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3 Einbruch & Walroß

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Unglaublich aber wahr: Schröder hatte tasächlich recht.

Als wir in den Skiftesväg einbogen, waren in jedem Haus, das wir bis zur Biegung sehen konnten, irgendwelche Fenster hell erleuchtet – in allen, außer einem. Und vor dem blieb das Bogartauto mit laut kreischenden Bremsen stehen.

„Verdammt, ich muß mal die Bremsen nachsehen“, sagte er lachend und zuckte entschuldigend mit den Schultern. Er machte die Tür auf und wollte hinausklettern, hielt aber plötzlich inne und drehte sich um, als er merkte, daß ich mich nicht rührte. „Los, komm schon“, sagte er und schaute mich fragend an.

„Ich warte hier“, sagte ich und setzte mich mit übertriebenen Bewegungen zurecht.

„Quatsch. Ich brauche deine Hilfe. Wirklich.“

„Also, mein Knie –“ fing ich an.

„Nein, das macht mich aber sehr traurig“, seufzte er, und ich glaube, er meinte es wirklich ehrlich – oder er war ein guter Schauspieler. Er schob die Brille in die Stirn und schaute mich mit traurigen Hundeaugen an, die Schultern hingen herab, und es sah fast so aus, als würde seine Unterlippe zittern.

„Komm, stell dich nicht an“, sagte ich. „Los, geh. Ich warte hier.“

„A-a-ber... ich brauche deine Hilfe. I-i-ich schaff das nicht alleine, verstehst du, und ich hatte gedacht, daß wir... ja, daß du und ich, daß wir zusammenhalten –“

Gleich fängt er zu heulen an, dachte ich. „Also gut!“ stöhnte ich und stieß die Tür auf. Ich jammerte und verzerrte das Gesicht beim Rausklettern und dachte, er kann wenigstens ein schlechtes Gewissen bekommen oder wenigstens sagen, daß er dankbar ist, wenn ich mitkomme.

Nichts.

Er kümmerte sich überhaupt nicht um mich, schlug die Tür zu und stiefelte mit großen Schritten zum Briefkasten am Tor und beugte sich runter.

„Doch, stimmt.“ Er nickte zufrieden, nachdem er das kleine Namensschild gelesen hatte, zog seine Sonnenbrille wieder runter, und als ich schließlich zu ihm gehumpelt war, sagte er:

„Geh du klingeln.“

„Ich?! Aber – das kannst du doch...“

„Ich nehme an, auf der Rückseite gibt es so eine minimale Andeutung eines Gartens“, sagte er und zeigte mit einer ausholenden Geste auf die zwei Quadratmeter Rasen. Ich nickte.

„Kommt man da leicht rein?“ fragte er.

„Wie meinst du das?“

„Ich meine, gibt es elektrische Zäune, Schäferhunde mit gefletschten Lefzen und maschinengewehrbewaffnete Wachen?“ Ich schüttelte den Kopf und mußte lächeln. „Gut, dann geh ich hintenrum. See you, Junge!“

Ehe ich auch nur den Mund aufmachen konnte, war er mit langen, irgendwie hüpfenden Schritten davongelaufen und erstaunlich schnell beim letzten Haus der Reihe. Er winkte energisch mit beiden Armen und verschwand um die Ecke.

Ich schaute auf den Briefkasten und konnte in der schwachen Beleuchtung mühsam den Namen „Dahlén“ entziffern.

Die vier schwarzen Fenster des Hauses schauten mich anklagend an. Nicht einmal über dem Eingang brannte eine Lampe. Ich schauderte und spürte, wie mir langsam die Angst den Rükken hochkroch. Wieso war ich hier? dachte ich. Warum bin ich nicht zu Hause geblieben und habe mir die 58. Folge von „Kleinstadt“ angeschaut? Weil sie so unglaublich schlecht ist, antwortete ich, humpelte zur Eingangstür und klingelte. Von drinnen hörte man ein schwaches Surren, aber natürlich kam niemand. Ich klingelte noch einmal. Da glaubte ich auf einmal, zerplitterndes Glas zu hören, ich holte tief Luft und spürte, wie mein Herz wild um sich schlug.

Ich wollte gerade zum Auto zurückgehen, als drinnen eine Lampe anging. Im nächsten Augenblick wurde die Tür aufgerissen.

Schröder starrte mich ganz wütend an.

„Schon wieder die Zeugen Johovas, laßt ihr einen denn überhaupt nie in Ruhe? Wir kaufen hier keinen Gott!“ sprudelte es aus ihm heraus, und gleichzeitig entstand auf seinen Lippen ein immer breiteres Grinsen.

Gar keine Frage, er war total durchgeknallt. Hatte er ein Fenster eingeschlagen? Die Terrassentür? Oder hatte er etwa die ganze Zeit einen Schlüssel?

„Aber komm doch rein“, sagte er und machte die Tür weit auf.

„Aber wie...“

„Wie ich reingekommen bin? Tja... Ich habe einfach die Scheibe der Terrassentür eingeschlagen. Ging ganz leicht. Das ist mein erster Einbruch. Sehr interessant. Obwohl, es zählt vielleicht nicht richtig, wenn man die kennt, die hier wohnt.“

„Sie ist also nicht zu Hause?“

„Nein, genau. Aber steh nicht da mit offenem Mund wie ein Erweckter. Komm rein!“

Ich kam in einen engen Flur mit weißen Wänden. Direkt hinter der Tür hingen Jacken und Mäntel an einer Garderobe, und auf dem Boden standen jede Menge hochhackige und flache Schuhe und ein paar Lederstiefel. An allen Wänden hingen eingerahmte Farbfotos, die sehr merkwürdig aussahen. Schröder bemerkte, daß ich sie anschaute.

„Schau dir mal das an!“ rief er und zeigte auf ein Foto hinter mir. „Echt starkes Bild.“

Der größte Teil des länglichen Fotos war schwarz. In der Mitte verlief ein verschwommenes Band gelber Striche mit ein wenig Rot und Grün quer drüber. Darunter war ein etwas hellerer, beinahe ovaler Fleck, und ganz oben im Schwarz leuchtete ein weißes Dreieck.

Es sah so aus, als ob der Fotograf die Kamera nicht hatte stillhalten können, alles war verschwommen und unscharf. Ich versuchte herauszubekommen, was es vorstellen sollte, aber das ging nicht.

„Komm rein“, sagte er eifrig, „hier herein, komm!“

Ich trat in ein Zimmer mit einer Polstergruppe und einem langen Holztisch an der einen Längswand. Die gegenüberliegende Wand war ganz von Regalen bedeckt. Außer Büchern und Videobändern standen in dem Regal eine Stereoanlage, ein Videorecorder und ein Fernseher. Ganz am Ende des Zimmers führte eine Terrassentür ins Oktoberdunkel hinaus. Sie war angelehnt. Und wirklich, die Scheibe war in der Höhe der Klinke eingeschlagen, auf dem Parkettboden lagen Glassplitter.

„Bist du schon mal hier gewesen?“ flüsterte ich.“

„Nee, never“, sagte er und schüttelte den Kopf. Er ging zum Bücherregal und las die Buchrücken. „Sie wohnt noch nicht sehr lange hier. Sie hat in der Stadt noch eine kleine Einzimmerwohnung, wo sie mindestens schon seit zehn Jahren wohnt, aber dann mußte irgendein Onkel oder eine Tante auschecken, und sie hat die Hütte geerbt.“

„Aber wer“, fing ich an.

„Siehst du, wie ordentlich es hier ist?“ unterbrach er mich.

„Wo?“

„Na im Bücherregal. Abgestaubt und aufgeräumt. Jedes Buch steht an seinem Platz, sogar alphabetisch.“

„Ähm... ja.“

„Sieht verflucht noch mal aus wie im IKEA-Katalog.“

„Sieht aus wie das Bücherregal bei uns zu Hause.

„Nein!“ Er schaute mich besorgt an, als ob ich ihm leid täte.

„Aber schau dir doch mal den Tisch an!“ Er drehte sich um und zeigte mit der Hand drauf.

Es war ein völlig normaler Sofatisch. Er war sauber und ordentlich, die gemaserte Holzoberfläche war abgewischt. Am einen Ende lagen vier Stapel mit dicken Zeitschriften, die Vogue, Photo und Zoom hießen, daneben stand ein leerer schwarzer Aschenbecher und ein Tischfeuerzeug aus Silber.

„Ich versteh dich nicht.“

„Aber schau dir doch nur mal die Zeitschriften an. Jemand muß die mit dem Lineal hingelegt haben. Und der Aschenbecher glänzt ja richtig! Also, du hättest mal sehen sollen, wie es in der Stadt bei ihr ausgesehen hat. Das reine Inferno!“

„Das reine was?“

Er schob die Brille hoch, drehte sich um und schaute mich an.

„Ja, das ist doch meine Rede: Was zum Teufel macht ihr heutzutage bloß den lieben langen Tag in der Schule?“

Ich setzte mich achselzuckend aufs Sofa, um mein linkes Bein auszuruhen. Ich mied seinen Blick und massierte mein verletztes Knie.

Inferno habe ich gesagt“, sagte er. „Oder anders ausgedrückt: Es sah bei ihr zu Hause immer aus wie Sau. Verstehst du mich vielleicht dann?“ Er schüttelte den Kopf und ließ seinen Blick über das ordentliche Zimmer schweifen. „Verdammt noch mal, allmählich wird das ganze schwedische Volk ein einziger Haufen ungebildeter Dummköpfe“, brummte er leise und ließ die Schultern hängen. Dann las er weiter die Namen und Titel auf den Buchrücken.

„Ich habe dich nur nicht richtig gehört“, sagte ich störrisch.

„Schon gut“, sagte er und schwang seinen einen Arm. „Aber wie auch immer, das war ihr Stil, verstehst du? Unordnung und Chaos. Schiefe Bücherstapel, Zeitungsberge, überall Stoffballen, Mappen und –“

„Stoffballen?“

„Mhm, sie näht auch manchmal. Nähmaschine auf dem Boden, Schreibmaschine auf dem Fernseher, alte Weinkisten mit Manuskripten unter den Tischen und Kram kreuz und quer auf allen Stühlen und so.“

Ich schaute mich vorsichtig um und mußte ihm zustimmen, daß es absolut nicht so aussah. Im Gegenteil. Dieses Zimmer sah eigentlich ganz normal aus – wie Wohnzimmer bei Leuten eben aussehen.

„Sie ist vielleicht genau wie mein Vater“, schlug ich vor.

„Und wie ist der?“

„Also, sein Schreibtisch im Büro und auch zu Hause ist immer total unaufgeräumt, aber er legt größten Wert darauf, daß es sonst zu Hause ordentlich und sauber ist.“

Schröder schüttelte langsam den Kopf, machte einen Schritt und las die Rücken der Videokassetten. „Nein, irgend etwas stimmt hier nicht“, murmelte er, seine Hand verschwand in der Manteltasche und tauchte mit dem Zigarettenpäckchen wieder auf.

„Mußt du schon wieder rauchen?“ fragte ich ärgerlich. „Es stinkt so.“

Stinkt?!“ keuchte er und wollte offenbar seinen Ohren nicht trauen. Er drehte sich um, schaute erst mich und dann das Päckchen in seiner Hand an. Er steckte es wieder ein. „Nein, verstehst du“, sagte er dann nachdenklich und kratzte sich die Bartstoppeln, „jemand hat hier aufgeräumt, und ganz bestimmt nicht sie.“ Er verschränkte die Hände auf dem Rücken und ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab.

„Ähm, vielleicht ihre Mutter?“ schlug ich vor.

„Sie ist tot. Nein, ich bin ganz sicher, irgend etwas ist hier faul.“

„Faul?“

„Mhmm... Sie ist nämlich verschwunden. So ist es: Sie ist seit drei Wochen spurlos verschwunden.“

„Sie ist vielleicht in Ferien gefahren.“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, dazu hat sie weder Zeit noch Geld. Und wir hatten ausgemacht, daß ich sie anrufe und wir dann hier zusammen essen. Und das war vor drei Wochen. Und obwohl sie ansonsten Chaos um sich verbreitet, was Termine betrifft, da ist sie sehr genau. Beinahe pedantisch. Wenn sie sich verspätet, ruft sie sofort an, auch wenn es nur eine Viertelstunde ist. Und... Tja.“ Er breitete die Arme aus.

„Du?!“ sagte ich ernst. Ich spürte, daß mir das alles zuviel wurde.

„Mhm?Was?“

„Ich möchte jetzt wirklich nach Hause fahren. Mir gefällt das hier nicht.“

„Mir auch nicht. Es sieht aus, als ob jemand das ganze Bücherregal durchforstet hätte, das ganze Zimmer.“

„Wovon redest du eigentlich?“

„Sie haben irgend etwas gesucht, ganz einfach.“

Jetzt reicht es, dachte ich. „Sie ist vielleicht krank?“

Er schüttelte den Kopf.

„Nein. Ich habe es überprüft. Ich habe jedes Krankenhaus in der weiteren Umgebung angerufen und mit Unmengen von bescheuerten Krankenschwestern und Ärzten gequatscht. Also, werd bloß nicht krank, Junge, das rate ich dir wirklich – werd nicht krank. Die schwedische Ärzteschaft ist ein übles Pack, alles Stümper, die dich nur mit Chemie vollstopfen wollen und –“ Er unterbrach sich plötzlich und schaute mich mit einem erstaunten, fast blöden Gesichtsausdruck an, als ob er kaum noch wüßte, wer ich bin.

„Und was ist mit ihren Freunden?“ fragte ich.

„Ihren Freunden? Ach so, ihren Freunden. Mhm, sie hat keine.“

„Sie hat keine Freunde?“

„Nein, keinen einzigen.“

„Wie schrecklich“, sagte ich mitleidig.

„Nein, überhaupt nicht. Sie will es nicht anders. Und ich habe alle angerufen, die sie kennt, und die sagen genau das gleiche.“

„Was?“

„Daß das alles sehr merkwürdig ist. Und daß sie – verdammt!“ rief er, lief zum Bücherregal, legte den Kopf schräg und las den Text auf dem Rücken einer Videokassette mit Hilfe des Zeigefingers. „Sie hat ihn!“ murmelte er. „So was aber auch. Den muß ich mir ausleihen...“

Da hörte ich deutlich, wie der Boden im ersten Stock knarrte.

Schröder hörte nichts.

„Du?“ flüsterte ich, meine Stimme zitterte.

„Mhm, was ist?“

„Hast du es nicht gehört?“

„Was gehört?“

„Da oben?“ Ich machte eine Geste zur Decke.

„Was da oben?“

„D-d-da hat hat der Boden geknarrt.“

„Da oben?“

Er zuckte zusammen und erschreckte mich zu Tode. Er drehte sich auf dem Absatz, sein Trenchcoat flatterte wie ein weiter Rock um ihn, als er aus dem Zimmer lief. Ich hörte, wie er mit polternden Schritten die Treppe hochspurtete.

Ich wußte nicht, was ich machen sollte. Mein Gehirn war ein einziges Knäuel von verwirrten Gedanken und Fragezeichen. Mein Herz schlug ein wahnsinniges Drum-Solo, und meine Handflächen wurden ganz feucht.

Ich versuchte, mich zu beruhigen, und dachte mir, noch schlimmer kann man sich gar nicht erschrecken.

Konnte man sehr wohl.

In einem der Nachbarhäuser bellte ein Hund, und mein Herz machte noch einen Satz.

Genau als das Hundegebell aufhörte und ich vor Erleichterung seufzte, hörte ich einen schweren, dumpfen Schlag vor der Terrassentür. Als ich hinschaute, sah ich eine schwarzgekleidete, große Person, die gerade aufstand – und offenbar aus einem Fenster im ersten Stock gesprungen war.

Schröder?! dachte ich erschrocken, aber der Gedanke beruhigte mich auch. Aber wo war sein Mantel? dachte ich. Und warum hat er sich einen Schnurrbart angeklebt? dachte ich dann.

Es war nicht Schröder. Ganz einfach, auch wenn mein Gehirn und mein armes Herz es gar nicht einfach fanden.

Der Schnurrbart hatte sich umgedreht und starrte direkt ins Zimmer. Er stand einfach da und glotzte mich an. Er hatte wohl eine schwarze Strickmütze auf. Sein Gesicht war blaß, fast weiß, es leuchtete richtig scharf, ansonsten wurde er vom Dunkel verschluckt. Es war ein großer Schnurrbart. So ein riesengroßer, Modell Walroß.

Ich war einer Ohnmacht nahe.

Ich stand auf, um seinem starrenden Blick zu entgehen, aber ein Stich fuhr mir ins Knie, das Bein knickte ab, ich stürzte über den Tisch und riß die ganzen Zeitungen mit. Ich stand auf und schaute über die Tischkante zur Terrassentür.

Er stand immer noch da. Und er starrte mich immer noch an.

Ei-einbildung, dachte ich stotternd, es kann nur Einbildung sein.

Ich war zu Tode erschrocken. Richtig zu Tode erschrocken, zum ersten Mal im Leben. Ich versuchte, etwas zu denken, aber es ging nicht. Ich konnte auch nicht mehr richtig sehen, alles verschwamm mir vor den Augen. Ich stolperte zur Eingangstür und versuchte mit zitternden Händen, das Schloß aufzukriegen. Da legte sich eine große, schwere Hand auf meine Schulter.

„Und wohin zum Teufel willst du?!“

Ein Kuß als Belohnung

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