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3.Etappe

Nach Bad Laer

20. - 24.Februar 2017

Reiseverlauf

Diese dritte Reiseetappe führt mich von Niedersachsen nach Nordhein-Westfalen, von Hannover über die Weser an den Teutoburger Wald bis nach Bad Laer. Dabei lege ich in dreizehn Linien des ÖPNV einen Fahrtweg von ca. 197 Kilometern in ingesamt 7: 10 Std. zurück. Dazu kommt ein Fußweg von 2,4 km. (Weitere Daten befinden sich im Anhang!).

Digitale Verbindungssuche

‚Über Peine, Pattensen nach Paris‘ sagt man in Hannover und umzu, wenn einer einen Umweg macht. Ursprünglich soll in diesem Sprichwort vor Peine noch Moskau genannt worden sein. Damit wurde Geschichtsforschern zufolge der Weg beschrieben, den Napoleons Heer während seiner Eroberungszüge nach Moskau und zurück wohl genommen habe. Mein friedlicher Umweg führt mich von Hannover nur über Pattensen, um danach durch viele mir unbekannte Dörfer und über Bad Salzuflen mein Ziel Bad Laer erreichen zu können. Ob die von mir gewählte Route der kürzeste Weg ist, weiß ich nicht. Mir kommt es wie ein Umweg vor. Ich verlasse mich bei der Auswahl meines Kurses auf die Rechenkünste einer schlauen App. Deren Logarithmen scheitern allerdings an sehr weiten Distanzen. Zumindest an der Strecke von Hannover nach Bad Laer. Dazu ist mein Blick auf einschlägiges Kartenwerk, zum Beispiel das einer weltbekannten Datenkrake, notwendig. Dieses habe ich gutgläubig auf mein Schmachtfon, geziert von der angebissenen Marke einer weltbekannten Gelddruckmaschine, geladen. Alles digital. Den Zwischenschritt Hannover - Hameln verarbeitet der Logarithmus dann erfolgreich, die App wird fündig. So verschlägt es mich zunächst zum ZOB von Pattensen. Nicht über Peine. Nicht nach Paris. An diesem Morgen sitze ich erst in meinem zweiten Bus und habe gleich mal eine ordentliche Verspätung. Ich steige aus und verpasse natürlich den Anschlussbus nach Springe. Und da sollen heute noch 5 Stunden mit 6 Umstiegen nur in Bussen des Öffentlichen Nahverkehrs auf der Fahrt zum Tagesziel Bad Salzuflen vor mir liegen. Na, das kann ja noch heiter werden.

Ein Mutantenbus

Eine Woche später, ich bin wieder zurück in Hannover, bitte ich das regionale Busunternehmen um Erstattung der durch die Verspätung in Pattensen ungültig gewordenen Fahrkarte. Die Antwort ist für mich lehrreich:

"Guten Tag Herr Weiland,

wir danken für Ihre Nachricht.

Der Bus der Linie 320, den Sie ab Pattensen ZOB nutzen wollten am 20.02.2017 um 10.12 Uhr, ist der Bus, mit dem Sie auch von Hannover aus als Linie 300 gekommen sind. Das Fahrzeug fährt die Linie 300 und im Anschluss daran die Linie 320. Sie hätten also im Bus bleiben können und wären dann weiter in Richtung Springe gefahren. Am Bus wird dies auch im Fahrtanzeiger kenntlich gemacht mit “Linie 300 weiter als Linie 320“.

Wir haben dazu auch die Fahrtdaten beider Fahrten ausgewertet. Die Linie 300 erreichte den ZOB in Pattensen mit einer Verspätung von ca. 5 Minuten und fuhr nach einem kurzen Halt am ZOB weiter als Linie 320.

Wir bedauern, wenn es dabei zu einem Missverständnis gekommen ist und hoffen, dass Ihre zukünftigen Fahrten wieder zufriedenstellend und angenehm sein werden."

Da wird aus ein und demselben Bus mirnichts dirnichts ein anderer. Das muss einem Dummen aber auch gesagt werden.

Meine App hatte es mir verschwiegen. So war ich aus der Linie 300 ausgestiegen und von Haltestelle zu Haltestelle geirrt, um die Linie 320 zu suchen. Ich verbuche das Ereignis unter Lehrgeld. Der gemeine Pendler, eine weit verbreitete menschliche Spezies, mag deswegen ins Schmunzeln geraten. Er oder sie kennt natürliche derartige ‚Mutantenbusse‘.

Learning by doing

Zurück zur aktuellen Etappe. Ich warte also in Pattensen an diesem modernen zweckmäßig genormten Ort namens ZOB mit Riesenparkplatz vor dem Supermarkt "Markeegalweilüberallgleich". Zwischendurch ist noch Zeit für einen doppelten Espresso mit Beilage. Eine Stunde später sitze ich dann endlich wieder im Bus. Ich lerne noch so einiges an diesem Tag:

1. Ein Einzelfahrschein, pardon: EinzelTicket, wie es heutzutage heißt, ist nach zwei Stunden abgelaufen, dann muss ich ein neues lösen.

2. Im Bus brauche ich trotz gut gepolsterter Sitze ordentlich Sitzfleisch.

3. An den Haltestellen ist ein guter Orientierungssinn von unschätzbarem Wert: Stehe ich an der richtigen Haltestelle in die richtige Richtung?

4. Diesem Sinn sollten gute Nerven beiseite stehen: Warum stimmt der angezeigte Fahrplan nicht mit meinen recherchierten Zeiten überein?

5. Und alles muß komplettiert werden durch hellwache Sinne: Interpretiere ich die bei den Abfahrtszeiten platzierten Buchstabenkombinationen richtig? Hier zum besseren Verständnis eine erste kleine Auswahl: a, b, c, d, e, f, g. F, Fy, S, Sr, 3, S32, S36, S80, S88, S92, S202, A403, A404, F207, W, W1, A211, A242, A403 und so weiter und so fort, alles Hinweise für Besonderheiten, die wichtig sein können. Ich werde eine Sammlung anlegen! (Eine Liste befindet sich im Anhang!)

6. Von Geduld brauche ich auch eine gehörige Portion, um lange öde Wartezeiten bei ödem Wetter auszuhalten. Habe ich. Die Zeit, um sie auf harten Wartebänken weiter zu trainieren, wird von den Fahrplänen gratis geliefert.

7. Noch etwas lerne ich: Trinke wenig, unterwegs sind die Möglichkeiten, eine Toilette zu benutzen oder ersatzweise ein verborgenes Plätzchen hinter einem dichten Gebüsch zu finden, rar. Oder es gibt schlichtweg keine. Oder du weißt nicht, wo sich eine befindet. Oder die Zeit ist zu kurz. Also lass das Trinken ganz. So ungesund kann Reisen sein.

Reisender ohne Wohnung

In Springe stehe ich am Bahnhof und warte auf eine für mich nützliche Verbindung. Ein Radfahrer, dunkel gekleidet, schwarzes Mountainbike, schwarze regendichte Packtaschen des Marktführers für regendichte Packtaschen, alles akkurat und sauber verschnürt und verstaut, schiebt seinen robusten Drahtesel unschlüssig die Haltestelle hin und her. Er suche den nächsten Supermarkt, spricht er mich an. Er sei schon mal da gewesen, finde ihn jetzt aber nicht wieder. Da bin ich als fremder Durchreisender auch überfragt. Ich bewundere seine Wetterstandhaftigkeit und frage nach woher und wohin. Das kann er nicht genau beantworten. Er sei wohnungslos und kenne sich in den Waldgebieten am Deister mit Schutzhütten ganz gut aus, antwortet er lapidar. Irritiert verabschiede ich mich. Die nächsten Tage ist ein heftiger Sturm mit ergiebigem Regen angesagt. Mich fröstelt bei dem Gedanken, bei dieser kühlen Witterung in einer offenen zugigen Holzhütte einsam im Wald übernachten zu müssen.

Am Schulzentrum in Bad Münder ist dann wieder Umsteigen angesagt. Endstation. Der Busfahrer kann mir zum Anschlussbus keine handfesten Informationen mit auf den Weg geben. So unterbreche ich an der Haltestelle die lebhafte Kommunikation auf ihren Bus wartender Schüler*innen und frage nach dem Bushalt und der Abfahrtszeit meiner nächsten Linie nach Hameln. Ratlose Teeniegesichter. Ich solle doch gegenüber auf den Fahrplan gucken. Würde ich auch, wenn es dort einen gäbe. Ach so. Na ja, der müßte so nach der sechsten Stunde abfahren. Wann das denn sei nach der sechsten Stunde? Diese Zeitangabe kann ich von meiner Uhr nicht ablesen. Die genuschelte Antwort hilft mir nicht weiter. Zu weit auseinander liegen unsere Lebens- und damit Sprachwelten. Ein Milchgesicht schafft es dann doch, mir höflich und korrekt den Weg zur nächsten Haltestelle zu weisen.

Da habe ich sogar noch Muße, 50 Minuten mit der Suche nach der Haltestelle und dem Erwerb und Verzehr einer Bratwurst an einer Grillbude am nahen Baumarkt zu überbrücken. Über dem Imbiss kreisen die ersten Kraniche, trompetende Vorboten des Frühlings. Den Rest der Zeit starre ich von der Haltestelle aus auf die gegenüberliegende gesichtlose Rückwand eines Supermarkts, belästigt vom andauernden Lärm der Hauptverkehrsstraße. In Hameln entfällt wegen der Verzögerung vorhin in Pattensen für mich die eingeplante Mittagspause. Aber ich hatte ja schon eine Bratwurst. Die muss reichen.

Zugehört

Das folgende Gespräch habe ich auf der Reise belauscht, aus dem Gedächtnis notiert und mit ein wenig Fantasie dramatisiert.

Ich gebe ihm die Überschrift:

Ein Ööjro

Die Szenerie:

Verkaufsgespräch an einem Bratwurstimbissstand.

Die Kulisse:

An der Zufahrt zu einem weiträumigen Parkplatz vor einem weiträumigen Supermarkt am Rande einer weiträumigen Kleinstadt. Der Parkplatz ist weiträumig leer. Kurz gesagt, es ist weiträumig wenig los hier im Gewerbegebiet.

Und so läuft es ab:

Ein Kunde nähert sich der Wurstbraterei. Er ist der einzige Mensch weit und breit mit Interesse an deutschem Grillgut. Der Kunde studiert aufmerksam das Sortiment. Aufgeführt sind Brathänchen ohne h hinter dem ä und Bratwurst. Das ist alles. Das Sortimentstudium der doch so unterschiedlichen Spezialitäten dauert eine Weile. Dann scheint die Entscheidung gefallen, die Auswahl getroffen. Der Kunde erkundigt sich. Er hat da eine Frage und erhebt seine Stimme nach oben, gen Verkaufsraum:

“Hallo … ich hätt gern eine Bratwurst …was ham sie fürne Bratwurst wasis das?“

“Ein Ööijro,“ lautet die schnell gebrummte Antwort. Der Kunde ist sichtbar beeindruckt und fragt passend weiter:

-“Ein Euro? Ja und was is da so drin? Schweinefleisch oder Rindfleisch?“ Diesmal dauert es eine Weile, bevor die informative Antwort eindeutig ausfällt:

-“Ja, Schueine.“ Der Kunde scheint beglückt:

“Schweinefleisch! Ja dann is gut.“

Um den Faden des Gesprächs und den Kunden nicht zu verlieren, lautet die schnell anschließende kundenorientierte Verkaufsfrage des vermutlich türkischen Schweinefleischverkäufers:

“Und? Sönf?“

Der deutsche Kunde scheint zunächst überrascht, hat er doch noch gar keinen Auftrag erteilt. Er fängt sich aber schnell und fährt mit seiner Produktrecherche fort:

“Senf auch bitte, jaha …und, wo ist die gemacht, die Wurst?“

Wahrscheinlich würde ihm, wie er da so steht, den Blick immer noch leicht nach oben in die Grillhütte gewandt, die ungefähre Nennung des Erdteils der Herkunft schon genügen. Der Chefkoch aber steht beschäftigt am Grill und läßt sich keine Antwort entlocken. Wer gibt auch schon gerne Produktionsgeheimnisse preis. Der deutsche Zutatenforscher aber läßt nicht locker:

“Wo ist die her die Wurst? Ham sie einen bestimmten Fleischer, wo sie die einkaufen, oder?“ Prompt schallt es aus Richtung des Edelstahlgrills:

“Na einkaufen - da - einfach so.“

Na klar, einfach so. Wie auch sonst. Die Frage wäre geklärt. Da landet die Bratwurst unbestimmter Herkunft schon mit einem geschickten Grillzangenwurf auf der mit einem Klacks gelben Senfs kunstvoll verzierten Pappe. Bloß den Kunden nicht warten lassen!

“Einfach einkaufen so? Okäj … ja danke.“

Von der plumpen Verkaufsstrategie des vermutlich mit allen Wassern gewaschenen Grillkünstlers überrumpelt, zählt der Kunde bereits den ausgepreisten Betrag ab.

Die Münzen fallen klappernd auf den schmalen gläsernen Verkaufstresen. Grillgut und Geld werden getauscht. Der Kunde betrachtet den braun gegarten Darm:

“Ja, danke, super.“

Der Verkäufer ist sichtlich erleichtert über den erfolgreichen Handel und schiebt noch eine Zugabe, die er eigentlich nur für Stammkunden bereithält, hinterher:

„Son bisschen Bruoot?“-

Der Kunde ist erfreut über das unerwartete Schnäppchen und ruft glücklich überrascht:

“Brot? Ja super das ist nich schlecht. Brot is immer gut.“

In diesem Moment wird das angeregte und tiefschürfende Gespräch zwischen Angebot und Nachfrage von intensiven und langanhaltenden Hupgeräuschen im Hintergrund unterbrochen.

“Halloo!“

schimpft der Küchenmeister in Richtung der um Verkehrsraum streitenden PKW-Fahrer. Diesen nicht für möglich gehaltenen emotionalen Ausbruch seines Geschäftspartners hält der noch kauende Kunde für das Angebot, den angeregten Gedankenaustausch weiter zu führen:

“Na der hats aber eilich ne … und lohnt sich das hier für sie?“

Diese geschickte, einmal um die Ecke gelenkte Fragestellung, überfordert den Hähnchenbräter.

“Bitte?“

Die Präzisierung erfolgt mit vollem Mund:

“Lohnt sich das hier für sie mit dem Stand?“

Zehn seit zwei Stunden garende, verkaufsfertige Standardbratwürste werden zum neunundvierigsten Mal gewendet. Hinter der Stirn des Wurstwenders scheint es zu arbeiten. Ist der Kunde etwa ein getarnter Steuerfahnder? Die unverfängliche Antwort durch den gemischten Schweinehähnchenbriedendunst hindurch lautet vorsichtig:

“Näääää.“

Der penible Kunde bohrt weiter:

“Nich so?“

Der misstrauische Bratwursthändler:

“Nä nä nä … … nich viel los.“

Der Kunde läßt nicht locker:

“Und jetz im Winter sowieso nich?“

Diese Fangfrage läßt den Bräter kalt und er bleibt einsilbig:

“Jaaa.“

Da kapituliert der Kunde:

“Okäj“

Sichtlich erleichtert über diese glückliche Gesprächswendung bricht es aus dem Verkäufer heraus:

“Diese Platz nich gutt.“-

Der mitfühlende Kunde stimmt beruhigend zu:

“Is nich gut, jaa. Es kommt keiner zu Fuß hier lang, nä. Oder?“

Die traurige Antwort:

“Keine Fuß, keine Fuß.“

Die von Gebrauchsspuren gezeichnete Würstchenpappe landet ordnungsgemäß in dem dafür bereit gestellten Abfalleimer. Mit einem geseufzten, von grenzenlosem Mitleid mit dem einsamen armen Wurstbräter zeugenden“Ja ja“ schlurft der gesättigte Kunde über den weiten Parkplatz davon, der nächsten Bushaltestelle entgegen. So sind sie, die deutschen Gutmenschen, die echten Bratwurstgourmets auf dieser Welt. Schweinebratwurstarier, einfühlsam und dem Grillgut zugewandt. Der türkische Chefkoch verfolgt ihn noch eine Weile sehnsüchtig mit seinen Blicken, bis er ihn nicht mehr sehen kann. Dann wendet er die gelangweilt vor sich hin schmurgelnden Würste ein fünfzigstes Mal. Fremdes Kulturgut, gebratene Schweine im Darm. Vielleicht kommt ja mal wieder jemand vorbei.

Kleiner Grenzverkehr

Seit Hameln bin ich wieder fahrplanmäßig unterwegs. Auf der weiteren Fahrt überschreitet der Bus irgendwo bei Aerzen die Landesgrenze von Niedersachsen zu Nordrhein-Westfalen. Und damit die Grenze des Verkehrsverbundes. Und damit auch die des Tarifsystems. Wahrscheinlich des RHP (Regionalverkehr Hameln Pyrmont). Oder doch des VHP (Verkehrsgesellschaft Hameln Pyrmont)? Immerhin funktioniert die Beförderung im Sinne eines kleinen Grenzverkehrs im 16-Sitzer-Bus gut. In ihrem tiefsten Inneren erscheint mir unsere Republik schon jetzt am Anfang meiner Reise als ein Konglomerat nahverkehrlicher Fürstentümer und Königreiche. Und noch kleinteiliger wirkt jeder Bus als kleines Fürstentum oder Königreich für sich, mit unterschiedlichen Regenten am großen Steuerrad. Bei dem einen Chauffeur geht es bürokratisch zu wie bei der Antragstellung in einer Amtsstube, beim anderen locker wie beim Einlass in das Festzelt auf der Dorfkirmes, beim nächsten wiederum gemütlich wie am Gemüsestand auf dem Wochenmarkt und dann wieder ruckizucki wie an der Supermarktkasse. Manchmal auch alles gut durchmischt. Bunt und vielfältig. Multikulti auch in der Aussprache mit unterschiedlichsten Akzenten. Bunte Nahverkehrsrepublik Deutschland.

Die Landschaft, durch die ich kutschiert werde, stellt sich sehr nebensächlich dar. Sie ist kaum sichtbar. Nebel und Regen bilden einen dichten grauen Vorhang. Da draußen liegen irgendwo der Deister, der Süntel, das Weser- und das Lipper Bergland, wem das was sagt. Meine Mitreisenden - oder besser: Mitfahrenden - lässt das eh kalt. Sie sind keine Touristen wie ich, sondern Hiesige, Eingeborene, auf dem Weg nach Hause, zur Arbeit, zum Einkauf, zum Arzt oder Amt oder irgendeiner anderen alltäglichen Verabredung.

Zweitausend Jahre zuvor

Zwischen Hameln und Aerzen touchiert meine Route eine historische Verkehrsverbindung, deren Entstehung mindestens 2000 Jahre zurückreichen soll. Es ist der sogenannte Westfälische Hellweg. Er diente dem Warentransport über weite Strecken und verband die zu der Zeit wichtigsten Orte und Produktionsstätten in dieser Gegend mit anderen Gegenden. Ein Jahrtausend später war dieser dann Teil der sogenannten "via regia", eines unter königlichem Schutz stehenden Handelsweges, der bis an die heutige litauische Grenze führte. Wenn man den Verlauf der B1 auf heutigen Landkarten betrachtet, so sieht man in etwa den damaligen Weg dieser alten Straße. Die meisten Bundesstraßen gingen aus ähnlichen historisch gewachsenen Schneisen durch die Landschaft hervor. Auch manche Straßen in großen Städten Nordrhein-Westfalens zeichnen immer noch den Weg nach, auf der der Hellweg früher verlief.

Borgholzhausen, Wesel, Singapur

Bad Salzuflen erreiche ich mit vielen Zwischenstationen wie durch ein Wunder fahrplanmäßig. Ich bin beeindruckt. Mir ist unerklärlich, wie Busse meist pünktlicher sein können als der schienengebundene Zugverkehr. Ist nicht der Straßenverkehr, in dem sich Linienbusse bewegen, chaotischer und unberechenbarer als der zentral gelenkte Verkehr auf der Schiene? Außerdem geht auch immer unkalkulierbar Zeit drauf, wenn vom Fahrer Tickets verkauft oder kontrolliert und langwierige Tarifauskünfte gegeben werden müssen. Im ZOB Bad Salzuflen steige ich im Busbahnhof aus. Was für ein Gebäude! Ich wähne mich in Spanien. Jeder Bussteig hat seinen eigenen Torbogen und ist komplett überdacht.

Am selben Ort entere ich am nächsten Morgen die Linie 350 und fahre frohgemut meinem Ziel entgegen. An der Haltestelle Borgholzhausen/Strothenke - welch lyrischer Name! - erwartet mich neben einem von vier Umstiegen an diesem Tag eine unangenehme Überraschung. Eine, die international bekannt, verflucht und geächtet ist. Nein, nicht der Tritt in Hundescheiße. Die ist an Haltestellen eher unterrepräsentiert. Ich stolpere auch über keine Zigarettenfilter, dem sichersten Hinweis für die Existenz von Haltestellen.

Nein, ein frisch ausgespieenes Kaugummi verbindet sich unlösbar mit der neuen Sohle meines bequemsten Schuhwerks. So frisch, dass er sich gefühlt zwei Meter langzieht, als ich den nächsten Schritt mache. Wissenschaftlern im gesamten uns bekannten Universum ist es bislang nicht gelungen, wirksame Mittel gegen diese Plage der Menschheit zu entwickeln.

Allerdings gibt es wehrhafte Orte, die Widerstand leisten. Wesel erwägt, unabhängig von Größe, Farbe und Geschmacksrichtung eine Kaugummisteuer einzuführen. Mannheim hat in seine Polizeiordnung geschrieben, dass es verboten sei, sowohl Hundescheiße als auch eingespeichelte Kaugummis zu hinterlassen. Und in Singapur hat man die Schnauze respektive die Schuhe wohl richtig voll gehabt. Herstellung, Import und Verkauf von Kaugummis war bis vor kurzem komplett verboten. Neuerdings dürfen Apotheken dort 19 zu therapeutischen Zwecken zugelassene Sorten Kaugummi gegen Notierung von Namen und Reisepassnummer an Kund*innen abgeben. Bei Verstoß gegen diese Regeln drohen dem Drogisten empfindliche Geldstrafen oder gar Kerker. In London dagegen produziert ein phantasiebegabter Künstler Miniaturbilder auf die getrockneten Hinterlassenschaften am Boden, bleibt straffrei und wird damit weltbekannt. Die spinnen bekanntlich, die Briten.

Mir hilft das alles nichts. Mit klebrigem Schuhwerk erreiche ich nach weiteren Umstiegen früh am Tag das Ziel der Etappe: Bad Laer.

Privatkur

Bad Laer? Nie gehört. Macht nichts. Dieser Kurort ist das Ziel meiner Etappe. Am Rande des Teutoburger Waldes, wo die Sole aus der Erde tritt. Salziges Wasser, hilfreich bei jeglichen Zipperlein. Ich solle unbedingt auch bei "da L." ein herrliches Eis schlecken, schlug G. mir vor, als sie mich hierher sandte. Aber das Eiscafé hat noch geschlossen, die Saison hat noch nicht begonnen. Das sagt sich auch die Witterung. Macht den Gute-Wetter-Laden zu und jagt Sturm und Regen über das Land.

Also mache ich das Beste daraus. Ich genehmige mir eine Tages-Privatkur in der gut geheizten kleinen Solebadeanstalt, dem zentralen Therapiezentrum dieses beschaulichen und überschaubaren Ortes mit kleinstädtischem Charme. Meine Anwendungen gestalte ich in Eigenregie selbst mit ChiGong, mir kürzlich auf Kassenkosten aufgetragenen physiotherapeutischen Übungen gegen die Blockierung meines Iliosakralgelenks, heftigen heißen Soledampfinhalationen und "Totem Mann" auf dem hochkonzentrierten Salzwasser des Badebeckens. Natürlich gibt es danach als Belohnung Sahnetorte mit extrastarkem schwarzem Heißgetränk im Park-Café und abends budgetentlastend Discounter-Kost in meiner von Handwerkern bevölkerten gemütlichen Pension.

Zwei Postkarten müssen noch auf den Weg gebracht werden. Ich sende sie regelmäßig von unterwegs an meine kleinen Enkel. Von einem Kiosk, der keine Touristenware im Sortiment hat, werde ich zu einer Buchhandlung geschickt. Ein altertümlicher Leuchtkasten über dem Eingang trägt den Namen Eugen B. in einem nicht mehr gebräuchlichen Schriftfont. Im selben althergebrachten Stil verkünden die Schaufenster ‚Papierwarenhandlung‘ und ‚Buchhandlung‘ in einem. Ich betrete einen bis zum letzten Quadratmilimeter von oben bis unten vollgepackten Verkaufsraum und fühle mich in eine vergangene Zeit versetzt.

Feuerzeuge, Tornister, Bücher, Schreibwaren, Taschenlampen, Zeitungen, Postkarten, Druckerpatronen und Wundertüten. Wo gibt es denn heute noch Wundertüten? In Bad Laer, im überquellenden Sortiment und Sammelsurium von Eugen B. Zwei Mädchen, vom Alter her erste Grundschulklasse, suchen sich gegenseitig beratschlagend Devotionalien in Form moderner Heldenfiguren aus, die wohl gerade ‚in’ sein müssen. Sie finden etwas, Material Plastik, Farbe Pink, das wohl ihrem Taschengeldbudget entspricht. Die Euro-Münzen in die kleinen Hände gepresst stellen sie sich zum Bezahlen an. Ein Bild aus meiner Kindheit schiebt sich über diese Szenerie. Ich sehe mich, Wundertüten sorgfältig auswählend, befühlend, in der Hoffnung, einen Löwen oder gar Elefanten aus Plastik zu finden. Meistens wurde ich enttäuscht. Dennoch wiederholte ich diesen Nervenkitzel bei der nächsten finanziellen Zuwendung. Zurück in die Gegenwart. Die Ladenbesitzerin nimmt gerade per Telefon einen Suchauftrag nach einem Buch an. Ihre Mutter, augenscheinlich schon weit im Rentenalter, prüft derweil an der Kasse ausführlich die Funktionsfähigkeit eines Stempels. Der ganze Laden atmet diese Bedächtigkeit, mit der sie ihre Verrichtungen vornimmt. Der ‚Stempelkunde‘ wartet geduldig. Und die hinter ihm in der Reihe Wartenden ebenso. Am Ende derselben auch ich. Man stelle sich das einmal an der Kasse irgendeines Discounters vor. Längst hätte da schon einer der wenigen wartenden Männer unter den Frauen aus dem Hintergrund nach der Öffnung der nächsten Kasse gebölkt.

Am nächsten Morgen erwache ich mit einer starken Erkältung und schleppe mich mit dieser und anderen erkälteten Menschen gemeinsam im öffentlichen Nahverkehr nach Osnabrück, um von dort per Intercity zügig zurück nach Hannover und ins traute Heim zu gelangen. Trotz der gestern gründlich eingeatmeten soleträchtigen gesundheitsfördernden Atemluft meldet meine Nase: Habe geschlossen. So wie Eis-Café und Wetter auch. Dumm gelaufen.

Nachrichten aus Hannover, Deutschland und der Welt:

Während einer der zahlreichen Messen in Hannover kostet ein Hotel-Zimmer über 500,- €. Die Bundeswehr soll nach dem Willen der Bundesregierung kräftig wachsen und Peugeot garantiert die übernommenen Opel-Jobs in Deutschland. In Afrika droht 1,4 Millionen Kindern der Hungertod.

traumbild

ich fahre mit dem rad einen schmalen sandigen naturweg in eine weite grüne grassteppe hinein beidseitig ragt zum teil menschenhohes gras über den wegesrand ab und zu unterbrochen von frischem buschwerk entfernt im hintergrund kontrastiert von einem dunklen wald in grauem feuchtmattem nebel von links nach rechts über den gesamten horizont reichend vielleicht so etwas wie ein regenwald es ist diesig keine sonne dringt herab kein wind weht.

näher kommend erkenne ich am waldesrand viele schwarzweißborkige birken der wald wird wohl doch kein regenwald sein die birken sind krumm und schief gewachsen alle miteinander als wäre es ihre art wie sie sich schlangenförmig hin und her windend nach oben strecken dann weiß ich nicht weiter soll ich nun nach links oder wieder nach rechts fahren oder wohin aber ich fahre weiter und kann den wald doch nicht erreichen

überhaupt nicht. nie und nimmer.

Alter Mann im Bus

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