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Zentren und Peripherien: Einheit versus Vielfalt?
ОглавлениеWas die territoriale Organisation betrifft, überwiegen auf den ersten Blick die Differenzen. Karten in einem geläufigen Geschichtsatlas suggerieren in der Regel mit einer flächigen Farbgebung ein einheitliches, durch den zentral organisierten Absolutismus mit seinem Zentrum in Versailles beziehungsweise Paris homogenes Königreich Frankreich auf der einen und ein bunt geschecktes, territorial zerklüftetes, polyzentrisches Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation auf der anderen Seite. Wenn Frankreich bereits in der Frühen Neuzeit als Prototyp eines modernen, zentral organisierten Flächenstaates mit einer weitgehend ethnischen und konfessionellen Homogenität gelten kann,35 trifft dies auf das Reich nicht zu. Sowohl die zu Habsburg wie auch zu Brandenburg-Preußen gehörenden Territorien umfassten Gebiete, in denen nicht oder nur in der Minderheit deutsch gesprochen wurde. Hierzu gehörten die Böhmischen Länder und die polnischen Gebiete, die im Zuge der Teilungen zu Brandenburg-Preußen und Österreich gekommen waren. Insofern lassen sich sowohl die Habsburgermonarchie als auch die Hohenzollernmonarchie im Gegensatz zu Frankreich als multiethnische, kontinentale Imperien beschreiben.
Der Gegensatz eines zentralistisch regierten, verhältnismäßig homogenen Staates auf der einen Seite und eines dezentralen, multiethnischen Reiches auf der anderen relativiert sich jedoch, wenn man den Blick auf die Randgebiete der französischen Monarchie lenkt. Denn die peripheren Regionen wiesen eine Vielfalt von Sprachen auf, die vom Bretonischen im äußersten Westen über Flämisch und Elsässisch im Norden und Osten bis zu Katalanisch, Korsisch, Okzitanisch und Baskisch in den südlichen Regionen reichten.36 Auch in zentralen Regionen wie in der Picardie oder in der Vendée wurden eigene Dialekte und Sprachen gesprochen. Zusammen umfassten diese Gebiete knapp ein Drittel der Fläche Frankreichs und besaßen teilweise, beispielsweise in der Bretagne oder dem Languedoc, eigene, weit zurückreichende Traditionen und politische Rechte.37 Insofern greift der Gegensatz eines einheitlichen, homogenen französischen Königreiches und dezentraler Struktur des Heiligen Römischen Reiches mit seinen vielen Ethnien und Sprachen zu kurz.
Auch die Frankreichbesucher um 1800 nahmen die Heterogenität und Vielfalt des Landes wahr. Die Landesbeschreibungen zeugen von einer ausgeprägten regional differenzierten Wahrnehmung, indem die Besucher nach Regionen wie Elsass, Champagne oder Dauphiné unterschieden. Wahrgenommen wurden regionale und lokale Eigenheiten hinsichtlich der Sitten, Kleidung, Landwirtschaft oder Architektur. Darüber hinaus schrieben die Besucher den einzelnen Regionen eigene Charaktere zu, die neben den stereotypen Zuschreibungen des französischen Nationalcharakters bestanden.38 Auch mit der sprachlichen Heterogenität des Landes wurden die deutschen Besucher konfrontiert. Die Reisenden sprachen bis auf wenige Ausnahmen französisch, was jedoch in den provinziellen Regionen abseits der großen Städte nicht notwendig für die Franzosen galt. So geriet Johanna Schopenhauer auf ihrer Reise im Jahr 1804 mehrfach an die Grenzen des Französischen. Weder in der Umgebung von Poitiers noch nördlich von Bordeaux war sie in der Lage, mit den einfachen Leuten auf dem Land zu kommunizieren, da sie die Einwohner „in ihrem Patois“ nicht verstand.39 Vor allem in den südlichen Landesteilen, im Béarn, in Aquitanien oder im Languedoc setzte sich das Französische erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts als Alltagssprache durch.40
Nicht nur deutsche Beobachter, auch die Revolutionäre waren sich der Heterogenität Frankreichs und der daraus entstehenden Probleme, wie zum Beispiel einer schwierigen Kommunikation, bewusst. Eine der ersten und langfristig betrachtet erfolgreichsten Maßnahmen, die im Herbst 1789 ergriffen und binnen weniger Monate umgesetzt wurde, bestand in der Umstrukturierung des französischen Territoriums durch die Schaffung der Departements. Sie verfolgte das Ziel, das Land zu vereinheitlichen und zu zentralisieren.41 Auch hinsichtlich des Willens, die Sprache zu vereinheitlichen, wurden schnell Maßnahmen ergriffen und eine regelrechte „politique de la langue“ durchgesetzt.42 Die Zeit der Revolution führte, vor allem durch die Armee, zu einer starken Verbreitung des français parlé: Wurde das Französische 1789 nur von etwa einem Viertel der Bevölkerung gesprochen, waren es zehn Jahre später bereits drei Viertel.43
Dem vor allem entlang der Peripherie heterogenen Frankreich standen am Ende des 18. Jahrhunderts im Alten Reich 314 eigenständige Territorien und 1400 Reichsritterschaften gegenüber. Das „Elend der Polykratie“ und die „Wirtschaft eines großen Haufens der kleinern Fürsten“44 beklagten bereits Zeitgenossen wie der Schriftsteller Johann Pezzl im Jahr 1784. Durch den Verlust der linksrheinischen Gebiete an Frankreich und die später folgenden territorialen Neuordnungen durch den Reichsdeputationshauptschluss 1803, die formale Auflösung des Alten Reiches und die Gründung des Rheinbundes 1806 sowie schließlich durch den Wiener Kongress hatte Deutschland 1815 ein vollkommen anderes Aussehen als noch 1789.
Somit stellte die Konfrontation mit dem revolutionären und dem napoleonischen Frankreich für Deutschland eine radikale territoriale Veränderung dar. Zwar veränderten sich die äußeren Grenzen des Deutschen Bundes von 1815 gegenüber dem Territorium des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation von 1789 nur marginal. Die größte Gebietsveränderung betraf die ehemaligen österreichischen Niederlande, die 1815 in das neu gegründete Königreich der Vereinigten Niederlande integriert wurden. Der entscheidende Wandel betraf die Verringerung der Zahl der Territorien durch Säkularisation der geistlichen Fürstentümer sowie Mediatisierung, also durch den Verlust der Reichsunmittelbarkeit, von ehemals eigenständigen Herrschaften. Von den 314 eigenständigen Territorien vor 1789 verblieben nach dem Wiener Kongress nur mehr 39 auf dem ehemaligen Gebiet des Alten Reiches. Vor allem die größeren Flächenstaaten wie Brandenburg-Preußen, Baden, Württemberg und Bayern profitierten von der zahlenmäßigen Reduzierung der zuvor zersplitterten Herrschaften, indem sie ihre Territorien auf Kosten der kleineren erweitern konnten.
Germaine de Staël, die zunächst 1803 und dann noch einmal in den Jahren von 1807 bis 1813 Deutschland bereiste, konstatierte im Gegensatz zu Frankreich das Fehlen einer „Hauptstadt“ und eines „gemeinschaftlichen Mittelpunkte[s]“. Stattdessen beschrieb sie eine Vielzahl von politischen und kulturellen Zentren, darunter Berlin, Wien, Dresden, Leipzig und Weimar. Die territoriale Zersplitterung hatte in ihren Augen gegenüber einem einheitlichen Frankreich einen heterogenen und widersprüchlichen Nationalcharakter zur Folge: „Die Deutschen sind Sachsen, Preußen, Bayern, Österreicher; aber der germanische Charakter, welcher die Stärke aller einzelnen begründen sollte, ist zerstückelt, wie das Land selbst, was so verschiedene Herren zählt.“45