammen. Im Mittelpunkt stand der Verstehensbegriff Diltheys, dessen Hermeneutik. Demnach seien künstlerische und literarische Werke Ausdruck von Erlebnissen und Lebensgefühlen. Auch bei Lipps ist der Begriff des Verstehens ein Schlüsselbegriff. Ästhetik sei nicht ein Geschäft des ästhetischen Wertens, sondern des Verstehens, wie das ästhetische Werten funktioniert. Auch diese Untersuchung umfasst noch seinen Einfühlungsbegriff und erschließt letztlich als ein Suchprogramm den Gesamtbestand der Ästhetik, inklusive der Gesetzmäßigkeiten, aus denen normative Setzungen hervorgehen.
empirische Fundierung der Ästhetik
Lange 1907, 3
Für Lipps war wichtig, dass nicht nur ein kunstsinniger Philosoph Kunst erklärt, sondern dass Kunstverstehen einem gesellschaftlichen Konsens entspringt. Das meint nicht unbedingt eine Elite, sondern wird als eine aus ständigem Umgang mit der Kunst gewonnene Kompetenz verstanden. Lipps bekam in dieser Frage Unterstützung durch den in Tübingen wirkenden Kunsthistoriker Konrad von Lange, der den psychologisierenden Zugang zur Kunst verteidigte. Immerhin ging es um eine empirische Fundierung der Ästhetik, damit sie nicht länger ein »Tummelplatz ganz willkürlicher Spekulationen« sei. In der Tat nahm diese Schule Kunst ernst. Es war nicht ihre Ambition, an der Kunst die eigene philosophische Position darzustellen. Nach Lange lässt sich am Kunstwerk die Intention des Künstlers entschlüsseln. Das bedeutet für Lange: »daß wir bei der Anschauung der Natur eben nur den so oder so beschaffenen Gegenstand anschauen, den wir wahrnehmen, bei der Kunst dagegen außerdem auch noch an den Künstler denken, der das Werk geschaffen hat […].« Dass das Vertrauen darauf, die Intention von Künstlerinnen in ihrem Kunstwerk dechiffrieren zu können, einem schwer zu rechtfertigenden Optimismus entspricht, wird im Kapitel X.3.2. ausführlicher zur Sprache kommen.
Schneider 1996, 136
Allesch Christian in ÄKPh, 501
Eine andere Sache ist die »Technik« der Einfühlung, durch welche verbindliche Normen für Künstler als objektive Strukturen erschlossen werden. Lipps interessierten in Kunst und Musik weniger Themen und Inhalte als vielmehr Formverläufe. »Formen sind für ihn das Korrelat von Gefühlen.« Die durch Formen ausgelösten Elementargefühle nannte Lipps in Fortführung von Fechner und Wilhelm Wundt Lustgefühle. Diese ergeben sich aus der Verbindung der Teile zu einem Ganzen, welches dem Ganzheitsverständnis der Gestaltpsychologie, wie sie von Christian von Ehrenfels inauguriert wurde, sehr nahe kommt. Lustvoll sei eine Einheit in der Mannigfaltigkeit, eine Ganzheit also, die einen durch die verschiedenen, auch entgegengesetzten Teile identischen Grundzug darstellt, der der Verschiedenheit entgegentritt. Damit bewegte sich Lipps in einer großen Tradition der Ästhetik. Auch für ihn bleibt eine grundlegende Harmonie das Um und Auf seiner Ästhetik. Die Einheitlichkeit und die Einheit in der Mannigfaltigkeit werden in der Tat zu den »wichtigsten Erklärungsprinzipien ästhetischer Formgefühle.« Dazu kommt eine »monarchische Unterordnung«. Gemeint ist hier eine Unterordnung unter eines oder mehrere Elemente, die die Führung übernehmen. Solches findet er in der Metrik. In den Versmaßen Trochäus, Daktylus und Anapäst bilden die akzentuierten Teile ein Gravitationszentrum, auf das hin die vielen Elemente in Unterordnung seien. Eine solche Tendenz der Gewinnung einer Einheit finde sich aber auch in Baustilen wie etwa in der Gotik, wo sich der Bau dem dominierenden Turm unterordne.
X.1.3.2.3.
Schneider 1996, 139
Man weist immer wieder darauf hin, dass das Konzept Formbeachtung in der Avantgarde eine wichtige Rolle spielte, scheint sich doch namentlich die gegenstandslose Kunst zu einem hohen Grad als Formentwicklung begreifen zu lassen. Demnach hätten Formbeschreibungen »einen entscheidenden Impuls für die künstlerische Praxis gebildet [haben], die diese Deskriptionen gleichsam in den Bildern symbolisch thematisiert, so daß es danach ein zirkulärer Effekt war, wenn die ständig formalistischer werdende Theorie darin Belege und Bestätigungen für ihre Behauptungen fand.«
VIII.6.2.2.
Lipps, zit. nach Ebd., 140
Auch die Einfühlung in dem Sinne, wie sie Wilhelm Worringer in Abstraktion und Einfühlung weitergedacht hatte, war für die avantgardistische Bildauffassung ein wichtiges Element, ob nun im Fauvismus die elementare Qualität der Farben gegenüber dem Motiv autonom wird oder ob sich bei den Improvisationen Kandinskys das tätige Subjekt in die Formen »einfühlt«. Was damit gemeint ist, beschreibt Lipps am Beispiel der Linie: »Es ist in dieser, wenn ich sie betrachte, eine Bewegung, ein sich Strecken, sich Ausdehnen, sich Begrenzen, ein schroffes Einsetzen und Absetzen, oder ein stetiges Gleiten, ein Auf- und Abwogen. ein sich Biegen, sich Schmiegen, ein sich Einengen, sich Ausweiten.«