Читать книгу 1979 Transit ins Ungewisse - Bernhard Wilhelm Rahe - Страница 8

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Martin Grabert – das Jahr 1979

Martin Grabert: Sechsundzwanzig Jahre alt, geboren in einer norddeutschen Hansestadt, gelernter Maschinenschlosser. Sein Lebenstraum: Eine Existenz im Grünen, möglichst autonom – mit einem Maximum an Unabhängigkeit von Staat, Atomenergie, Supermarkt, Spießertum und Kapitalismus.

Dieser junge Mann träumte keinesfalls vom großen Geld, er hatte nicht die Vision von aufreizenden Mädchen, von geschmissenen Trips, Kaviar, Sekt, kapriziösen Feten und schnellen Autos mit Überrollbügel. Die materiell bedingten Lebensbeigaben, die sich mancher Mensch im Laufe des Wirtschaftswunders und – nicht zu vergessen – im Verlauf einer aggressiv voranschreitenden technologischen Entwicklung zum Erstrebenswerten auserkoren hatte, waren nicht sein Ding. Wir schauen also auf einen einsichtigen jungen Mann, dem der Begriff Nachhaltigkeit kein Fremdwort ist.

Er dachte prinzipiell an Freiheit, eine ihm eigene besondere Form der Selbstständigkeit, die er sich eines Tages leisten würde. Erkauft mit einer kleinen Stange Geld, die er zurzeit nicht besaß. Ein weniger üppiges energetisch ausgeklügeltes Haus. Das war sein Wunsch. Dazu eine kleine Jolle mit Angelrute, einen lukrativen Laden, für den Lebensunterhalt, mit Standort in einer gut belebten Straße in der Vorstadt.

Am Rande dieser wenig monströs wirkenden charmanten Hansestadt. Jener norddeutschen, nur temporär erdrückenden und stinkenden Minimetropole, die er sehr liebte; durch dessen Straßen jeden Morgen und jeden Abend eine kolossale Blechlawine mit großem Getöse rollte.

Zeitweise stiegen die Immissionswerte in der Hauptverkehrszeit bis an die Grenze des Unerträglichen. Auch das war seine geliebte Metropole.

Das Haus sollte übrigens am Rande der Stadt, oder auf dem Lande sein, inmitten einer grünen Insel, mit einem wilden Garten. Hühner sollten jeden Tag biologische Eier legen. Welch ein Traum für Grabert und seine Lisa. Eier von beneidenswert freien Hühnern zu essen, dazu selbstgebackenes Brot aus naturbedingtem Korn, frei von Blei, Cadmium und Schwefel.

Erfreulich war, die Regierung erwachte offenbar allmählich aus ihrem kapitalistischen Tiefschlaf. Unter dem massiven Druck der Strickpullover und Halstuch tragenden Naturschützer, den Ökos, die von den Geldhaien, den bornierten Firmeninhabern verspottet wurden, schien sich etwas zu bewegen. Die Gründung der „Grünen“ stand bevor.

Die Industrie mit ihren gigantischen Schloten auf den streng überwachten Grundstücken hatten Auflagen vom Senator für Umwelt erhalten, endlich die von ihnen verursachten Emissionswerte, die deutlich über der gesetzlich erlaubten Norm lagen, zu reduzieren und dafür zu sorgen, dass die Ausstöße geringer wurden. Ansonsten drohten ihnen hohe Geldstrafen.

Also stockten die pfiffigen Techniker und Ingenieure die Kamine um 18 Meter auf, so verteilten sich die schweren schädlichen Stoffe gleichmäßiger über die ganze Stadt hinweg. Die Immissionen sanken nun deutlich – mild gebändigt – und jeder war zufrieden. Gleichwohl gelangten täglich immer noch vergleichbare und sogar höhere Stoffmengen in die Luft, aber cleverer umverteilt.

Die Vorzüge der Technik, wer wollte nicht in ihren Genuss kommen. Etwa ein größeres Auto fahren, ein Haus bauen, ausgelassener konsumieren, Rohstoffe verbrauchen. Wasser, Strom, Luft, Wärme, Benzin, Gas, Kohle und etliches mehr. Jeder bezahlte schließlich mit seinen Steuerabgaben in das Gemeinwesen ein. Wer nichts hatte, der zahlte nicht. Die ganz Schwachen berappten womöglich und deutlich früher mit ihrer kleinen bedeutungslosen Lebensflamme.

Die Konsequenzen wollte kaum einer tragen, das war die Schwierigkeit. Der Wohlstandsmensch vermochte den süßen Wein des Lebens zu genießen, aber die leere Flasche sollte möglichst irgendwo stehen bleiben. Irgendwer würde sie schon wegräumen.

Das Endprodukt des Fortschritts, der sich auftürmende Sperrmüll einer Zivilisation interessierte die meisten Verursacher nur wenig. Ja, das war Stadt. Eine schöne Stadt, aber nicht immer gut aufgeräumt.

Sperrmüll, der an den Straßen stand, erfreute sich einer großen Beliebtheit bei den weniger Verdienenden, einigen Gastarbeitern, und nicht zuletzt bei jungen Leuten, bei Studenten zum Beispiel – auch bei Grabert.

Dieser junge Bursche hatte ein fachgerechtes Geschick. Mit wenigen Handgriffen baute er einen alten Schrank zu einem ansehnlichen Regal um. Er brachte es fertig, einem alten Röhrenradio wieder Musik zu entlocken, indem er eine defekte Röhre aufspürte und diese durch eine funktionsfähige Radioröhre eines anderen defekten Rundfunkapparates ersetzte.

Wenn der Stadtmensch seinen Blick schärfte und sah, welche wertvollen Gegenstände auf der Straße landeten, sollte er, hinsichtlich der Armut in der Dritten Welt, mächtig ins Grübeln kommen. Betriebsbereite Fernseher, Radios, kaum befleckte Polstergarnituren, all diese Dinge wurden zum Sperrmüll vor das Haus gestellt.

Während die Menschen, die das Prinzip der Wiederverwertung kapiert hatten, in den Gegenständen herumkramten, saßen manche „edlen Spender“ hinter der Gardine und schauten mit Missachtung auf diese „Maden“ herab. Vielleicht amüsierten sie sich köstlich über die armen Säcke da draußen und wischten sich mit parfümierten Taschentüchern eine Lachträne aus dem Augenwinkel. Eure Armut kotzt mich an. Menschen gab es, die sich ein Vermögen aus den Abfallprodukten der Wohlhabenden geschaffen hatten. Diese Zeitgenossen schmunzelten verhalten, über ihr anschwellendes Bankkonto.

In der Stadt war in mehreren Parallelstraßen eine Sperrmüllabfuhr vorgesehen. Überall standen Gegenstände herum und warteten darauf, von Lastwagen der Stadtreinigung verschluckt zu werden. Zum Teil waren die am Vorabend abgestellten ausrangierten Besitztümer zerwühlt und durchstöbert worden.

Grabert sinnierte darüber nach, wer in jenem Sitzmöbel gesessen haben könnte, welches Kind in dieser einen gelben Plastikwanne gebadet worden war. Welchem Schlafenden das klapperige Bettgestell über viele Jahre Nachtruhe beschert haben mochte – oder auch nicht.

Diese verrückte Welt, dachte er, durch die Straßen der Bremer Innenstadt spazierend und war überrascht über seine Nachdenklichkeit. Grabert konnte schnell und leidenschaftlich in globale Problemstellungen hineinfallen. Er war eine Art Hobbyphilosoph mit kritischem Blick auf seinen Lebensraum.

Alles dreht sich um unsere Umwelt, um ihre Erhaltung. Es wird eine Menge dafür getan. Aber einige interessierte das ganze Gerede um Umwelterhaltung einen feuchten Dreck, sinnierte er.

Grabert hatte Zeit, es war Freitagnachmittag, und für ihn, den gelernten Maschinenschlosser, begann nun das Wochenende. Sein Chef war den Mitarbeitern gegenüber sehr entgegenkommend, und darum schaute am Freitagnachmittag keiner so genau auf die Zeiger. Wer keine Arbeit mehr hatte, damit war die Reparatur von kleineren Schiffsdieseln gemeint, durfte sich ab 15.00 Uhr eine Feierabendcola aus dem Eisschrank im Büro holen und dann in das Wochenende verflüchtigen.

Grabert arbeitete seit neun Jahren bei der BMF, einem Familienbetrieb, der die Begeisterung zu kleineren Schiffsdieselmotoren und Außenbordern seit Jahren pflegte. Er war zufrieden mit seinem Job, hatte damals, nach Abschluss seiner Lehre, in der Firma bleiben können. Nun war er sechsundzwanzig Jahre alt. Es bereitete ihm immer noch großes Vergnügen, die Maschinen zu warten, Defekten beizukommen, Teile auszubauen, sie zu reinigen und auf ihre richtige Funktion hin zu überprüfen. Er liebte immer den Augenblick des Probelaufes. Dann stellte sich heraus, ob er gut gearbeitet hatte. Und das hatte er mit wenigen Einschränkungen. Nur einmal, kurz nachdem er als Geselle zu arbeiten begonnen hatte, unterlief ihm ein Fehler, der keine dramatischen Folgen hatte. Irgendwo auf einem kleinen See verlor der Kunde eine Abdeckkappe seines „Johnsons“. Um es abzukürzen, er war der geborene Metaller mit intellektuellen Neigungen. Hinzu gesellte sich eine klitzekleine Tendenz zur Hypochondrie.

Die Stadt pumpte hektisches Treiben. Der Sommerschlussverkauf hatte am Vortag begonnen. Nun wurde das Kaufen von modischen, aber planmäßig schon nach der Sommersaison nicht mehr aktuellen Kleidungsstücken und einigen anderen Klamotten zu einer Art Massenhysterie.

Resolute rempelnde Damen und Schnäppchenjäger drängten ihre Leidensgenossinnen wenig kultiviert zur Seite, um an Artikel heranzukommen, die schon nach wenigen Stunden vergriffen sein sollten.

Grabert blieb an einem der Softeisstände stehen und kaufte sich ein riesiges Vanilleeis. Schon als kleiner Junge war seine Begeisterung für diese Süßigkeit kaum zu bremsen gewesen. Er schaute an sich hinunter, an seiner ausgebeulten und abgewetzten Cordhose entlang, bis auf seine Clogs hinab.

Könnte besser aussehen, dachte er, eigentlich sollte ich mir eine neue Jeans kaufen, und überhaupt mal wieder ein paar fabrikneue Klamotten überstreifen.

Wenige Augenblicke später stand er vor dem Spiegel der Umkleidekabine einer Kaufhauskette, schaute wieder an sich hinab. Diesmal gefiel es ihm besser. Die Jeans passte famos. Es war auch kein großer Akt, für einen schlanken und schlaksigen Mann, wie er es war, ein Paar Hosen zu bekommen. Danach erwarb er noch ein paar Turnschuhe, ein neues Jeanshemd und wenige Kleinigkeiten. Ein goldenes Kettchen aus der Juwelierabteilung war dabei, für Graberts Freundin, Lisa, bestimmt. Dieses hatte ein wenig mehr, als nur eine Kleinigkeit gekostet.

Lisa, ein hübsches blondes Mädchen, schwedischer Abstammung, mit neugierigen braunen Augen, hinter denen sich nicht nur Leidenschaft und Intelligenz verbargen.

Am 30. Juli sollte sie das Kettchen bekommen, an ihrem 24. Geburtstag.

Oh, Junge, das wird sicher ein wunderschöner Tag werden, für Lisa und auch für mich, freute sich Grabert.

Er hatte sich schon einen netten Plan zurechtgelegt, wie sie gemeinsam, ohne Freunde und Bekannte oder Verwandte, den Tag, ihren Tag, verbringen würden. Morgens bis in die Puppen schlafen, dann in aller Ruhe ausgedehnt Kaffeetrinken, während andere schon den Sonntagsbraten in der Röhre schmoren ließen, und anschließend ab zur Nordsee, irgendwo in ein kleines Badenest. Dort sich also die Sonne auf den Pelz brennen lassen.

Grabert ging nun etwas schneller zum Parkhaus, das direkt gegenüber der Weser lag. Es herrschte ein ausgelassenes Treiben am Fluss. Die ganzen Leute, ältere, jüngere, Liebespaare und Kinder, genossen den angenehmen Sommertag, schauten in das glitzernde Wasser, das beinahe blau schimmerte. Kein Sauerstoffmangel, alles gut – oder? Die Welt war einfach in Ordnung an einem solchen warmen Julitag.

Grabert blieb einen Moment stehen und schaute ins Wasser, welches die Sonnenstrahlen so stark zurückwarf, dass er blinzeln und sich abwenden musste. Seine Augen begannen zu tränen.

Wäre das Parkhaus nicht aus Beton und Stahl gewesen, so hätte man fürchten müssen, es könne jeden Moment wie ein großer Ballon auseinanderplatzen. Die Parkdecks waren hoffnungslos überbelegt. Bereits an der Einfahrt zu den Parkebenen kündigte sich dies an. Die Ampel signalisierte rot. Doch da Autos die Garage verließen, wollte keiner dem roten Licht Glauben schenken. Jeder schielte auf wenige Quadratmeter Platz, auf dem er sein geliebtes Vehikel, vom Sonnenlicht geschützt, unterstellen konnte. Dann ging es ab in die Konsumtempel. Durch die vor Wärme flimmernden Straßen, sich an die wälzenden Menscheninvasion anpassend. Wer konnte da schon den lockenden, bunten, ja manchmal sogar lächerlich wirkenden Preistäfelchen widerstehen. Die Leute kauften halt auch das, was sie nicht unbedingt benötigten – in der Hoffnung, es aber auch wirklich günstig und preiswert erbeutet zu haben. An den Jagdtrieb sich erinnernd, ein Relikt aus grauer Vorzeit.

Grabert sprintete die vier Treppen zur dritten Parkebene hoch, er wollte nicht am Fahrstuhl warten und war recht schnell an der stählernen Tür, die zum Parkraum führte.

Der Wagen war angenehm kühl im Fond. Ein 68er Käfer, nicht sehr auffällig im Aussehen, aber technisch absolut top, weil Grabert sich darum kümmerte. Der Boxer startete. Hinab ging es auf der sich im Kreis abwärts windenden Bahn zum Erdgeschoß. Die Spirale drehte sich noch einige Male. Der Andrang vor dem Parkhaus war nicht geringer geworden, eher noch aggressiver. Auch auf den Hauptstraßen in der Bremer Innenstadt herrschte nervöses Durcheinander. Ein ständiges Hupen, Aggressionen. Einige, auf der Stirn wütender Autofahrer angedeutete Kleintiere. Grund zum Ärgern, insbesondere für die Freunde der Ornithologie. Ein Gestank, der so fundamental war, dass das Einatmen schwer fiel und Brechreiz provozierte.

Bloß fort hier, aber Grabert gehörte in diesem Moment selbst dazu. Ein Entkommen war nicht möglich. Dann, der Blick auf die breitere Straße. Grün – und nichts wie ab. Grabert gab Gas, als er auf der Schnellstraße in Richtung Norden fuhr. Er beeilte sich nun doch, um endlich nach Hause zu kommen, denn das Wochenende war zu kurz. Er wollte keine Zeit verlieren und noch eine weitere Stunde davon im Getümmel verschwenden.

Ohnehin galt es, keine Minute von diesem Leben zu verschenken. Dieses wunderbare Leben im leicht angegrauten Schlaraffenland, dessen weißer Rieselzucker über dem Milchbrei, durch den sich alle menschlichen Maden fraßen, wenig an Süße verloren hatte. Hier und jetzt! Sich so richtig durch das Wirtschaftswunder durchfressen, dabei eine Welt gestalten, die sich allmählich in einen kapitalistisch stinkenden schwarzen Schlamm aus Fäkalien und Müll zu verwandeln drohte.

Grabert, der sich gerne als Post-68er bezeichnete, verlor sich erneut in grüblerischen Gedanken. Der vor der Industrialisierung durch nicht kanalisierte Straßen fließende Bach anfallender Abwässer war in den Jahren zu einem unterirdischen reißenden Fluss geworden. Ein sich ausdehnender Strom, der im Land der Verschwendung entsprang und im Delta eines vergifteten Meeres endete. Dort, wo Hass, Habgier, Konsumsucht und Unmenschlichkeit regierten. Grabert gefielen diese harten Worte. Sie trafen in das Schwarze. Seine persönliche Meinung.

Wussten die Leute wirklich nicht, wie weit die Auslöschung des blauen Planeten schon fortgeschritten war? Greenpeace, ja!

Grabert, der unverbesserliche Humanist, schob eine Musikkassette in den Schlitz des Autoradios. „Der blaue Planet“, seine Lieblingsgruppe aus der DDR. „Karat“.

Und er grübelte noch ein wenig weiter, nur so zum Spaß:

Waren die Menschen vom Wohlstand so verbogen, zerfressen und verblendet, dass über ihnen erst alles zusammenbrechen musste, damit sie endlich begriffen, dass ihr eigener Lebensraum bedroht war? Karat hatte dafür den richtigen Text gefunden. Grabert drehte die Stereoanlage auf.

Der blaue Planet war gefährdet! Konsumsucht, Plünderung, Egoismus, die Stationierung von Atom- und Neutronenbomben zerrten an ihm. Diese perfiden Waffen löschten genau das aus, was wirklich bedrohlich werden konnte: Den jungfräulichen unerfahrenen Homo Sapiens. Das einzigartige Wesen auf der Erde, dessen Intelligenz Unvergleichliches kreierte. Ein Wesen aus Fleisch und Blut, aus lebenden Zellen, unbeugsam, stahlhart, aggressiv, manchmal charakterschwach!

Die Skepsis, an eine schöne heile Welt zu glauben, wurde mit den feierlichen Worten Frieden, Freiheit, Gleichheit und Humanität getarnt. In Wirklichkeit war das Meiste von dem Geschwafel, das Politiker in ihren brennenden Reden von sich gaben, erstunken und erlogen. Demagogen redeten über das höchste Gut, den Frieden, der ihrer Meinung nach aber nur mit einem gehörigen Potenzial an Gewalt und Drohgebärden erhalten werden konnte. Unterstützt von Militärstrategen und deren Schergen, die bis an den Hals bewaffnet waren, ihren Truppen.

Überzeugte Pazifisten hockten in den Splittergräben der Fronten, während die Militaristen, fern von alldem, in der Linken eine Havanna balancierend – der Rechten mit einem Zirkel Kreise auf Karten zogen. Kreise, in denen sich Menschen feindselig gegenüberstanden. Individuen, die einander nicht kannten, die Waffen aufeinander richteten. Sie wussten nichts über das Schicksal der Familien, deren Väter sie in Kürze ins Jenseits verfrachten würden.

So kannte Grabert es vom II. Weltkrieg, natürlich nur aus Erzählungen der Älteren, die der Krieg traumatisiert hatte. Bomben, Granaten, zerrissene Leiber, zu Puppengröße verkohlte Leichen, Opfer von Brandbomben. Trümmer, überall Ruinen, obdachlose, schreiende, weinende, in wilder Verzweiflung umherlaufende Menschen, völlig runtergekommen, bis auf die Knochen abgemagert, frierend. Bei jedem Essen erzählte der Vater von diesem monströsen Krieg! Keiner hörte ihm irgendwann noch zu. Keiner von den Jungen wollte zu jedem Bissen, den er schluckte, auch noch diesen fürchterlichen Kriegsscheiß herunterwürgen.

So etwas soll und wird es nie wieder geben, beschworen in der Folge Politiker, Philosophen, Wissenschaftler und Schriftsteller, als die letzten Tage des Krieges vorüber waren. Das Wirtschaftswunder schaffte neue Herausforderungen. Ungeahnte Genüsse offenbarten sich. Wünsche, synthetische Begehrlichkeiten entstiegen kreativen Hirnen.

Trotz alledem, eine unerforschte, für den III. Weltkrieg vorgesehene Kriegsmaschinerie stand schon recht bald bereit.

Grabert ärgerte sich über seine finsteren Gedanken an diesem schönen Sommertag. Wiederholt schaute er in den letzten Wochen zurück auf die Zeit, als er noch als brennender Kriegsgegner auf die Straße gegangen war und sich von Mitgliedern der Hundertschaft – für eine gute Sache – die Fresse hatte polieren lassen. Als der Strahl eines Wasserwerfers ihm fast ein Auge aus dem Schädel gerissen hatte, gab er auf. Er wurde sozusagen ein „Öko“. Diese Rolle gefiel ihm schließlich besser. Ihm wurde in jenen Tagen, als er um sein Augenlicht bangen musste, ein Mensch, der sich seine eigene Welt zurechtschneiderte und nicht mehr bereit war, für seine politische Überzeugung zum Prügelknaben zu werden. Lieber Vollkornbrot backen, als sich von den Polypen zum Krüppel schlagen zu lassen.

Grabert parkte den Käfer vor dem Haus, warf die Wagentür in das Schloss und schlüpfte durch die Eingangstür.

Zuerst schaute er in den Briefkasten, bevor er bis ins 5. Obergeschoß fuhr, wo sich seine Zweizimmerwohnung befand.

Wie gewohnt fiel ihm eine Flut von Reklamewurfsendungen entgegen. Unter anderem ein Briefumschlag mit dem ureigenen Erkennungszeichen der Bundeswehr.

Nachsendung nach Westberlin – nein – dort bestand keine Wehrpflicht. Eine Besonderheit und Grauzone zwischen Westberlin und der BRD.

Was für Grabert in der Schulzeit die aalglatten blauen Briefe mit ihren bösen Geheimnissen waren, sollte für ihn an diesem Sommertag jener farbige Behördenbrief sein. Bedeutungsvoller als alle Post der vergangenen Monate und Jahre wog er schwer in seiner Hand. Vor seiner Zeit als Kriegsgegner diente er fünfzehn Monate lang recht und schlecht bei der Luftwaffe. Das war, wie er sich später kaum verzeihen wollte, sicher keine politisch motivierte Punktlandung. Er war damals kein erklärter Pazifist, aber auch nicht für den unbedingten Gebrauch von Waffen zu begeistern. Ein junger, unerfahrener Kerl halt, der seinen kritischen Geist in sich noch nicht aufgespürt hatte.

Was war in dem Brief? Es konnte nur eine, wie schon wiederholt, angekündigte Bereithaltung zu einer vorgesehenen Reserveübung sein. Nachdenklich wendete Grabert den Brief mehrmals in seiner Hand, schaute noch einmal auf die Rückseite.

„Bundeswehr, verdammt noch mal, soll ich mir das Wochenende von diesem Verein zerstören lassen?“

Eilig und entschlossen, den Inhalt für die nächsten zwei Tage zu ignorieren, öffnete er das Kuvert trotzdem und las. Es war, wie er vermutete, die Einberufung zu einer Reserveübung, die diesmal im Rahmen der ganzen Natostreitkräfte vorgesehen war. Für die Dauer von zwei Wochen sollte Grabert sich in einer Kaserne an der Nordsee einfinden, dort, wo er gedient hatte.

„So ein Unsinn“, dachte er.

Nun waren schon über fünf Jahre nach seiner Entlassung aus der Bundeswehr vergangen, und ausgerechnet jetzt im Sommer wollte man ihn haben. Zum Einsatz als Kraftfahrer. Mürrisch schob Grabert den Brief zur Seite, Mitte August sollte die Übung stattfinden, also schon in zwei Wochen, was ihm merkwürdig wegen der Kurzfristigkeit erschien. Jetzt fiel ihm auch wieder das Einschreiben ein, das er vor sechs Wochen bekommen hatte. Darin hatten sie in Sachen Wehrübung auf sich aufmerksam gemacht. Grabert hatte gar nicht mehr daran gedacht.

Die nächsten Wochen vergingen sehr schnell, sodass er sich allmählich auf sein zweiwöchiges Intermezzo bei der Bundeswehr vorbereitete.

Sein Chef hatte mit Zähneknirschen von der 14-tägigen Beurlaubung Kenntnis genommen, er konnte gerade jetzt im Sommer, zur Urlaubszeit, nur schwer auf eine weitere Arbeitskraft verzichten.

Am wenigsten erfreut war Lisa, sie zeigte ebenso geringes Verständnis für die Wehrübung wie Grabert selbst, der schon lange begriffen hatte, wie sinnlos die Aufrüstung und das Wort Frieden geworden waren. Frieden, das war schon lange eine Phrase, ein biegsames Etwas, welches sich nach Belieben zurechtkneten ließ. Eine gestaltlose Masse – unter dem Druck der Aufrüstung.

Immer wieder wurde dieses Wort durch das Blut ahnungsloser friedfertiger Menschen durchtränkt. Probleme in Afghanistan, Mord und Totschlag im Libanon, Marschflugkörper, Mittelstreckenraketen. Die Angst vor einem atomaren Erstschlag. Der „Kalte Krieg“. Der „Eiserne Vorhang“. Das war die Wahrheit.

Zwei Jahre zuvor war Helmut Schmidt der erste westliche Politiker, der das Rüstungsgleichgewicht – durch SS-20 Mittelstreckenraketen – als erheblich beeinträchtigt einordnete.

Was taten die Mächtigen und Mogule, um den Krieg zu verhindern? Nicht das Geringste, einen Scheiß!

Waffen wurden und werden weiterhin produziert und ausgeliefert.

Die Bereicherung durch Waffengeschäfte erfreute sich einer steigenden Konjunktur. Der Krieg, ein gewinnbringendes Geschäft mit dem Tod.

Traurig ließ sich Lisa in den Sessel fallen.

„Wirst Du nach einer Woche wieder daheim sein, oder bekommst Du gar keinen Wochenendurlaub?“

„Ich weiß es noch nicht, Lisa. Normalerweise ist so eine Übung nach einer Woche erledigt, sodass die zweite nur noch zum Aufräumen und zur Wartung der Geräte benötigt wird. Wenn das der Fall sein sollte, komme ich bestimmt übers Wochenende nach Bremen – und zu Dir.“

Grabert nahm seine Freundin in die Arme und drückte sie zärtlich, aber fester als gewohnt, an sich, sodass er fürchtete, ihr müsse die Luft wegbleiben. Aber im Gegenteil, sie erwiderte seinen Druck, und sie küssten sich lange und leidenschaftlich.

An diesem Abend fuhr Lisa nicht nach Hause, sie blieb. Das Paar wollte sich die letzte Nacht vor der Übung nicht voneinander trennen.

Am nächsten Morgen verstaute Grabert den natogrünen Seesack der Bundeswehr im Kofferraum seines Käfers. Lisa stand am Wagen und blinzelte in die warme Morgensonne.

„Martin!“ „Ja, Liebling?“ „Sei bitte vorsichtig.“

Grabert wandte sich um. „Ganz sicher Lisa, es ist ja nur eine lächerliche Übung, nichts Ernstes. Ich verspreche, auf mich achtzugeben, außerdem wird ja nicht scharf geschossen. Er zeigte sein unwiderstehliches Lächeln.“

„Also Liebling, mach's gut, und arbeite nicht zuviel. Ich rufe Dich heute Abend an.“

Lisa schmiegte sich zärtlich an ihren Freund:

„Ich wünschte, es wären nur zwei Stunden und nicht zwei Wochen.“

Grabert schaute nervös auf die Uhr.

„Herrje, ich muss los, die Zeit ist so knapp, also bis dann.“

Das Aufbrummen des Motors zerriss die Morgenstille. Grabert warf ihr noch eine Kusshand zu und bog rechts ab in die Hauptstraße. Im Autoradio wurden Oldies gespielt. Der Moderator brachte wie gewohnt seine aufmunternden kleinen Gags für jene Menschen, die allmorgendlich gegen die gleiche Macht ankämpfen mussten. Die Macht der Gewohnheit. Jene geheimnisvolle Energie, welche die Menschen tagtäglich in den banalen Alltag hineinstieß.

Auf der Autobahn in Richtung Cuxhaven herrschte kein starker Verkehr, so kam Grabert gut voran. Der Motor des Wagens begann ruhig zu schwingen, so, wie manche Menschen es empfanden, wenn sie schon Stunden mit der gleichen Geschwindigkeit unterwegs waren. Dieses Geräusch kannte Grabert gut, es verlieh ihm immer eine gewisse Ruhe und eine Art träumerischen Zustand, ohne dabei die Konzentration beim Fahren zu verlieren. Die Tatsache, dass er zu einer Reserveübung der Bundeswehr fuhr, veranlasste Graberts Gedanken dazu, in der Vergangenheit herumzukramen und an die Erlebnisse seiner Rekrutenzeit zurückzudenken.

Damals war er gerade neunzehn Jahre alt gewesen und noch sehr unerfahren. Da gab es diesen despotischen Ausbilder, der immer wieder versuchte, den jungen schüchternen Grabert zu demütigen. Manchmal gelang es dem Ausbilder sogar.

Grabert erinnerte sich daran, wie er einmal, aus Kollegialität einem Soldaten gegenüber, unerwartet seinen Dienst übernommen hatte. Es musste sehr schnell gehen, und Grabert verzichtete darauf, seine Dienstuniform anzuziehen. Das Resultat war irgendeine dumme Strafe, nur weil die sogenannte Ausübung des Dienstes ohne Uniform strengstens untersagt war. Jeder, der einen albernen Streifen oder „Pickel“ mehr als der andere auf den Schultern aufzuweisen hatte, fühlte sich seinen Untergebenen gegenüber wie ein Halbgott.

Das „Menschsein“, das Individuum war keinen Pfifferling mehr wert in dieser absurden Hierarchie. Gerechtigkeit wurde durch gebieterisches Handeln und Wichtigtuerei ersetzt. Das Denken und Fühlen wurde an der Garderobe abgegeben. Menschen mit eigenem Willen wurden in diesem System recht schnell zu Marionetten umerzogen.

Und dann dieses verworrene Netz von Befehl und Ausführung. Wie schnell konnte einer sich in diesem verfilzten Netz verstricken?

Grabert erinnerte sich an ein Wochenende, an dem er zum Kraftfahrer vom Dienst befohlen war. Es war tief in der Nacht, als man nach dem Obergefreiten verlangte. Er ging ans Telefon und hatte den Offizier vom Dienst am Ende der Leitung. Dieser gab den Befehl, sich unverzüglich, wenn nötig, sogar mit Unterhose, in seinem Dienstfahrzeug sitzend am Eingangstor zur Kaserne einzufinden – „und zwar zackig“.

Grabert sprang so wie er war, mit einer Trainingshose und Pullover bekleidet, in den Transporter und raste zum Tor, wo auch schon der diensthabende Offizier zustieg.

Die Fahrt ging bis zur nahegelegenen Landstraße, wo sich ein Zivilfahrzeug überschlagen hatte und im Graben gelandet war. Am Unfallort leisteten die beiden Soldaten Erste Hilfe und benachrichtigten dann die Ambulanz. Der schwerverletzte Fahrer des Fahrzeugs konnte gerettet werden.

Am nächsten Tag machte ein anderer Offizier eines höheren Ranges Grabert den ungeheuren Vorwurf, ohne angemessene Dienstkleidung den Dienst versehen zu haben und drohte an, eine Meldung machen zu wollen.

Grabert protestierte gegen diesen Vorwurf, zumal er doch einem Befehl zufolge gehandelt habe.

So konnte es also durchaus vorkommen, sich durch die Ausführung eines Befehls eine dicke Disziplinarstrafe einzuhandeln, auch in der Ausübung lebensrettender Maßnahmen.

Grabert bekam keine Disziplinarstrafe, weil die Herren Vorgesetzten dieses Problem am Tisch des Offiziersheimes unter sich lösten und mit den entsprechenden Getränken hinunterspülten.

Grabert war gut in der Zeit, er musste sich bis um 10.30 Uhr in der Kaserne einfinden. Die warmen Strahlen der Hochsommersonne fielen ihm ins Gesicht.

Am Rande der Autobahn sausten Büsche, Sträucher, Bäume und Hinweisschilder vorbei.

„Eigentlich ist es mal eine Abwechslung, wenn man sich schon keinen Urlaub leisten konnte in diesem Jahr“, bemerkte er selbstironisch. Vielleicht würde er sogar alte Bekannte aus seiner Kraftfahrercrew wieder treffen. Wenn nicht, egal, die Abende im Soldatenheim oder in der Kantine würden auch so abwechslungsreich werden.

Das Hinweisschild der Abfahrt, die Grabert nehmen musste, flog vorbei. Nun waren es noch ca. 20 Minuten bis zur Kaserne. Dann würde er sich wieder der erhabenen Stimme des Gesetzes fügen müssen, ob er das nun wollte oder nicht.

Die Kaserne lag direkt an der Hauptstraße, dort, wo es ein paar Kneipen gab, da, wo sich die Soldaten so manchen Abend amüsierten und vollaufen ließen. So sollte es ja auch sein. Die Kneipenbesitzer freuten sich darüber, dass der Soldat nun mal durstig, einsam, gedemütigt und frustriert vom Dienst im Gelände ihre Kneipe aufsuchte. Dann wurde kräftig mitgeholfen, mit schnell ausgeschenkten Bieren ohne Blume, aber keineswegs voll bis zum Rand, weil ohnehin keiner von den „grünen Blödmännern“ es im berauschten Zustand bemerkte.

Nachdem der Wachsoldat Graberts Einberufung zur Wehrübung in Augenschein genommen – und irgendetwas in sein Buch gekritzelt hatte, deutete er auf ein graues Gebäude:

„Dort müssen Sie sich erst einmal melden, der Spieß wird Sie dann schon in Ihre Dienststelle einweisen. Also dann, viel Spaß. Sie können durchfahren.“

Hinter Grabert senkte sich der Schlagbaum. Dieser rot-weißgestreifte Schlagbaum trennte zwei Welten voneinander. Die Welt, in der man in etwa frei entscheiden, tun und lassen konnte, was man wollte, und die Welt der Hampelmänner und Marionetten, in der alles Befehl war. Das Essen, das Schlafen und einiges andere mehr.

Der Spieß, mit anderen Worten – „die Mutter der Stabsbatterie“, machte einen sehr höflichen Eindruck. Er zeigte den Neuankömmlingen die Stuben, die Dienst- und Aufenthaltsräume des Gebäudes. Die Kasernenplaner hatten sich Mühe mit der Ausstattung der Räumlichkeiten gegeben. Aber der eigenartige Geruch, der einem Kasernengebäude anhaftet, war auch hier in aller Nase. Zweckmäßigkeit war das Schlagwort.

„Schließlich ist es ja kein Sanatorium, meine Herren Reservisten“, sagte der Spieß. Er hieß, man staune, Ochsenkopp.

Mit Grabert war nur noch ein anderer Reservist zur Übung beordert worden. Also musste etwas Besonderes hier in den nächsten Tagen stattfinden.

„Sie haben bis 12.00 Uhr Zeit, Ihre Sachen einzuräumen. Nach dem Mittagessen, sagen wir um 13.15 Uhr, melden Sie sich bei mir, in „grün“, mit tadelloser Arbeitsuniform. Ihre Stube haben Sie ja gesehen, Sie kennen das ja noch von Ihrem Grundwehrdienst.“

Der Spieß machte auf dem Absatz kehrt und verschwand hinter einer der vielen Türen des Verwaltungstraktes.

Grabert verstaute seine Kleidungsstücke in einem Holzschrank, einem Spint ähnlich, der ein sogenanntes „Privatfach“ zum Verschließen aufwies.

Jemand tippte ihm auf die Schulter.

„Hey, Kumpel, ich soll die Bude hier mit Dir teilen. Übrigens, ich bin Erich Haake und komme aus Dortmund.“

„Freut mich, ich dachte schon, ich wäre der Einzige, den man zu dieser Übung eingeladen hat.“ Grabert deutete auf das Bett neben dem Fenster: „Wenn Du willst, kannst Du hier schlafen. Übrigens, ich heiße Martin Grabert und komme aus Bremen.“

Erich kratzte sich etwas verlegen am Hinterkopf. „Na, dann wollen wir mal sehen, was die mit uns vorhaben. Die schrieben irgendwas von einer Natoübung. Ich hab eher den Eindruck, die wollen uns verscheißern. Vielleicht wollte man uns nur mal daran erinnern, dass wir noch unter dreißig sind und als Reservisten rangeholt werden können.“

„Glaubst Du? Es gibt doch noch jüngere Reservisten als uns. Ich versteh nur nicht, dass man uns mit zwei Mann zu einer Reserveübung einberuft. Irgendwas ist da faul oder wenigstens undurchsichtig.“

„Was soll's“, sagte Erich, „mir ist das ziemlich schnuppe. Die zwei Wochen bekommen wir schon rum. Übrigens, spielst Du Skat?“

„Ja, schon, aber nicht besonders gut. Ich glaube, wir geh'n mal rüber zur Kantine, es ist schon nach 12.00 Uhr.“

Schon von außen roch man, dass es Königsberger Klopse in Kapernsoße gab.

Im Speisesaal für Rekruten und Soldaten der unteren Dienstränge herrschte viel Betrieb. Das Klappern der Teller und Essbestecke vermischte sich mit dem Gemurmel der hungrigen Männer.

Grabert war sich nicht mehr bewusst darüber, welchen ohrenbetäubenden Lärm so um die fünfhundert Essbestecke im Gebrauch verursachen konnten. Eine gigantische hungrige Maschine, die pro Tag ca. 250 Pfund Kartoffeln und 100 Pfund Fleisch vertilgte, zubereitet in riesigen Kübeln, von Kochmaschinen, nicht von Menschenhand.

Das Essen, das zurückging, wurde dann jeden Tag von einem Bauern abgeholt, der es seinen Schweinen zukommen ließ. Grabert ließ nur die Kapern zurückgehen, denn die mochte er nicht. Zum Nachtisch gab es Schokoladenpudding mit Vanillesoße.

„Na, wie war das Essen?“, fragte Erich und fing zu grinsen an. „Hoffentlich hat der Küchenbulle heute gute Laune gehabt.“

Grabert musste lachen, denn er kannte die Geschichte vom Küchenchef, dessen Essen, wenn er schlecht gelaunt war, immer etwas seltsam schmeckte. Einige, die die Geschichte zum ersten Mal hörten, glaubten dann wirklich, dass ein seltsamer Geschmack in der Speise sei. Im Grunde genommen war es nur die eigene Fantasie, die ihnen dann einen Streich spielte. Allmählich Ieerte sich der große Speisesaal, jedoch der Lärm, das Geklapper von Tellern und Essbestecken, nahm eher zu. Jetzt schienen die Spülmaschinen ihre Arbeit aufzunehmen. Grabert verabscheute Großküchen, in denen alles nach einem sturen, lieblosen Plan abzulaufen schien.

Der Spieß, das war Hauptfeldwebel Kellermann, schaute auf die Uhr, als Grabert und Haake im Dienstzimmer erschienen.

Er verzichtete auf die stramme Haltung, die generell in Kasernen den Vorgesetzten gegenüber verlangt wurde. Freundlich deutete er auf zwei einfache Holzstuhle, die um einen kleinen runden Tisch herumstanden.

Kellermann war an die fünfundvierzig Jahre alt, er hatte ein freundliches Gesicht, in dem zwei intelligente, forschende Augen saßen. Zwei Augen, denen offenbar nichts entging.

„Bitte, nehmen Sie Platz. Sie müssen wissen, wir wollen Sie nicht einem zweiwöchigen Drill oder einer allgemeinen Übung unterziehen, wie es von Ihnen sicher angenommen wird. Sie nehmen, ohne es zu wissen, einen besonderen Status ein. Ich meine damit nicht den eines Reservisten, sondern vielmehr den eines Sonderbeauftragten der Bundeswehr.“

Keiner der beiden jungen Männer hatte auch nur eine Ahnung, worum es sich handeln könnte, warum die Uniformierten so lange mit dem eigentlichen Grund der Einberufung hinterm Berg blieben.

Was sollte diese verdammte Geheimnistuerei?

Weder Grabert noch Haake hatten in ihrer Wehrzeit etwas Besonderes in der Bundeswehr geleistet. Keine Großtaten waren im Wehrpass eingetragen.

Der Grund: Jeder dieser beiden jungen Männer hatte etwas mit dem anderen gemeinsam. Sie hatten weder eine Familie, noch waren sie an jemanden fest gebunden.

Hauptfeldwebel Kellermann trat von seinem Schreibtisch an das Fenster heran und schaute auf den Kasernenhof, dort, wo jetzt die Nachmittagssonne die Luft flimmern ließ. Er machte ein nachdenkliches Gesicht, schien nach genau abgewogenen und geeigneten Worten zu suchen, um sein Anliegen bzw. das der Bundeswehr vorzubringen.

Dann wandte er sich entschlossen vom Fenster ab und sagte:

„Also, machen wir's kurz. Sie sollen uns, das heißt unserem Land, ihrem Land, einen Dienst erweisen, der etwas delikat ist. Warum wir gerade auf Sie gekommen sind, ist eine lange Geschichte. Wie Sie vielleicht wissen, sind wir im Besitz sämtlicher möglicher Daten über Ihre Lebensweise, Ihren Beruf, Ihre Freunde, Ihre finanziellen Verhältnisse usw. Das sind nur kleinere, ja, beinahe unwichtige Fakten, über die wir informiert sind. Eines jedoch ist sehr wichtig für uns – und ebenso ein Bindeglied zwischen Ihnen beiden.“

Kellermann deutete auf eine messingähnliche, mit reliefartigen Verzierungen versehene Schachtel.

„Bitte, wenn Sie rauchen wollen.“

Grabert nahm eine von den Filterzigaretten, obwohl er das Rauchen vor zwei Jahren aufgegeben hatte.

Kellermann entzündete eine Zigarre, die er einer anderen Schachtel entnommen hatte. Augenblicklich umhüllte sich sein blasses Gesicht mit blauen Rauchschwaden, während er den Rauch genussvoll im Mund kreisen ließ.

„Sie brauchen nicht viel zu tun, nur einen Lkw mit Lebensmitteln nach Polen zu transportieren, mehr nicht. Alles andere, die Organisation des Unternehmens, übernehmen wir. Und nun der Grund, dass Sie für uns am besten infrage kommen: Sie sind beide aktiv im Roten Kreuz tätig, und eben das bedeutet, dass es nur zu normal ist, wenn Sie einen Rot-Kreuz-Wagen mit Lebensmitteln über die DDR nach Polen befördern. Ein weiterer Grund, die Sache von Ihnen erledigen zu lassen, ist der, dass Sie schon, wie wir wissen, oftmals mit Ihren Privatfahrzeugen in Polen waren und technisch versiert sind, um unterwegs kleine Pannen schnell und ohne fremde Hilfe zu bewältigen. Das wäre vorerst alles, was ich Ihnen sagen möchte. Nun sind Sie dran. Selbstverständlich können wir Sie zu nichts zwingen. Wir wollen vielmehr Ihr Vertrauen für das ganze Unternehmen gewinnen. Das Gleiche soll auch Ihnen entgegengebracht werden.“

Erich Haake fuhr sich nervös durch sein schon lichter werdendes Haar. Die Überraschung stand ihm im Gesicht geschrieben.

„Ich muss gestehen, damit hatte ich nie gerechnet. Heißt das, dass wir uns in den Bereich von spionageähnlichen Aktionen begeben sollen? Wer garantiert uns, dass wir wieder nach Hause kommen, wenn irgendetwas schiefgeht?“

Kellermann legte seine Zigarre vorsichtig in den Ascher.

„Wir können Ihnen nahezu garantieren, dass nichts schiefgehen wird, solange sich alles im Rahmen unserer Vorsichtsmaßnahmen und Planungen bewegt. Außerdem wird das Risiko, wenn es überhaupt eines gibt, wenn ich so sagen darf, mit Gold aufgewogen. Unsere Strategie ist die: Sie wissen natürlich von nichts. Sie fahren nur im Dienste des Roten Kreuzes, sozusagen unter dem schützenden Stern dieser Hilfsaktion. Es kann und wird nichts danebengehen, wenn Sie nicht versuchen, alles zu ergründen und uns Ihr Vertrauen entgegenbringen. Näheres über unsere Aktion und Ihren Part erfahren Sie erst, wenn Sie sich entschieden haben zu fahren.“

Grabert hatte bis jetzt aufmerksam zugehört. Jetzt drängten sich ihm einige Fragen auf.

„Hat die Tatsache, dass ich keine Familienangehörige mehr habe, auch mit meiner Auswahl zu tun?“

„Ich sagte Ihnen ja, wir wollen mit gegenseitigem Vertrauen arbeiten. Ja, Sie haben recht, Herr Grabert, es ist unter anderem auch ein bedeutsamer Faktor, der jedoch nicht überbewertet werden sollte. Was ich Ihnen allerdings sagen darf: Nach Ihrer Rückkehr nach Westdeutschland werden Sie einen Scheck entgegennehmen, über dessen Inhalt Sie unversteuert verfügen können. Aber bitte versuchen Sie, sich nicht dadurch beeinflussen zu lassen. Sie sollen ohne irgendwelche Druckmittel zu einer klaren, Ihren Fähigkeiten entsprechenden und Ihrem Mut der Ungewissheit gegenüber, Entscheidung kommen. Bitte überlegen Sie es sich, und versuchen Sie, eine Nacht darüber zu schlafen. Morgen können Sie mir dann Ihre Entscheidung mitteilen; sollte sie positiv sein, wird unser Sicherheitsoffizier Ihnen alles Weitere erklären. Ich bin für Sie die Person, an die Sie sich vertrauensvoll wenden können, wenn es irgendwelche Fragen, Unklarheiten oder Probleme gibt. Warum Sie bis morgen darüber nachdenken sollen, ist, um sich alles noch einmal in Ruhe durch den Kopf gehen zu lassen. Es soll keine Pannen geben. Also, dann möchte ich mich für heute von Ihnen verabschieden, meine Herren. Wir sehen uns morgen früh gegen neun Uhr in diesem Zimmer. Übrigens, Sie dürfen die Kaserne bis morgen nicht verlassen.“

Kellermann verließ den Raum mit der Entschuldigung, noch einen Termin zu haben.

Er war fort, mit ihm gingen aber nicht die vielen Fragen, die man zurzeit noch nicht artikulieren oder stellen durfte.

Grabert und Haake gingen den gebohnerten Flur entlang, der am Ende nur wenig Licht durch ein Fenster hereinließ. Dieser lange Korridor wirkte wie ein Tunnel, beklemmend und eng. Die Luft war erfüllt vom Bohnerwachsgeruch. Aus irgendeiner Tür drang das Rauschen mehrerer Wasserhähne. Vermutlich der Waschraum.

„Hast Du schon eine Antwort?“, fragte Haake.

„Nein, noch nicht. Es ist alles zu unwirklich, zu fremd. Ich kann mich an den Gedanken nicht gewöhnen, dass gerade ich einer von denen sein soll, der für irgendjemand die Kohlen aus dem Feuer holen soll.“

„Wie, meinst Du, dass wir irgendetwas für andere ausbügeln sollen?“

„Ja, so ähnlich stelle ich mir die ganze Sache vor. Aber andererseits plagt mich eine gewisse Neugier. Sag mal, Erich, brauchst Du Geld?“

„Nein, ich habe meine Arbeit als Automechaniker und bin schon seit acht Jahren dabei. Ich habe meine eigene Wohnung und mein Auskommen. Mir fehlt es an nichts.“

„Siehst Du“, sagte Grabert. „Mir geht es ebenso. Wenn wir das Geld, von dem wir nicht wissen, wie viel es ist, nicht nötig brauchen, appelliert man an unsere Neugier oder eine Art Abenteuerlust, einen Hang zum Risiko.“

„Übrigens, Angehörige habe ich ebenso wenig wie Du, Martin. Wenn ich es tue und nicht zurückkomme, wird keiner fragen, wo ich geblieben bin. Höchstens mein Arbeitgeber. Im Moment weiß ich noch nicht, was ich tun soll. Ich schlage vor, wir gehen in die Kantine und trinken ein Bierchen. Vielleicht fällt uns die Entscheidung dann etwas leichter.“

Grabert stimmte zu. Gemeinsam gingen sie über den großen Kasernenhof. Vorbei an den vielen Fahrzeugen, die dort standen, große Lastkraftwagen, Unimogs, VW-Kübel, zahlreiche zwei- und einachsige Anhänger, auf denen man in Übungen Raketen und Maschinengewehre montierte.

Es war 17.00 Uhr, nach Dienstschluss. Ein Wachsoldat drehte gelangweilt seine Runde.

In der Kantine floss das Bier. Auf den Tischen war gerade genug Platz, um eine Zigarettenschachtel hinzulegen. Sonst fand man nur leere und volle Biergläser vor. Die Soldaten, die aus irgendwelchen Gründen die Kaserne an diesem Abend nicht verlassen konnten oder wollten, machten ihre Stemmübungen, wie sie das Biertrinken nannten, in der Soldatenkantine. Dort war das Bier auch nicht allzu teuer.

Einigen Rekruten und Soldaten sah man ihre Frustrationen deutlich an. Stumm starrten sie in das Bierglas vor sich, sie dachten vielleicht an zu Hause, träumten von ihren Mädchen. Manche hockten auf Barhockern an der Theke unter dem Tarnnetz. Sie kamen aus Hessen, Bayern, aus dem Ruhrgebiet und aus den letzten Winkeln der Bundesrepublik. Einige verfluchten ihren Dienst, der noch bis zum Wochenende andauern sollte. Dann gab es auch solche Kameraden, die mit allen Konsequenzen nur ans Saufen und Bumsen dachten, egal, wo dies stattfand. Eine Art Heimatgefühl hatten diese Typen nicht mehr.

Einige nahmen den Dienst, die Ausbildung, sehr ernst. Sie sahen ihre große Chance, im Gegensatz zu denen, die den ganzen Mechanismus der Bundeswehr als notwendiges Übel betrachteten.

Haake bestellte zwei Bier und nickte Grabert zu, der sich gerade an einen frei werdenden Tisch setzte. Die Männer, die eben noch den Tisch besiedelt hatten, erhoben sich mühselig und wankend von ihren Plätzen, sie waren offensichtlich bedient, würden garantiert bis zum nächsten Morgen durchschlafen; und wenn es in der Wäschekiste war.

Haake stellte die Gläser auf den Tisch.

„Na dann einen guten Durst – bei dieser Hitze.“

Das kühle Bier rann durch die Kehlen der beiden Männer, die eben damit konfrontiert worden waren, dass sie ein ähnliches Schicksal teilen könnten. Grabert trank nie viel, aber gerne mal ein kühles Bier vom Fass. In den letzten Minuten hatte er einen großen Widerspruch in sich entdeckt. Dieses ganze Soldatenleben hatte ihm nie gefallen. Am Tage Dienst schieben und in der Nacht, wenn man keine Freunde hatte, keine Familie auf einen wartete, das Bierchen. Dann ein weiteres und noch eines und so fort.

Erich Haake prostete Grabert zu. Er schaute zu den anderen Soldaten rüber und hob sein Glas erneut.

„Ihr armen Schweine, Tagebären, Krieger, Killer und Rotärsche“, sagte er leise. „Ich habe einen mächtigen Durst.“

Für Grabert schienen die Fragen Gestalt anzunehmen, von Sekunde zu Sekunde. Sie verlangten eine Antwort, eine plausible Erklärung dafür, dass er sich bereits dem „Ja“ seines Unterbewusstseins gefügt hatte. War es das Geld, wie viel Geld eigentlich? War es der kleine Keim der Abenteuerlust, der sich in ihm ausbreitete, der immer mehr Nahrung bekam? Mit dem Geld würde er der Freiheit ein gutes Stück näherkommen. Freiheit ist käuflich. Dafür musste er sich aber in Gefahr begeben, seine Zukunft, wie sie auch immer aussehen sollte, sogar aufs Spiel setzen.

Er schlug mit der Faust auf den Tisch und sagte: „Ich tu's, frag' mich nicht warum.“

Es klang unterschwellig zwar erwägend – aber nichtsdestoweniger fest entschlossen.

Haake erschrak, auch er war mit dem Gedanken beschäftigt, sich zu verkaufen, damit er sich die Erfüllung seines Traumes kaufen konnte.

„Wie…, was meinst Du, ist das wahr? Du hast Dich etwa entschieden?“

„Ja, ich nehme das Angebot an, weil ich es nicht abschlagen kann. Ich muss es tun, frag nicht weiter nach.“

Das „frag nicht, warum“ war mehr an Lisa gerichtet. Grabert würde kein Wort davon erzählen, und keiner sollte hinter die Wahrheit kommen.

„In zwei Wochen ist alles Vergangenheit“, dachte er, „schließlich bin ich kein Verräter oder so was. Vielleicht habe ich in wenigen Wochen soviel Geld zusammen, um mir endlich das ersehnte Grundstück auf dem Lande zu kaufen und mich dort mit Lisa niederzulassen.“

Grabert fantasierte noch eine Weile von seinem Traum, den ihm niemand nehmen sollte, bis Haake ihn nachdenklich anstieß: „Du, Martin?“

„Ja, was ist los?“

„Ich schließe mich Dir an. Was soll ich mir noch lange den Kopf zerbrechen, ich steige auch ein in den Job.“

„Dann sind wir also Partner, Martin. Komm, darauf müssen wir noch einen trinken. Ich bin froh, dass Du Dich so entschieden hast. Wir werden den Wagen schon sicher ins Ziel schaukeln; und wenn wir direkt zum Kreml müssen, zusammen schaffen wir's.“

Die beiden Männer tranken noch ein weiteres Bier, stießen auf ihre kommende Zusammenarbeit an und gingen zur Unterkunft.

Am nächsten Morgen erschienen Grabert und Haake, wie verabredet, in Kellermanns Dienstzimmer. Er blickte beinahe erfreut – so empfand es Grabert – vom Schreibtisch auf.

„Treten Sie näher, ah, erstmal guten Morgen, meine Herren, wie haben Sie geschlafen in den bescheidenen Betten der Bundeswehr?“

„Nicht anders als damals, als Wehrpflichtiger“, meinte Grabert. „Damals schlief ich immer recht gut. Nur die Umstände haben sich geändert.“

Kellermann lächelte freundlich, aber mit Zurückhaltung. Schon bei einem geringen Lächeln bekam er viele kleine Lachfältchen in den Mund- und Augenwinkeln. Er schien gerne zu spaßen und im Privatleben sicher ein humorvoller Mensch zu sein.

„Okay, ich will Sie nicht drängen, aber man sitzt mir mit gewissen Entscheidungen im Nacken. Also, wie haben Sie sich entschieden?“

„Ja“, sagte Haake, „ich erkläre mich einverstanden.“ „Das gleiche gilt auch für mich“, kündigte Grabert an, bevor er gefragt wurde. „Wir haben unsere Entscheidung bereits miteinander besprochen. Nun sind wir neugierig, worum es im Genauen geht und was wir im Detail zu tun haben.“

„Nun“, Kellermanns Miene wurde sehr ernst, „wie schon kurz angedeutet, überbringen Sie Lebensmittel an eine kleine Gemeinde namens Krosno in Polen. Sie brauchen sich dabei um nichts zu kümmern. Ihre Papiere, Ihr Fahrzeug, alle möglichen Bescheinigungen, Pässe und Visa werden vollkommen in Ordnung sein. Um nicht aufzufallen oder die Aufmerksamkeit auf Ihr Fahrzeug zu lenken, müssen Sie sich absolut nach den Verkehrsregeln richten. Die kleinste Übertretung kann für Sie und unsere gemeinsame Operation Komplikationen bringen. Sie haben während der Fahrt durch die DDR und Polen, wobei Sie in der DDR immer auf der Transitstrecke bleiben müssen, keine Möglichkeit, mit uns Kontakt aufzunehmen. Aber – bitte, unterbrechen Sie mich, wenn Sie irgendwelche Fragen haben. Noch sind Anfragen möglich. In dieser Woche schon geht das ganze Unternehmen in die Startphase.

Grabert fragte: „Mit welchem Lkw werden wir fahren, welches Fabrikat?“

„Mit einem Mercedes, so wie Sie ihn vom Roten Kreuz her kennen. Laut Papieren werden Lebensmittel mit einem Gewicht von 3,5 Tonnen befördert, es sind überwiegend Konserven. Das Wichtigste, und damit kommen wir zum Kern Ihres bzw. unseres Unternehmens, wird ein Gerät sein. Dieses Gerät ist demontiert, in einigen Konserven verteilt, an Bord des Lkws. Eben jenen Apparat bzw. die entsprechenden Dosen mit den Fragmenten – ich werde Ihnen noch Näheres darüber mit einem Spezialisten zusammen erzählen – werden Sie an eine Kontaktperson weitergeben. Unsere Kontaktperson wird sich Ihnen an einem verabredeten Ort zu erkennen geben und die Dosen in Empfang nehmen. Sie brauchen keine großen Kontrollen an den Grenzen zu befürchten. Das Rote Kreuz mit seiner Symbolhaftigkeit und die tadellosen Papiere werden schon dafür sorgen. Schließlich transportiert das Fahrzeug Produkte, die wichtig für die Menschen einer Kleinstadt sind.

Wir arbeiten eng zusammen mit einer Hilfsorganisation in Polen.“

Das Telefon auf Kellermanns Schreibtisch klingelte.

„Ja, was ist?“, fragte Kellermann kurz, nachdem er abgehoben hatte. „Ah ja, es ist gut, danke, Ende.“

Kurz danach öffnete sich die schwere schalldichte Tür. Ein schmächtiger Mann gegen Ende fünfzig in Zivil betrat den Raum. Er ging zielstrebig mit ausgestreckter Hand auf Kellermann zu, sie begrüßten sich freundlich: Dann wandte sich der Mann zu Grabert und Haake.

„Guten Tag, meine Herren, ich bin Oberleutnant Strohdt, Fachmann für fotografische und mikroskopische Ausstattungen, um es einfach auszudrücken. Ich werde Ihnen nun das Gerät erklären, dass sich zerlegt in den Konservendosen befindet. Es handelt sich um ein sehr empfindliches Gerät, mit dem man so genannte Thermografien anfertigen kann. Genauer gesagt, mit diesem Apparat kann man kleinste Temperaturdifferenzen fotografisch festhalten. Keine Neuigkeit in der Technik, jedoch dort, wo Sie es hinbringen sollen, von größter Bedeutung. Nun, es war nicht ohne, die Teile gewichtsmäßig so in die Dosen zu bekommen, dass es nicht auffällt. Sie verstehen, sollte wider Erwarten eine Kontrolle vorgenommen werden, dann muss alles völlig normal aussehen und die Gewichte müssen unauffällig sein. Die ganze Geschichte widerstrebt den verantwortlichen Leuten sehr, denn es ist nicht üblich, über die Bundeswehr und dann noch im Namen des Roten Kreuzes eine solche Sache durchführen zu lassen. Hinzu kommt auch noch, dass Sie, meine Herren, im Rahmen einer Reserveübung mit der Durchführung beauftragt werden. Auch uns, nicht nur Ihnen, kommt die Geschichte wie eine naive Agentenstory vor, aber es ist eilig, und vielleicht macht die Einfachheit den Erfolg aus. Wenn Sie Fragen haben, meine Herren, dann unterbrechen Sie mich ruhig, denn ich meine, alle spontanen Fragen sollten sofort beantwortet werden.“

„Wie erkennen wir die Dosen? Sind sie irgendwie gekennzeichnet?“, fragte Haake.

„Ja, die Dosen sind gekennzeichnet, jedoch nur, wenn man es weiß.“

Kellermann stellte eine Konservendose auf den Tisch. „Bitte, schauen Sie sich diese Dose genau an. Fällt Ihnen irgendetwas Verdächtiges daran auf?“

Grabert nahm die Konservendose in die Hand, drehte und wendete sie, untersuchte sie aufmerksam von allen Seiten.

„Mir fällt nichts Ungewöhnliches daran auf.“

Auch Haake konnte nichts entdecken, nicht einmal im Vergleich zu einer „normalen“ Dose.

„Also, machen wir's kurz“, sagte Kellermann. „Es ist die Lötstelle, eine kleine Unebenheit, ein nicht richtig verlaufener Tropfen Lötzinn.“

Strohdt setzte seine Erläuterungen fort:

„Nun zu der Verteilung der Dosen. Morgen früh wird das bereits beladene Fahrzeug gebracht, damit wir gemeinsam die von uns verpackten Kartons nach einem bestimmten Plan verstauen können. Pro Karton werden zwei entsprechende Dosen gerechnet. Es sind also neun Kartons. Diese werden so verladen, dass sie genau an der Ladeseite hinter dem Fahrerhaus stehen. Es ist alles so gut kalkuliert worden, dass die neun Kartons von gewöhnlichen abgedeckt werden. Aber Sie werden es morgen früh sehen, es ist simpel, aber dennoch so, dass, selbst wenn durch irgendwelche Verwicklungen eine Kontrolle vorgenommen wird, nichts schiefgehen kann. Die Grenzbeamten werden sich nicht die Mühe machen, den Wagen und die komplette Ladung so gründlich zu kontrollieren. Sie werden übrigens in Zivilbekleidung fahren, Ihre Seesäcke und alles, was mit der Bundeswehr im Zusammenhang steht, bleibt hier in der Kaserne, bitte vergessen Sie das nicht.“

Kellermann wandte sich nun zu Strohdt um, der eine der betreffenden Dosen in den Händen hielt und sie gedankenvoll anschaute. Er sah aus wie ein Kind, das ein neues Spielzeug bekommen hatte und nicht genau wusste, was es damit anfangen sollte.

„Herr Strohdt, haben Sie noch andere Dinge, die wir eventuell noch nicht angesprochen haben?“

„Wie bitte, äh nein, nein, ich habe im Moment auch nichts mehr.“

„Okay“, sagte Kellermann, „dann können wir für heute Schluss machen, es sei denn, Ihnen, Herr Grabert oder Herr Haake, ist noch etwas unklar.“

„Unklar eigentlich nicht“, meinte Grabert, „nur, wie kommt es, dass man die Dosen schütteln kann, ohne dass ein harter Gegenstand von innen an die Wandung schlägt?“

Strohdt lächelte, sein Gesicht bekam viele kleine Lachfältchen.

„Das ist denkbar einfach, wir haben die Teile durch ein entsprechendes Gestell aus Kunststoff arretiert, Sie sehen, auch hier eine unkomplizierte, aber dennoch äußerst sichere Lösung. Haben Sie noch Fragen, Herr Haake?“

„Nein, ich meine, es ist alles klar. Nur möchte ich Sie bitten, noch einmal zur Sicherheit zu rekapitulieren.“

„Selbstverständlich, also.“ Strohdt bekam augenblicklich ein ernstes Gesicht, und seine noch eben freundlichen Züge verhärteten sich.

„Sie wissen, wo es hingeht, nach Polen. Sie fahren auf der Ihnen bekannten Transitstrecke über Forst, ohne große Pausen zu machen. Der Zeitplan muss streng eingehalten werden. Wenn unterwegs Schwierigkeiten, gleich welcher Art, eintreten, so enthebt Sie das nicht Ihrer Pflicht, die Lebensmittel zum Ziel zu bringen. In Krosno angekommen wird man Sie mit atemloser Spannung und Freude erwarten. Ich meine damit die Bewohner und auch den zuständigen Priester, dem wir im Grunde genommen die Möglichkeit verdanken, diese wichtigen Ersatzteile ohne Gefahr dort abzuliefern und vorübergehend zu lagern. Er heißt im Übrigen Pater Smolny. Er wird Sie gastfreundlich bei sich aufnehmen wollen, aber ich bitte Sie, diese Freundlichkeit nicht zu sehr in Anspruch zu nehmen, denn Sie sollten nach Übergabe der Ladung wieder losfahren.“

„Und wer ist dieser Kontaktmann, von dem Sie eigentlich noch nichts erzählt haben?“, fragte Grabert.

Kellermann drückte seine Zigarre im Ascher aus.

„Also, es hat schon seine Gründe, dass wir Ihnen nichts Näheres über diesen Kontaktmann gesagt haben, denn wir wissen zurzeit selbst nicht, wo Sie diesen Mann treffen. Es ist so verabredet, dass er sich Ihnen zu erkennen geben wird. Es wird schon alles nach Plan verlaufen, glauben Sie mir. Ihr Auftrag ist dann erfüllt, wenn die Ladung am Bestimmungsort eingetroffen ist. Wenn unser Mann Sie nicht anspricht, ist das auch in Ordnung, er wird in jedem Fall da sein, wenn Sie ankommen.“ Das Gespräch war beendet.

Die Nacht war unerträglich heiß, weder Grabert noch Haake konnten schlafen. Unten auf dem Kasernenhof schienen ein paar angetrunkene Soldaten zu gehen. Man konnte deutlich ihre Iallenden Stimmen hören. Wer sich in einer solchen heißen Nacht das Bier mit Genuss einverleibte, der konnte sicher gut schlafen.

Grabert erhob sich aus seiner Pritsche, er war hellwach, aber dennoch völlig erschlagen. Langsam stieg er in seine Jeans, zog ein T-Shirt über. Er machte sich auf, um zur Kantine zu gehen. Noch war es vor Mitternacht, so ergab sich die Möglichkeit, ein oder zwei Biere zu trinken.

Vor der Tür, am Ausgang aus dem Kasernengebäude, war das Glashaus für den Unteroffizier vom Dienst. Der diensthabende Obergefreite saß, von der Wärme angeschlagen, scheinbar verkniffen vor einem Kreuzworträtsel aus irgendeiner zweitklassigen Tageszeitung. Er merkte gar nicht, dass Grabert das Gebäude verließ, was aber durchaus in Ordnung war. Erst das Klappen der Tür ließ den jungen Soldaten aus seinen angestrengten Überlegungen hochschrecken. Er schaute kurz aus dem Fenster und wandte sich dann wieder seinem Rätsel zu, mit dem er vermutlich einige Probleme hatte.

Grabert ging an den langen Kasernengebäuden vorbei, die ebenso soldatisch wie die Munitionskisten am Straßenrand angeordnet waren. Die Fenster der langen Fassaden hatten irgendetwas mit einem Raster oder Schachbrett gemein. Man sah jetzt in der Finsternis nur dunkle und helle Flecken.

Ein wachhabender Soldat ging gelangweilt an Grabert vorbei. Er schien sichtlich angewidert von seinem nächtlichen Rundgang. Während die anderen die Halben stemmten, musste er mitten in der Nacht, mit dem G3 auf dem Rücken, über den noch warmen Asphalt stampfen.

Grabert betrat die verräucherte Soldatenkantine, in der man die Luft mit einem Messer hätte zerteilen können. Er holte sich ein kühles Bier vom Tresen und setzte sich an das Wagenrad, welches man, mit einer großen Kunststoffplatte abgedeckt, als Tisch benutzte. Hinter der Theke stand der Kantinenwirt. Der wischte immerfort mit einem Tuch über den Tresen. Er bereitete sich schon auf seinen lang ersehnten Feierabend vor.

„Feierabend“, rief er zu Grabert hinüber. „In acht Minuten geht hier das Licht aus. Wenn Sie noch einen trinken wollen, dann holen Sie sich 'ne Dose, der Flipperraum wird nicht abgeschlossen.“

„Nein, ist schon gut.“

Grabert stellte das leere Glas auf den Tresen und bezahlte. „Also dann, schönen Feierabend.“

Der Wirt nickte flüchtig und klapperte mit seinem großen Schlüsselbund beim Abschließen der Hintertür.

Es war immer noch unerträglich warm. Grabert spürte jetzt ein wenig Müdigkeit und beschloss, schlafen zu gehen. Immerhin sollte der nächste Tag weitere Erläuterungen bringen, die für das Unternehmen von Bedeutung sein würden.

Leise öffnete Grabert die Tür. Schon ein kleiner Spalt machte deutlich, dass Haake tief schlafen musste. Er schlummerte wie ein Stein und schnarchte, damit machte er nichts falsch. Wichtig für das Gelingen des Unternehmens war Klarheit, ein absolut ausgeschlafener Kopf.

Das Bett war schlecht, wie sich jetzt erst herausstellte. Insofern hatte Grabert keine gute Nacht.

In zwei verdammten Wochen würde sich dieser Mann aus der Gesellschaft freikaufen. Raus aus jenem gierigen, arroganten Gewerbe, in dem jeder gegen jeden kämpfte und opponierte, um seine Interessen durchzusetzen. Grabert war sich plötzlich gar nicht so klar darüber, wie eingefahren auch er lebte und wie sehr seine Wünsche ihn dazu antrieben, Dinge zu tun, die er nicht hinterfragte, dessen Konsequenzen er ausblendete. Drehte er sich nicht auch wie ein kleines unwissendes Rädchen im großen Getriebe, welches Kapitalismus hieß?

Wer den kompletten sinnlosen geistigen und materiellen Ballast konsumieren wollte – konform mit den Glaubenssätzen des Systems war, wurde integriert. Wer nicht mitmachte, sollte möglichst rasch ausgestoßen oder abgesondert werden.

Bei diesen kritischen Gedanken döste Grabert noch ein wenig und dachte an die nächsten Tage, an die kommenden Wochen, was sie ihm bringen würden. In zwei Wochen sollte seine Brieftasche prall mit Geld gefüllt sein. Er schlief endlich ein – und die Nacht war kurz.

„Hey, wachen Sie auf“, rief der Unteroffizier vom Dienst und klopfte nicht gerade zaghaft von außen gegen die Türfüllung. Haake war ein ausgesprochener Morgenmuffel.

„Was ist denn los? Verdammt! Kann man als Reservist noch nicht mal bis sieben Uhr schlafen?“, murmelte er vor sich hin.

„Ich habe Befehl, Sie um sieben Uhr zu wecken und Ihnen zu sagen, dass Sie beide um acht Uhr im Staabsgebäude, Zimmer 38, erscheinen sollen.“

„Ja, schon gut, wir sind jetzt wach.“

Der UVD entfernte sich wieder, seine Schritte hallten durch den langen Flur.

Grabert drehte sich schlaftrunken auf die Seite und versuchte, seine müden Glieder zu strecken.

„Wer war denn das?“, fragte er und schaute zu Haake hinüber, der sich an seinem Spind zu schaffen machte.

„Ach, das war dieser blöde Kerl von UVD. Die hab ich schon damals nicht ausstehen können – diese Kobolde. Wir sollen um acht Uhr im Stabsgebäude sein, ich schätze, es wird langsam ernst.“

„Ja, hab's mitbekommen, Zimmer 38 oder so. Na ja, was soll's, ich mach mich jetzt auch frisch.“

Der Waschraum war fast leer. Ein paar schlaftrunkene, vermutlich sogar vom Vorabend noch betrunkene Soldaten standen gebückt vor den langen steinernen Waschbecken. Die erinnerten ein wenig an Tröge in einem Stall.

Haake kratzte nervös an seinem Bart herum, welcher der stumpfen Klinge scheinbar nicht gewachsen war.

„Hast Du 'ne vernünftige Klinge für mich, Martin?“

„Eine Klinge, warte mal', Grabert kramte in seiner Kulturtasche herum. „Ja, hier, ich hab noch ein paar.“

Er reichte Haake eine hin.

„Aber schneid Dich nicht, Du scheinst ziemlich in Fahrt sein heute.“

„In Fahrt? Nein, ich bin morgens nicht so gut drauf, wenn ich gewaltsam geweckt werde, und dann noch von so einem Menschen in Uniform. Wenn mich ein hübsches Mädchen geweckt hätte, wärst Du bestimmt allein hier im Waschraum. Ich würde dann noch wie ein zufriedener Kater im Bett liegen und schnurren. Aber nicht allein, versteht sich.“

„So, so“, lachte Grabert herausfordernd, „verschieße Dein Pulver mal nicht schon vor dem Frühstück.“

Wenn man Grabert und Haake beobachtete, vermutete man nicht, dass sie sich erst seit ein paar Tagen kannten. Diese Tatsache konnte für beide nur von Vorteil sein, denn in den nächsten Tagen sollte für sie eine anstrengende Zeit beginnen.

Das Frühstück war sehr reichlich. Es gab Schinken, Wurst, Konfitüre, Eier, mehrere Brotsorten und, was nicht fehlen durfte, reichlich heißer Kaffee und natürlich auch Tee aus glänzenden Metallkannen.

Es war kurz vor acht Uhr. Kellermann oder wer auch immer heute morgen, würde das pünktliche Erscheinen der beiden jungen Männer als eine Selbstverständlichkeit voraussetzen.

Wenige Minuten, nachdem Grabert und Haake das Büro im Stabsgebäude betreten hatten, verließen sie es auch schon wieder. Gemeinsam mit Kellermann und Strohdt gingen sie zu einem am Fuhrpark gelegenen Gebäude.

Kellermann zog ein Schlüsselbund aus seiner Jackentasche und öffnete ein großes stählernes Tor.

„Das ist er“, sagte er und deutete auf den im Innern der Halle stehenden Lkw, der deutlich erkennbar an jeder Seite seiner hellbraunen Plane ein rotes Kreuz aufzeigte.

„Er ist heute Morgen gebracht worden. Ein Mercedes LP 813. Baujahr 78. Frisch von der Inspektion und bis zum Rand voll mit Lebensmitteln beladen. Das heißt, einige Kartons mit warmen Decken und Kleidungsstücken sind auch dabei.“

In der linken hinteren Ecke der Halle war ein Metallverschlag, an dem sich Strohdt zu schaffen machte. Er ging kurz hinein und erschien wenig später mit einem Karton in den Armen.

„Würden Sie bitte anfassen“, er deutete auf den Karton, „zwei sind noch drin, die müssen auch noch mit.“

Haake ging in den Verschlag und holte die anderen beiden Kartons, in denen je sechs Konservendosen verpackt waren.

Kellermann wies Grabert höflich, aber bestimmt an, mit dem Abplanen des Lkws zu beginnen, um an die Kartons heranzukommen, die sozusagen mit den heiklen Konservendosen gespickt werden sollten. Das Abplanen war eine Arbeit, die ein versierter Fernfahrer beispielsweise schnell bewältigen konnte. Grabert und Haake zusammen hatten jedoch Schwierigkeiten. Die Kartons, an die sie heranwollten, befanden sich mitten unter den anderen. Dies war eben der springende Punkt. Wer würde schon auf die Idee kommen, den Wagen total abplanen zu lassen, um irgendeinem dummen oder guten Gefühl Genüge zu leisten? Den Grund für eine solche Idee würde keiner der Planer des Transfers den Grenzposten liefern wollen.

Als die Plane fein säuberlich in der Mitte der Unterkonstruktion lag, tippte Kellermann mit dem Zeigefinger einen Karton an. „Diese Reihe ist es.“

Es war die erste Reihe hinter dem Fahrerhaus. Die Kartons waren nicht besonders groß. In ihnen befand sich Gemüse, eingekochtes Obst, Ananas, Pfirsiche und natürlich auch Wurst. Grabert und Haake nahmen die Reihe komplett heraus. In achtzehn Kartons kam je eine besondere Konservendose. Selbst ein geschultes Auge konnte keinen Unterschied feststellen.

Nachdem die bewusst offengelassenen Verpackungen mit den vorgesehenen Klebestreifen der Herstellerfirma verschlossen waren, wurde die fehlende Reihe ergänzt und mit nicht präparierten Kartons abgedeckt.

„So, meine Herren, das war's gewesen“, sagte Strohdt und schlug die Hände gegeneinander, um den Staub zu entfernen. „Jetzt sind Sie dran, wir legen nun sozusagen die Verantwortung für das weitere Gelingen unseres Unternehmens in Ihre Hände. Übrigens, darf ich Ihnen jetzt erfreulicherweise die Höhe des Betrages nennen, die jeder von Ihnen nach erfolgreichem Abschluss der Sache entgegennehmen wirf. Es sind genau fünfundachtzigtausend Deutsche Mark für jeden Einzelnen von Ihnen. Ich setze voraus, dass Sie die ganze Angelegenheit mit äußerster Diskretion behandeln werden. Nun lassen Sie uns kurz zu den Papieren kommen.“

Strohdt öffnete eine kleine Ledermappe und entnahm dieser einige Papiere.

„Hier, das sind die Visa“, er zeigte dabei auf zwei Scheine, die mit einigen amtlichen Stempeln der DDR versehen waren.

„Dies hier sind die Lieferscheine für den Empfänger, und das hier ist für die polnischen Zollbeamten. An der DDR-Grenze müssen Sie diese Papiere“, es handelt sich um einige weiße, ausgefüllte und abgestempelte Vordrucke, „vorlegen.“ Und dann sind hier noch 400 Ostmark und weitere 400 DM in Zloty. Es kann immer sein, dass Sie Geld unterwegs brauchen werden. An der DDR- und auch an der polnischen Grenze müssen Sie die eingeführten Devisen angeben, dazu sind diese Vordrucke gedacht. Es ist soweit alles ausgefüllt, nur das Datum wird an dieser Stelle noch eingetragen.“

Kellermann setzte die Erklärungen fort:

„Ich muss noch kurz zum Zeitplan kommen. Sie fahren also morgen früh um sieben Uhr los.“

Er breitete eine Karte auf einem staubigen, grünen Metalltisch aus.

„Der Weg ist Ihnen ja bekannt, es geht Über Hannover-Helmstedt, dann weiter nach Cottbus. Sie bleiben immer auf der Autobahn. Über die E 22 fahren Sie dann weiter über Görlitz, Breslau, Beuten, Kattowitz und Krakau nach Tarnow. Dort fahren Sie dann auf der Landstraße, die nicht mehr so gut ausgebaut ist, nach Krosno, dem Bestimmungsort der Ladung. Sie haben für die ganze Strecke, es sind wohl ca. 1600 km, maximal 36 Stunden Zeit, also genug, um auch bei längeren Grenzaufenthalten noch zur geplanten Zeit am Ziel einzutreffen. Krosno liegt übrigens in der Nähe der sowjetischen Grenze. Und hier sind die Ihnen sicher bekannten Benzinscheine.“

Er gab die kleinen Abschnitte Grabert, der sie dann zu den Papieren in die Mappe legte. Es waren 20 Benzinerwerbsscheine für je 24 Liter. Grabert schätzte, dass sie für mehr als 2000 km reichen würden.

„Sehen Sie zu, dass der Tank grundsätzlich dreiviertelvoll ist. Sie müssen immer über genügend Reserven verfügen, denn es kommt vor, dass Tankstellen zeitweise keinen Tropfen Benzin in ihren Vorratstanks haben. Was mich anbetrifft, so kann ich Ihnen nur noch viel Glück wünschen und hoffen, dass alles ohne Komplikationen geschieht. Haben Sie noch Fragen, meine Herren?“

„Also, mir ist alles klar“, antwortete Haake und wandte sich zu Grabert um, der in seinen Gedanken versunken auf den beladenen Lkw starrte.

„Gibt es noch Unklarheiten, Herr Grabert?“

„Ja, was passiert, wenn wir, ich will es nicht hoffen, in einen Unfall verwickelt und dadurch aufgehalten werden. Ich meine, wenn wir den Zeitplan aus irgendwelchen nicht einhalten können, was tun wir dann?“

„Dann gibt es nur eine Möglichkeit. Sie müssen, wenn Ihnen dies klar ist, eine Nachricht nach Krosno übermitteln. Und zwar benachrichtigen Sie telefonisch den Dorfpater. Dieser wird dann, wenngleich auch unbewußt, dafür sorgen, dass unser Mann davon erfährt. Die Telefonnummer ist bereits in der Mappe.“

„Okay, dann habe ich keine Fragen mehr“, sagte Grabert und bestieg das Führerhaus des Fahrzeugs, um sich ein wenig umzuschauen. Er war ebenso wie Haake gut vertraut mit den Armaturen und Fahreigenschaften eines solchen Lkws. Bei der Bundeswehr hatte er jeden Tag mit großen und noch schwereren Fahrzeugen zu tun gehabt.

„Also, dann noch mal Hals- und Beinbruch, und schlafen Sie sich gut aus, damit Sie morgen früh fit sind.“

Kellermann wandte sich zur Tür, er verließ die Halle mit eiligen Schritten.

„Ja“, meldete sich Strohdt, „ich schließe mich Herrn Kellermann an – habe noch einige wichtige Dinge zu erledigen. Hier“, er griff nach den Hallenschlüsseln, die neben der Landkarte auf dem Blechtisch lagen, „nehmen Sie die, damit Sie morgen früh den Wagen herausholen können, und geben Sie die Schlüssel dem Wachsoldaten.“

Nachdem die Halle verschlossen war, verabschiedete Strohdt sich etwas steif und ging quer über den Hof in Richtung Stabsgebäude. Erst jetzt realisierte Grabert, dass Strohdt sein rechtes Bein etwas nachzog. Vielleicht eine Kriegsverletzung, vermutete er.

„Nun stehen wir hier“, meinte Haake und lehnte sich lässig an die Hallentür. Er schmunzelte, angelte sich eine Zigarette aus seiner Brusttasche.

„Eigentlich müssen die uns, bevor wir hierher kamen, ganz schön gecheckt haben, Martin. Die haben die Visa auf unsere Namen und alles andere komplett fertig gehabt. Das Ja-Wort wussten die bestimmt schon, bevor wir überhaupt von der ganzen Sache erfuhren.“

„Mag sein“, erwiderte Grabert, „man darf die Leute nicht unterschätzen. Wer weiß, wie lange die uns vorher beobachtet haben. Ehrlich gesagt ich bin froh, wenn wir zurück sind, denn irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl, was diese mysteriösen Dosen anbelangt. Dass man für eine solch heiße Sache einfach zwei Reservisten aufgabelt, ist mir immer noch unbegreiflich.“

„Was meinst Du mit dem unguten Gefühl, Martin?“

„Na ja, ich will Dich nicht beunruhigen, aber manchmal hat man eben ein Gefühl, das sich nicht klar beschreiben lasst. Sicher ist das auf die eben ungewöhnliche Situation, in der wir uns befinden, zurückzuführen.“

Grabert schüttelte den Kopf, als wolle er so seine konfusen Gedanken ordnen.

„Ach, mach Dich nicht verrückt, Martin. Wir fahren nach Krosno, oder wie heißt noch mal dieses Dorf, laden dort alles runter vom Wagen, dann nichts wie ab nach Hause. Was dann kommt, ist wichtig, denn dann gehe ich zur Bank und lasse mir meine Kontoauszüge zeigen. Wenn der Stand meinen Erwartungen entspricht, mach ich das, was ich schon immer vorhatte. Ich steige bei meinem Schwager ein. Der hat mich gefragt, ob ich mit ihm zusammen ein Fuhrunternehmen aufziehen will.“

„Was, Du hast einen Schwager?“, stellte Grabert verblüfft fest. „Ich denke, Du hast keine Verwandten mehr.

„Das ist nicht ganz richtig“, korrigierte Haake. „Ich habe eine Halbschwester aus der ersten Ehe meines Vaters. Die ist denen wohl durch die Maschen geschlüpft. Wenn die das nicht merken, ich sag es ihnen auch nicht. Was machst Du, Kumpel, wenn wir mit der Sache durch sind?“

Grabert schaute geistesabwesend hinüber zum angrenzenden Wald. Er hatte die Frage gut verstanden.

„Ich werde mich einlösen, mich und meine Freundin einlösen gegen einen Scheck.“

Haake schaute sein Gegenüber kritisch an. Was gemeint war, hatte er nicht verstanden, wie sollte er auch.

„Also, ich kapiere nicht, was Du meinst, Martin. Hast Du irgendwelche finanziellen Schwierigkeiten? Ich frage nicht aus Neugier, vielleicht kann ich Dir sogar helfen?“

Grabert musste lachen.

„Aber nein, ich habe keine Geldsorgen. Verstehst Du, meine Freundin und ich, wir wollen auf's Land ziehen, in der Stadt gefällt es uns nicht mehr. Uns fehlt nur noch das Geld, um es auch wirklich tun zu können. Wir haben jahrelang in der stinkenden Stadt gelebt, das soll nicht immer so weitergehen. Auf dem Lande lebt es sich besser und angenehmer, verstehst Du? Wir möchten uns ein einfaches, aber glückliches Leben, umgeben von der Natur, gestalten. Weit fern von Schloten, Autobahnen und Hektik. Gewünscht hab ich's mir schon immer, nur ist es mir nie gelungen, mich von diesem Gewühle freizumachen. Nicht nur ich, sondern auch Du und alle anderen sind viel zu verwurzelt mit dieser Gesellschaft, mit ihren Zwängen. Hinderungen, die wir, also die Gesellschaft, uns selbst auferlegen.“

„Ist schon klar, ich weiß, wie Du das meinst, Martin. Nur sehe ich das etwas anders. Ich will mich nicht freikaufen, ich will mich sozusagen einkaufen, und zwar in die Gesellschaft, die an den Fäden zieht; verstehst Du, ich will nicht immer die Marionette sein, ich will auch die Bewegungen mitbestimmen.“

Grabert wollte nicht weiter über dieses Thema reden, denn er wusste, dass Haake sich ebenso wenig wie er von der Meinung des anderen überzeugen lassen würde. Schon oft hatte er lange Debatten über Ideologien geführt. In den meisten Fällen kam er dabei nicht gut weg, denn gegen Habgier, Gewinnsucht und skrupelloses Handeln war in der heutigen Zeit kein Kraut mehr gewachsen. Er lenkte also ein.

„Keine schlechte Idee, das Geld zu investieren und ganz groß einzusteigen. Ich hoffe, dass Du Dich dabei finanziell verbessern kannst, Erich.“

„Wird schon klappen, Martin; lass uns jetzt gehn, wir brauchen ja nicht bis morgen hier zu stehn.“

Krosno, ein Ort mit einigen Tausend Einwohnern im Karpatenvorland. Dieser Ort, bis auf seine Glasproduktion und die traditionellen Ölvorkommen, verschont geblieben von der brutalen technischen Evolution der Metropolen im Osten Europas. Zuweilen findet man dort freundliche, genügsame, einfach gekleidete Menschen, die ihr Land bearbeiten. Dieses, nicht nur, um ihr Auskommen zu sichern, sondern auch, um die geforderten Ackererträge halten zu können. Die in den Fabriken arbeitenden Menschen schufteten in den Glashütten, verdienten wenig, ruinierten ihre Gesundheit durch die harte Arbeit. Der Glaube an Gott half ihnen nicht, das Leben zu verstehen, es aber tapfer zu ertragen.

Wie der Dorfpater einer kleinen Gemeinde am Rande von Krosno es geschafft hatte, eine ganze Wagenladung Lebensmittel und Kleidung aus dem goldenen Westen ausgerechnet nach Krosno zu lotsen, war ein Wunder. Ja, für die Seelen dort ein Wink Gottes, der es gut mit ihnen meinte.

Das ganze Dorf schien dieses Ereignis in einer Art herbeizusehnen – wie den Regen nach einer unendlich langen Dürre. Die Menschen dort befanden sich in einer feierlichen Vorfreude. Jeder von ihnen traf irgendwelche Vorbereitungen, die bei der Ankunft der Fahrer aus dem Westen einen frohen Empfang bereiten sollten.

Auch Anton Jadrovz bereitete sich auf die Ankunft vor. Jedoch waren seine Erwartungen auf eine andere Sache fixiert. Er war der Mann, der die Konserven mit den Ersatzteilen entgegennehmen sollte. Er war über die Ladung minutiös unterrichtet und wusste, wo und wie er das, was er suchte, finden sollte. Jadrovz hatte keine Familie mehr; er war alleinstehend und betrieb die Dorfschmiede. Vor 25 Jahren hatten die Eltern des Paters ihn aufgenommen, nachdem man seinen Vater, von einem Lkw der russischen Volksarmee überrollt, auf der staubigen Landstraße gefunden hatte. Zu einer Anklage kam es damals nicht. Nichts konnte den toten Vater jemals ersetzen. Der Fahrer sollte angeblich betrunken gewesen sein, dieser verschwand nach dem Gerichtsurteil, das „Arbeitsdienst“ gelautet hatte, nach Sibirien. Man sah ihn nie wieder.

Jadrovz pflegte guten Kontakt zum Pater und erfuhr auf diesem Wege alle nötigen Informationen, die er brauchte, um seine Position als Brücke zwischen Deutschland und seinen ausgesandten Spionen in Polen zu erfüllen. Spione, nicht gegen Polen gerichtet, sondern gegen das, was hinter dem Dukla-Pass begann: die Sowjetunion. Dieses große Land mit seinen vielen Geheimnissen. Ein Land, in dem ein starkes Volk wohnte, ein Volk mit einer rauen, strotzenden Kraft. Körper, in denen warme und zurückhaltende freundliche Seelen wohnten. Ein patriotisches Volk, das wusste, wofür es arbeitete; von morgens bis spät abends schuftete, in Fabriken, in den riesigen Verwaltungsapparaten oder in den zahllosen Kolchosen. Die Arbeit gewährte nicht nur das tägliche Brot, sie war gleichermaßen eine tiefe Überzeugung, der Glaube an Freiheit, Kraft, Fortschritt und Weltmacht.

Ein Land, das für seine eigenen Behändigkeiten arbeitet, an dem jeder teilhaben darf, damit sich die riesigen Kornkammern füllen. Nicht nur, um dieses starke Volk mit neuer Kraft zu versorgen. Ein Kreislauf, der allzu natürlich ist und den Menschen im Westen irgendwie beklemmend und beziehungslos erscheint.

Dieses Land, in kommunistischer Blüte, der Feind Nummer eins für die westlichen Mächte. Eine Nation, die schon allein durch seine geografische Lage den Deutschen immer wieder gestrotzt hatte.

Was nicht nur die Deutschen, auch andere Westeuropäer mit Stolz erfüllte, war gleichermaßen das, was auch enorm schwächte. Schon kurz nach dem Kindsein schaltete sich ein Mechanismus ein. Ein Geschehen, welches das Individuum aus der Gesamtheit herauszuheben anstrebte. Das für den Vorteil der eigenen Person ausgerichtete Empfinden, das Streben nach mehr, nach Höherem, das Gefühl, mit Kapital zu dominieren, mehr zu besitzen als der andere. Für den Ostblock eine der größten westlichen Schwächen. Über das Bestreben nach „mehr“ verlor der Mensch den Sinn für die Kräfte, die „in ihm stecken“.

Jadrovz hatte eine Schwäche, er war nachtragend. Die Sache mit seinem Vater hatte er weder verschmerzt, noch bearbeitet, noch vergessen.

Das Gefühl, seine zaghaft Gestalt annehmenden Rachepläne irgendwann zu verwirklichen, verlieh ihm Kraft auch scheinbare Überlegenheit. Er war früher nie eine Kämpfernatur gewesen. Jetzt aber war er mit dem, was sich in den nächsten Tagen abspielen sollte, zufrieden und furchtloser denn je. Durch einen Zufall konnte er sich in eine Gruppe von Männern einschleichen, die seit Jahren im Verborgenen gegen die Sowjetunion opponierten, zum Teil sogar unterstützt von deutschen Spitzeln.

Jadrovz genoss eine nicht geringe Autorität im Kreise der Privatabwehr, wie er sie nannte. Er wusste genau, was der Wagen aus dem Westen bringen würde.

1979 Transit ins Ungewisse

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