Читать книгу Die Anerkennung des Verletzbaren - Bernhard Kohl - Страница 9
ОглавлениеEINLEITUNG
„Nanu, denk ick Jetzt bin ick uff erst war ick zu, Dann geh ick raus und kieke Und wer steht draußen? Icke. Jeder geschlossene Raum ist ein Sarg. Jeder geschlossene Raum ist ein Sarg.“ 1
Theodor W. Adorno konstatierte, dass moralische Fragen immer genau dann entstehen, wenn ein allgemeines, kollektives Ethos gebrochen ist, „wenn jene fraglose und selbstverständliche Vorgegebenheit von sittlichen Normen des Verhaltens im Leben einer Gemeinschaft nicht mehr vorhanden ist“2. Diese Beschreibung der Entstehungsbedingung moralischer Fragen kann zwei Reaktionsweisen nach sich ziehen. Entweder sieht man darin eine Zersetzung und Zerstörung eines gemeinsamen und gemeinschaftlichen moralischen Ethos, die dazu auffordern eine einheitliche Quelle von Moral und Identität wiederherzustellen. Oder aber man sieht genau in der Wiederherstellung dieser Einheitlichkeit ein „Ethos der Gewalt“, weswegen man sich weigert, den Verlust der Einheitlichkeit des Ethos zu betrauern, da jedes kollektive Ethos eine falsche Einheit setzt, welche die Schwierigkeiten und Diskontinuitäten jedes zeitgenössischen Ethos in ebenjenem Ethos aufzulösen sucht und damit im strengen Sinne die Ansprüche einer Moralphilosophie verkennt.3
Das fundamentalethische Interesse dieser Arbeit besteht darin zu klären, ob es eine funktionale und damit exegetisch angemessene Interpretation des Theologumenons der Gottebenbildlichkeit mit Hilfe des anerkennungstheoretischen Paradigmas geben kann, die bei der Beantwortung ethischer Frage hilfreich und weiterführend ist. Es geht in dieser Arbeit damit nicht um die Ausarbeitung eines materialen theologisch-ethischen Konzepts, sondern um das Aufzeigen eines funktionalen Paradigmas, das vom Begriff der Gottebenbildlichkeit in Zusammenschau mit den auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel zurückgehenden anerkennungstheoretischen Ansätzen Axel Honneths und Judith Butlers ausgeht. Konkret wird dieses Paradigma an einer Konvergenz von moderner Anerkennungsdebatte als Versuch einer nicht materialen Grundlegung der Ethik im Kontext des modernen Pluralismus auf der einen und dem biblischen Verständnis der Gottebenbildlichkeit als nicht ontologischer, sondern funktionaler Kategorie auf der anderen Seite beobachtbar. Diese beobachtete Konvergenz legitimiert dazu, das theologische Verständnis der Gottebenbildlichkeit des Menschen für die heutige Zeit gegen die Tradition im Sinne der Mühe der Heuristik der Anerkennung auszulegen und nicht mehr im Sinne substanzieller Merkmale.
Dabei gibt es eine Parallele zwischen der notwendigen Revision der Dissoziation zwischen funktional-relationaler und ontologischer Verständnisweise der Gottebenbildlichkeit, wie sie sich in der Tradition bei der Deutung der Begriffe „Ebenbild” und „ähnlich” eingeschlichen hat, und dem Ringen im Anerkennungsdiskurs um die Versöhnung zwischen einem Ausgangspunkt in Vorstellungsweisen vom guten Leben auf der einen Seite, sowie der formalen Unabgeschlossenheit der Suche nach Anerkennung auf der anderen.
Das erste Kapitel dieser Arbeit nimmt seinen Ausgang von der genannten Frage, welche der beiden grob umrissenen Reaktionsweisen auf die Pluralität und Parallelität gesellschaftlicher Ethoi angemessen sein kann bzw. welche grobe Form ein zeitgenössisches Ethikdesign haben müsste. Vorgeschlagen wird hierfür zunächst der anerkennungstheoretische Ansatz in der Ausgestaltung Axel Honneths. Gleichzeitig wird in diesem Kapitel der Beobachtung zum Theologumenon der Gottebenbildlichkeit nachgegangen, die darin besteht, dass in der theologischen Tradition bei der Interpretation der Ebenbildlichkeit des Menschen eine Dissoziation der beiden dafür im Hebräischen verwandten synonymen Bildbegriffe zaelaem (צלם) und demut (דמות) erfolgte. Daraus entwickelte sich in der theologisch-systematischen Rezeption ein klassisches, ontologisch besetztes und eine einheitliche Basis bietendes Fundamentalargument, das häufig als Fundament anthropologischer und ethischer Aussagen herangezogen wurde und wird.4 In dieser Interpretationsweise eignet dem Theologumenon und der auf ihm aufbauenden theologischen Argumentationen aber eine Unbeweglichkeit im Austausch mit einem pluralen Diskurs, der sich häufig nicht auf ontologische Maßstäbe und Denkweisen einlässt. Damit stellt sich die Frage, ob damit das Theologumenon der Gottebenbildlichkeit als Spitzenaussage theologischer Anthropologie für den pluralen Diskurs „aus dem Rennen ist“, oder ob der Begriff anschlussfähig interpretiert werden kann. Ein Schritt in Richtung einer bleibenden Anschlussfähigkeit kann in der Rekonstruktion dessen bestehen, was die eigentliche Aussageintention der Gottebenbildlichkeit im biblischen Kontext ist – und was nicht.
Dies geschieht im zweiten Kapitel. Damit einher geht die Feststellung, dass der Begriff der Gottebenbildlichkeit im Bereich der Dogmatik einen hohen Systematisierungsgrad aufweist, im Bereich der theologischen Anthropologie und Ethik aber Unklarheiten darüber bestehen, was eigentlich gesagt wird, wenn von der Gottebenbildlichkeit die Rede ist. Hilfreich ist hier eine Ausschöpfung des semantischen Potentials, das im alttestamentlichen Bestand mit dem Begriff der Gottebenbildlichkeit verbunden ist. Außerdem wird die weitere biblische und außerbiblische Traditions- und Interpretationsbildung in den Blick genommen. Hierüber wird deutlich, dass mit dem Theologumenon eine hermeneutisch offene, funktionale Struktur, keine Seins- oder Wesensbestimmung des Menschen beschrieben wird. So kann eine erste, aus der Gottebenbildlichkeit resultierende anthropologische und ethische Zwischenbilanz gezogen werden, die darin besteht, dass sich über die Gottebenbildlichkeit eher erfassen lässt, was das Bild Gottes nicht ist und wie es als Repräsentant Gottes nicht handeln sollte.
Das dritte Kapitel stellt als weitere Akzentuierung des anerkennungstheoretischen Paradigmas dessen Ausarbeitung durch Judith Butler dar. So kann gezeigt werden, wie sich das intersubjektiv angelegte Theoriekonzept Honneths durch den subjektivierenden Ansatz Butlers ergänzen und in bestimmten Punkten auch präzisieren lässt. Ein besonderes Gewicht wird auf den anerkennungstheoretischen Dreischritt von Anerkennungsbedürfnissen des Menschen, deren zwangsläufige Verletzung und Missachtung und den daraus resultierenden Kampf um Anerkennung bzw. die daraus resultierende Fortentwicklung gesellschaftlicher Verhältnisse gelegt. Besonders die Vorgänge von Verletzung und Missachtung menschlicher Anerkennungsbedürfnisse stellen einen zentralen Punkt dar, da sie, also die anthropologische und ethische via negativa, die einzige Möglichkeit darstellen Richtungsindizes für sowohl anthropologische als auch ethische Aussagen herauszuarbeiten. Die via negativa, dies deutet sich an, kann somit zu einem heuristischen Prinzip für die jeweilige Kontextualisierung der Gottebenbildlichkeit werden.
Im vierten Kapitel zeigt sich als Ertrag der durchgeführten Überlegungen, dass sich das anerkennungstheoretische Paradigma für eine funktionale und damit exegetisch angemessene Auslegung der Gottebenbildlichkeit als hilfreich erweist, da sich sowohl im theologischen, als auch im sozialphilosophischen Diskurs der Widerstreit zwischen materialer Füllung einer ethischen Grundlage der Suche nach Anerkennung des Menschen und ihrer bleibenden Offenheit zeigt. Während der säkulare Ansatz dabei die immer neue negative Hermeneutik der Verletzlichkeit akzeptieren muss, bleibt für das theologische Verständnis die Aufgabe der immer neuen Kontextualisierung der Aussagen von der transzendenten Verwiesenheit des Menschen – in seiner Mitte die besondere Aussage vom Menschen als Gottes Ebenbild – allerdings ebenfalls vermittelt über die via negativa.
Um darzustellen, dass Verletzbarkeit als heuristisch-hermeneutisches Prinzip bzw. der anerkennungstheoretische Dreischritt auch theologisch einholbar ist, erfolgt eine auszugsweise Darstellung der Theologie des Dominikanertheologen Edward Schillebeeckx, der mit seinem Konzept der „negativen Kontrasterfahrung“ genau diesen Weg geht – was zunächst nicht verwunderlich ist, da er sich intensiv mit der Frankfurter Schule auseinandersetzte – und so aus theologischer Perspektive ebenfalls zu negativ-offenen anthropologischen und ethischen Richtungsindizes kommt.
Durch die Vermittlung der unterschiedlichen Herangehensweisen kann anstelle einer Betrachtung der Gottebenbildlichkeit als eines materialen, obersten Prinzips die Gottebenbildlichkeit als funktional-kritische Ressource treten, um über die via negativa die historische Kontingenz gesellschaftlich fixierter Anerkennungsverhältnisse, Identitäten und Ausschlussmechanismen aufzuzeigen, sie immer wieder zu hinterfragen und zu dynamisieren. Die Idee der Gottebenbildlichkeit zielt dann in gewissem Sinne darauf, die verletzbare Identität, das unvollkommene Leben von Menschen anzuerkennen und zu schützen und sich dabei lernfähig bzw. heuristisch5 sensibel zu erweisen für sowohl neue Bedrohungen als auch neue Aspekte von Inklusionen menschlicher Identitäten, Biografien und menschlichen Lebens. In genau diesem historisch wandelbaren Anerkennungspotential des Prinzips der Gottebenbildlichkeit liegt auch der beste Schutz davor das Theologumenon zu ideologisieren, zu moralisieren, oder zu einer Formel erstarren zu lassen.
Andererseits kann durch die Gottebenbildlichkeit eine (Transzendenz)Offenheit bewahrt werden, die eine spezifisch christliche Ethik in den pluralen ethischen Diskurs einbringen können muss und darf. Wenn menschliches Leben unverkürzt und gerade auch in seiner Fremdheit gegenüber sich selbst zur Geltung gebracht werden soll, dann ist auch die geheimnisvolle Offenheit des Menschen über sich hinaus, seine Transzendenzverwiesenheit zu berücksichtigen, wobei das Ziel dieser Verwiesenheit nach theologischem Verständnis nicht in einem abstrakten, unberührten Sein besteht, sondern in einer verwundbaren Transzendenz, „welche in nicht festzulegender Offenheit in die Geschichte des Menschen mit ihren Abgründen und ihrer Destruktivität hinein begegnet und diese zu bewältigen hilft“6.
Der vorliegenden Arbeit geht es darum, genau diese Verbindungslinien aufzuzeigen. Weder kann eine generelle nachmetaphysische Grundlegung theologischer Ethik geleistet werden, noch eine abschließende Begründung einer theologischen Ethik der Gottebenbildlichkeit und Personenwürde. Vielmehr geht es darum, die Legitimität der Kontextualisierung des Verständnisses von der biblischen Aussage zur Gottebenbildlichkeit des Menschen in der Beteiligung am Ringen um die zunehmende Anerkennung aller Menschen in den Kämpfen gegen ihre Verletzungen und die Sinnhaftigkeit eines negativen Ansatzes der theologischen Anthropologie und Ethik zu erweisen, die ethisch in einer Anerkennung der Verletzbarkeit des Menschen besteht.
1 Blumfeld, Verstärker, auf: dies.‚ Ein Lied mehr. The Anthology Archives 1, Indigo 2007.
2 Th. W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie, Frankfurt a. M. 22015, 30.
3 Vgl. M. Killius, Grenzen der Anerkennung. Eine Diskussion zwischen Charles Taylor und Judith Butler, in: Ethik und Gesellschaft 1/2014. [http://dx.doi.org/10.18156/eug-1-2014-art-2 (Zugriff am 21.12.2016)]; J. Butler, Kritik der ethischen Gewalt. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. M. 2007, 9ff.
4 So beispielsweise zur theologischen Begründung der Menschenwürde. Vgl. hierzu St. Heuser, Menschenwürde. Eine theologische Erkundung, Münster 2004, 258ff.
5 „Heuristik“ wird hier im Sinne der Abwägung von Wahrscheinlichkeiten verstanden, die aus begrenztem Wissen eine wahrscheinliche Orientierung von Suchbewegungen ermöglicht. Vgl. J. Römelt, Der kulturwissenschaftliche Anspruch der theologischen Ethik (QD; 242), Freiburg i. B. 2011, 39.
6 Vgl. ebd., 21.24.