Читать книгу Folgen einer Landpartie - Bernhard Spring - Страница 6
I.
ОглавлениеDas Stück war elend langweilig.
Ein blindes, fast hilfloses Agieren auf der Bühne, das den angereisten Studenten im Parkett unruhig auf seinem Platz herumrutschen ließ. Dafür also hatte er den zweistündigen Ritt durch die Aue auf sich genommen, hatte die Landesgrenze passiert und sich durch die Schkopauer Wiesen geschlagen. Nur um sich die Frage zu stellen, was wohl schlimmer sei: das preußische Halle, das sämtliche Theater auf Druck der Frömmler geschlossen hatte, oder das altehrwürdige Merseburg im Sächsischen, das mit Inszenierungen dieser Art nur zu deutlich zeigte, wie viel Größe der ehemalige Bischofssitz inzwischen eingebüßt hatte.
Der junge Mann zupfte in Gedanken versunken und nur noch mäßig an dem Dargebotenen interessiert an seinen Pantalons und ließ hin und wieder den Blick durch die Reihen schweifen. Da saßen die faszinierten Merseburger, als würde ihnen hohe Kunst geboten, die nicht einmal auf Goethes Theater in Lauchstädt zu finden sei. Provinzielles Philistervolk! Selbst in Breslau wurde der Kotzebue anständiger gewürdigt.
Dabei hatte er bisher einen so positiven Eindruck von der Stadt bekommen. Mit heißer Schokolade und Kuchen hatte er sich nach dem unbequemen Ritt gestärkt, war anschließend durch die engen, gewundenen Gassen bis zu dem Domplatz gelangt, wo er mit Staunen diesen uralten Kirchbau betrachtet hatte. Solche Imposanz war in Halle nirgends oder höchstens vielleicht in der Marienkirche zu finden. Hier aber, im Dom zu Merseburg, hatte nicht nur Doktor Luther selbst von der reich verzierten Kanzel gepredigt, hier lag auch Kaiser Heinrich begraben, wie ihm ein gemieteter Führer versichert hatte. Zwischen all den teueren Reliquien der Heiligen, die in dem Dom ausgestellt worden waren, hatte ihn, den Fremden, nichts so sehr bewegt wie der katholische Altar, der die Reformation und das Ende des Bistums unbeschadet überstanden hatte. Dass er als Katholik in dieser protestantischen Region auf so alte Zeugnisse seines Glaubens gestoßen war, hatte einen Anflug von Heimweh in ihm aufkommen lassen. Doch im selben Moment schon hatte er über sich lächeln müssen, schließlich hatte er doch erst vor wenigen Wochen die Abgeschiedenheit des heimischen Schlosses Lubowitz gegen das wilde Studentenleben im unübersichtlichen, beengten Halle eingetauscht. Und wohnte er nicht Stube an Stube mit seinem Bruder Wilhelm, der sich auf so liebevolle Weise um den Jüngeren kümmerte, dass dieser ihm manchmal fast die größeren Lernerfolge verzieh? Heimweh, so dachte der junge Mann selbstkritisch, war mehr als unangebracht.
Dann hatte er in den Schlossgarten hinabgesehen, wo die Frühblüher entlang der Brunnen das Grün des Rasens aufhellten. Er hatte auch den Salon am Ende des Gartens erblickt, und als er erfahren hatte, dass man an diesem Nachmittag den großen August Friedrich Ferdinand Kotzebue geben würde, hatte er einfach dabei sein müssen.
Nun kämpfte er mit dem dringenden Wunsch, den Saal zu verlassen. Weder das Stück, noch das Publikum konnten ihn fesseln.
Lauter eintönige, hinlänglich entzückte, aber nichts verstehende Gesichter. Hier und da ein Kommilitone, der wie er einen schöner gedachten Nachmittag nun in Merseburg verlor. Der Rest war eine austauschbare, einfältige Masse.
Erst da erblickte er die Rothaarige. Ihre unter dem rüschenverzierten Kiepenhut hervorlugende griechische Frisur war der Mode um ein paar Jahre hinterher und auch ihre von der vor ihr Sitzenden verdeckte Kleidung würde ebenso wenig aktuell sein. Alles, was er davon sehen konnte, war der Kragen des Kleides, der verriet, dass sie dem städtischen Patriziat oder dem niederen Landadel des Umlandes angehörte. Dieser Stand pflegte seine althergebrachten Bräuche, die er sich nicht mehr leisten konnte. Politisch und wirtschaftlich hatte er längst ausgedient. Der junge Mann kannte die finanziellen Nöte des Landadels nur zu gut, schließlich entstammte auch er einer Familie mit solcherlei Sorgen.
Was ihn nun an dieser Person, von der er wenig mehr als das Gesicht sehen konnte, faszinierte, waren vor allem ihre Augen, die trotz der gespielten Konzentration ihres Gesichts verrieten, dass sie das dargebotene Lustspiel ebenso langweilig fand wie er. In ihr mussten zwei Seelen ruhen: die eine, die sich zu verstellen wusste und dieses kulturelle Martyrium über sich ergehen ließ. Und eine zweite schließlich, die sich nur in ihren Augen offenbarte und voller Leidenschaft und Ironie zu sein schien. Erstere war für eine gewöhnliche, spärlich begüterte Adelige durchaus gewöhnlich und uninteressant. Letztere hingegen, in ihrer hemmungslosen Ehrlichkeit, würde dieselbe Person unmöglich machen und ihr einen obszönen Ausdruck verleihen. Nur die Verbindung des anständigen, erzogenen und des geheimen, heißeren Temperaments bildete das Besondere, das der junge Mann in ihrem Gesicht angedeutet zu finden glaubte.
Aber er war tatsächlich jung, siebzehn Jahre zählte er erst, und abgesehen von einer gewissen Caroline Pitsch, seiner ersten, und zwei albernen Breslauer Gören nach ihr, die er sich mithilfe seiner Rhetorikstunden am katholischen Gymnasium hatte zu eigen machen können, war ihm das Wesen der Frauen nur aus romantischen Schmökereien bekannt. Vielleicht verfiel er aus diesem Grund der fixen Idee, jener Frau, die kaum älter als er sein dürfte, unbedingt vorgestellt werden zu müssen.
Aber leider kannte er in Merseburg niemanden, der ihm diesen Gefallen hätte erweisen können, und so wendete sich der junge Mann seufzend von dem Anblick des Fräuleins ab. Es war tatsächlich ein Jammer.