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2. Die Kindheit in der Unterstadt

I. Das Geburtshaus

Meine Eltern wohnten ursprünglich in Meersburg in der Unterstadt in der Spitalgasse. Sie hatten ein Haus direkt hinter dem Strandcafé. Es war nur wenige Schritte vom Schiffshafen, von der Seestraße und vom Seeufer entfernt. Es hatte drei Stockwerke. Im Erdgeschoss war der Kuhstall und daneben der Aufgang zum Wohnbereich. Aufgrund der Seenähe und der Höhe des Wasserspiegels gab es keinen Keller. Im 1. Stock befand sich unsere Wohnung. Sie bestand aus der Küche, dem Wohnzimmer und zwei Schlafzimmern. Meine Eltern, mein ältester Bruder Rudolf, meine Schwester Marianne, ich und auch noch mein jüngerer Bruder Siegfried wohnten bis 1936 also da. Im Stockwerk über uns war die Wohnung von Onkel Johann, dem Bruder meines Vaters mit seiner Familie.

Ich bin in diesem Haus im 1.Stock, im Schlafzimmer der Eltern, am 20.Mai 1932 zur Welt gekommen. Wie ich später herausbekam, war es an einem Freitag in der Woche vor Pfingsten - eine Hausgeburt, wie es damals üblich war. Ich habe in den ersten Lebensjahren im Zimmer mit meinen Geschwistern geschlafen. Ich erinnere mich noch an meine Eisenbettstatt mit dem abklappbaren Seitenteil sowie an die in der Mitte durchgelegene Matratze auf einem wie ein Kettenhemd zusammengehäkelten Metallrost. Und ich erinnere mich an Krankheitstage in diesem Bett, die nicht enden wollten. In Fieberträumen taumelte ich durch Landschaften auf der Zimmertapete: aus dem violetten kleinblumigen Tapetenmuster krochen Hexen, schwebten zur Decke hin und zogen mich aus dem Bett. Klar vor Augen ist mir auch noch unsere Stube mit ihrer dunkelgrünen Tapete und dem Schreibtisch meines Vaters, den er als Güteraufseher des Markgrafen von Baden ja immer schon brauchte, etwa für die monatlichen Taglohnabrechnungen für die Rebarbeiter. Verstärkt durch die dunkelbraunen Möbel, herrschte in diesem Raum eine bedrückend düstere Stimmung. Aus der Gasse, auf die hinaus das Fenster ging, kam niemals Sonne ins Zimmer. Doch man konnte ja mit wenig Schritten zur Seestraße gehen und hatte dort je nach Wetter und Jahreszeit bald ruhig, bald stürmisch bewegt, die Weite des Sees vor Augen bis hinüber in die Schweiz und bis zu den Alpen.

Besonders interessant war es für mich, als ich schon etwas älter war, an der Schiffslandestelle die Ankunft und die Abfahrt der Schiffe zu beobachten und zu schauen, ob man einen der Ankömmlinge kannte. Es gab schon die „Hohentwiel“ und die „Zähringen“, zwei dickbauchige, einstöckige Raddampfer, die mit ihren roten Schaufelrädern das Wasser aufwühlten und immer mit einer gewissen Schwerfälligkeit an der Hafenmauer anlegten. Als ich erstmals mit der Mutter nach Konstanz durfte, wo sie ihre größeren Einkäufe machte, war für mich die große Sensation auf dem Schiff die Dampfmaschine, die vom Innendeck aus im Bauch des Schiffes frei einsehbar war. Unermüdlich bewegten sich die beiden Kolbenstangen her und zurück und wieder her und zurück und bewegten das Schiff offenbar über die Schaufelräder wie mit zwei riesigen Armen.

Mit der Familie des Onkels war ich gewiss nur wenig zusammen, obwohl das erste Photo, das es von mir gibt, und das einzige in meinem Geburtshaus, in seiner Wohnung aufgenommen wurde. Die beiden Familien verstanden sich nicht. Vor allem die beiden Mütter konnten sich nicht leiden und haben sich später, nachdem die beiden Familien an verschiedenen Orten wohnten, niemals besucht.

II. Das Unterstadtmilieu

Da ich in der Unterstadt geboren und in den ersten kindheitlich prägenden Jahren dort aufgewachsen bin, war ich eigentlich ursprünglich nicht nur ein Meersburger, sondern auch ein Unterstädtler. Nicht wenige Leute, die ebenso da wohnten, bestanden auf dieser speziellen Identität. Die Unterstadt war mein Kindheitsmilieu, und sie war das Milieu, in das die Eltern mit allem, was sie waren und unternahmen, voll integriert waren. Vater war daselbst aufgewachsen, und das Haus, in dem ich geboren bin, war ursprünglich schon sein Elternhaus gewesen, und er hat es zusammen mit einem Scheunenhaus auf der anderen Straßenseite und einem Rebgrundstück an der Ausfallstraße Richtung Uhldingen nach dem plötzlichen Tod seines Vaters im Jahr 1924 von seiner Mutter geerbt.

Es ist ein Jammer zu sehen, wie heute dieser Stadtteil zu einem bloßen Napviertel für Tagestouristen verkommen ist, fast nur noch mit Andenkenläden und Fastfoodlokalen und Trinkbars. Für die Bürger der Stadt war die Unterstadt lange der wichtigere Stadtteil. Sie ist buchstäblich auf Sand gebaut. Die südliche Hälfte ihres Areals wurde im 14.Jh. aufgeschüttet. Diese Aufschüttung hat es erlaubt, eine Marktstraße mit zwei Toren anzulegen, was bald schon die Verleihung des Marktrechts und etwas später des Stadtrechts zur Folge hatte. Ein sehr starkes bürgerliches Engagement machte hier also aus dem vorherigen unbedeutenden Fischer- und Rebleutedorf am Burgabhang eine Stadt. Die mächtigen Bischöfe von Konstanz, die als Burgbesitzer zunächst in der Stadt nur als Gäste präsent waren, honorierten diese Entwicklung durch die Errichtung etwa der Unterstadtkapelle, die lange Zeit ein selbständiges religiöses Zentrum war auch noch neben der Stadtpfarrei in der Oberstadt. Als sich die Bischöfe in der Reformationszeit aus Konstanz nach Meersburg zurückzogen und in der Oberstadt ihre Verwaltungsgebäude und Paläste errichteten, bezogen die Prälaten ihr Domizil in der Unterstadt im heutigen Hotel Schiff.

Soviel zur Vorgeschichte der Unterstadt. Als ich geboren wurde, war sie immer noch ein sehr selbständiger und durch ein lebhaftes bürgerliches Leben geprägter Stadtteil. Hier gab es alle Geschäfte, die man brauchte, und meistens sogar mehrfach- „Läden“ sagte man, nicht Geschäfte, das Wort „Laden“ bezeichnete die mitbürgerliche Funktion. Es gab zwei Metzgerläden, zwei Brotläden, vier Kolonialwarenläden, zwei - etwas später sogar drei Friseure und eine größere Zahl von Gasthäusern. Auch mehrere für die ganze Gemeinde wichtige Einrichtungen befanden sich in der Unterstadt, so etwa die Post und das Notariat, der Winzerverein und in Bezug auf meine Geburt nicht zu vergessen, die Wohnung von Frau Haller, der einzigen Hebamme weit und breit.

Jeder „Laden“ in der Unterstadt hatte dabei eine gewisse Originalität, was neben den Baulichkeiten und den Einrichtungen die atmosphärische Eigentümlichkeit des Stadtteils mitbestimmte. Diese Originalität hing vor allem auch mit den Persönlichkeiten zusammen, die einen „Laden“ führten. So ziemlich alle waren als Personen Originale und prägten sich als solche einem Kind ganz besonders ein. Arthur Zwick etwa, einer der Kolonialwarenhändler, ein dicker Mann mit Glatzkopf, einem Spitzbart und einer randlosen Brille und auch immer mit Krawatte und in dunklem Anzug. Öffnete man die Türe zum Ladenlokal, so schepperte die Ladenschelle, und schon trat er ganz geheimnisvoll aus dem Dunkel des Ladens hervor und fragte: was willst du? Lieber wurde ich von ihm bedient als von seiner noch dickeren Frau. Doch von beiden bekam man am Ende ein rundes farbiges „Zickerle“. Ganz anders war alles bei Druwe nebenan, wo man gewöhnlich die Nudeln kaufen musste, ein großer schlanker Mann mit straff nach hinten gekämmtem Haar, und auch er immer mit Anzug und Krawatte. Er war Protestant, was damals in Meersburg eine Seltenheit war. Das hieß aber einfach, man sah ihn nie in der Kirche. Für ein Kind war er immer auf Distanz, ganz im Gegensatz zu seiner zierlichen kraushaarig fast schon grauen Frau, bei der man sich fast liebevoll angesprochen und bedient fühlte. In diesem Laden bekam man beim Einkaufen ein echtes in Glanzpapier eingewickeltes Bonbon. Eine wiederum andere Atmosphäre herrschte im Kolonialwarenladen Süß und Schneider, wo oft Helmuth, der Sohn von Frau Schneider, einen bediente. Er und sein ganzer Laden repräsentierte die jüngere Generation. Er trug eine weiße Mantelschürze. Doch man sah nicht, womit er sich je schmutzig machen konnte. Die Waren lagen hier wohlgeordnet in einem Wandregal oder auf dem Ladentisch. Man musste zeigen, was man wollte und bekam es eingepackt und ohne jederlei Schnörkelei ausgehändigt.

Ähnlich unterschiedlich wie die Kolonialwarenhändler waren die Bäcker. „Der Mayer“ war nicht nur Bäcker, sondern auch der einzige Konditor am Ort, „Feinbäcker“ sagte man. Und es gab bei ihm Torten, die man alle gerne gehabt hätte, aber niemals bekam. Eine Anisschnitte durfte ich mir da manchmal kaufen, zusätzlich zur Hefe, derentwegen ich in diese Bäckerei geschickt wurde. Der ganze Laden roch immer nach Anis. Geschenkt bekam man da nichts. Der Kauf, bloß für 10 Pfennig Hefe, entsprach natürlich auch nicht dem Niveau dieses Ladens. Im Nebenzimmer gab es ein Café. Ich betrat es nie, beobachtete aber durch die Glastüre, wie Leute dort Kaffee tranken, dem Duft nach richtigen Kaffee, während es zu Hause ja nur Malzkaffee gab. Die Bäckersfrau hinter der Tortenvitrine blickte auf mich herab. „Was willst du denn?“ Und sie gab mir für meine 10 Pfennig die Hefe ohne ein weiteres Wort. Was hatte man als gewöhnlicher Leute Kind da überhaupt zu suchen? Beim Bäcker Thum dagegen, wo die Eltern unser Brot backen ließen, und wo alles ein bisschen schmuddelig war, bekam man oft gratis eine Brezel. Und sowohl der alte dicke Thum mit seiner weiß-schwarz karierten Bäckerhose und seiner mehligen Bäckerschürze als auch Max, der Sohn, den ich duzte, begrüßten mich mit „Na, Bernhärdle, wie geht es dir?“ Die Kinder waren in vielen Familien die Personen, die für Dinge des täglichen Gebrauchs zum Einkaufen geschickt wurden. Die Eltern hatten gewiss gewöhnlich selbst keine Zeit dazu. Doch der andere Grund war, dass sie oft kein bares Geld hatten. Kindern gab man sowieso kein Geld in die Hand. Sie bekamen ja auch kein Taschengeld. Mit ihnen ließ man selbstverständlich anschreiben und brauchte sich dafür nicht zu schämen.

Ein besonderes Verhältnis hatten wir Kinder zu unserem Frisör, zu Rübelmann. Wir mussten alle paar Wochen immer nur zu ihm. Die Eltern ließen uns keine Wahl, denn er war unser Nachbar. Und mit Buben beschäftigte sich da die Frau, die Rübelmännin. Jedes Mal musste man warten, bis sie im Damensalon gerade frei war. „Komm, jetzt bist du dran!“ hieß es dann. Und sie setzte einen auf einen Drehstuhl ohne Lehne, wirbelte ihn hoch, so dass man keinen Boden mehr unter den Füssen und überhaupt keinen Halt mehr hatte, band einem ein riesiges Frisiertuch um den Hals und fing gleich an, mit ihrem Handhaarschneider auf dem Kopf herum zu schnippeln. Man schloss die Augen, und an allen Stellen auf dem Kopf zog, riss und biss es. Manchmal zwickte sie einen auch ins Ohr. Es gab für einen Jungen nur eine Frisur: den Bubikopf. In Wirklichkeit war es eine Glatze, bei der nur vorne über der Stirn ein Schnipsel Haare stehen blieb - kein Ort mehr, an dem sich Läuse einnisten konnten. Wie ein getretener Pudel rutschte man am Ende vom Stuhl herunter und floh aus der Frisierstube, so schnell man konnte. Das Bezahlen regelten sowieso die Eltern.

III. Unterstadtidentität

Ein Unterstädtler sein, das war für mich, ohne dass ich ein Bewusstsein davon hatte, meine Identität, wobei das mehr bedeutete als: die Leute kennen. Man sagte in der Oberstadt, die Unterstädtler seien ein Volk für sich. Gegenüber einem Oberstädtler war man in der Tat wie ein Auswärtiger.

Ich war zwar die ersten vier oder fünf Lebensjahre an sich im elterlichen Haus in der Spitalgasse zu Hause, verbrachte aber in diesen Jahren die meiste Zeit bei Karline. Die Eltern hatten eine Landwirtschaft, hatten 2 Kühe, vor allem aber Reben, in denen das ganze Jahr hindurch immer viel zu tun war. Vater war außerdem im Zweitberuf Güteraufseher für das Rebgut des Markgrafen von Baden. Die Eltern hatten wenig Zeit für die Erziehung der Kinder. Mit den beiden älteren Geschwistern war die Erziehungslast wohl noch einigermaßen überschaubar. Und sie mussten ja auch schon im frühesten Alter mithelfen, wo immer es ging. Für mich dagegen, dem viel später geborenen dritten Kind, suchte man sogleich eine Kindsmagd, die mich tagsüber betreute und die mich so eigentlich auch aufzog. Das war Karline. Sie wohnte nur einige Häuser weiter in der Seestraße. Auch bei ihr blieb ich ein Unterstädtler, bekam aber vieles, was sich in der Familie abspielte, nicht mit. Und ich hatte natürlich keine Ahnung weder von den politischen noch von den lokalen Verhältnissen, unter denen die Eltern zu leben hatten und speziell von den Schwierigkeiten, in die sie mit ihrem Haus kamen.

Die Nationalsozialisten waren bereits 1933 in Meersburg die maßgebliche politische Kraft. Der sehr beliebte Bürgermeister, Dr. Moll, ist schon 1932 in die NSDAP eingetreten. (vgl. „Meersburg unterm Hakenkreuz“, p.13 ) Und 1933 wurde die bestehende Gemeindeverwaltung - Gemeinderat und Bürgerausschuss - aufgelöst, um nationalsozialistischen Mitgliedern Platz zu machen. Vater war zu dieser Zeit Abgeordneter der Zentrumspartei und wurde zusammen mit einem anderen Zentrumsabgeordneten auf Weisung der Gauleitung dazu gezwungen, sein Mandat niederzulegen (vgl. Meersburg unterm Hakenkreuz, p.13). Es ist anzunehmen, dass er dies nicht ohne Protest getan hat. Doch Gegenmanifestationen aus der Bevölkerung gegen die eingetretene Entwicklung sind nicht bekannt. Er hat wohl auch nach dem Verbot der Zentrumspartei noch an den Bemühungen der Zentrumsmitglieder teilgenommen, über die Organisation „Stahlhelm“ einen gewissen Einfluss auf die Politik zu wahren. Noch Jahre später hing in seinem Kleiderschrank eine Stahlhelmuniform, die er nie getragen hat. Sie ist Zeugnis für seine Irritation. Die Organisation ist gescheitert und schließlich aufgelöst worden, wobei die Mitglieder großenteils in die NSDAP übergetreten sind. Vater hat dabei nicht mitgemacht. Sein Verhältnis zum Meersburger Rädelsführer der Organisation, Eduard Sigel, der schließlich Mitglied der NSDAP wurde, war selbst nach dem Krieg noch ein sehr gestörtes. Als Vertreter des Bauernverbandes hatte er mit ihm zu tun, denn er war der einzige Großbauer in Meersburg. Ich musste im Auftrag des Vaters immer wieder eine Unterschrift bei ihm einholen und bemerkte dabei das reservierte Verhältnis.

Vater war in den Zwanziger und Dreißiger Jahren aktiver Vertreter der Zentrumspartei und stand so politisch auf der Gegenseite des Bürgermeisters und der Partei der Nazis. Das war nicht die Ursache, aber doch der Hintergrund, vor dem er wegen seiner Landwirtschaft mitten in der Stadt in Konflikt mit der Stadtverwaltung und mit seinen Nachbarn kam.

Man entdeckte in den späten Zwanziger und den Dreißiger Jahren die Stadt für den Fremdenverkehr oder besser umgekehrt: den Fremdenverkehr für die Stadt und sah, dass man damit mehr Geld verdienen konnte als mit den Reben und mit der Landwirtschaft oder gar mit der Fischerei. Das erklärte und allgemein von den Einwohnern als gut befundene gemeindepolitische Hauptziel des Bürgermeisters Dr. Moll war die Entwicklung des Fremdenverkehrs.1936 stellt er im Gemeindeblatt fest: „Es ist heute nur noch ein kleiner Teil der Einwohnerschaft, der gar keinen Nutzen und Vorteil vom Fremdenverkehr, besonders seit der Entwicklung vom Jahr 1933 ab hatte, vom Hotelgewerbe angefangen bis zum Bauhandwerker und bescheidenen Zimmervermieter“ (vgl. „Meersburg unterm Hakenkreuz“, p. 120).

Mein Vater war mit seiner Landwirtschaft mitten in der Stadt und an einem so exquisiten Platz wie in der Spitalgasse direkt neben dem Strandcafé für den Fremdenverkehr ein Störfaktor allerersten Grades. Auch der Küfermeister Dreher nebenan störte mit seinen Fässern mitten auf der Straße und dem Gehämmer und Gesäge den ganzen Tag über und wurde deswegen kritisiert. Doch die Landwirtschaft meines Vaters war noch anstößiger. Er musste mit seinen Kühen täglich durch die Unterstadt ziehen, um zu seinen Feldern weit außerhalb zu gelangen und am Abend zurück. Die Kuhfladen auf der Straße bis zum Stall neben dem Strandcafé waren ein unvermeidbarer alltäglicher Ärger. Dazu kam, dass seine „Schier“, seine Scheune, mit dem Heu und dem Stroh sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite zum Stall befand, sodass ein tägliches schmutziges und stinkendes und vielleicht auch lärmiges Hin und Her zwischen Stall und Scheune die Folge war. Aber das Schlimmste war wohl, dass sich die Stallmiste am anderen Ende der Unterstadt befand, hinter dem Café Hummel. Jeden Morgen musste der nächtliche Stallmist dorthin gekarrt werden.

Neben unserem Haus also, doch auf der Seeseite und mit einer Terrasse zum See hin befand sich das Strandcafé, ein touristischer Glanzpunkt. Es hatte mit Herrn Weißhaar einen neuen Besitzer bekommen. Aus dem vorherigen bescheidenen „Kaffée Sutter“ wurde nun das allein schon dem Namen nach viel anspruchsvollere „Strandcafé“. Und es war gleich schon bekannt für seinen Kaffee, aber auch für die exquisiten Torten, die im Schaufenster neben unserem Haus täglich neu ausgestellt und von uns Kindern mit wässrigem Gaumen bestaunt wurden. Man roch am Eingang den süßlichen Kaffeeduft und auch die Torten. Dieses Café war freilich nur für die vornehmen Gäste von auswärts da, „die Fremden“, wie man sagte, eine höhere Spezies von Menschen. Alle waren natürlich vornehmer gekleidet als die Meersburger, und sie hatten, so schien es uns Kindern, nichts anderes zu tun, als auf der Seestraße zu flanieren und in einem der Cafés oder Hotels vornehm zu speisen. Meersburger sah man unter all diesen Leuten keine, es sei denn an der Schiffslandestelle, wo sie als Zimmervermieter die „Fremden“ in Empfang nahmen, um sie dann zu ihren Unterkünften zu führen oder aber um sie zu verabschieden.

IV. Der Verkauf des Elternhauses

Der Besitzer des Strandcafés, Herr Weißhaar, der als Nicht-Meersburger ursprünglich wohl keine Ahnung hatte von den örtlichen Gegebenheiten, beklagte sich, kaum dass er sein Haus erworben hatte, über die unerträgliche Nachbarschaft. Und er fand mit seiner Klage vor allem beim damaligen Bürgermeister verständnisvolles Gehör.

1935 eskalierte offenbar die Situation für den Vater. Mit allergrößtem Nachdruck legte man ihm nahe, sich außerhalb der Stadt ein neues Grundstück zu suchen und auszusiedeln. Und er wurde unter Druck gesetzt, dies bald zu tun, ungeachtet seiner finanziellen Möglichkeiten. Dass es sich bei unserem Haus um einen alten, über Generationen hinweg vererbten Familienbesitz handelte, und dass die landwirtschaftliche Nutzung hier althergebrachter Brauch war und auch, dass Meersburg ja seit Jahrhunderten ein renommierter Weinort war mit Rebleuten, die Tag für Tag wohl oder übel dreckig von der Rebarbeit in ihre Wohnungen zurückkamen, dafür hatte man kein Verständnis. Und diese Haltung fand wohl in breitesten Kreisen der Bevölkerung Unterstützung. Längst hatte man allgemein am Geschäft mit den „Fremden“ Geschmack gefunden, andere Werte oder gar nachbarliche Rücksichten hin oder her. Das Milieu, in das ja Vater zutiefst integriert war und die Milieuzugehörigkeit überhaupt zählten nicht mehr. Die touristische Kommerzialisierung war in allen Bereichen in den Köpfen der Leute längst im Gange. Aus jedem Grundstück in der Stadt, aus jeder Kammer konnte man touristisch ein Geschäft machen. Und Dienstleistungen im Fremdenverkehr wurden anstelle der Rebarbeit oder sonstiger herkömmlicher Beschäftigungen zur beherrschenden lebensplanerischen Perspektive. Über die gesellschaftliche Desintegration, die damit verbunden war, machte man sich keine Gedanken. Diese neue Einstellung lag nicht zuletzt auch im Interesse der neuen nationalen Politik.

Der Cafébesitzer bot schließlich an, unser Wohnhaus und auch die Scheune auf der anderen Straßenseite zu kaufen. Es gab keinerlei Ausschreibung und kein offenes Verkaufsaufgebot. Es war im Vorhinein abgemachte Sache, dass er der Käufer sein sollte, und als der einzige Interessent konnte er den Preis diktieren. So musste der von ihm vorgeschlagene Preis akzeptiert werden. Es war ein Zwangsangebot und musste, nicht zuletzt auch unterstützt durch die Politik, angenommen werden, so ungünstig es auch war. Der Verkaufspreis reichte bei weitem nicht aus, um ein Baugrundstück außerhalb zu erwerben und ein Haus zu bauen. Dennoch wurde der Handel abgeschlossen.

Mutter hat später über die Szene beim Kaufabschluss berichtet: Nach dem, was sie erzählte, traf man sich dazu in der Gaststube des Strandcafés: die beiden Ehepaare Neßler und Weißhaar, der Notar und der Vertreter des Bürgermeisters. Man nahm an einem Tisch Platz, klärte den Vorgang, und es wurde unterschrieben. Der Käufer und seine Partei waren damit höchst zufrieden. Frau Weißhaar verließ den Tisch und kam zur Feier des Ereignisses mit einer großen Platte Torten zurück. Sie stellte sie auf den Tisch. Doch es gab, wie Mutter berichtete, keine Kuchenteller, kein Kuchenbesteck und auch keine Einladung zuzugreifen. „Mobbing" würde man zu diesem Verhalten heute sagen. Natürlich: mit Rebleuten, Landwirten von der Art meiner Eltern setzte man sich an diesem Ort sowieso nicht an einen Tisch. Man konnte sich ihnen gegenüber alles erlauben, zumal wenn sie auch politisch auf der anderen Seite standen. Meine Mutter hatte Frau Weißhaar schon als Mitschülerin in der Mädchenschule gekannt. Sie sei eine der Dümmsten gewesen, meinte sie. Doch nun gehörte sie zum Adel der Meersburger Hotel- und Gaststubenbesitzer, einem „höheren“ und auch politisch willfährigen Stand, der mit den Alteingesessenen möglichst nichts mehr zu tun haben wollte. Unser Haus jedoch - und dabei auch mein Geburtszimmer - wurden nach dem Verkauf dem Strandcafé buchstäblich einverleibt. Ein bloßer Mauerdurchbruch im 1. Stock erlaubte es, die Gaststube um unsere Wohnung zu erweitern. Heute noch ist das verifizierbar. Und der Wertgewinn des Cafés durch unser Haus ist nicht mehr zu beziffern.

Eine letzte Erinnerung aus der Zeit, in der mein Vater aus der Unterstadt ausziehen und aussiedeln musste, ist für mich, dass ich an einem Sommertag mit Tante Luis zur Baustelle für das neue Haus ging, um Vater und Onkel Emil, ihrem Mann, die Mittagssuppe zu bringen. Sie waren dabei, in härtester Handarbeit mit Pickel und Schaufel die Baugrube auszuheben. Das Haus stand dann schließlich in einfachster Ausführung da, d.h. nur mit den nötigsten Zimmern, ohne Bad, ohne Wirtschaftsraum für die Landwirtschaft, ohne Doppelfenster, ohne Toilettenspülung, ohne Anschluss an die Kanalisation und aus Geldmangel Jahre lang ohne Verputz.

Kindheitserinnerungen aus Meersburg

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