Читать книгу Die Geburt eines ersten Zombies - Bert Grashoff - Страница 10
Bells Vortrag zum Stand des Wissens über das Unwissen
ОглавлениеCurt hielt die Arme verschränkt und den Mund. Bell war klar, dass er ihn vor versammelter Mannschaft gekränkt hatte. Junge Männer konnten auf so etwas überaus empfindlich reagieren. Und da er ein Bürger Qualimbas war, konnte eine empfindliche Reaktion ein großes Spektrum an Unannehmlichkeiten für Bell mit sich bringen. Er hatte wenig Lust, sich mit solchen Problemen herumzuschlagen, sah aber die deutliche Notwendigkeit. Falls Curt die Rückendeckung des Rats von Qualimba hatte, war gerade vielleicht ein Krieg ausgebrochen, der Bell mitsamt seinem Institut dem Erdboden gleich machen konnte. Er musste sich einen Moment sammeln und ging wieder über zu seinem Standardvortrag:
„Eine präzise Vorstellung von den Gegenständen unseres Fachs zu gewinnen, ist deshalb so schwer, weil wir es mit Phänomenen zu tun haben, die sich unserem alltäglichen Lebenszusammenhang entziehen, die teilweise absurd wirken, die nur mit überaus feinen und komplexen Messinstrumenten überhaupt sichtbar gemacht werden und sich uns überhaupt nur über komplexe mathematische Konstrukte erschließen, die nur nach langjähriger Beschäftigung für überdurchschnittlich begabte Menschen verständlich sind und ohne die Mühen eines großen Verbunds von Forschern genauso wenig zustande gekommen wären wie ohne die Leistungsfähigkeit unserer Supercomputer. Cartos fand in einem Vortrag vor 17 Jahren, kurz vor seinem tragischen Tod, ein schillerndes Bild für unsere Tätigkeit. Er sagte sinngemäß etwa Folgendes: Wir suchen nach der Nadel im Heuhaufen. Bloß befindet sich der Heuhaufen mit der Nadel vermutlich auf einem Planeten, der von einem schwarzen Loch in einer fernen Galaxie verschluckt worden ist. Wir halten nur einen kleinen Magneten hier auf unserer Erde in der Hand und haben die Hoffnung, dass wir den Magneten an einem uns unbekannten Punkt irgendwo auf der Erde in einem uns unbekannten Winkel so halten können, dass die Nadel aus dem Heuhaufen und aus dem schwarzen Loch direkt auf unseren Planeten zufliegt. Wenn wir Glück haben, braucht die Nadel für diesen Flug weniger als 15 Milliarden Jahre. Vorausgesetzt, wir halten den Magneten die ganze Zeit am richtigen Punkt und im richtigen Winkel, von dem wir aber erst wissen können, dass es der richtige Punkt und Winkel ist, wenn die Nadel endlich angekommen ist. Zudem macht uns Kopfzerbrechen, dass sich unser Planet in einem unbekannten Verhältnis zu dem Ort dreht, an dem die Nadel sich befindet, richtiger Punkt und richtiger Winkel sich also permanent auf eine unbekannte Weise ändern. Außerdem ist es nur eine Vermutung, dass es die Nadel im Heuhaufen tatsächlich gibt. Vielleicht haben wir auch Pech und sie existiert gar nicht. Außerdem glauben wir nicht daran, dass eine solche Nadel den Weg aus einem schwarzen Loch herausfinden kann oder unser kleiner Magnet auf diese Entfernung überhaupt fähig wäre, die Nadel zu bewegen. Finden aber wollen wir sie.“
Bell sah irritierte Gesichter im Auditorium. Dafür war die Geschichte des alten Cartos' da. Ein vages Gefühl für die Schwierigkeiten zu vermitteln, mit denen sich die heutige Quantenphysik rumschlug, war nicht ganz einfach. Die meisten Menschen sahen nur die kleinen Erfolge der Forschung. Neue Technologien, neue Therapien, eine faszinierend grundlegende Beherrschbarkeit aller Energie und Materie im Dienste der Bedürfnisse von Menschen. Die Forscher hingegen wussten, dass das Bullshit war. Alle Technologien waren bloß vereinzelte Glücksfunde einer geduldig forschenden großen Gemeinschaft. Technologische Beherrschbarkeit war ein Geschenk, von dem keinem Experten klar war, womit sie es verdient hatten.
„Nun, Sie werden im Laufe Ihres Studiums immer deutlicher zu verstehen lernen, dass Cartos' Nadel-im-Heuhaufen-Bild in vielerlei Hinsicht noch deutlich zu optimistisch gezeichnet ist. Andererseits jedoch werden Sie feststellen, dass die Menschheit bereits eine immense Anzahl an Nadeln gefunden hat, die keineswegs viel leichter zu finden sind als die Nadel von Cartos. Es gibt also sowohl sehr gute Gründe für einen radikalen Pessimismus der Forscher, jemals verstehen zu können, was wir verstehen wollen, wie es auch sehr gute Gründe für einen radikalen Optimismus der Forscher gibt.
Vielleicht haben Sie einmal von dem antiken griechischen Philosophen Sokrates gehört. Er sagte unter anderem: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Wir nutzen die Mathematik und das Experiment, um präzise zu bestimmen, mit welcher Wahrscheinlichkeit, mit welcher Ungewissheit und mit welchen Vagheiten wir etwas wissen und nicht wissen. Im eigentlichen Sinne wissen wir tatsächlich nichts über unseren Gegenstand, den wir eben nicht anders bestimmen können denn als Wellenfunktion des Universums, als eine Gesamtheit der Natur, in die wir und unsere Messinstrumente zu jeder Zeit eingebunden bleiben. Aber wir haben erstaunliche Kenntnisse über unseren Gegenstand gewonnen, wir verfügen über ein reiches Inventar von Technologien, die uns nicht nur im täglichen Leben dabei helfen, unsere Bedürfnisse zu befriedigen, sondern die auch unsere Forschung voranbringen. Und wir lernen täglich mehr.“
Die Episode mit Curt ließ Bell nicht ganz los. Er hatte diesen Vortrag mehr oder weniger identisch schon ein gutes Dutzend Male vorgetragen. Er wusste fast im Schlaf, was er sagen wollte. Und doch war er im Moment zu besorgt, um sich richtig darauf konzentrieren zu können. Hin und wieder stockte die Flüssigkeit seiner Rede. Curt schien das befriedigt zur Kenntnis zu nehmen. Bell wandte für nur einige wenige Sekunden eine Meditationstechnik an, die er bereits als junger Student erlernt hatte. Danach konnte er in aller Seelenruhe wieder aufs Thema kommen:
„Ich hoffe, Sie haben schon mal von dem berühmten Bild gehört, das bereits im letzten Jahrhundert zur Illustration der Chaos-Theorie geschaffen wurde. Die Chaos-Theorie betont die Komplexität der Wechselwirkungen in großen Systemen. Kleine Ursachen können in einem großen Netz von naturgesetzlichen Abhängigkeiten gewaltige Wirkungen auslösen: Der Flügelschlag eines Schmetterlings kann einen Wirbelsturm auf der anderen Seite des Erdballs auslösen. Angesichts dieser Möglichkeit ist es vielleicht von entscheidender Bedeutung, dass sich Ihre Gedanken vorhin mit der Existenz des Schmetterlings verschränkt haben. Vielleicht halten Sie ihn ja durch die Kraft Ihrer Gedanken von seinem zerstörerischen Impuls ab. Andererseits aber: Vielleicht war Ihre Konzentration auf den Schmetterling genau jene Kraft im Gesamtsystem, die dafür sorgt, dass sein Flügelschlag einen Wirbelsturm auslöst.“
Bell lächelte einnehmend nach dem letzten Satz. Einige Studenten lachten. Viele aber guckten ernst. Bell konnte sich nicht darüber klar werden, woran es lag, dass seine letzte Bemerkung nicht amüsierter aufgenommen wurde. Das Vorlesungspad, auf dem er sich gelegentlich während seiner freien Rede abstützte, informierte ihn darüber, dass er bei 47 der anwesenden Studenten nur rudimentäre Kenntnisse der englischen Sprache voraussetzen konnte. Diese verstanden den Sinn seiner Worte also schon mal überhaupt nicht und saßen wohl nur höflich auf ihren Stühlen. Weitere 118 Studenten hatten nur eingeschränkte Fähigkeiten im Englischen, verstanden also wohl nur einen Teil seiner Ausführungen, sicher aber nicht alle Nuancen. Kein Wunder, wenn sie einen intellektuellen Scherz nicht als solchen erkannten. Bei den restlichen 171 Personen konnte er zwar ausreichend Sprachfähigkeiten voraussetzen, aber nicht unbedingt ausreichend Kenntnisse über die Geschichte der Naturwissenschaften. Denkbar war aber auch, dass sie einfach humorlos waren oder angesichts der Probleme der Welt keine Heiterkeit bei seinem kleinen Gedankenexperiment empfanden. Vielleicht hatte auch die Renitenz von Curt einen bleibenden Eindruck der Ernsthaftigkeit hinterlassen. Bell selbst fand die Verbindung zwischen den Schmetterlingen im Park, den Vorstellungen seiner Studenten und dem berühmten Wirbelsturm der Chaos-Theorie durchaus amüsant. Und lehrreich. Er war etwas frustriert: Wenn seine Studenten seinen Humor nicht teilten, verstanden sie vielleicht gar nicht, was er ihnen erzählen wollte. Vielleicht sollte er sich angewöhnen, seine Rede erst dann an die Studenten zu richten, wenn diese mit den Grundlagen seiner Sprache und seiner Wissenschaft vertraut genug waren, um ihn auch zu verstehen. Vielleicht erst zu Weihnachten, wenn die Studenten schon ein gutes halbes Jahr im Institut verbracht hätten. Perlen vor die Säue zu werfen, konnte aber auch zu glitzernder Schweinekacke führen. Einige Studenten hatten gelacht, also konnte er hoffen, dass der Sinn seiner Worte sich peu à peu in dem neuen Jahrgang verbreiten würde. Ein Blick auf die Uhr des Vorlesungspads machte ihm klar, dass er seinen Vortrag zu langsam gehalten hatte oder dass die Zwischenfragen zu viel Zeit in Anspruch genommen hatten. Er fuhr mit seinem Vortrag in ernsterem Ton und zügigerer Geschwindigkeit fort:
„Die Zeit ist leider schon weiter fortgeschritten als ich gehofft habe. Ich werde dennoch versuchen, Ihnen wenigstens im Schnelldurchlauf einen Überblick über die großen Wendepunkte in der Geschichte unserer Forschung zu geben, damit Sie ein erstes Bild davon haben, auf welchen Grundlagen sich Ihr Studium bewegen wird.
Während die klassische Physik, die zumeist mit dem Namen Newton verbunden wird, sehr erfolgreich darin war, die Welt der Naturgesetze durch experimentelle Komplexitätsreduktion in ein einfaches Kausalitätsmodell zu zwingen, so dass jeder Ursache eine eindeutige Wirkung zugeordnet werden konnte und jeder Wirkung eindeutig eine Ursache, löste sich dieses einfache Kausalitätsmodell für die Physik des 20. Jahrhunderts zunehmend auf. Einsteins Relativitätstheorie führte zu der Einsicht, dass die vier Dimensionen von Raum und Zeit nicht den Charakter eines neutralen Rasters haben, in dem die Objekte der Erfahrung angeordnet sind. Der deutsche Philosoph Kant hatte im 18. Jahrhundert behauptet, dass Raum und Zeit einer Transzendentalsubjektivität angehören, apriorische Kategorien in unseren Köpfen darstellen, das heißt Kategorien, die vollkommen unabhängig von aller Erfahrung sind, da wir uns angeblich nichts vorstellen können, was unabhängig von Raum und Zeit existiert. Raum und Zeit waren damit reine Denkkategorien, eben ein logisches Raster, in dem wir die Gegenstände unserer Erfahrung anordneten. Das Raster hatte nichts mit den Objekten der Wissenschaft zu tun, sondern strukturierte nur ihre Wahrnehmung und Theoretisierung. Man macht sich kein falsches Bild von der klassischen Physik, wenn man ihr diese Vorstellung zugrunde legt: Die kausalen Abläufe der Natur fanden innerhalb von Raum und Zeit statt, aber hatten keinen Einfluss auf Raum und Zeit.
Mit Einstein wurde klar, dass Raum und Zeit jedoch von den Objekten der Erfahrung abhängig sind: Die Sonne krümmt durch ihre Schwerkraft den Raum und ihr Licht bewegt sich in einer anderen Zeitrealität als Sie und ich. Fast zur gleichen Zeit machten sich Leute wie Bohr, Schrödinger und Heisenberg grundlegende Gedanken über den Welle-Teilchen-Dualismus und die Unmöglichkeit, über das Verhalten von Quanten exakte Angaben gemäß dem einfachen Kausalitätsmodell der klassischen Physik machen zu können. Die Quantenphysik begann als eine Problematisierung der klassischen Vorstellungen von Objekten mit relativ fester Statik und als eine Problematisierung kausaler Determination. Statistik und Wahrscheinlichkeit traten ihren Siegeszug in der Physik an und lösten die eindeutige Vorstellung von Ursache und Wirkung ab. Die Interferenzmuster im Doppelspalt-Experiment, das Phänomen der Quantentunnelung und insbesondere die Quanten-Verschränkung, die ich vorhin schon erwähnte, zeigten deutlich auf, dass die Forschung zu dem Punkt gelangt war, an dem sich die Theoretisierung und Messung der Wirklichkeit selbst auf die zu messende und zu theoretisierende Wirklichkeit auswirkte. Will man an dem Kantschen Begriff der Transzendentalsubjektivität festhalten, was allerdings in vielfacher Hinsicht heute absurd ist, dann könnte man sagen, dass uns die Natur im Experiment vor allem erstmal aufzeigt, wie wir sie mit unserer Transzendentalsubjektivität verfälschen, verformen, nun, einige Forscher sagen sogar: missbrauchen.
Sie werden bei meinem Kollegen Professor Quake eine einführende Vorlesung hören, die Ihnen eine ausgezeichnete Aufarbeitung dazu liefern wird, inwiefern sich sämtliche Kategorien, die für Kant noch die Unantastbarkeit reiner Ideen hatten, für uns heute in einem mathematischen Kosmos dynamisch-chaotischer Wechselwirkungen auflösen. Aus naturphilosophischer Perspektive lässt sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit sagen, dass alle Systematik unseres Denkens, also vor allem die Systematiken von Logik, Mathematik und kontrolliertem Experiment, uns zu der Gewissheit zwingen, dass die Wellenfunktion des Universums einer Systematik gehorcht, die sich aller Systematik unseres Denkens in so vielen Dimensionen so grundsätzlich entzieht, dass es ein Wunder ist, dass wir mit unseren Denk-Systematiken überhaupt eine bescheidene Vorstellung von der Wirklichkeit dieser Wellenfunktion entwickeln konnten. Sie verstehen hoffentlich, dass dieser Gedanke mehr als paradox ist. Dass er mehr als paradox ist, stellt vielleicht die größte Hoffnung dar, die wir haben, in Zukunft die Systematiken unseres Denkens auf eine Weise zu überschreiten, die uns heute unvorstellbar ist.“
Wieder ging ein Finger in der großen Schar der Studierenden hoch. Bell schwankte kurz, ob es wichtiger war, konsequent die Einhaltung akademischer Höflichkeitsregeln einzuüben, oder ob es wichtiger war, mit den neuen Studenten in ein Gespräch zu finden. Er entschied sich für Letzteres. „Gut. Ich lasse Ihren Redebeitrag entgegen meiner Ankündigung zu. Stehen Sie bitte auf.“
Eine junge Frau mit puterrotem Kopf, zitterndem Körper und zitternder Stimme stand auf. Sie war offensichtlich sehr nervös, vor so vielen Unbekannten zu sprechen. Das Vorlesungspad informierte Bell nach wenigen Silben von ihr darüber, dass es sich um eine 19-jährige Frau aus Norwegen handelte, Lisa Engstrøm, 173 im IQ-Test und immerhin 98,7 Prozent in den Aufnahme-Tests. „Verzeihen Sie, Professor Bell, verstehe ich das richtig: Haben Sie eben gesagt, dass unser Denken fähig ist, seine eigene Begrenztheit umso mehr zu begreifen, je weiter es sich ausdehnt? Ich verstehe das nicht so recht.“ Sie setzte sich schnell wieder hin.
Bell dachte bei sich, dass es kein Wunder war, dass sie es nicht verstand. Wie sollte man so etwas auch verstehen? Und doch ging es. „Vielen Dank für Ihre Frage, Mrs. Engstrøm. Entschuldigen Sie bitte, dass ich ausspreche, dass man Ihnen Ihre Nervosität angemerkt hat. Es ist nicht einfach, vor vielen unbekannten Menschen frei zu sprechen. Umso schöner finde ich, dass Sie es dennoch taten. Es gehört Mut und ein Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten dazu. Vielen Dank, dass Sie beides aufgebracht haben. Ich hoffe, dass Sie alle sehr schnell an diesem Institut dazu finden werden, diesen Mut und dieses Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten aufzubringen. Nehmen Sie sich bitte ein Beispiel an Mrs. Engstrøm.
Nun, zu Ihrer Frage: Sie haben völlig recht. Genau das habe ich auszudrücken versucht. Je präziser Sie verstehen werden, was wir alles über das Universum zu wissen glauben, desto klarer wird Ihnen werden, wie ungewiss dieser Glaube ist. Die Physik hat sich lange dagegen gewehrt, als eine interpretierende Wissenschaft zu gelten. Die Physiker hatten lange Zeit ihr Selbstbewusstsein in dem Glauben, dass sie eine präzise Wissenschaft betreiben, die in der Formelsprache der Mathematik die Welt so zu begreifen fähig ist, wie sie ganz unabhängig von allem Begreifen nun einmal ist. Viele technologische Errungenschaften schienen ihr seit dem Aufstieg der Optik im ausgehenden Mittelalter diesen Glauben empirisch zu bestätigen. Dieser Glaube fing jedoch mit den Entdeckungen des frühen 20. Jahrhunderts, also mit Relativitätstheorie und Schrödinger-Gleichung, an, überaus brüchig zu werden. Seit fast 40 Jahren, also seit Cartos' Wissenschaftsrevolution können wir ernsthaften Physiker endgültig nicht mehr abstreiten, dass naturwissenschaftliche Exaktheit und spekulative Interpretation keine Gegensätze sind. Vielmehr sind es zwei Seiten einer Medaille. Falls Sie die Muße finden, sich mit der Geschichte der modernen Mathematik zu befassen, werden Sie feststellen können, dass die Mathematiker bereits im 19. Jahrhundert vereinzelt eine Ahnung von dieser doppelseitigen Medaille entwickelten. Und es bleibt überhaupt eines der faszinierendsten Phänomene unserer Geistesgeschichte, dass eine große Menge an mathematischen Konstrukten ohne jeden Bezug zur naturwissenschaftlichen Forschung entwickelt wurde, die sich erst Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte später als präzise Modell-Sprachen für die empirischen Phänomene der Experimentalphysik erwiesen.
Das Denken ist ganz offensichtlich fähig, über sich selbst hinaus in die fremdartige Natur hinein zu denken. Das ist wie gesagt ein Grund dafür gewesen, warum ich Ihnen als eine Art Hausaufgabe nahelegte, Ihre Vorstellungskraft auf alle möglichen und unmöglichen Dinge zu richten. Tatsächlich ist es vermutlich falsch, von einer fremdartigen Natur in diesem Zusammenhang zu sprechen. Unser Denken ist ein Teil der Natur und wohl nur deshalb überhaupt fähig, von der Natur auch etwas zu begreifen. Unser Denken ist ebenso fähig, seine systematische Schwäche gegenüber den Phänomenen der Natur zu begreifen. Wie gesagt: Je mehr Sie begreifen werden, desto klarer wird Ihnen werden, wie unbegreiflich das ist, was Sie da begreifen. Die philosophisch vielleicht interessanteste Frage ist dann die, ob die Unbegreiflichkeit selbst eine Eigenschaft der Natur ist, oder ob bloß die Natur unseres Denkens noch nicht reif dafür ist, die Gesamtheit der Natur zu begreifen. Als forschende Wissenschaftler haben wir grundsätzlich die Hoffnung, diese Frage dahingehend zu beantworten, dass sich früher oder später ein absolutes Begreifen einstellen wird. Wie ich Ihnen aber schon sagte, gibt es andererseits eine ganze Reihe von Beweisen auf der Basis unseres heutigen Denkens, die sagen, dass diese Hoffnung sich nicht wird erfüllen können.
Nun, Mrs. Engstrøm, Sie sagten, dass Sie das nicht so recht verstehen. Ich kann Ihnen dazu nur sagen, dass Sie es in den nächsten Jahren Stück für Stück besser verstehen werden. Sie können mir glauben, wenn ich Ihnen sage, dass ich es sehr gut verstehe. Und dennoch kann ich Ihnen nur beipflichten: Ich verstehe es nicht so recht.“
Bell musste unwillkürlich grinsen bei dem letzten Satz. Das war der Auslöser für eine allgemeine Heiterkeit im Saal und viel Geraune und Getuschel. Bell wusste mit einem Blick auf die Uhr, dass er seinen Vortrag würde abkürzen müssen. Dennoch gab er der Unruhe unter den Studenten einen Moment Zeit und Raum.
„Lassen Sie mich bitte zu meinem Vortrag zurückkommen. Ich hatte gesagt, dass die Forschung im frühen 20. Jahrhundert zu dem Punkt gelangt war, an dem sich die Theoretisierung und Messung der Wirklichkeit selbst auf die zu messende und zu theoretisierende Wirklichkeit auswirkte. Dies wurde allerdings bis zu Cartos' revolutionärer Entdeckung von den meisten Physikern wiederum nur als ein Problem der Theorie interpretiert. Mit der sogenannten Dekohärenztheorie versuchte man, die irritierenden Ergebnisse der Quantenphysik von den Wissenschaften abzuschirmen, die sich mit größeren Gegenständen beschäftigten, also beispielsweise mit Molekülen oder noch größeren Körpern. Für die biologischen Disziplinen hatte die Quantenphysik de fakto überhaupt keine Bedeutung, was sich erst durch Cartos oder vielleicht ein bisschen früher ab Mitte der 20er Jahre grundlegend änderte.
Die Dekohärenztheorie basierte auf dem Nachweis, dass sich die Verschränkung von zwei oder mehr Teilchen schon nach etwa 10-26 Sekunden, also innerhalb unvorstellbar kleiner Zeitintervalle und auf sehr kurzen Distanzen innerhalb kleiner Moleküle auflöst. Eine geheimnisvolle Fernwirkung, die sich schneller als Licht bewegt, ja sogar instantan, also gleichzeitig das gesamte Universum durchdringt, wurde auf diese Weise genauso zurückgewiesen wie eine Fundierung der Naturwissenschaften in der nur statistisch zugänglichen Welt der Quanten. Man versuchte damit, den strengen Kausalitätsbegriff für die allermeisten Phänomene der Chemie, Biologie und Mechanik zu retten.
In einer ganz einfachen Weise kann man sich Verschränkung als ein Phänomen vorstellen, dass zwei Objekte so miteinander verbindet, dass eine Veränderung des einen Objekts eine gleichgerichtete Veränderung des anderen Objekts bedeutet. Stellen Sie sich beispielsweise vor, Sie drehen ein altmodisches Buch auf Ihrem Schreibtisch einmal im Kreis. Alle einzelnen Seiten des Buchs sind in dem Sinne miteinander verschränkt, dass sie sich dabei auf gleiche Weise im Kreis drehen. Allerdings könnten Sie bei einem Quanten-Screening des Buches erkennen, dass die Seiten dabei keineswegs in dem quantenlogischen Sinne verschränkt sind wie wir den Begriff allgemein benutzen. Die Bindung des Buches wird niemals so stabil sein, dass es nicht zu Verschiebungen der Seiten gegeneinander kommt. Diese Verschiebungen kann man vielleicht nicht mit dem bloßen Auge sehen, im Quanten-Screening allerdings überaus deutlich in gigantomanischen Ausmaßen. Im strengen Sinne sind die Seiten des Buches also nicht verschränkt. Wobei man auch das eigentlich nicht sagen kann. Der theoretisch interessante Knackpunkt liegt viel eher darin, zu verstehen, inwiefern die Seiten sowohl verschränkt als auch nicht verschränkt miteinander sein können. Die Verschiebung der Buchseiten gegeneinander hebt nämlich keineswegs die Verschränktheiten auf der Quantenebene auf. Allerdings führen genau diese Verschränktheiten zu der Verschiebung der Seiten gegeneinander, so dass wir im Prinzip die Analogie so auszudrücken gezwungen sind: Auf der Makro-Ebene unserer Alltagswahrnehmung sind die Seiten miteinander verschränkt, sie bewegen sich gleichgerichtet im Kreis bei der Drehung des Buches. Auf der Mikro-Ebene der Quantenwelt sind die Buchseiten gar nicht solche festen Gebilde wie wir mit unserer Alltagswahrnehmung vermuten. Es sind vielmehr fließende Formationen, Wellenfunktionen mit gewaltigen Ausmaßen, weitaus größer als das gesamte Universum unserer astrophysikalisch gebildeten Alltagswahrnehmung erscheint. Diese Wellenfunktionen sind in der Tat miteinander verschränkt. Allerdings ist ihre Verschränkung von einer Art, die zwischen die Makro- und die Mikro-Ebene eine Diskrepanz einschiebt: Wir können mit technischen Hilfsmitteln erkennen, dass sich die Buchseiten durchaus gegeneinander verschieben, also gar nicht die Verschränktheit besitzen, die wir aus der Makro-Ebene unserer Alltagswahrnehmung behauptet haben.“
Bell sah wieder viele irritierte Gesichter im Auditorium. Es war eigentlich ganz egal, wie man es anstellte: Die gesamte Theorie der Quantenphysik blieb einfach ein Mysterium, gegen das der Alltagsverstand rebellierte. Bell wusste, dass er in der ersten Vorlesung nicht mehr versuchen konnte, als die Studenten für die Problematiken zu sensibilisieren. Er konnte dabei aber nicht behaupten, selber sensibel genug für sie zu sein, um wirklich ein klares Bild der Problematiken zeichnen zu können.
„Nun, Sie sehen also, inwiefern das Beispiel mit dem altmodischen Buch hinkt. Dennoch ist dies ein gutes Beispiel, um eine Vorstellung vom Begriff der Verschränkung zu bekommen. Das Schockierende für die Physik des 20. Jahrhunderts war, dass die Quantenverschränkung im Prinzip auf unendlichen Entfernungen und in absoluter Gleichzeitigkeit wirkt. Zwei Tatsachen, die sich nicht mit der Relativitätstheorie in Einklang bringen ließen. Auch heute ist dieses Problem keineswegs gänzlich gelöst, wenn auch wesentlich besser verstanden als noch vor 50 Jahren. Allerdings muss ich dazu sagen, dass uns der Begriff der Gleichzeitigkeit zwischen den Forscherhänden zerbröselt. Grob gesprochen, können wir von elf Dimensionen des 37-dimensionalen Standard-Quanten-Raumes nur sehr allgemeine Aussagen treffen, die es uns jedenfalls nicht möglich machen, eine klare Identifikation der Proportionen unserer Gegenstände in diesen elf Dimensionen vorzunehmen. Zwischen unendlich groß und unendlich klein, zwischen positiv und negativ ist alles möglich. Und wenn ich alles meine, so meine ich, dass es gut möglich ist, dass ein simples Elektron in zum Beispiel der 27. Dimension unseres Standard-Quanten-Raums in der Tat sowohl unendlich groß als auch unendlich klein ist. Was auch immer das bedeuten mag. Für unsere ohnehin durch die Relativitätstheorie und durch die Quanten-Verschränktheit irritierten Zeitbegriffe kommt nun erschwerend hinzu, dass es Abhängigkeiten zwischen der vierten Dimension, also unserer Zeit-Dimension, und beispielsweise der 27. Dimension unseres Standard-Quanten-Raumes gibt. Das aber heißt nichts anderes, als dass die Verschränktheit der Quantenwelt eine ist, die zwar unter anderem aus unserem Wissen über die vierte Dimension gefolgert werden musste, die Grenzen dieser Dimension aber auch hinter sich lässt. Sie können daher durchaus mit Recht sagen, dass die Verschränktheit der Quanten sich sowohl gleichzeitig durch das gesamte Universum ausbreitet, also instantan, was wir eindeutig bewiesen haben, als auch mit einer gewissen Geschwindigkeit, die von der Gleichzeitigkeit abweicht. Wir gehen davon aus, auch wenn wir es noch nicht beweisen können, dass wir es mit einer Verschränktheit zu tun haben, die sowohl in die Zukunft als auch in die Vergangenheit reicht. Was wir beweisen können, ist, dass sie jedenfalls in Dimensionen reicht, von denen wir gar nicht recht wissen, was wir von ihnen halten sollen.“
Die Uhr fing an, Bell zu drängeln. Er versuchte schon, möglichst schnell zu sprechen. Wieder ging ein Finger hoch und wieder gab Bell dem Impuls nach, mit den Studenten ins Gespräch zu kommen. „Gut, trotz der fortgeschrittenen Zeit lasse ich noch diesen Redebeitrag zu. Stehen Sie bitte auf.“
Es war wieder Ms. Magahenga, die sich zu Wort meldete. Sie stand auf und lächelte Bell freundlich an. Ihre Augen blieben für Bell ein Faszinosum. „Bitte helfen Sie mir zu verstehen, inwiefern sich das, was Sie gerade sagten, eigentlich von dem Kausalitätsbegriff der klassischen Physik unterscheidet, Professor Bell. Wenn ich Sie richtig verstehe, so hängt jedes Phänomen, das wir messen, von der Gesamtheit des Universums ab und zwar von einer Gesamtheit, die uns zwar die Vorstellung eines zeitlichen Verlaufs nahelegt, uns unterdessen aber auch mitteilt, dass Zeit eine Illusion ist. Ich verstehe selbstverständlich, dass die zeitliche Dimension für den Kausalitätsbegriff der klassischen Physik vollkommen unentbehrlich ist: Ursache und Wirkung müssen in einer gewissen zeitlichen Distanz stehen, um sie als Ursache und Wirkung auseinanderhalten zu können, nicht wahr? Aber wenn wir uns Ursache und Wirkung als einen zeitlosen oder besser vielleicht als einen zeitunabhängigen Zusammenhang vorstellen, so scheint mir das Phänomen der Quanten-Verschränktheit doch sehr gut auf eine solche Vorstellung von Ursache und Wirkung zu passen. Würden Sie mir da zustimmen? … Das heißt, vielleicht wäre es noch besser, von einem Zusammenhang zu sprechen, der sowohl von der Zeit abhängt als auch unabhängig von ihr ist. Unsere Sprache lässt uns da etwas im Stich, oder, Professor?“
Bell musste für einen Moment herzhaft lachen. Er nahm sich schnell wieder zusammen und fragte sich leicht verzweifelt, wie lange er schon nicht mehr herzhaft gelacht hatte. „Vielen Dank, Ms. Magahenga. Setzen Sie sich bitte wieder. Ich freue mich wirklich über Ihre erfrischende Sichtweise. Ich hoffe, dass Sie viel Freude an meinem Institut haben werden. Nun, ich denke, ich werde mir die Freiheit herausnehmen, nicht auf Ihre Fragen zu antworten. Sie sind ganz offensichtlich bereits eine junge Forscherin und werden bald sehr wohl selbst in der Lage sein, sich ein Forschungsdesign zu überlegen, mit dem Sie diese Fragen vielleicht beantworten können. Ich möchte dazu nur so viel sagen: Wenn Sie in der Lage sind, den Kausalitätsbegriff sowohl abhängig wie auch unabhängig von der Zeitdimension zu denken, dann dürfte Ihnen das Verständnis der mathematischen Grundlagen zur Theorie des 37-dimensionalen Standard-Quanten-Raums wesentlich leichter fallen als mir.“
Bell lächelte sie für einen Moment herzlich an und ging dann wieder über zu seinem Vortrag.„Nun, mit der Dekohärenztheorie genehmigten sich die Physiker eine Immunisierung. Sie wollten nicht akzeptieren, dass die Kohärenz, also die Verschränkung auf großen Raum- und Zeit-Skalen existiert. Dies zu akzeptieren, hätte nämlich bedeutet, dass man die gesamte Naturwissenschaft auf eine Grundlage hätte stellen müssen, die nicht im Geringsten der sicheren, zeitlich gebundenen Kausalitätswelt der klassischen Physik ähnlich sieht. Nach Cartos' Entdeckung, das heißt: eigentlich schon einige Jahre davor, konnte sich allerdings kein ernstzunehmender Wissenschaftler mehr auf den Boden der klassischen Physik stellen. Wir alle schwanken als Naturwissenschaftler heute in einem höchstkomplexen Schwingungsfeld aus Wahrscheinlichkeiten, Messproblemen und absurden Phänomenen, die aus der Perspektive unserer Makro-Technologien eigentlich gar nicht existieren dürften.
Die Dekohärenztheorie nämlich war ein Betrug: Die Verschränkung der Quanten löst sich mit der Dekohärenz nicht einfach auf, sondern wird bloß in das Chaos eines komplexen Systems überführt. Man tat so, als wenn die Wahrscheinlichkeitsrechnung garantieren würde, dass in einem unglaublich großen und schnellen Chaos alle interessanten Phänomene der Quantenphysik in einem uninteressanten Durchschnittsgemisch untergehen. Sie müssen sich vergegenwärtigen, dass wir uns mit den Quantenphänomenen auf einer Größenebene befinden, die um den Faktor 1099 kleiner ist als ein Kubikzentimeter und sich mit der Geschwindigkeit der Planck-Zeit verändert. Und dies auch nur unter den theoretischen Voraussetzungen der veralteten Schleifenquantengravitations-Theorie, die nicht einmal halb so viele Dimensionen theoretisiert wie unsere heutige Standard-Theorie, der 37-dimensionale Standard-Quanten-Raum. Da man für einige der 37 Dimensionen überhaupt keine Bestimmung der Ausdehnung von Objekten empirisch nachweisen kann, ließe sich der Faktor 1099 nämlich mit einem unendlich großen Faktor multiplizieren, präziser sogar mit mehreren unendlich großen Faktoren. Wenn wir ehrlich sind, können wir eigentlich nur sagen, dass die Komplexität des Mikrokosmos unsere theoretischen Fähigkeiten bei Weitem übersteigt. Es gibt eine große Reihe von Indizien, die uns dazu zwingen werden, auch die Theorie des 37-dimensionalen Standard-Quanten-Raums zu erweitern. Im Gespräch sind im Prinzip beliebig viele Dimensionen. Wir gehen heute eigentlich nur deshalb von diesem Standard-Raum aus, weil unsere mathematischen Fähigkeiten sich in diesem theoretischen Raum am besten bewähren, das heißt, dass wir am ehesten in der Lage sind, experimentelle Messungen mathematisch zu erklären. In einem strengen Sinne jedoch können wir gar nichts erklären und stehen vielen Phänomenen in der Tat überaus ratlos gegenüber.
Nun, man ging also mit der Dekohärenztheorie davon aus, dass das Chaos großer Systeme die Verschränkung statistisch nivellierte. Stellen Sie sich vielleicht zur Veranschaulichung vor, dass unser altmodisches Buch auf dem Schreibtisch unter einen massiven Beschuss mit einer unvorstellbar großen Zahl von Maschinenpistolen gerät. Die Verschränktheit der Buchseiten würde sich in einem solchen Fall sehr schnell auflösen. Wobei ich noch einmal betone, dass ein großes System in diesem Zusammenhang eben schon so etwas Kleines wie ein recht einfaches Molekül meint. In Wirklichkeit aber ist die Verschränkung eine Tatsache, die das Chaos beliebig großer Systeme durchherrscht. Aus heutiger Sicht ist die Erklärung der Dekohärenz-Phänomene ein viel größeres Problem als die Grundtatsache einer allgegenwärtigen und alles durchdringenden Verschränktheit von allem mit allem. Die Verschränktheit großer Systeme produziert lokale Dekohärenzphänomene. Im eigentlichen Sinne glauben wir heute, dass es keine Dekohärenz gibt, sondern dass Dekohärenzphänomene selber eine Wirkung der vielschichtigen Verschränktheit des einen Gegenstandes sind, von dem auszugehen uns noch sinnvoll erscheint: der Wellenfunktion des Universums.
Wenn wir uns das anhand des Buchbeispiels veranschaulichen wollen, so könnten wir unter der Voraussetzung, das unser Buch gleichbedeutend mit dem gesamten Universum ist, vielleicht Folgendes sagen: Löst sich eine Seite des Buches aus der Bindung und damit aus der Verschränktheit, so haben wir die Ursache dafür in der Verschränktheit der Buchseiten selbst zu suchen. Nun, das Beispiel stößt an offensichtliche Grenzen. Grenzen, die uns aber auch in unseren besten mathematischen Konzepten aufgezeigt werden: Wie sollen wir uns vorstellen, dass die Verschränktheit selbst so etwas wie eine relative Unverschränktheit produziert?“
Bell hatte noch eine Viertelstunde und war noch nicht einmal bei Cartos angelangt. Es machte ihm keine Freude, diese Dinge einfach nur herunterzurattern. In den nächsten Jahren würde er doch abweisender mit Zwischenfragen umgehen müssen. Außerdem wurde ihm klar, dass seine Bemerkungen zum Leben auf dem Campus von Jahr zu Jahr ausführlicher geworden waren. Er musste seinen Eröffnungsvortrag wohl von Grund auf überdenken. Er fuhr in etwas geruhsamerem Ton fort:
„Nun, ich hoffe, ich habe Ihnen damit zumindest eine vage Vorstellung für die Probleme gegeben, mit denen wir uns herumzuschlagen haben, wenn wir das Universum und damit irgendetwas im eigentlichen Sinne verstehen wollen. Angesichts der fortgeschrittenen Zeit, weise ich Sie nur ganz allgemein darauf hin, dass die Entdeckung der Existenz von Tachyonen, also überlichtschneller Teilchen im Jahr 2023 ein entscheidendes Ereignis für die Wissenschaft war. Sie ermöglichte den Bau von Versuchsanordnungen, die Quantenphänomene auch auf größeren Längen- und Zeitskalen messen, ohne dafür ganze Kontinente mit Elektronenbeschleunigern untertunneln zu müssen. Heute können wir mit den neuesten Screening-Geräten Räume von etwa zehn Kubikmetern auf der Ebene von Planck-Länge und Planck-Zeit kartographieren, wobei diese dynamischen Karten immerhin mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,79 Prozent präzise sind. Ein herausragender Wert. Dies ist ein enormer technologischer Fortschritt, den zu meiner Studienzeit niemand für möglich gehalten hätte. Cartos publizierte 2031 seine bahnbrechenden Ergebnisse auf der Grundlage wesentlich kleinerer und unschärferer Karten. Dennoch bewies er damit, dass es im Spalt zwischen den Nervenzellen bei fließender Spannung eine Polarisation von riesigen Quantenfeldern gibt, deren Verschränktheiten so geformt sind, dass sie das Polarisations-Chaos der umgebenden Materie auf weite Strecken durchdringen können, ohne dabei wesentliche Teile ihre ursprünglichen Gestalt einzubüßen. Das ist sehr grob gesprochen und gilt selbstverständlich präzise nur aus Sicht der schwer zu verstehenden Mathematik der Quantenfrequenzmodulationsfelder, mit der Sie noch Ihre wahre Freude haben werden. Und ich denke, dass ich genug dazu gesagt habe, wie vage solche Begriffe wie 'präzise' oder 'Beweis' aus unserer heutigen Perspektive im Vergleich zu dem strengen Sinn dieser Begriffe vor noch 50 Jahren sind.
Tatsächlich ändert sich die Gestalt der Quantenformationen permanent unter dem Druck der gesamten Wellenfunktion des Universums, also unter dem Druck des umgebenden Chaos, wenn man denn noch von Chaos in diesem Zusammenhang sprechen möchte. Dies geschieht aber auf eine Weise, die tatsächlich die Übertragung spezifischer Informationen und Manipulationen über weite Distanzen ohne jeglichen Zeitverlust ermöglicht oder eben sogar gegen die Richtung der Zeit ermöglicht. Auch heute, fast 40 Jahre nach dieser Entdeckung, können wir kaum mit Sicherheit sagen, wie das möglich ist. Aber es gibt ausreichend mathematische Modelle, um diesen Umstand zumindest mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit theoretisch zu modellieren.
Cartos hatte konkret nachgewiesen, dass in einem Mäusegehirn bestimmte Areale von Nervenzellen mit anderen Arealen durch die Übertragung von Quantenfrequenzmodulationsfeldern kommunizieren. Deshalb sprach er von einer Quantenreflexion. Damit war Cartos der erste, der die Biologie auf eine ganz neue Ebene herunterführte. Vor Cartos hatte sich die Biologie kaum für Quantenphysik interessiert, neuronale Netze kommunizierten nur auf der Ebene von Synapsen und den messbaren elektrischen Flüssen zwischen den Synapsen. Heute sind biologische Phänomene nur noch spezifische Formationen in der Welt der Quantenphysik. Eine Synapse oder auch noch einfachere Körperzellen werden somit zu gigantischen Wellenfunktionen. Dank Cartos sehen wir wesentlich tiefer in die Wirklichkeit lebender Wesen.
Sein Fund wurde vielfältig bestätigt. Bemerkenswert sind zum Beispiel die Ergebnisse einer Forschergruppe um Professor Bash, die den Nachweis erbrachten, dass die Spannung in den Muskeln ebenfalls Quantenfrequenzmuster generieren, die über weite Strecken stabil bleiben. Unser Institut unterhält eine große Abteilung für die quantentheoretische Erforschung des Tanzes. Über 300 professionelle Tänzer verdienen ihr Geld damit, während des Tanzens von uns gescreent zu werden. Die Phänomene, die im Gehirn beim Hören von Musik ausgelöst werden, sind schon für sich erstaunlich und ein sehr weites Feld der Forschung. Der Tanz allerdings ist noch um vieles faszinierender. Quantenschwinungen aus den Muskeln kommunizieren mit neuronalen Netzen, aber auch mit der unbelebten Natur und sogar mit kosmologischen Phänomenen, deren Wirklichkeit uns fast gänzlich rätselhaft ist. Wir können heute beispielsweise sehr präzise rekonstruieren, wieso zum Beispiel die Schamanen früherer Kulturen in Trockenzeiten Regentänze ausübten. Durch tanzende Bewegungen fokussierte Quantenschwingungen können zumindest mit einer gewissen, wenn auch eher geringen Wahrscheinlichkeit die Feuchtigkeit aus der Atmosphäre tatsächlich herauskitzeln, wenn man so sagen darf. Ich rate Ihnen dringend dazu, die Erforschung des Tanzes möglichst frühzeitig in Ihrem Studium zu beachten. Ich habe die Intuition, dass die nächsten Durchbrüche der Forschung auf diesem Feld stattfinden werden.
Nun, nur kurz nach Cartos' Entdeckung wurde klar, dass es Quantenkommunikationen quasi überall im Universum und zwischen quasi allem gibt, auch zum Beispiel zwischen den Nervenzellen verschiedener Individuen, also im Moment mit einer gewissen Sicherheit zwischen Nervenzellen in meinem Gehirn und Ihren Gehirnen. Die absonderliche und kaum ernst genommene Disziplin der Parapsychologie wurde auf einen naturwissenschaftlichen Boden gestellt. Wir können messen, dass bestimmte Menschen tatsächlich früher übersinnlich genannte Fähigkeiten haben. Sie können Quantenfrequenzmuster quasi über unbegrenzte Distanzen so deutlich fokussieren, dass sie bewusst Effekte erzielen. Telepathie und Telekinese sind zwar überaus seltene Phänomene, aber unterdessen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit als naturwissenschaftliches Faktum anerkannt.
Als Letztes möchte ich noch darauf hinweisen, dass der eigentliche Durchbruch für die quantenphysikalische Medizin im Jahr 2041 lag. Durchbruch in dem Sinne, dass nicht nur Spezialisten und Esoteriker über Cartos' Ergebnisse begeistert waren, sondern dass die gesamte globale Medizin die Realität der quantenphysikalischen Perspektive auf biologische Prozesse anerkennen musste. Paszek und Crim theoretisierten die Pathogenese aller bekannten Krebs-Formen auf der Ebene quantenphysikalischer Phänomene. Wenn mir die Freiheit gestattet wird, kann man in der Welt unserer Alltagsanschauung sagen, dass jede Form von Krebs eine Art depressiver und/oder aggressiver Reaktion einer Zelle auf das Mobbing anderer Körperzellen und teilweise auch aus der Körperumgebung darstellt. Der Begriff Mobbing hat sich dafür tatsächlich auch in der Fachliteratur etabliert, auch wenn es sich selbstverständlich um eine sehr freie Interpretation sehr komplexer mathematischer Theorien handelt. Die Krebs-Pathogenese stellt sich uns heute ungefähr so dar, wenn ich denn weiterhin in unserer Alltagsanschauungswelt verbleiben darf: Werden die Bedürfnisse bestimmter Körperzellen über Gebühr missachtet, so produzieren sie Quantenschwingungsfelder, die sozusagen ihren Frust auslagern. In sehr komplexen Abstimmungsprozessen, die auf Quantenebene durch den gesamten Körper sowie seiner näheren oder auch ferneren Umgebung laufen, werden dabei wiederum Körperzellen ausgewählt, denen die Last dieses Frustes gesammelt aufgebürdet wird. Es handelt sich insofern um eine Überlebensstrategie, als dass viele Zellen vorerst gesund bleiben können, weil sie die Last ihrer Krankheit einer kleinen Anzahl von Zellen konzentriert aufbürden. Diese werden im Idealfall vom Immunsystem entsorgt. Falls dies nicht passiert und einige andere Bedingungen zutreffen, mutieren sie zu Krebszellen, die sich im harmlosen Fall unbedenklich verhalten. Sie sind nicht mehr produktiv für den Körper, schaden aber auch nicht. Man kann daher mit einiger interpretativer Freiheit sagen, dass sie depressiv werden. Sind die Frustrationswellen der Umgebung allerdings zu aggressiv, so mutieren die Zellen zu Krebszellen, die dann ihrerseits aggressiv die umliegenden Zellen zu fressen beginnen und zu sehr ernsthaften Erkrankungen des Gesamtorganismus bis hin zum Tod führen können. Diesen Erkrankungen stand die moderne Medizin über Jahrhunderte hinweg sehr hilflos gegenüber.
Nun, wir müssen wiederum zugestehen, dass wir die genauen Gründe für das Phänomen des Mobbings nicht präzise verstehen. Warum nämlich Zellen in einen Zustand geraten, den ich eben so beschrieben habe, dass ihre Bedürfnisse über Gebühr missachtet werden, ist uns nur teilweise klar. Deutliche Mangelerscheinungen durch eine schlechte Ernährungsweise führen beispielsweise relativ eindeutig zu solchen Phänomenen. Ebenso Umweltgifte und bestimmte Strahlungen. Aber das heißt nicht umgekehrt, dass eine gesunde Ernährungsweise, wenig Gifte im Körper und um ihn herum sowie eine Vermeidung von gefährlichen Strahlungen schon ausreichen würde, die Zellen zufrieden zu stellen. Letztlich besteht ein unendlich komplexes Geflecht in jedem Körper und über ihn hinaus, das in seiner Gesamtkonstellation zu dem genannten Frust, zur Auslagerung dieses Frusts über das genannte Mobbing und damit zu Krebs führt. Aus therapeutischer Sicht wäre es selbstverständlich wünschenswert, wenn wir diese Prozesse verhindern könnten, also gar nicht zulassen würden, dass eine Zelle sozusagen Frust schiebt. Das ist uns aber leider nur sehr eingeschränkt möglich. Die entsprechenden Therapien scheitern noch immer in über 90 Prozent der Fälle am Menschen betrachtet über einen Zehnjahreszeitraum.
Paszek und Crim konnten allerdings eine Therapievariante vorschlagen, die bei regelmäßigem Einsatz tatsächlich mit faktisch absoluter Sicherheit eine Krebserkrankung unterbindet. Dadurch wurde immerhin ein Jahrhunderte alter Traum der Menschheit erfüllt. Ein revolutionärer Wandel in der Geschichte der Medizin. Das Verfahren ist technisch zwar sehr kompliziert, aber die Grundidee ist simpel und lässt sich technisch unterdessen auch nahezu gänzlich komplikationslos umsetzen. In einem Screening werden einfach alle Zellen diagnostiziert, die Opfer des Mobbings sind. In einem depressiven Stadium werden sie vorerst in Ruhe gelassen. Gibt es aber Anzeichen dafür, dass sie bereits aggressiv ihre Umgebung angreifen oder damit bald beginnen werden, dann beschießen wir sie mit spezifischen Quantenfeldwellen, die exakt die betroffenen Zellen zerstören. Der Organismus kümmert sich dann in der Regel um die Entsorgung der Reste, die nach dem Beschuss über sind. Ein elegantes und erfolgreiches Verfahren, das heute weltweit tagtäglich in vielen Millionen Fällen eingesetzt wird. Nicht zuletzt dank dieses Verfahrens ist die durchschnittliche Lebenserwartung in den letzten 20 Jahren um über 50 Jahre im weltweiten Schnitt gestiegen.
Ich möchte Sie allerdings in diesem Zusammenhang auch darauf hinweisen, dass viele der Studien, auf die sich zum Beispiel auch das vorhin schon einmal erwähnte Magos-Theorem bezieht, Indizien zutage fördern, die darauf hinweisen, dass wir mit diesem Verfahren die ursächlichen Probleme eher verschlimmern. Wie gesagt verstehen wir das ursächliche Problem des Krebses nur teilweise. Entziehen wir durch das Verfahren dem Gesamtorganismus diejenigen Zellen, in denen der Frust per Mobbing gebündelt wird, so sucht der Organismus sich einerseits andere Zellen, in denen er den Frust bündeln kann, andererseits verstärkt sich der Gesamtfrust des Organismus und entsprechend auch die Intensität des Mobbings. Lax könnte man sagen: Das Töten der Mobbing-Opfer führt zu einer Inflation des Mobbings. Daher muss das Verfahren regelmäßig wiederholt werden und kann auf lange Sicht eine Erkrankung nur hinauszögern, nicht aber gänzlich verhindern.
Sie werden sich im dritten Semester ausführlich mit der Theorie der Krebs-Therapien befassen. Ich möchte Sie aber schon jetzt darum bitten, die Problematik im Kopf zu behalten, die ich Ihnen eben geschildert habe. Sie werden nämlich feststellen, dass wir auch auf dem weiten Feld der Bekämpfung der grassierenden Depression von Menschen ähnliche Probleme beobachten können. Also Probleme, die eine ähnliche Dynamik aufweisen, zumindest in einer ganzen Reihe von Aspekten mit den selben mathematischen Konzepten beschrieben werden können, wenngleich es sich selbstverständlich um ganz andere Quantenfeldwellen handelt, es also auch viele Unterschiede gibt.“
Die Zeit war um. Sogar schon zwei Minuten überzogen. Bell hätte gerne noch einiges gesagt, aber zumindest einige wichtige Punkte waren angesprochen worden.
„Meine Damen und Herren, die Zeit für meinen Vortrag ist abgelaufen. Ich hätte Sie gerne noch auf einige andere interessante Phänomene hingewiesen, aber Sie werden selbstverständlich in den kommenden Jahren genügend Zeit haben, sich sehr tief in das Gebiet der medizinischen Quantenphysik einzuarbeiten. Ich wünsche Ihnen alles Gute für den Start in ein neues Leben.“
Das Auditorium applaudierte. Bell beeilte sich. Er wusste aus Erfahrung, dass viele Studenten jetzt das persönliche Gespräch mit ihm suchen würden. In früheren Jahren hatte er diese Möglichkeit gerne genutzt, die neuen Menschen auf dem Institutsgelände ein wenig kennenzulernen. Dafür hatte er gerade aber keine Zeit. Bei zwei Studentinnen, die ihm mit der Absicht in den Weg traten, ein persönliches Gespräch in Gang zu bringen, entschuldigte er sich.