Читать книгу Raubtierstadt - Bernhard Stäber - Страница 8
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ОглавлениеIch öffne im Dunkeln die Augen und habe die Orientierung verloren. Als ich mich auf die linke Seite wälzen will, ist da mit einem Mal nicht die Wand neben dem Bett in Siris Zimmer, sondern Leere. Ich falle in vollem Schwung nach unten und krache auf harten Dielenboden. Dumpfer Schmerz schießt durch meine Hüfte, aber noch nachdrücklicher ist der Schock, nicht zu wissen, wo ich bin. Meine Fingerspitzen fahren über staubiges Holz und in die Wolle einer verdrehten Socke.
Ich richte mich in sitzende Haltung auf. Es kommt mir vor, als ob ich mich auf einem Karussell befinden würde, das im pulsierenden Takt meiner Kopfschmerzen durch die Dunkelheit schlingert. Mir dämmert die hässliche Erinnerung, dass ich erst vor ein paar Stunden schon einmal gestürzt bin, und plötzlich fällt es mir wieder ein: Geir hat mich mit zu sich genommen.
Ich taste nach dem Rand des Sofas, das er mir überlassen hat, und ziehe mich daran hoch. Mit einem angestrengten Keuchen lasse ich mich nach hinten fallen. Lichtblitze flackern vor meinen Augen auf und verglimmen wieder, als meine Anstrengung zusammen mit dem Schwindelgefühl nachlässt.
Das Zimmer nebenan, das Geir mir angeboten hat, sieht gut aus. Es ist geräumig und mit seinen beiden Südfenstern wahrscheinlich recht hell, wenn ich davon auch mitten in der Nacht nichts mitbekommen habe. Den Mietanteil könnte ich mir sogar leisten – vorausgesetzt, seine Mitbewohner haben nichts dagegen, dass ich es beziehe, und ebenfalls vorausgesetzt, ich finde schnell einen Job.
Aber das Zimmer ist auch bis auf einen alten Schreibtisch mit wacklig angeschraubten Beinen und einem fast völlig entlaubten Ficusbaum leer. Geir hat mir angeboten, in einem Nebenraum im selben Stock, den alle Mitbewohner des Hauses als Wohnzimmer benutzen, auf dem Sofa zu schlafen.
Ich will mir ein paar Aspirin gegen meine Kopfschmerzen organisieren, habe aber keine Ahnung, wo der verdammte Lichtschalter ist, und die Vorhänge lassen kaum Straßenbeleuchtung durch. Seit dem Aufwachen haben sich allerdings meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt, so dass ich wenigstens die Tür zum Flur erkennen kann.
Im Badezimmer durchsuche ich den Hängeschrank über dem Waschbecken nach Schmerztabletten, aber ich kann nichts finden. Mein Kopf dröhnt von zu viel Alkohol und zu wenig Wasser vor dem Einschlafen, aber die wirklich bösartigen Schmerzen stecken wie abgebrochene Rasierklingen in Hüfte und Schulter. Ich knalle die Schranktür zu und starre mir selbst in dem kleinen Rechteck des Spiegels ins Gesicht. Es ist blass und so schlafverquollen, dass es noch runder als ohnehin wirkt. Mein schulterlanges Haar, das in schlechtem Licht beinahe schwarz aussieht, klebt mir strähnig und verschwitzt an den Schläfen. Ich habe mein Aussehen noch nie besonders gemocht, die viel zu kleine Nase und das strenge Kinn mit der tiefen Furche unter dem Mund. Aber in diesem Moment kommt es mir im kargen Licht der Deckenlampe wie das einer Fremden vor.
Was zum Teufel mache ich hier bloß? Diese Stadt gehört nicht zu meiner Welt, und ich gehöre nicht hierher. Du fehlst mir, Atle. Heute Nacht noch mehr als in den fünf Wochen, die seit deinem Tod vergangen sind. Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll, was ich mir vorgenommen habe. Es war eine völlig bescheuerte Idee. Jetzt bin ich hier gestrandet und hab nicht einmal genug Geld, um wieder nach Hause zu fliegen.
Hinter mir reißt jemand die Badezimmertür auf.
Ich fahre herum. Der Glatzkopf, der dicht vor mir steht, trägt nichts weiter als Boxershorts. Darüber ragt sein nackter Kugelbauch in den Raum. Die straff gespannte Haut schimmert rötlich wie die eines verbrühten Schweins am Schlachterhaken. Der stoppelige, graue Bart rings um seinen Mund lässt ihn älter aussehen als er ist, aber er muss wohl in Geirs Alter sein. Er schwankt leicht, und stützt sich schnell mit einer Hand am Türrahmen ab.
»Wer bist du denn?«, will er wissen. Sein Bass rumpelt tief in der Kehle. Der Blick aus den hervorquellenden Augen über den dicken Tränensäcken wandert von meinem Gesicht hinab zu meinen Brüsten. Bestimmt zeichnen sie sich deutlich unter dem ärmellosen T-Shirt ab.
»Ich … hm … bin eine Freundin von Geir«, murmele ich. Meine Stimme hört sich schlaftrunken an, dennoch bin ich von einem Moment auf den anderen hellwach.
Der Typ starrt mir immer noch auf die Titten, als wäre mein T-Shirt durchsichtig.
»Ich … er meinte, dass ich in eurem Wohnzimmer pennen kann«, füge ich hinzu.
Er hat mich offenbar lang genug gescannt. Jetzt hebt er wieder den Blick und sieht mir ins Gesicht. »Bist du fertig?«, fragt er ohne Umschweife und nickt in Richtung Toilette hinter mir. »Ich muss pissen.«
»Klar«, murmele ich und trete zur Seite. Er schiebt sich mit seinem riesigen nackten Bauch an mir vorbei und klappt den Klodeckel hoch, ohne mich weiter zu beachten. Ich bin schon fast wieder aus dem Raum, als ich innehalte.
»Sag mal, habt ihr irgendwo Kopfschmerztabletten im Haus?«
»In der Küche, im Schrank über der Spüle«, brummt der Glatzkopf, ohne sich zu mir umzudrehen. Ich höre seinen Urin laut ins Klobecken spritzen und knalle die Badezimmertür hinter mir ins Schloss.
Tatsächlich steht in der Küche da, wo er es mir verraten hat, neben zwei leeren Keksdosen und ein paar aufgerissenen Schachteln mit Multivitamintabletten, eine Dose Pinex. Ich schüttle zwei der grauen Pillen in meine Handfläche und schlucke sie mit etwas Wasser, das ich direkt aus dem Hahn trinke. Dann mache ich mich wieder auf den Weg ins Wohnzimmer. Ich hoffe, schnell wieder einschlafen zu können, aber ich wälze mich nur von einer Seite des Sofas auf die andere. Einmal falle ich dabei beinahe wieder auf den Boden. Die beiden Pinex schaffen es nur ansatzweise, meine Kopfschmerzen zu vertreiben. Der dumpfe Druck hat sich in der Mitte meines Hinterkopfs festgesetzt und sich offenbar vorgenommen, mir den Rest des noch jungen Tags auf die Nerven zu gehen.
Als die Dämmerung durch die Vorhänge dringt und die Umrisse des Wohnzimmers immer deutlicher aus der Dunkelheit hervortreten, gebe ich meinen Versuch auf, mehr als nur vor mich hinzudösen und tatsächlich wieder einzuschlafen. In Odds und Siris Wohnung habe ich schon früh am Morgen die Verkehrsgeräusche auf der Grønlandsleiret gehört, aber hier in der kleinen Seitenstraße in Grünerløkka ist alles still. Die Fenster des Wohnzimmers gehen auf einen Hinterhof hinaus.
In der Küche mache ich mich auf die Jagd nach Kaffee. Es dauert eine Weile, bis ich die Dose mit dem schwarzen Gold gefunden habe, aber allein schon der Geruch der gemahlenen Bohnen ist im Vergleich zu den letzten Stunden ein morgendlicher Höhepunkt.
Ich habe es mir auf der Küchenbank unter dem Fenster bequem gemacht und lausche den anwachsenden Geräuschen des aufwachenden Hauses, als der Typ von heute Nacht hereinkommt. Er hat immer noch dieselben dunkelblauen Boxershorts an, aber inzwischen bedeckt ein ausgeleiertes Metallica-T-Shirt seinen beeindruckenden Wanst.
»Morgen«, brummt er mir zu. Sein Blick fällt auf die dampfende Tasse vor mir. »Gibt’s da noch mehr, wo der herkommt?«
Ich deute auf die noch mehr als halbvolle Kanne auf der Arbeitsplatte. »Bedien dich. Ist ohnehin eurer.«
Er schenkt sich ein, ohne Milch oder Zucker hinzuzufügen, dann setzt er sich mir gegenüber und leert die Tasse fast zur Hälfte in einem Zug, wobei er mich schon wieder röntgt.
»Du bist ’ne Freundin von Geir, hab ich das richtig mitgekriegt?«, fragt er, nachdem er abgesetzt hat.
»Freundin wäre zu viel gesagt. Wir haben uns gestern auf einer Feier kennengelernt.«
Der Glatzkopf bemüht sich kaum, ein Grinsen zu verbergen, und ich füge schnell hinzu: »Er hat mich nicht abgeschleppt, falls du das denkst. Geir hat erzählt, dass ihr einen Mitbewohner sucht.«
»Und da hat er dich gleich hier bei uns übernachten lassen?«, brummt der Mann überrascht.
»Ich bin neu in der Stadt. Da, wo ich untergekommen bin, konnte ich nicht bleiben.«
»Na großartig«, ertönt eine gereizte Stimme von der Tür her. »Der alte Idiot schleppt schon wieder Streuner an.«
Eine Frau, die nur zwei, drei Jahre älter als ich aussieht, stößt sich vom Türrahmen ab, in dem sie gelehnt und uns zugehört hat. Ihr kurz geschnittenes blondes Haar steht ihr seitlich vom Kopf ab. Wahrscheinlich ist sie ebenfalls gerade erst aufgestanden. Ich habe sie gar nicht bemerkt, aber die kaum verhohlene Abneigung in ihren Worten färbt die Küche für mich in einen aggressiven, orangefarbenen Schleier ein. Ich hasse es, wenn das passiert, aber ich kann es nicht verhindern. Was bildet die sich ein? Ernsthaft – Streuner?
Ich unterdrücke die schneidende Bemerkung, die mir auf der Zunge liegt, denn ich brauche diese Wohnung. Stattdessen versuche ich, ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen. »Geir wollte euch nicht damit überfahren«, sage ich schnell. »Er meinte zu mir, ihr müsstet alle zustimmen, sonst würde nichts aus dem Angebot.«
»Da hat er ausnahmsweise mal verdammt recht«, sagt die Frau grimmig und bleibt vor mir stehen, ohne sich zu uns zu setzen. Ihr Gesicht ist von Sommersprossen übersät. Die Flecken leuchten in ihrem winterblassen Gesicht, als hätte sie Masern. »Kannst du dir das Zimmer überhaupt leisten? Hast du einen Job hier in Oslo?«
»Jetzt fang nicht aus dem Stand ein Bewerbungsgespräch an!«, poltert der Glatzkopf. Er deutet auf seine Tasse. »Ich hab noch nicht mal meinen ersten Kaffee getrunken.«
Sein Protest beeindruckt sie nicht im Geringsten.
»Wenn sie keine Arbeit hat, kann sie es vergessen. Oder hast du schon vergessen, wie das vor zwei Jahren bei Olaf ablief?«
»Hab ich nicht«, erwidert ihr Mitbewohner gereizt. Er wendet sich an mich. »Geir hat ihn angeschleppt. Hat gesagt, er sei ein alter Kumpel von ihm, und dass er ihm was schuldig wäre. Stattdessen war er es, der uns drei Monate Mietanteil schuldig geblieben ist.«
»Hat nie auch nur eine Krone gezahlt, der Arsch!«, schnaubt die Frau und wirft einen Blick auf den aufgebrühten Kaffee in der Kanne. Sie runzelt die Stirn, dann gießt sie sich aber dennoch eine Tasse ein, kippt etwas Milch dazu und trinkt im Stehen.
»Eins musst du Geir allerdings lassen«, fügt der Glatzkopf hinzu. »Er ist nicht eingeknickt, als wir Olaf am Ende vor die Tür gesetzt haben. Hat ihn sogar eigenhändig rausgeworfen, alte Freundschaft hin oder her.«
Die Frau blickt mich scharf an. »Das würde er auch mit dir machen, wenn du uns deinen Mietanteil schuldig bleiben würdest. Aber ihr seid keine alten Freunde. Du sagst, du kennst ihn erst seit gestern?«
Ich nicke und überlege, dass ich keine Lust darauf habe, ins Detail zu gehen, wie genau Geir und ich uns näher kennengelernt haben. Die Auseinandersetzung mit Asbjørn geht niemanden außer uns beide etwas an. Eigentlich nicht einmal Geir.
»Ja, wir haben eine gemeinsame Freundin. Sie kommt wie ich aus Kautokeino.« Ich halte der Frau die Hand hin. »Ich heiße Sara Elin Persen.«
Die Frau zögert, schüttelt mir dann aber doch die Hand, wobei sie ihre missmutige Miene beibehält. Obwohl sie nicht besonders kräftig aussieht, drückt sie so hart zu, dass ich mich zusammenreißen muss, um mir den Schmerz nicht anmerken zu lassen.
»Ich bin Anja. Anja Larsen.«
»Und ich heiße Vidar Eilertsen«, fügt der Glatzkopf hinzu. »Warum hocken wir uns später nicht einfach alle zusammen?«, fragt er Anja. »Heute ist Sonntag, und bestimmt hat keiner von uns was vor, oder? Dann können wir uns in Ruhe entscheiden, ob wir ihr das freie Zimmer geben wollen oder nicht.«
»Nicht so schnell«, wehrt Anja ab. »Ich hab noch keine Antwort auf meine Frage bekommen.«
Sie wendet sich mir zu. »Du sagst, dass du neu in der Stadt bist. Aber hast du auch einen Job, der dir den Mietanteil finanziert?«
Ich schüttle den Kopf, ohne ihrem Blick auszuweichen. »Nein. Ich habe noch keine Arbeit.«
»Was kannst du denn? Oder was hast du gelernt?«
Ich muss mir ein Lachen verkneifen. Die Antwort, die mir auf der Zunge liegt, klingt bestimmt hier in der Großstadt so, als wolle ich Anja verarschen. »Ich kann mich um Rentiere kümmern.«
Sie stiert mich an, als hätte sie nicht richtig gehört. Neben ihr stößt Vidar, der gerade den letzten Schluck Kaffee getrunken hat, ein tiefes Lachen aus, das dumpf in der leeren Tasse vor seinem Mund widerhallt.
»Rentiere«, brummt er. »Kannst du sie auch schlachten?«
»Wenn’s sein muss, ja. Ich hab oft dabei geholfen. Mein Vater war Rentierzüchter.«
»Kein Job, der hier in Oslo stark gefragt ist«, brummt Anja, die im Gegensatz zu Vidar nicht einmal geschmunzelt hat.
»Ich weiß. Was ich gelernt habe, ist Psychodrama, in Tromsø. Da habe ich Psychologie und Samikultur studiert, und während meines Studiums habe ich immer wieder Klienten für Psychodrama-Therapiesitzungen angenommen. Große Sprünge konnte ich mit den Honoraren nicht machen, aber die Arbeit hat mich finanziell über Wasser gehalten.«
»Du bist also so was wie ein Seelenklempner«, fasst Anja nüchtern zusammen. »Die gibt es in Oslo wie Sand am Meer. Ich will nicht auf deinen Schneeengel pissen, aber ohne Job kannst du keine 6000 Kronen Mietanteil pro Monat zahlen.«
Obwohl ich keine Miene verzogen habe, muss Vidar mir den Schock angesehen haben, als Anja den Preis genannt hat, denn er zieht ein bedauerndes Gesicht.
»Geir ist einfach zu nett. Wir sind alle mit ihm befreundet. Wegen ihm ist diese WG überhaupt entstanden. Er wird seine Gründe gehabt haben, warum er dich zu uns gebracht hat, dafür muss ich ihn nicht mal aufwecken. Trotzdem haben wir unsere Regeln.«
Er legt seine glänzende Stirn in Falten und stößt zurückgelehnt in seinem Stuhl ein tiefes Seufzen aus. »Pass auf: Wenn niemand von den anderen was dagegen hat, dann kannst du ein paar Nächte hier unterkommen, bis du eine andere Bleibe gefunden hast.«
»Mehr können wir nicht für dich tun«, ergänzt Anja ihn. Wie um zu unterstreichen, dass das Thema damit für sie erledigt ist, setzt sie ihre Tasse auf dem Tisch vor mir ab und verlässt die Küche.
Jetzt bin ich wirklich aufgeschmissen. Siri war meine einzige Anlaufstelle in Oslo, und bei Odd und ihr kann ich nicht mehr wohnen. Natürlich könnte ich versuchen, bei anderen Bekannten oder entfernten Verwandten unterzukommen. In dieser Stadt gibt es die größte Gemeinde an Samen außerhalb von Finnmark. Aber der Gedanke gefällt mir nicht. Ich bin gerne für mich alleine. Wegen der Synästhesie, besonders aber wegen der extremen Wucht, mit der Eindrücke von außen oft gegen meinen Verstand anbranden, umgebe ich mich nicht gern mit fremden Menschen, und schon gar nicht will ich von ihnen abhängig sein. Das Psychologiestudium und die Ausbildung zur Psychodrama-Therapeutin waren meine Strategie, die Gewalt meiner Sinneswahrnehmungen zu kanalisieren und sie mir zu Nutzen zu machen. Ich kann mich mit Menschen auseinandersetzen und nehme eine Menge von dem wahr, was sie antreibt – aber in Dosierungen, die größtenteils ich selbst bestimme. Das will ich nicht aufgeben.
Erst als ich langsam und nachdenklich ausatme und mir der dumpfe Schmerz in meinem Kiefer bewusst wird, wird mir klar, wie hart ich die Zähne aufeinandergebissen habe.
Diese Drecksstadt will es wirklich wissen.