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Gesellschaft und Mobilität

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Hinsichtlich ihrer grundsätzlichen sozialen Gliederung in drei Stände, Klerus, Adel und Dritter Stand, waren Frankreich und Deutschland prinzipiell ähnlich. Der Klerus nahm als Erster Stand insofern eine Sonderstellung ein, als er nicht geburtsständisch definiert war. Er umfasste ein breites soziales Spektrum, das vom einfachen, oft nur mäßig gebildeten Landpfarrer bis zum Bischof reichte, wobei die höheren Positionen in der Hierarchie dem Adel vorbehalten waren. Gleichzeitig gab es große Unterschiede. Denn den geistlichen Kurfürsten des Alten Reiches, die neben ihrer kirchlichen Position Landesherren waren, entsprachen keine vergleichbaren Positionen in Frankreich.

Der Adel war in sich ebenfalls stark differenziert und machte in beiden Ländern etwa ein Prozent der Bevölkerung aus. Im Alten Reich entsprach dies etwa 250.000 Personen beziehungsweise 50.000 Familien, die sich nach niederem Lehnadel und hohem Adel unterscheiden lassen. Diese Unterteilung trifft auch für Frankreich zu, wobei hier zusätzlich nach dem in Versailles ansässigen Hofadel und Landadel differenziert wurde.56 Der Dritte Stand umfasste in beiden Ländern sowohl die städtisch-bürgerlichen Schichten als auch die bäuerliche Bevölkerung, die gemeinsam über 95 Prozent der Bevölkerung ausmachten. Die geographische Mobilität der überwiegend ländlich-agrarisch geprägten Gesellschaften war um 1800 in der Regel auf einen lokalen, allenfalls regionalen Rahmen begrenzt.57

Es waren die Revolutionskriege, welche die Enge einer weitgehend immobilen Gesellschaft durchbrachen, die der Tradition, dem Dorf und dem lokalen Lebensraum verhaftet war. Vor allem die auf französischer Seite eingeführte Praxis der levée en masse bedeutete ab 1793 einen Bruch mit der vorrevolutionären Armee. Statt des traditionellen stehenden Heeres mit einem nicht selten hohen Anteil aus dem Ausland angeworbener Soldaten wurden von nun an junge Franzosen en masse zu den Waffen gerufen, wodurch die französische Armee zeitweise auf über 700.000 Soldaten anwuchs – gegenüber etwa 125.000 Mann im Siebenjährigen Krieg.58

Die Wehrpflicht betraf ab 1802 auch die jungen Männer in den von Frankreich annektierten Rheinlanden. Insgesamt dienten ca. 80.000 Rheinländer in der napoleonischen Armee. Dies entsprach bei den älteren Soldaten um die 30 Prozent eines Jahrgangs, bei den jüngsten, zwischen 1790 und 1795 Geborenen sogar bis zu 60 Prozent, von denen nur etwa die Hälfte aus dem Krieg wieder zurückkehrte.59 Was Allan Forrest für Frankreich formulierte, nämlich dass bei über zwei Millionen Franzosen, die zwischen 1792 und 1815 in der Armee dienten, kaum eine Familie nicht mit dem Militärdienst konfrontiert wurde, galt somit auch für die annektierten deutschen Gebiete.60

In welcher Weise die Erfahrungen der jungen Männer, die in den unterschiedlichsten Teilen Europas, von Spanien bis zum Russlandfeldzug, gedient hatten, die „Dorfidylle“ durchbrachen oder als Mittler kultureller Transfers fungierten, ist bislang weitgehend unerforscht und angesichts einer schwierigen Quellenlage problematisch. Ohne Frage brachten sie eine bis dato nicht gekannte Mobilität in die begrenzte Lebenswelt des Dorfes, und es ist kaum zu unterschätzen, dass nicht mehr allein Lehrer und Pfarrer als Angehörige des gelehrten Standes als Mittler von Wissen und Information dienten, sondern an die 50.000 Heimkehrer, die oft große Teile Europas durchquert, entfernte Regionen kennengelernt hatten und im Regiment oder durch Einquartierung mit Fremden in Kontakt gekommen waren. Aber nicht nur die Soldaten selbst, auch ihre Familienangehörigen wurden durch den Wehrdienst gezwungen, die eng begrenzte lokale Lebenswelt, wenn nicht persönlich so zumindest mental zu überwinden, indem sie durch die Institution Armee „zum ersten Mal zu einer bewußten Stellungnahme zu einem Staatswesen aufgefordert“ waren.61

WBG Deutsch-Französische Geschichte Bd. V

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