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Die Farbe meiner Vergangenheit ist Orange.

Wenn ich Worte höre, sehe ich Farben, so war es schon immer. Als ich noch ein Kind war, dachte ich, es würde allen Menschen so gehen. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass jemand nicht so empfand. Es wäre mir wie Blindheit vorgekommen.

Bei manchen Wörtern wirft etwas in meinem Kopf einen Eimer Farbe um, der meinen Verstand ausfüllt. Ich höre oder lese das Wort »Mutter« und sehe vor meinem inneren Auge das warme Goldbraun von Akazienhonig.

Ich höre das Wort »Vater« und ich denke an das Blau der Gákti-Tracht meiner Familie, ein so tiefes und gleichzeitig so leuchtendes Blau, dass es auf Fotos aussieht, als hätte man die Aufnahmen durch mehrere Instagramfilter gejagt.

Ich höre den Namen meines Bruders, Atle, und ich sehe die gleiche Farbe wie bei dem Wort »Schnee«. Es ist nicht das gleißende Weiß eines sonnigen Wintertags, das die Hochebene der Finnmark bis zum Horizont schier explodieren lässt, sodass man die Augen zusammenkneifen muss, um nicht geblendet zu werden. Es ist das stumpfe, tote Weiß von wolkenverhangenen Tagen im Februar, wenn der Schnee bleich und schwer wie die Steinplatten auf Gräbern über dem Land liegt.

Ich vermisse die weiten, schneebedeckten Ebenen der Arktis. Momentan gehören sie zu meiner Vergangenheit, aber es ist nicht die Farbe von Schnee, an die ich denke, wenn mir meine Kindheit in den Sinn kommt. Die Farbe meiner Vergangenheit ist die satte, leuchtende Farbe kleiner Beeren, eine Vielzahl winziger Sonnen, verstreut in der Tundra.

Manchmal, aber nicht immer, erlebe ich diese synästhetische Wahrnehmung andersherum. Genau jetzt zum Beispiel. Ich bin in Oslo Gast auf einer Party. Auf dem Wohnzimmertisch vor mir steht eine Glasschale mit mehreren Orangen. Der Schein der Kerzenflammen über ihnen lässt sie in einem warmen Licht erstrahlen. Ich starre auf die runden Früchte in der Schale, und die laute Musik der Stereoanlage und das Stimmengewirr der Partygäste im Raum um mich herum verblassen wie Details eines vergilbten Zeitungsfotos. Das leuchtende Orange katapultiert mich zurück in einen längst vergangenen Sommer.

Ich knie im Moos nahe einem schmalen Bach, dessen Ränder so von hohem Gras überwuchert sind, dass ich den Verlauf seines dunklen Bandes mehr erahnen als sehen kann. Der Boden ist weich und nachgiebig, er fühlt sich an, als würde ich auf meiner Bettmatratze herumlaufen. Um mich herum leuchten die orangefarbenen Multebeeren. Sie stechen wie kleine Scheinwerfer aus dem satten Grün hervor.

Ich bücke mich und pflücke eine von ihnen, die gerade so reif ist, dass sie sich vom Stängel löst, ohne dass ich lange an ihr ziehen muss. Ich stecke sie in den Mund, schmecke ihren leicht mehligen Geschmack. Sie sind die einzigen Beeren, die frisch gepflückt wie fertige Marmelade aus dem Glas schmecken. Nicht jeder mag sie. Meine beste Freundin Siri aus dem Kindergarten verzieht das Gesicht, wenn wir bei ihr zu Hause spielen und ihre Mutter uns Multebeeren und Zucker auf eine Scheibe Weißbrot schmiert. Sobald wir wieder allein sind, bekomme ich ihr Brot mit dem orangefarbenen Aufstrich hingeschoben. Ich nehme es gerne.

Aber am liebsten esse ich sie direkt da, wo ich sie pflücke. Ich beuge mich vor und strecke meinen rechten Arm so weit wie möglich aus, um eine der Beeren zu erreichen, die an ihrem langen Stängel baumelt und über den Rand des Bachs hinauswächst. Jetzt höre ich deutlich das dumpfe Glucksen des Wassers. Ich ziehe mein rechtes Bein nach vorn, um noch näher an die Beere heranzukommen, aber mein Fuß versinkt im Gras, ohne festen Grund zu finden, und ein Schwall Wasser schwappt über den Rand meines Gummistiefels, so unerwartet und eiskalt, dass ich überrumpelt aufkeuche.

Hinter mir rührt sich etwas. Ein Paar Hände packt mich und reißt mich hoch, heraus aus dem trügerischen Untergrund. Ich werde herumgeschwenkt und wie eine Puppe auf einen halbrunden Stein gestellt. Er ist so stark von Gras und Blaubeerpflanzen überwuchert, dass von ihm nicht viel mehr als eine Erhebung auf dem Boden zu sehen ist. Jedenfalls ist es sicherer Grund.

Atle blickt mit einem breiten Grinsen auf mich herab. Ich bin längst nicht mehr im Kindergartenalter, doch so sieht er in meiner Erinnerung immer aus, hochgewachsen, ein Riese, für dessen Anblick ich meinen Kopf in den Nacken legen muss, wenn ich direkt vor ihm stehe. Er ist keine Schönheit: ein rundes, pausbäckiges Pfannkuchengesicht, Sommersprossen und etwas schief stehende Vorderzähne, die man zwar nur dann zu sehen bekommt, wenn sich seine Lippen zu einem Lachen zurückziehen, aber er lacht gerne und viel. Damals jedenfalls.

»He, Multemonster, pass auf, dass du vor lauter Gier nicht in den Bach fällst«, sagt er gutmütig.

»Ich bin kein Multemonster«, gebe ich wie automatisch zurück. Es ist ein altes Spiel zwischen uns: Er nennt mich fast nie bei meinem richtigen Namen. Stattdessen gibt er mir alle möglichen Spitznamen, und ich weise jeden von ihnen zurück, halb im Spaß und halb ernsthaft beleidigt, denn keiner von ihnen ist mein Name.

Atles Grinsen ist unerschütterlich. »Klar bist du das Multemonster.«

»Bin ich nicht. Ich bin Sara.«

Mühevoll kämpfe ich meinen Fuß aus dem nassen Gummistiefel. Ich balanciere auf einem Bein, während ich mich mit einer Hand an Atle abstütze und mit der anderen das Wasser aus dem Stiefel schütte. Mit der grandiosen Geste eines Bühnenmagiers zieht er einen frischen, weißen Wollsocken aus seinem Rucksack hervor und hält ihn mir entgegen.

»Hier, zieh den an.«

»Du hast extra Socken mitgenommen?« Ich schaue ihn staunend an.

»Bei welcher Villmarksregel waren wir stehengeblieben?«, fragt er trocken zurück.

Ein weiteres Spiel zwischen uns. Villmark, das ist das wilde Land außerhalb von Kautokeino, wo wir wohnen. Atle legt Wert darauf, dass ich weiß, wie ich mich hier draußen verhalte. Seine Villmarksregeln. Ich merke mir nicht die Nummern, ich bin mir nicht einmal sicher, dass die Reihenfolge tatsächlich eine Rolle spielt.

»Hundertundelf?«, frage ich.

»Könnte hinkommen«, sagt er, die Stirn in gespielter Nachdenklichkeit gerunzelt. »Also, Villmarksregel Hundertundelf: Du hast immer ein Extrapaar Socken dabei, für alle Fälle.«

»Okay.« Ich ziehe den frischen Socken über. Mein Gummistiefel ist zwar immer noch feucht, aber der Wollstoff ist so dick, dass ich die Nässe kaum spüre.

»Jetzt kann ich wieder Multe sammeln«, verkünde ich zufrieden und stampfe auf dem weichen Moos auf, wie um meinen Worten Nachdruck zu verleihen.

»Psst!«, macht Atle. Nervös blickt er zum Kamm des flach ansteigenden Hügels hinauf, an dessen Fuß wir stehen. Ich recke den Hals und folge seinem Blick, um zu sehen, was er sieht, aber ich kann nicht erkennen, was seine Aufmerksamkeit geweckt hat.

»Was ist …«, flüstere ich, aber bevor ich meine Frage beenden kann, legt Atle einen Finger an den Mund. Seine Augen funkeln mich eindringlich an. Und jetzt sehe ich es ebenfalls: Auf dem Hügelkamm bewegt etwas die Zweige der niedrigen Bergbirken, die so klein und verwachsen sind, dass sie fast wie Gebüsche aussehen. Es tritt zwischen zwei freie Bäume, ein dunkler Schemen vor dem sonnigen Nachmittagshimmel, groß und unförmig.

Wie in Zeitlupe wendet Atle sich mir zu und hebt mich langsam hoch.

»Das ist ein Bär«, flüstert er an meinem Ohr. Seine Stimme klingt ruhig, aber ich kenne meinen Bruder trotz meiner fünf Jahre bereits zu gut. Ich kann die Anspannung unter seiner Gefasstheit ahnen. »Keine Sorge, Sara, alles ist gut. Mach genau das, was ich sage.«

Er hat mich bei meinem Namen genannt. Plötzlich muss ich vor Aufregung dringend pinkeln.

Von einem Augenblick auf den anderen ist die Erinnerung an meine Kindheit wieder verschwunden. Das Orange der reifen Multebeeren, dessen Leuchten meinen Verstand ausgefüllt hat, verblasst wie unter einem gleißenden Sonnenstrahl.

»Mach das Scheißlicht aus!«, schimpft Odd, der Gastgeber der Party und der Mann, in dessen Altbauwohnung im Bezirk Grønland ich für den Moment untergekommen bin, bis ich eine eigene Wohnung hier in Oslo gefunden habe. Er ist ein hochgewachsener, breitschultriger Kerl, dessen blondes Haar jetzt schon, mit Mitte Zwanzig, so schütter geworden ist, dass er es bis auf die Stoppeln abrasiert hat. Seine blassrosa Geheimratsecken glänzen im grellen Licht eines Deckenstrahlers direkt über ihm wie Speck. Er wehrt den plötzlichen Schein, der den eben noch dunklen Raum überflutet hat, mit einer Hand an den Augen ab. Ärgerlich funkelt er einen Typen an der Tür zum Wohnzimmer an, der sich gerade mit dem halb überraschten, halb belustigten Blick eines schwer Betrunkenen von der Wand abstößt, wo er sich an den Lichtschalter gelehnt hatte.

»Ja, Licht aus, Mann!«, raunzt jemand hinter mir, wo sich eine Handvoll Leute mit Bierdosen in den Händen an einem der hohen Fenster drängt, um Zigarettenrauch auf die dunkle Straße zu blasen. Die Winterluft weht mir kalt über den Rücken.

»Sorry«, sagt der Typ. Durch den Vorhang seiner strähnigen, blonden Haare, die ihm tief ins Gesicht fallen, wirft er Odd einen verlegenen Seitenblick zu. Er drückt auf den Schalter. Sofort ist der Raum wieder in trübes, honigfarbenes Licht getaucht, das von einem Teller mit brennenden Kerzen auf dem niedrigen Wohnzimmertisch ausgeht. Erleichtertes Lachen brandet auf. Ich werfe noch mal einen Blick auf die Schale mit den Orangen vor mir, aber das Fenster in die Vergangenheit hat sich für den Moment geschlossen. Ich weiß nicht, ob ich froh darüber sein soll oder nicht.

Odd kommt mit zwei Whiskygläsern in der Hand auf mich zugesteuert. Die Drinks, die in ihnen umherschwappen, sehen allerdings nicht nach Whisky aus. Er hält mir eines der Gläser entgegen. »Hier!«, ruft er mir über die laut losdonnernde Musik seiner Anlage hinweg zu, die nach einer kurzen Pause gerade wieder eingesetzt hat. »Kann doch meine neue Mitbewohnerin nicht auf dem Trockenen sitzen lassen!«

Ich rieche an dem undefinierbaren schwarzen Inhalt des Glases. Der Geruch von Lakritz steigt mir in die Nase, während sich ein lautes Black-Metal-Gitarrensolo aus den Lautsprechern höher und höher schraubt. Ich weiß weder, was für eine Band gerade spielt, noch, was genau ich da trinken soll.

»Was ist das?«, schreie ich über den Gesprächslärm und die Musik hinweg Odd zu.

»Black Magic. Wodka mit zerstoßenem Lakritz.«

Er grinst breit, als ich ohne weitere Erwiderung mein Glas gegen seines klirren lasse und einen tiefen Schluck nehme. Wahrscheinlich ist es ein Test, um zu sehen, ob ich wirklich so viel vertrage, wie man es den Nordlendingern, den Nordnorwegern, nachsagt. Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand versucht, mich unter den Tisch zu trinken.

»Gar nicht so schlecht«, sage ich. Ich weiß nicht, ob Odd mich gehört hat, aber er leert wie zur Zustimmung sein Glas in einem Zug und verzieht halb genießerisch, halb angeekelt das Gesicht.

Ich hatte erwartet, dass er gleich zum nächsten seiner zahlreichen Gäste weiterwandern würde. Heute Abend haben wir kaum eine Handvoll Sätze miteinander gewechselt. Stattdessen bleibt er neben mir stehen und lehnt sich mit dem Hintern gegen die Tischplatte. Offenbar nähert sich eine Unterhaltung. Ich kenne Odd nicht einmal wirklich. Dass ich im Gästezimmer seiner Wohnung untergekommen bin, verdanke ich meiner alten Freundin Siri Gaup. Seit zwei Jahren haben die beiden eine Beziehung, und vor kurzem ist sie sogar bei Odd eingezogen. Etwas früh, wenn man mich fragt, aber man hat mich nicht gefragt. Siri ist schon kurz nach ihrem Schulabschluss nach Oslo gegangen. Der Norden war nichts für sie. Sie hatte sich in Kautokeino nie wohl gefühlt. Ein wenig kann ich sie verstehen. Auf dem Land kennt jeder jeden. Die Tundra ist weit wie der offene Himmel, aber wenn es um Menschen geht, um die Familien und ihre vielfältigen Verstrickungen, ist das Leben in Finnmark so eng wie die schließfachgroßen Einzimmerwohnungen in Tokio, die ich in Dokumentarsendungen im Fernsehen gesehen habe. Ich bin ebenso wenig ein Familienmensch wie Siri, aber ich hatte diesen Nachteil immer in Kauf genommen. Woanders als in Finnmark zu leben, hätte ich mir nie vorstellen können.

Siri dagegen wollte weg. Als ich vorgestern in Oslo ankam und sie mich am Flughafen abholte, sah ich sie zum ersten Mal seit vier Jahren wieder. Sie hat sich kaum verändert, nur ihr Haar trägt sie nicht mehr so lang wie früher, sondern modisch kurz.

Wo ist sie eigentlich? Unwillkürlich sehe ich mich nach ihr um.

»Na, was hältst du von Oslo?«, ruft Odd mir zu. Die Musik dröhnt mir so laut in den Ohren, dass ich ihn kaum verstehe. Ich überlege mir, in die Küche zu gehen, wo es hoffentlich ein wenig ruhiger ist.

»Ich hab noch kaum was von der Stadt gesehen!«, gebe ich mit erhobener Stimme zurück. Das stimmt nicht ganz – ich habe in der kalten Januarluft ein paar Spaziergänge entlang der Uferbänke des Flusses Akerselva hinter mich gebracht, weil ich das Gefühl hatte, in Odds Wohnung wie in einem Luftschutzbunker eingesperrt zu sein. Aber noch ist mir Norwegens Hauptstadt so fremd wie die abgewandte Hälfte des Mondes. Einmal war ich hier auf Klassenfahrt. Damals war ich zwölf, und ich habe kaum noch Erinnerungen daran, außer, dass es verregnet war und das trübe Wetter das Königsschloss wie einen riesigen, hässlichen Ziegelstein aussehen ließ, ganz anders als auf den Bildern der 17.-Mai-Paraden im Fernsehen.

Odd nickt auf meine Antwort, wobei er auf seine Schuhe starrt. »Wirst dich hier schon zurechtfinden!« Seine Stimme klingt überzeugt von dem, was sie sagt. Sie hat denselben Ton, mit dem Leute verkünden, dass Katzen irgendwie immer auf ihren Füßen landen.

»Siri hat mir das mit deinem Bruder erzählt«, sagt er. »Heftige Sache.«

Bei dem Wort »Bruder« treibt Schnee vor meinen Augen zu Boden, weiß und glanzlos wie Gips. Mein Inneres, das eben noch von dem Salzlakritz-Wodka erwärmt wurde, verwandelt sich in Eiswasser. Ich setze das Glas an meinen Mund und leere es ruckartig in einem Zug. Ich höre kaum, wie Odd weiterredet, irgendwas von herzlichem Beileid. Auf einmal möchte ich am liebsten weg von hier. Es ist mir alles zu viel, mein Umzug von Nordnorwegen in den Süden nach Oslo, die vielen Leute, der Lärm und die Enge.

Wie zur Erklärung halte ich Odd mein leeres Glas vors Gesicht. »Ich hol mal eben Nachschub.«

Er nickt, sichtlich erleichtert, dass er seine Kondolenzen so schnell hinter sich bringen konnte. Während ich mich auf den Weg in die Küche mache, sehe ich, wie er sich auf die Tanzfläche schwingt, die freigeräumte Mitte des Wohnzimmers, wo sich schon zwei Typen und eine Frau zu den wummernden Gitarrenriffs wiegen, als wäre es ein kuschliger Song von The Cure.

In der Küche finde ich Siri. Sie steht an einer langen Arbeitsplatte und schnippelt Zitronenscheiben für Tequilashots. In den beiden Tagen, seitem ich in Oslo angekommen bin, habe ich gesehen, wie sie sich um den Haushalt ihres Freundes gekümmert hat, beinahe wie ihre Mutter früher um ihre riesige Familie. Sie kommen aus völlig verschiedenen Welten und haben eine klare Aufgabenverteilung. Odd hat seine Autowerkstatt und seinen Biker-Club, sie hat die Wohnung und ein Anglistikstudium, von dem ihr Freund vermutlich denkt, dass es so eine Art Hobby ist, nicht etwas, womit sie tatsächlich irgendwann Geld verdienen will. Vielleicht denkt Siri insgeheim dasselbe.

»Soll ich dir helfen?«, frage ich sie.

»Danke, aber ich bin schon so gut wie fertig«, erwidert sie und wischt sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. »Die Jungs vom Club schreien schon nach einer neuen Runde Tequila. Wenn das nächste Mal einer von denen Geburtstag hat, sollen sie gefälligst wieder im Clubhaus feiern – Renovierarbeiten und ausgefallene Heizung hin oder her. Das mache ich nicht noch mal mit. Vollidioten, die ganze Bande.«

Sie setzt sich die halbvolle Tequilaflasche direkt an den Mund und nimmt einen Schluck, bevor sie mir die Flasche hinhält. Ich nehme ebenfalls einen Schluck, ohne mir die Mühe zu machen, etwas von dem Tequila in eines der kleinen Gläser zu gießen, die aneinandergereiht wie Zinnsoldaten auf der Arbeitsplatte stehen. Ich bin noch nie ein Fan von Trinkritualen gewesen. Das ganze Getue um Salz auf dem Handrücken und Beißen in die Zitronenscheibe lenkt doch nur von dem ab, worum es geht: trinken.

Als ich absetze, kreuzen sich unsere Blicke, und zum ersten Mal, seitdem ich sie vor zwei Tagen in der Ankunftshalle von Oslo Gardermoen wiedergesehen habe, ist es wieder wie früher, als sei tatsächlich keine Zeit vergangen. Bilder aus der Vergangenheit blitzen wie unter Stroboskoplicht durch mein Bewusstsein: Siri in einem scheußlichen rosa Pyjama auf dem Bett in meinem Kinderzimmer mit einer Spange über den Vorderzähnen. Siri und ich hinter dem Holzschuppen ihres Elternhauses, wo die Fische zum Trocknen hängen und es nach dem bitteren Rauch von Wachholderholz riecht, während wir uns unsere erste Zigarette hin und her reichen. Siri, den Kopf hochrot wie ein reifer Apfel, wie sie auf der Bühne des Gemeindehauses begeistert zu Wonderwall von Oasis Karaoke singt, während wir sie johlend anfeuern.

Als hätte sie in meinen Kopf hineingesehen, fängt Siri prustend an zu lachen, und ich stimme mit ein.

Jemand wummert an die Wohnungstür. Es klingt so laut, dass wir es sogar über die Musik hinweg in der Küche hören können. Ich frage mich, ob der Partylärm einem der Nachbarn allmählich auf die Nerven geht. Aber dann vernehme ich laute, erfreute Stimmen, eine davon ist die von Odd. Er kommt mit einem Mann im Schlepptau in die Küche, der noch größer ist als er selbst. Der Riese hat im Gegensatz zu ihm strähniges, langes Haar, das ihm bis über die Schultern auf seine dunkelbraune Lederjacke hinabfällt.

»Das ist Asbjørn«, stellt Odd ihn mir vor. Er grinst verschwörerisch. »Wir haben gehofft, dass er kommen würde.«

Tatsächlich habe ich an diesem Abend mit halbem Ohr ein paar gebrüllte Unterhaltungen von Leuten aus Odds Club mitgehört, in denen es darum ging, dass sie noch auf jemanden warten, den sie den Schneemann nennen. Der Name hört sich an, als stamme er direkt aus einem dieser schlechten Filme aus den Achtzigern, die im Fernsehen im Nachtprogramm laufen. Offenbar ist er einer der Leute, von denen Odd und seine Bikerfreunde Drogen beziehen, auch wenn er nicht zu ihnen gehört.

»Und hier bin ich«, sagt Asbjørn an Odd gerichtet und blickt zu mir herab. Er lächelt, aber ich kann keine Freundlichkeit in seinen Augen finden. Sie sehen aus wie die von toten Fischen, dunkel und stumpf.

»Sara ist eine Freundin von Siri aus Kautokeino«, erklärt Odd. »Sie ist frisch hier in Oslo angekommen.«

Asbjørns Lächeln verbreitert sich, ohne dass es ihn mir sympathischer macht. »Sara aus Kautokeino«, sagt er mit gespielt hoher Stimme, wobei er die vorletzte Silbe betont, ein ziemlich schlechter Versuch, Finnmarkdialekt nachzuahmen. Bestimmt kommt gleich ein Spruch, dass ich wie eine typische Samin aussehe, was auch immer das bedeuten soll. Wir alle sehen so unterschiedlich aus, blond, dunkelhaarig, asiatisch, kaukasisch. Dabei gibt es durchaus etwas, das uns eint, aber das findet man nicht im Aussehen, es ist nichts, worauf man mit dem Finger deuten könnte. Es liegt zwischen den Gesichtern.

»Was macht denn eine von euch hier, so weit weg vom Moralkreis?«

Ich muss mir auf die Zunge beißen, um ihm nicht zu entgegnen, was ich von Typen halte, die jemandem aus dem Norden gleich bei der ersten Begegnung diesen bescheuerten Ausdruck ins Gesicht klatschen. Er ist immerhin Odds Freund. Böse Zungen nennen den Polarkreis manchmal Moralkreis, weil sie der Meinung sind, wir würden es hoch oben in Finnmark bei vielen Dingen im Umgang miteinander weniger streng halten. Wahrscheinlich stellen sie sich vor, dass dort ganze Dörfer miteinander rammeln wie die Kaninchen.

Als ich nicht antworte, blickt er von Odd zu Siri.

»Ich … ich hab mal eine Luftveränderung gebraucht«, stoße ich schnell hervor, bevor sie etwas sagen können. Das Letzte, was ich gerade will, ist, dass einer der beiden Asbjørn gegenüber meinen Bruder erwähnt.

»Luftveränderung«, wiederholt er. Dabei schiebt er das Wort in seinem Mund herum, als wäre es ein Schluck Wein, dessen Geschmack er herausfinden will. »Na, dann bist du hier gerade richtig. Wenn du mal eine Stadtführung brauchst, zeig ich dir gerne die besten Ecken.«

Er zwinkert mir mit ausgebreiteten Armen zu, und ich weiß nicht, ob ich angesichts seines plumpen Auftritts lachen soll.

»Komm, wir lassen die beiden alleine«, kommt Siri mir zu Hilfe. Sie hat zwei Whiskygläser halb mit Tequila gefüllt. Jetzt hakt sie mich bei sich unter und zieht mich aus der Küche. Asbjørn sieht mir kurz nach, dann wendet er sich wieder Odd zu.

»Danke für die Unterstützung«, murmele ich im Flur.

»Schon gut. Asbjørn ist nicht jedermanns Sache.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Typ überhaupt jemandes Sache ist.«

Siri wiegt den Kopf hin und her und seufzt. »Ich weiß. Aber die Jungs aus Odds Club kriegen ihr Zeug von ihm.«

»Zeug? Was für Zeug? Gras, Crystal, Heroin?«

»Doch kein Heroin!« Sie hört sich erschrocken an, und ich verkneife mir die Bemerkung, ob Crystal denn viel harmloser wäre. Sie blickt an meiner Schulter vorbei. Ich drehe mich kurz um und sehe hinter uns einen grauhaarigen Mann Mitte Vierzig im Flur stehen. Er muss einer der Ältesten unter den Gästen sein. Mit seinem dunkelgrünen Parka sieht er aus, als sei er eben gekommen oder wolle gerade gehen. Er trinkt aus einer Bierflasche und sieht durch die offenstehende Tür zum Wohnzimmer den Tanzenden zu.

»Ecstasy und Crystal«, höre ich Siri mit leiser Stimme sagen und wende mich ihr wieder zu. »Ich bin auch nicht begeistert davon«, sagt sie wie zur Entschuldigung. »Du kennst mich, ich nehm so was nicht. Aber Odds Kumpels sind anders drauf.«

»Und was ist mit Odd?«, frage ich.

»Hin und wieder kauft er Ecstasy von ihm. Ich will nicht, dass er Meth nimmt. Ich hab ihm gesagt, dass ich mich dann von ihm trennen würde. Aber …« Ihre Stimme verklingt.

»Du bist dir nicht sicher, ob er nicht doch heimlich etwas von ihm kauft.«

»Ich bin nicht dabei, wenn er was mit seinen Kumpels unternimmt. Das ist seine Welt, und ich hab meine. Aber er hat eine Menge Schulden bei Asbjørn, das weiß ich. Deswegen hofiert er ihn in der letzten Zeit auch ständig. Lädt ihn ein, lässt ihm alles durchgehen, egal, wie daneben er sich aufführt.«

Sie seufzt und zuckt kaum merklich die Schultern. In dieser kleinen Geste liegt all das verborgen, was sie nicht ausspricht, die Risse in der Fassade ihrer Beziehung zu Odd, die Dinge, die Paare hinnehmen, so als würde das, was einen am anderen stört, irgendwie von selbst wieder verschwinden, wenn man nur die Augen fest zukneift, oder als würde man sich schon irgendwie daran gewöhnen, weil man ja schließlich immer Kompromisse machen muss. Bis man vor lauter Kompromissen irgendwann nicht mehr erkennbar ist.

Ich würde ihr gerne etwas sagen. Etwas wie: »Du musst für dich einstehen. Wenn Odds Schulden und die Drogen eure Beziehung belasten, kannst du das nicht einfach so hinnehmen.«

Aber ich weiß nicht, ob gerade der richtige Moment ist. Wir sind beide angetrunken, und ich habe das Gefühl, dass der Grauhaarige in dem Parka uns genau zuhört, während sein Blick ins Wohnzimmer gerichtet ist. Jetzt bin ich es, die den Arm meiner Freundin ergreift. Ich ziehe sie an ihm vorbei in den Raum.

»Wer ist der Typ im Flur?«, frage ich sie.

»Das ist Geir. Kein Freund von Odd, sondern von mir. Er ist in Ordnung.«

»Ich hatte das Gefühl, dass er uns beobachtet.«

Siri lächelt. »Keine Sorge, er ist kein creep. Er steht immer irgendwo herum und beobachtet die Leute. Das kommt bei ihm wahrscheinlich mit dem Beruf. Er hat Kunst studiert.«

»Was macht er denn?«

»Er hält sich mit Malereien und Installationen über Wasser. Du würdest seine Sachen wahrscheinlich mögen. Sie sind irgendwie … mystisch.«

Ich glaube zu wissen, was sie damit meint. Im Gegensatz zu mir hat Siri sich nie besonders für die Mythen unserer Vorfahren interessiert. Das alles ist für sie ebenso wie das Christentum immer nur religiöser Hokuspokus gewesen.

»Geir kennt sich mit den alten Sagen aus«, fährt Siri fort. »Im letzten Sommer hat er von Odd eine Auftragsarbeit angenommen. Er hat ihm dieses Pferd aus der nordischen Mythologie auf den Tank und die Seitenverschalung seines Bikes gemalt, als Airbrush-Art.«

»Sleipnir?«

»Ja, ich glaube, das war der Name.«

Ich bin nie tief in die nordische Mythologie eingetaucht, mein Interesse galt immer mehr den Traditionen meines eigenen Volkes. Wir Samen haben nie die nordischen Götter verehrt. Als man meinen Vorfahren den Segen der Zivilisation einprügelte, geschah das im Zeichen des Kreuzes. Aber natürlich kenne ich das achtbeinige Pferd, mit dem Odin durch die neun Welten reist. Ich muss unwillkürlich grinsen, während die Farbe Schwarz vor meinen Augen aufblüht, das Schwarz von Rabenfedern. Sleipnir ist ein stimmiges Motiv für ein Motorrad.

Siri reicht mir eines der beiden Gläser mit dem Tequila. Sie nimmt einen tiefen Schluck und legt die Stirn in Falten. »Ich kann gut verstehen, dass du nach der Einäscherung raus aus Kautokeino musstest. Haben Sie’s dir schwergemacht?«

Ich nehme ebenfalls einen Schluck von dem Tequila und blicke auf die fremden Menschen im Raum. »Du machst dir keine Vorstellung.«

Aus dem Augenwinkel sehe ich sie nicken. »Du hättest nach dem Studium nicht wieder nach Hause gehen sollen. Du bist eine ausgebildete Therapeutin!«

»Was hätte ich machen sollen?«, entgegne ich ihr müde. Die Diskussion habe ich selbst mit mir so oft geführt. »Mama und Marja haben mich nach Papas Tod gebraucht.«

Trotz des Lärms im Raum höre ich sie seufzen. »Ich weiß ja. Vergiss, was ich gesagt hab. Jetzt bist du hier, und das ist es, worauf’s ankommt.«

Eine Weile sitzen wir schweigend auf der breiten Couch in der Mitte des Wohnzimmers, trinken mehr Tequila und lauschen der Musik und dem lauten Stimmengewirr im Raum. Ein warmes Gefühl der Erleichterung breitet sich in mir aus. In den zwei Tagen seit meiner Ankunft in Oslo hatten wir kaum Gelegenheit, miteinander zu sprechen. Siri hatte lange Vorlesungen. Aber jetzt verbringen wir Zeit miteinander, und auf einmal ist es gar nicht mehr wichtig, sich zu unterhalten. Wir sitzen nebeneinander, wie früher. Ich kann sie riechen, und ich erinnere mich.

Der Tequila streckt die Zeit. Erst als sich eine Frau mit langen tiefroten Haaren direkt vor Siri stellt und sie mit rauer Stimme in ein Gespräch über deren anstehende Masterarbeit verwickelt, tauche ich von einem Moment auf den anderen aus dem Dunst aus Müdigkeit und Angetrunkenheit empor. Meine Blase meldet sich, und ich mache mich auf den Weg ins Bad.

Als ich wieder in den Flur trete, sehe ich die Tür zum Treppenhaus offenstehen. Die Luft in der Wohnung ist heiß und stickig, deshalb will ich auf die Straße hinausgehen und etwas kalte Luft auf dem Gesicht spüren.

Schon vor der ersten Treppenstufe vernehme ich undeutliche Stimmen. In der unteren Etage stehen zwei schattenhafte Gestalten vor den Fenstern, durch die ein wenig vom gelben Schein der Straßenbeleuchtung ins Treppenhaus dringt. Die Größe des einen der beiden ist unverkennbar. Es ist Asbjørn.

»Ausreden«, sagt er ungehalten, das erste Wort, das ich klar verstehen kann. Seine Stimme klingt tiefer als oben in der Küche. »Du hältst mich hin, Alex.«

»Nein, ehrlich!«, höre ich den anderen sagen. Ich vergesse nie eine Stimme, ebenso wie ich mich an das Gesicht von jedem Schauspieler erinnern kann, den ich einmal im Fernsehen gesehen habe. Es ist der betrunkene Typ, der sich gegen den Lichtschalter gelehnt hat. Seine Hände sind wie zur Abwehr erhoben. »Ich halte dich nicht … das ist keine Absicht!«

Asbjørns Arm schnellt vor. Er packt Alex und klatscht ihn hart mit dem Rücken gegen die Wand. Schräg über ihm auf der Treppe zucke ich erschrocken zusammen.

»Erzähl das meiner Bank! Die interessiert’s nicht, ob es Absicht war oder nicht. Die interessieren nur Zahlen. Hast du mein Geld oder nicht?«

»Ich …« Ich höre Alex schlucken.

Blitzschnell packt Asbjørn mit der freien Hand die des jungen Mannes. Ich höre das Knacken von Knochen, das hohl durch das Treppenhaus hallt. Beinahe im selben Moment schreit Alex hoch und schrill auf. Sein Oberkörper will sich nach vorne krümmen, aber Asbjørns andere Hand an seinem Hals hindert ihn daran. Er ringt nach Luft, hustet und schreit erneut auf.

»Das war der erste Finger«, erklärt Asbjørn trocken, als ob der höllische Schmerz nicht Hinweis genug für Alex wäre.

»Bist du völlig irre?«, kreischt Alex. Keuchend versucht er sich von Asbjørn zu lösen. »Scheiße, ich … ich sollte morgen bei meiner neuen Band vorspielen! Die nehmen mich nicht, wenn ich den Bass nicht anschlagen kann!«

Asbjørns Griff um Alex’ Hals und Hand lockert sich nicht. »Dann müssen die wohl ohne dein Talent auskommen. Zu blöd für dich. Also noch mal: Kannst du zahlen oder nicht? Jedes Mal, wenn ich die Frage stellen muss, breche ich dir den nächsten Finger.«

Alex stöhnt mit schmerzverzerrter Stimme auf. Mein Herz schlägt hart gegen meinen Brustkorb, aber ich nehme endlich meinen Mut zusammen.

»Lass ihn in Ruhe!«, rufe ich atemlos ins Treppenhaus hinab.

Asbjørn dreht sich zu mir um, als hätte er alle Zeit der Welt. Sein Gesicht liegt vor dem hellen Rechteck des Fensters im Schatten, aber ich glaube, eine verärgerte Miene ausmachen zu können.

»Die Kleine aus Kautokeino«, sagt er langsam. Er wirkt kaum überrascht, mich zu sehen. »Das geht dich nichts an, also misch dich nicht ein!«

»Und ob ich mich einmische!«, erwidere ich. »Du hast dem Jungen einen Finger gebrochen. Lass ihn sofort los, oder ich ruf die Bullen!«

Meine Hand fährt in meine Jeanstasche. Da steckt nichts weiter drin als mein Portemonnaie. Mein Mobiltelefon ist weg. Wahrscheinlich habe ich es im Wohnzimmer auf dem Tisch liegen lassen, in meiner Aufregung kann ich mich gerade nicht erinnern. Aber das weiß Asbjørn nicht. Er lässt Alex los, der sich schnell an der Wand entlangbewegt und die Treppe hochhastet. Schnaufend stellt er sich hinter mich, als wäre ich allen Ernstes so etwas wie seine Beschützerin in weißer Rüstung.

Asbjørn starrt mich wütend an, während er mit schweren Schritten Alex hinterher und auf mich zustapft. Seine Lippen zucken, und schon als er den Mund öffnet, ist mir, als wüsste ich genau, was er mir entgegenschleudern wird.

»Du kleine Samischlampe!«

Das Wort explodiert in meinem angetrunkenen Kopf. Eine scharlachrote Wolke aus Hass füllt mein Denken aus, so physisch fühlbar wie Hitze, die von einem angeheizten und geöffneten Ofen ausgeht.

Ich schwanke und verliere beinahe mein Gleichgewicht. Asbjørns Arm schnellt auf mich zu und ergreift den meinen. Er reißt ihn aus der Hosentasche heraus, so schnell, dass ich noch um ein Haar Zeit genug habe, mein Portemonnaie loszulassen. Seine Augen richten sich auf meine leere Hand. Ich höre ihn hustend auflachen. Mit einem Ruck zieht er mich so dicht zu sich, dass ich den harten Alkohol riechen kann, den er ausdünstet. Jetzt scheint ihm das Licht der Straßenlaterne durch die Fenster ins Gesicht. Ich bin so fasziniert von seinem wütenden Ausdruck, wie ich davon entsetzt bin.

»Steck noch einmal deine Nase in meine Sachen, und ich schneid sie dir ab«, flüstert er mir zu. Mir wird kalt bis unter die Haarspitzen. Er wirbelt mich zum Treppenabsatz herum. Jede unserer beiden Bewegungen verlangsamt sich plötzlich zu Zeitlupengeschwindigkeit, und es ist mir, als würde ich das, was geschieht, außerhalb von mir selbst beobachten.

Ich weiß, dass er mich die Treppe hinabstoßen will.

Im gleichen Moment habe ich die Stimme meines Bruders im Ohr, leise, aber bestimmt.

»Wenn ich es sage, dann schrei, so laut und so wütend, wie du nur kannst.«

Ein Teil meines Verstandes schnellt wie an der Leine eines Jojos in die weite Vergangenheit zurück, an den kühlen, aber sonnigen Spätnachmittag im Hochsommer, als wir beide den Bären sahen.

Mein Bruder hält mich fest in seinen Armen. Seine Augen fixieren das Tier, das am Hügelkamm erschienen ist. Der Bär hat uns bemerkt. Er erstarrt, dann stellt er sich auf die Hinterbeine und ragt zur Größe eines erwachsenen Menschen auf. Der Anblick ist furchterregend und beeindruckend zugleich. Er brennt sich meinem fünfjährigen Verstand ins Gedächtnis.

»Jetzt!«, ruft Atle.

Sein Brustkorb presst sich gegen meinen, als er tief Luft holt. Ein ungeheures Brüllen steigt aus der Tiefe seiner Kehle empor. Ich habe noch nie jemanden so furchterregend schreien hören. Er hört sich gar nicht mehr wie mein Bruder an. Ich tue es ihm gleich, wie er es mir gesagt hat, obwohl mein schrilles Kinderkreischen nicht annähernd so entsetzlich klingt.

Dennoch verfehlt der Lärm nicht seine Wirkung. Der Bär lässt sich schwer vorwärts auf alle viere fallen. Er schüttelt schwerfällig sein Fell, dann dreht er sich um die eigene Achse und verschwindet über den Hügelkamm.

Außer Atem starren Atle und ich uns an. Ein gemeinsames, erleichtertes Lachen bricht sich aus unseren Kehlen seine Bahn. Er drückt mich an sich.

In diesem Moment fühlte ich das unsichtbare Band zwischen meinem Bruder und mir so brennend heiß wie in allen Jahren danach nie wieder. Mein Bruder Atle, mit dem ich als Fünfjährige einen Bären in die Flucht schlug.

Das Jojo meiner Erinnerung schnellt mit einem harten Ruck zurück, und ich stehe über zwanzig Jahre später in einem nächtlichen Treppenhaus einem Mann gegenüber, der mich gepackt hat und mich die Stufen zum Erdgeschoss hinabstoßen wird. Immer noch wie in Zeitlupe hebe ich meine freie Hand. Ich denke nicht darüber nach, es passiert wie ferngesteuert.

Asbjørns Stoß bringt mich aus dem Gleichgewicht. Ich kippe nach hinten. Ein Schrei bricht aus mir heraus, kein hohes Kinderkreischen wie im Angesicht des Bären an einem längst vergangenen Tag in meiner Kindheit, sondern wütend, und aus voller Kehle. Ich kralle Asbjørn die linke Hand in sein langes Haar. Meine Finger finden Halt und reißen mit sich, was sie bekommen können. Überrascht keucht er auf und greift nach meiner Hand, aber umsonst. Ich falle, und ich nehme ihn mit nach unten.

Raubtierstadt

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