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VI.

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Das gedämpfte Licht im Eckzimmer brannte nun elf Tage.

Ginstermann ging hinaus ins Freie und machte ein Sträußchen zusammen aus Primeln, Veilchen, Weidenkätzchen und sprossenden Buchenreisern, und was er sonst noch auffinden konnte, Gräsern und Halmen. Auch ein winziges Johanniskäferchen, mit kleinen schwarzen Pünktchen auf dem roten Schild, packte er mit hinein. Diesen Strauß sandte er der Kranken. Er legte keine Karte bei.

Sie sollte nicht wissen, von wem er sei. Er freute sich in dem Bewußtsein, daß sie diese Frühlingskinder in die Hände nahm, ihren Duft einsog und vom Frühling und der Genesung träumte. Auch glaubte er ihre Gedanken angenehm zu beschäftigen, dadurch, daß er ihnen freien Spielraum ließ, nach dem Geber zu suchen.

Das Licht brannte nun siebzehn, es brannte nun achtzehn Nächte. Stets gleich gedämpft, stets gleich ruhig, es schien nicht mehr verlöschen zu wollen.

Aber eines Tages würde es doch verlöschen, das wußte Ginstermann. Einmal da würden diese Fenster da droben schwarz sein, und am Tage darauf würden Wagen vorfahren, aus denen Leute in schwarzen Kleidern stiegen. Er wußte es ganz genau. Und während seines ganzen Lebens würden ihn zwei Gedanken beschäftigen. Sie war das Weib, das die Natur für dich schuf, hieß der eine, sie war es doch nicht, der andere.

Ginstermann war Tag und Nacht auf den Beinen. Er bemühte sich, Fräulein Scholl aufzufinden, aber es war vergebens. Er hatte vor, ein Dienstmädchen zu bestechen, aber das wäre unfein gewesen. Hundertmal stand er vor dem Portale mit dem Emailschild: Wirkl. Geheimrat Prof. Dr. v. Gagstetter, mit dem Vorsatze, bei dem Arzte Erkundigungen einzuziehen.

Was aber hätte der Arzt denken sollen? Er hätte ihm die Hand auf die Schulter gelegt und sein kluges Philosophenlächeln gelächelt. Konnte er seine Liebe fremde Augen sehen lassen? Im übrigen, was hätte all das genützt? Er konnte nichts tun, als auszuharren, geduldig auszuharren.

Manches Mal dachte er, ja schien ihm eine untrügliche Ahnung zu sagen: Dieses Licht da droben, hörst du, mein Freund, brennt am Lager einer Toten. Er verbrachte dann eine schwere Nacht und war glücklich, am andern Tage nicht die Wagen mit den schwarzgekleideten Leuten vor dem Hause halten zu sehen.

Das Licht brannte nun einundzwanzig Nächte.

In der zweiundzwanzigsten waren die Fenster dunkel.

Ginstermann vermochte es nicht sofort zu fassen. Er strengte die Augen an, ob nicht doch, ganz leise, ganz leise das Licht da droben noch schimmere. Er wartete, er wartete.

Die Fenster waren und blieben dunkel. Sie blieben, Gott weiß es, sie blieben dunkel. Dunkel! Er konnte es gar nicht begreifen.

Noch im Laufe des Abends war er hier außen gewesen. Nicht der kleinste Umstand deutete darauf hin, daß das Unausdenkbare eingetreten sei. Heute morgen hatte das Zimmermädchen die Fenster geputzt und dabei gesungen.

Ginstermann fühlte sich wie befreit. Das Gespenst, das ihn eingehüllt hatte, lange Tage hindurch, löste sich von ihm. Er atmete auf, lange und tief.

Langsam ging er die Straße hinab, das Glück der Erlösung genießend und die Freude, daß es besser mit ihr ging.

Plötzlich hörte, sah, fühlte er wieder wie früher. Der ausgeschaltete Strom seiner Empfindungen kam wieder in Bewegung.

Er trat in ein Café, dessen erleuchtete Fenster vor ihm lagen. Er brauchte Licht, Menschen! Sein Glück drehte ihn im Wirbel.

Hier war es hell, ungewohnt hell, es gab Menschen, wenn auch nicht viele. Mit der Befriedigung eines, der eine schwere Zeit hinter sich hat, ließ er sich auf ein Plüschsofa nieder.

Das Café war in modernem, sympathischen Stile gehalten. Polster von karmoisinrotem Plüsch mit schwarzen, senkrechten Streifen, Tische und Stühle rot gelackt wie Gartenmöbel. Ein Fries nackter, einander nachlaufender Männer mit den gleichen Bewegungen an den Wänden. Das Ganze machte den Eindruck feierlichen Pompes.

Das ist ein Raum für die still Glücklichen, dachte Ginstermann.

Das Lokal war schlecht besetzt. In der Ecke, Ginstermann gegenüber, saßen zwei junge Leute. Der eine lag phlegmatisch in seinem Sessel, die Beine ausgestreckt, die Hände in den Hosentaschen, und lachte, wobei sich sein Zigarrenstumpen auf und ab bewegte zwischen den Zähnen. Der andere sprach aufgeregt, immerzu, mit der Begeisterung der ersten geistigen Gärung, er sprach mit Händen und Füßen und warf jedesmal die Streichhölzer um, wenn er seine Zigarette anzünden wollte. Sein Zuhörer lachte nur.

„Ihr Menschen seid so wesenlos und schemenhaft wie die Moose auf dem Meeresgrund,“ rief der Erregte aus, „und wiederum seid ihr so dick und unverschämt stumpf wie ein Balken!“

Etwas im Hintergrunde saß eine Dame vor geleertem Glase, den Hut ins Gesicht gesetzt, mit der Lektüre der Wiener Karikaturen beschäftigt. Man sah die nackten Beine nur so strampeln.

In einer Nische hatten ein Herr und eine Dame Platz genommen. Das Gesicht des Herrn fiel durch leichenhafte Blässe und Bewegungslosigkeit auf und eine Falte über der Nasenwurzel, scharf wie der Schnitt eines Messers. Die Dame sah Ginstermann nicht, er erblickte nur den in einem enganliegenden, stahlgrauen Ärmel steckenden Arm, wenn sie gewohnheitsmäßig in die Höhe griff, um die Frisur zu richten. Er hörte sie dazwischen kurze Fragen stellen und schloß aus ihrer Stimme und Betonung, daß sie geistreich war.

Im Seitenkabinett spielten zwei Herren stillschweigend Billard. Der eine war der Cafetier, seinem Wesen und seiner Kleidung nach.

Ein junges, hübsches Mädchen bediente. Ihre Kollegin saß auf einem Stuhle und war eingenickt. Sie hob nur dazwischen die schlafschweren Augenlider, als habe sie im Schlummer das ungeduldige Klopfen des Löffels an eine Tasse gehört.

Es machte Ginstermann Vergnügen, all das zu beobachten, während ein Teil seiner Gedanken unausgesetzt das glückliche Ereignis des Abends umkreiste.

Er fühlte sich behaglich hier und brach sogar in Lachen aus, als der Lebhafte ihm gegenüber in lachendem Zorn ausrief: „Dann nehme ich mein Rückgrat heraus und schlage es an dir ab, mein Lieber!“

Das hübsche Mädchen brachte ihm den Kaffee und blieb ein Weilchen bei ihm stehen. Es war ein blutjunges Ding mit mandelförmigen Augen, aus denen die Schwermut der Keuschheit blickte. Niemand hätte sie in dieser Stellung vermutet.

„Sagen Sie, Fräulein,“ begann Ginstermann, „kann man nicht zu Ihrer Taufe eingeladen werden?“

Das Mädchen lachte und blickte ihn verdutzt an, halb argwöhnisch, eine Keckheit hinter dieser Frage vermutend.

Nun, sie sei doch noch so jung, daß sie unmöglich schon getauft sein könne.

Sie brach in Lachen aus und wandte sich halb ab, nach den Gästen sehend. Dabei klimperte sie mit dem Gelde in der Tasche ihrer schneeweißen Schürze.

„Wir werden Sie ‚Rehäuglein‘ taufen,“ fuhr Ginstermann fort — da berührte jemand seine Schulter.

Es war der Akademiker Goldschmitt. „Uff, Ginstermann?“ rief er aus.

Der Maler war verblüfft, Ginstermann hier im Café zu treffen, mehr noch, ihn bei einer Unterhaltung mit einer Kellnerin zu ertappen. Seine Verblüffung steigerte sich aber noch, als er Ginstermanns Aufgeräumtheit bemerkte. Er war nur gewöhnt, ihn als einen verschlossenen, düsteren Menschen, der sein geistiges und seelisches Leben hinter einer regungslosen, hochmütigen Miene verbarg, zu sehen.

Ginstermann für seine Person war froh, nun jemanden zur Unterhaltung zu haben. Er sprach und lachte immerzu. — Er begann von den Bildern des jungen Malers zu sprechen und lobte sie. Er gab seiner Meinung über zeitgenössische Größen Ausdruck, die er sich erst während des Sprechens bildete. Er legte dem Akademiker seine Anschauungen über Zweck und Ziel der bildenden Kunst klar. Er warf ihm Händevoll Gedanken hin, die er verwerten könne.

Dabei dachte er an ganz andere Dinge.

Es ging besser mit ihr, also war alles gut.

Goldschmitt hörte aufmerksam zu und wartete auf den zündenden Funken. Er breitete seine Pläne und Ideen vor ihm aus, ob er sie für gut finde.

Ginstermann fand alle für gut, sogar für sehr gut.

„Sie werden Ihren Weg machen,“ sagte er und stieß mit ihm an.

Der Maler konnte sich nicht enthalten, nach der Ursache von Ginstermanns Lustigkeit zu fragen.

„Ich feiere heute Geburtstag,“ erwiderte ihm Ginstermann, den wahren Sinn dieser Antwort selbst erst herausfindend, nachdem er gesprochen.

Einige Gäste traten geräuschvoll ins Lokal, und wie auf ein Zeichen wurde es lauter, kaffeehausmäßiger. Die verschlafene Kellnerin stand auf und ging langsam mit schwerfälligem Wiegen der Hüften zwischen Büfett und Tischen hin und her. Die einzeln sitzende Dame legte das Blatt aus der Hand und begann mit unmerklich lächelnden Blicken unter dem Hute hervorzusehen.

Der Lebhafte in der Ecke hatte ein Glas umgeworfen, das ganze Tischtuch triefte. Er plauderte weiter, während das Rehäuglein den Schaden gut machte. Sein Freund lachte, daß sich alle Gäste umwandten und mitlachten. Sein Mund war rund wie ein Taler.

„Betrachten Sie mal diesen Menschen,“ sagte Ginstermann.

Goldschmitt entgegnete: „Das ist Spiegel, er hat dieses Café hier entworfen.“

Das wollte Ginstermann nicht glauben.

„Sie, Spiegel,“ rief Goldschmitt über das Lokal, „haben Sie dieses Café entworfen oder nicht?“

Der Angerufene drehte schnell den Kopf, rief: „Jawohl!“ und setzte seine Disputation fort, ehe Ginstermann sein Gesicht sehen konnte, das ihn nunmehr interessierte.

Um zwölf Uhr brachen sie auf. Ginstermann war in sehr aufgeräumter Stimmung und lachte immerzu. Er drückte dem Rehäuglein ein Zweimarkstück in die Hand und sagte:

„Morgen um zehn, da bin ich wieder da, und Sie werden mir dann herausgeben.“ Goldschmitt, der Knicker, gab keinen Pfennig Trinkgeld, er sah dem Mädchen nur mit einem kurzen, warmen Blick in die Augen, den niemand bemerkte, der nicht Ginstermanns scharfe Beobachtung besaß.

„Bleiben Sie recht brav, Rehäuglein,“ scherzte Ginstermann und schüttelte ihr wie ein alter Bekannter die Hand.

An der Nische vorbeigehend, in der der Herr mit seinem leichenblassen Gesicht saß, blickte sich Ginstermann um. Zwei helle Augen, die Ähnlichkeiten hatten mit denen von Fräulein Schuhmacher, waren auf ihn gerichtet. Sie erblickten nicht den Mann in ihm, sie suchten nach dem Menschen in ihm. Zu diesen Augen gehörte ein Gesicht von seltener Häßlichkeit.

Goldschmitt protestierte anfangs dagegen, daß Ginstermann ihn nach Hause begleite, aber er mußte nachgeben.

Arm in Arm gingen sie die Straße hinunter, und Ginstermann unterbrach plötzlich das Gespräch und sagte: „Wissen Sie was, Goldschmitt, dieses Sie ist zu fade, nennen wir uns du.“

„Also du, wie du meinst,“ versetzte der Maler.

Vor dessen Wohnung angelangt, versuchte ihn Ginstermann, noch durch eine neuaufgeworfene Frage zu halten. Aber Goldschmitt wollte schlafen gehen, er müsse morgen zeitig heraus.

„Eines will ich dir noch sagen, Ginstermann, wenn du wieder ins Café kommst, so gieb dem Mädchen kein Trinkgeld. Du sollst ihr kein Trinkgeld geben. Das Mädchen ist meine Braut. Aber — notabene — nicht daß du meinst — — gute Nacht.“ —

Ginstermann wanderte langsam nach Hause.

Es war eine herrliche Nacht, die tausend süße Geheimnisse barg. Im Himmel hatten sie alle Kerzen zur großen Mette angezündet. Die Erde lag gebettet in feuchtwarme Luft und dem Geruche frischer Wiesen, von Liebe und Fruchtbarkeit träumend gleich einem Weibe.

Ginstermann hatte nicht die mindeste Lust, schlafen zu gehen, aber er war müde. Die Haustüre öffnend, sah er Maler Ritt, die Zigarette im Mund, in jeder Hand eine Flasche tragend, über den Vorplatz gehen.

Die Türe seines Ateliers war angelehnt, und der Lichtschein, der daraus strömte, erhellte Ritts boshaft-gutmütiges, verlebtes Faungesicht. Im Atelier pfiff jemand „La Paloma“.

„Nanu?“ sagte der Maler, „hä-hä!“ und zog erstaunt die Brauen in die Höhe.

Ob er nicht ein wenig eintreten wolle? Auf eine Zigarette? Nicht?

Ginstermann war auf den Maler nicht sonderlich gut zu sprechen, aber er trat ein. Er hatte so gar keine Lust zum Schlafengehen, und dann war Ritt doch nicht schlechter und nicht besser als jeder andere Mensch. Und heute, wo ein besonderer Tag war . . .

Es ging besser mit ihr, folglich war alles gut.

Er trat in eine Wolke bläulichen Zigarettenrauches. Der Schirm der Lampe schwebte einer rotglühenden Kugel gleich darin. Die Wolke kam infolge ihres Eintritts in Bewegung, und um die rotglühende Kugel schaukelten phantastische Figuren. Im gleichen Moment bemerkte er ein mattschimmerndes Gesicht, dessen glänzende Augen auf ihn gerichtet waren, den weißen Saum eines Unterrockes, und nach links blickend abermals ein blasses Gesicht, aus dem eine senkrechte Rauchsäule emporstieg.

Zwei Damen in eleganten Kostümen lagen auf Ottomanen, halb in Kissen und Puffs versunken. Sie blickten ihn beide an, und obschon ihre Augen von verschiedenem Schnitt und ungleicher Farbe waren, lag doch der nämliche Ausdruck in ihnen, lüsterner Glanz. Sie rührten sich nicht und blieben ruhig liegen, als Ritt Ginstermann mit ostentativer Pose und einer Menge Bemerkungen, wie ein Tierbändiger ein seltenes Exemplar, vorstellte.

„Dieser Mann hat den sanften Blick der Taube, aber die scharfen Krallen des Geiers, meine Damen,“ schloß er.

Sie lachten alle, und Ginstermann gab ihnen die Hand.

Die eine erwiderte mit einem zögernden Druck, die andere reichte ihm die Rechte mit müder Grazie und ließ sie sofort wieder auf das Kissen zurückfallen.

Wo er nur immer diese hübschen Frauen auftreibt, dachte Ginstermann.

Ritt ging umher und füllte die Gläser, die auf niedrigen Taburetts standen, so daß sie bequem zur Hand waren. Dabei strich er der einen der Damen leise über die Haare, als ob er eine Mücke verscheuche. Ihre Augen folgten ihm, und weiße Zähne schimmerten hinter lächelnden Lippen.

Es war nicht die, die Ginstermann die Hand gedrückt hatte.

Der Maler legte sich auf zwei Stühle und forderte Ginstermann auf, ein Gleiches zu tun.

„Bei mir können Sie lernen, wie man angenehm lebt,“ rief er aus. „Die Leute amüsieren sich in den Pausen ihrer Arbeit, ich arbeite in den Pausen meiner Vergnügungen, die Leute wollen sich schonen, ich will mich auf angenehme Art zugrunde richten — hähä. Darin beruht der Unterschied meiner Lebensauffassung und der der Welt. Wir leben nur eines Atemzuges Länge, laßt uns atmen, Freunde! Prosit!“

Man stieß an. Ginstermann dachte an das Mädchen in der Leopoldstraße und trank sein Glas bis zum Boden leer.

Ritt fuhr fort, in seiner näselnden, dünnen Stimme die Freude zu preisen, die den Menschen über sein tierisches Ahnentum erhebe.

Der Maler vermochte nicht eine Minute zu schweigen. Er befand sich unausgesetzt in nervös lustiger Erregung.

Ein Genie von Geburt, hatte ihn sein ausschweifendes Leben frühzeitig zu einer totalen Erschlaffung seines Willens geführt, so daß er zum Spielball seiner Triebe geworden war. Von Zeit zu Zeit schloß er sich vollständig von der Welt ab, um sich wiederum die nötige Achtung vor sich selbst zu geben, und da schuf er ein Bild, von dem jeder einzelne Pinselstrich den Eindruck der Inspirativen erweckte. Seine Schöpfungen hatten ihn berühmt gemacht. Aber allen haftete etwas an, was an einen verzweifelten Sieg erinnerte, als seien sie einem vorbeisausenden Augenblick entrissen. Er hatte keine Zeit zur Sammlung, seine Seele war zerrüttet.

Niemand hätte das Alter des Malers genau zu bestimmen vermocht. Am Tage sah er vierzig, bei Lampenlicht dreißig Jahre alt aus. Sah man ihn aus einiger Entfernung, so erweckte seine schlanke, elegante Figur den Eindruck eines Zwanzigjährigen.

Sein Gesicht war welk, ausgetrocknet, mit matten Augen, die nahezu wimpernlos waren. Er trug einen dünnen, langen Spitzbart, der einige Dutzend Haare hatte, über seine Züge lag etwas Täppisches, Kindisches ausgebreitet, das zeitweise verdrängt wurde durch den Ausdruck mühsam verborgenen Grauens vor etwas Entsetzlichem, das er selbst nicht kannte, vor dem Wahnsinn.

Ginstermann suchte Ritt deshalb zu meiden, weil er in ihm ein Stadium entdeckte, aus dem er sich glücklich emporgearbeitet hatte. Diese nervöse Lustigkeit des Malers, seine Gier, sich fortwährend zu betäuben, seine Freude an Orgien, sein bramarbasierendes Reden, das alles erinnerte ihn an seinen früheren Zustand.

Er empfand Mitleid mit ihm, sah aber auf der anderen Seite ein, daß der Versuch, den Abwärtsgleitenden zu retten, vergebens gewesen wäre. Ritt würde ihm ins Gesicht gelacht haben, weil er sich gescheut hätte, den Zusammenbruch seines Inneren einzugestehen.

Eine der Damen sang, als Ritt geendet, ein französisches Chanson, dessen Refrain lautete: Achète moi un homme, maman, if you please, maman.

Die beiden anderen sangen den Refrain mit, und schließlich fiel auch Ginstermann ein.

Nach jedem Vers brachte Ritt einen Trinkspruch aus, einen paradoxer als den andern.

Ginstermann saß vergnügt in seinem niederen Sessel, er war zu müde, um aufzustehen. Es gefiel ihm auch gut. Zur Abwechslung konnte sogar ein Einsiedler mal seine Höhle verlassen.

Die eine der Damen betrachtete ihn durch ihre Lider hindurch mit schillernden Augen, während sie sang.

Man stieß wieder an. Aber Ginstermann war zu müde, nach einem Glase zu greifen.

Zur vollständigen Genesung braucht man immerhin vierzehn Tage, dachte er, je nachdem, je nachdem. Da fühlte er, wie jemand ihm mit der Hand über das Gesicht strich, und er schlief ein. Hinter der Wand hörte er noch Gelächter und Ritts näselndes „Bravo, bravo!“ —

Da stieß ein Vogel mit großen Fittichen gegen seine Stirne, und er öffnete die Augen.

Vor ihm saß eine Dame mit schillernden Augen und lächelte. In ihrer Hand hielt sie ein Kissen mit einer Geste, als wolle sie es nach ihm werfen.

Nun fiel es ihm erst ein, wo er war.

Das war Ritts pompöses Studio, dort stand sein neuestes Bild „Mädchenreigen“ und hier die rotglühende Lampe, und richtig, diese Dame hatte ihm beim Eintreten die Hand gedrückt. Die anderen aber waren nicht zu sehen.

Er war noch voller Schlaf und bewegte die Lippen, um zu sprechen.

„Sie holen Wein,“ sagte das Mädchen, das auf der Ottomane saß, und blies sonderbar lächelnd gegen die Glut ihrer Zigarette.

Er stand auf und gab ihr die Hand, um sich zu verabschieden.

„Sie kommen nicht sogleich wieder“, flüsterte das Weib und blickte ihn an. Ihre Hand bebte.

In seinem Kopfe schwindelte es. Er sagte, sich herabbeugend und lächelnd: „Ich bin müde.“ Ihre Augen waren dicht vor den seinen. Funken tanzten darin. Diese Augen waren wie Magnete, die ihn festhielten. Nun entfernten sie sich, und zwei Reihen weißer Zähne unter roten Lippen kamen näher. Er stand noch immer und hielt diese heiße, zitternde Hand in der seinigen. Da fühlte er eine Hand an seinem Nacken, und ein warmer Hauch traf sein Gesicht.

Dieser Hauch stieß ihn ab. Er richtete sich auf und kam zum Bewußtsein.

„Adieu“, sagte er und ging hinaus.

Ihn schwindelte. Die kühle Luft hier außen tat wohl. Ein paar tiefe Atemzüge, und sein Kopf war klar.

Er stieg die Treppe hinauf. Es war vier Uhr.

An der Tür der Malerin von Sacken, seiner Nachbarin, flimmerte ein kleines Sternchen. Auch sie hatte noch Licht. Alle Leute waren noch wach und waren guter Dinge.

Es war heute ein ganz besonderer Tag!

Er freute sich nun auf die Ruhe und den Moment, wo er sich in seine Decke wickelte mit dem Gedanken, daß nunmehr keine Wagen mit schwarzgekleideten Leuten zu befürchten seien.

Plötzlich lauschte er. Hier hatte jemand geschluchzt!

Es war so stille, daß er das Rollen eines Wagens von der Straße her hörte. Und nun vernahm er wiederum unterdrücktes Schluchzen.

Da drinnen hielt der Gram einen Menschen wach.

Diese Laute nach all dem Lachen des Abends wirkten auf ihn wie eine niederschmetternde Anklage, als trüge er an dem Schmerze jenes Weibes Schuld.

Fräulein von Sacken klopfte eines Abends bei ihm an, um ihn nach der Zeit zu fragen, da sie nicht schlafen könne, wenn ihre Uhr stehe. Aber sie kam nicht deswegen. Sie kam, um mit einem Menschen ein paar Worte wechseln zu können, da die Einsamkeit sie peinigte. Ginstermann erriet das. Und nach kurzem Gespräche fragte sie ihn, ob er wisse, was die drei schrecklichsten Dinge im Leben seien. Sie beantwortete ihre Fragen selbst, indem sie sagte: Die Einsamkeit, die Gestaltungssehnsucht und der Ehrgeiz.

Daran dachte er jetzt. Er sah sie noch deutlich an der Türe stehen und jene drei Worte sprechen, deren jedes einzelne eine Tragödie birgt. Sie waren ihm erschienen wie drei hohe, finstere Tore, hinter denen er nackte Menschenleiber in wortloser Qual sich winden sah.

Heute war sie im Kampfe mit den drei Bestien unterlegen. Er aber wollte ihr helfen. In seiner glücklichen Stimmung konnte er den Schmerz dieses Weibes um so tiefer begreifen.

Er begann an seiner Türe zu rütteln, mit dem Fuß dagegenzustoßen.

Das Schluchzen hörte augenblicklich auf.

Eine Weile wartete er, dann ging er an die Türe der Malerin und pochte behutsam.

„Wer da?“ fragte eine jähe, ängstliche Stimme.

Er, Ginstermann, er bitte um Verzeihung, aber —

Fräulein von Sacken öffnete.

„Herr Ginstermann?“ sagte sie mit leiser, vom Weinen noch unsicherer Stimme und lächelte verwundert.

Ob das nicht zum Verrücktwerden sei: nun habe er seinen Schlüssel verloren und könne nicht in sein Zimmer. Er habe noch Licht gesehen und sich erlaubt, anzuklopfen. Vielleicht habe sie einen Schlüssel oder Haken oder sonst ein Instrument zum Öffnen. Wenn er sie aber im Arbeiten störe —

Ach nein — das sei allerdings unangenehm.

„Treten Sie ein bißchen ein, es findet sich vielleicht etwas.“

Er wäre so frei. Wenn er aber störe, so müsse sie es ruhig sagen.

Im Zimmer brannte eine Lampe ohne Sturz. Auf dem Tische lagen Briefe umhergestreut, von denen einige auseinander geschlagen waren.

Der Anblick der mit allerlei billigem Tand maskierten Ärmlichkeit dieses Mädchenzimmers schmerzte ihn um so mehr, als er noch Ritts vornehmes Atelier mit gedämpftem Lichte, Teppichen und den in Zigarettenrauch gebetteten zwei schönen Frauen in der Erinnerung trug.

Hier roch es nach Terpentinöl und welken Blumen. Die Möbelstücke warfen harte, zackige Schatten im unmittelbaren Lichte der kahlen Lampe.

Der mächtige, abenteuerliche Schatten der Malerin bewegte sich über Wände und Decke.

Fräulein von Sacken war eine große, üppige Erscheinung. In ihrem schwarzen Kleide, mit dem nervösen, bleichen, leicht zerfließenden Gesicht, das von früherer Schönheit zeugte, erschien sie Ginstermann wie die Maitresse eines Fürsten, die den Abschied bekommen hat, da ihre Schönheit verging, und ihr üppiger Körper anfing, seine reinen Formen zu verlieren. Eine sanfte Schwermut erfüllte ihre Züge, als trauere sie über ein verfehltes Leben. Sie hatte große Augen von matter Schwärze mit langen, strahlenförmigen Wimpern. Diese Augen flehten um etwas, das niemand erriet.

Man gewann den Eindruck, daß sie die Nächte in einem Sessel verbringe und vor sich hingrüble, während Tränen ihren dunklen Augen entfielen.

Ginstermann kannte ihre Geschichte. Sie war die Tochter eines höheren Offiziers, und ihre Angehörigen hatten sich aus irgendeinem Grunde von ihr losgesagt und ihr eine knappe Rente ausgesetzt. Sie sprach mit mühsam verhaltener Bitterkeit von ihnen, und ihr Streben ging dahin, einmal ein gutes Bild zu malen, das ihren Namen bekanntmachte, und die Rezension des Werkes ihren Verwandten zuzuschicken. Aber sie sah diese Hoffnung von Jahr zu Jahr mehr verblassen. Man wies jedes ihrer Bilder zurück. Sie hatte mit dem Stilleben begonnen, war dann zum Porträt, vom Porträt zum Genre, zur Landschaft, übergegangen, um schließlich wieder beim Stilleben anzukommen, fest überzeugt, daß sie nur hierin etwas leisten könne.

Das bißchen Talent, das sie mitgebracht, hatte sich längst zerrieben und im verzweifelten Studium alter Meister verloren. Wie es mit allen kleinen Talenten geht, die angesichts einer großen Schöpfung kläglich absterben.

Das Grauen vor der künstlerischen Unfruchtbarkeit war ihr größtes Leiden.

Die Malerin kramte in der Kommode und brachte einige Schlüssel herbei.

„Vielleicht passen die“, sagte sie.

Ginstermann prüfte die Bärte und legte sie kopfschüttelnd beiseite.

„So geht es, wenn der Mensch Unglück hat“, sagte er. „Nun ging ich heute mal aus, seit einem Jahre ist es das erste Mal wieder. Der Mensch sollte nicht so schwach sein, aber ich war heute in einer Stimmung, in einer Stimmung, in der die Leute Selbstmord begehen.“

Er schwieg und sah mit finsterer Miene zu Boden, auf ihre Gegenrede wartend.

„Ich habe Sie stets um Ihre gleichmäßige Ruhe beneidet, Herr Ginstermann.“

„Ein Mensch kann lächeln, während in seinem Innern die Hölle tobt, Fräulein Sacken“, fuhr Ginstermann fort, vor sich hinbrütend. „So einer bin ich. Aber wir tragen ja alle unsere Tragödie in uns herum, ich und Sie und Kapelli und Ritt, alle. Unsere entwickeltere Empfindungsfähigkeit ist schuld daran. Und wir Schaffenden haben neben all den menschlichen Sorgen auch noch die um unsere Arbeit. Gegen diese sind alle anderen nichtig. Weiß man aber, ob all unser Kämpfen einen Sieg vorbereitet? Daß wir das nicht wissen, daran leiden wir. Die einen haben mit Erfolg begonnen und mit Niederlagen geendet. Die anderen fielen aus einer Enttäuschung in die andere und sprengten plötzlich die Schlacke, die sie einhüllte. Solange wir nur das Bewußtsein haben, etwas zu leisten, einmal, gleich wann, so können wir glücklich sein. In unseren schwachen Stunden verläßt es uns, und um uns heult das Elend. Ein Erfolg läßt sich eben nicht vom Himmel reißen, man muß Geduld haben.“

„Viel Geduld!“

„Viel Geduld. Aber nehmen wir an, man hat nie Erfolg, nie Erfolg.“

„Niemand erträgt das.“

„Ich aber sage Ihnen, trotzdem müßte man es ertragen, trotzdem müßte man sich noch glücklich schätzen, stolz sein. Ich frage, kann es uns nicht gleichgültig sein, ob ein verblödetes Publikum uns zujubelt oder uns verlacht? Für wen schaffen wir? Für uns, sonst für niemanden. Wir sollten uns genügen lassen an der Erkenntnis, daß wir überhaupt entwickeltere Wesen sind, feiner, selbständiger empfinden als jene Erbarmungswürdigen, blind, taub und seelenlos Geborenen da draußen. Die Gabe, originelle Eindrücke aufnehmen zu können, des vermittelnden Kunstwerkes entbehren zu können, die sollte uns stolz machen, wenn wir auch nicht die Kraft besitzen, diese gesammelten Eindrücke zum Kunstwerk zu verdichten. Und dieser Stolz sollte uns über alles hinwegtragen, über die Misere des Daseins, über das Gespötte der Welt, das Achselzucken unserer Angehörigen. Man prostituiert sich vor sich selbst, wenn man nur einen Gedanken daran verschwendet. Man sollte, man sollte — aber dazu ist man immer noch zu klein, zu beengt im Blicke.“

Er schwieg.

Die Malerin lehnte am Tische, den Blick zu Boden gerichtet und lächelte. Aber das war nicht ihr stereotypes, wehmütig-liebenswürdiges Lächeln, es war das Lächeln des Befreiten, des Aufatmenden.

Nach einer Weile stand Ginstermann auf. In verändertem Tone sagte er: „Nun sehen Sie, nun habe ich meinen Schlüssel gefunden. Ist das nicht kostbar! Im Futter meiner Westentasche hat er gesteckt.“

„Haben Sie ihn gefunden?“ fragte sie mechanisch.

„Ja,“ entgegnete er, „und nun gute Nacht, und nehmen Sie es mir, bitte, nicht übel, daß ich Ihnen mit meinem Lamento gekommen bin. Es ist menschlich, sich dazwischen Luft machen zu müssen. Morgen bin ich wieder jener, den Sie um seine göttliche Ruhe beneiden.“

Sie nahm seine Hand, sie legte die Linke noch darauf und preßte sie. Ihre Augen waren feucht, ihre Brust wogte. Mit einem Blick, den er sein Leben nicht vergessen würde, sagte sie:

„Es muß doch einen Gott geben!“

„Wieso?“ fragte Ginstermann verdutzt.

Yester und Li

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