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Kapitel 2 – Bell Ein neuer Jahrgang

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Professor Bell war guter Dinge. Ein Durchbruch schien nah. Und er hatte es verstanden, seine Forschungseinrichtung so aufzubauen, dass davon keiner seiner Untergebenen etwas ahnte. Fast dreißigtausend Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiteten für ihn, das ganze Institut beschäftigte fast eine Viertelmillion Menschen. Und alles gehörte nur ihm. Als junger Wissenschaftler hatte er ein paar Durchbrüche auf dem Feld der subatomaren Biochemie geleistet. Die Patente waren damals freilich von seinen Arbeitgebern angemeldet worden, die damit ihr Kapital in nur wenigen Jahren verzehnfacht hatten. Aber zumindest war auch sein Gehalt damals in derartige Höhen gestiegen, dass er sich schon mit Mitte 20 seine erste eigene Forschungseinrichtung leisten konnte. Damals waren sie kaum hundert Leute gewesen, doch mittlerweile hielt er Patente an einigen zehntausend Medikamenten und einigen hundert Technologien im Bereich der modernen Medizin sowie einiger tausend Technologien im allgemeinen Bereich quantenphysikalischer Anwendungen. Billiardär war er schon lange, aber nun schien die Erfüllung eines Traums in greifbarer Nähe, der ihm weit erhabener erschien als bloß unermesslich reich zu sein. Und angesichts der vielen Pessimisten überall vielleicht auch weitaus notwendiger. Fast hätte er freudig vor sich her gepfiffen.

Bell war mit Mike auf dem Weg zu den Vorlesungsgebäuden, die sich etwas abseits von den zentralen Einrichtungen des Instituts in einem paradiesisch gestalteten Park befanden. Bell hatte vor fast 20 Jahren, als sich die alten Institutsräume schon zum zweiten Mal als zu klein ausgelegt erwiesen hatten und er diesmal wirklich fern ab von Städten auf der grünen Wiese bauen ließ, bei der Planung der Architektur seines aktuellen Instituts darauf bestanden, dass jeder Vorlesungsraum den Blick auf wunderschön arrangierte Naturlandschaften ermöglichte. Eine harmonische Umgebung schien Bell notwendig, um jungen Geistern die verzwickten, disharmonischen Theoriegebäude näher zu bringen, auf deren Grundlage das Institut errichtet war. Zudem gab es wissenschaftliche Gründe für ein Zusammenleben mit einer größeren Masse an nicht-menschlichen Lebewesen. Sie gingen gerade am Flamingo-See vorbei und konnten sich flüchtig an den Tanzformationen der Tiere erfreuen.

„Mike, sorgen Sie dafür, dass Dr. Jones, Dr. Smith und Dr. Kirk nach meinem Vortrag in meinem Büro auf mich warten, bitte. Erzählen Sie mir das Wesentliche über die neuen Studenten.“

Mike Hagen war Professor Bells persönlicher Assistent. Er war ein Organisationstalent und hatte in den vergangenen elf Jahren bei Bell gelernt, dessen Wünsche zu kennen, bevor er sie äußerte. Jetzt war er verwundert: „Sehr wohl, Professor Bell. Ihnen ist bewusst, dass heute Montag ist. Ihre Sitzungen mit den drei Doktores finden für gewöhnlich mittwochs statt. Ist etwas Außergewöhnliches passiert, von dem ich wissen sollte?“

„Sicher ist etwas Außergewöhnliches passiert, Mike, sonst würde ich Sie nicht darum bitten. Ich werde entscheiden, wann Sie davon erfahren. Bitte kümmern Sie sich einfach darum, dass die drei nachher in meinem Büro warten.“ Professor Bell konnte sich noch immer darüber wundern, mit welcher gleichförmigen Aufmerksamkeit Mike seinen Job ausführte, obwohl er in seinem Herzen offenbar völlig desinteressiert an den Geschehnissen im Institut war. Die regelmäßigen Gesundheits-Screenings hatten bei Mike stets nur wenige sehr leichte Formen depressiver Verstimmung ergeben, die nicht im eigentlichen Sinne therapierenswert erschienen. Gemessen am gesellschaftlichen Durchschnitt war er von bestechender Gesundheit. Die Sicherheitsabteilungen des Instituts hatten selbstverständlich einen besonderen Blick auf Mike, schließlich war er die rechte Hand des Chefs und einer der wenigen Angestellten, die auf dem Institutsgelände nur arbeiteten, nicht aber dort lebten. Daher wusste Bell viele Details aus dem Privatleben seines engsten Mitarbeiters. Er war stabiler Bestandteil eines vergleichsweise großen Freundeskreises, in dem er auch recht unverbindlich einige sexuelle Beziehungen unterhielt. Er spielte gerne Gesellschaftsspiele und hörte gerne alle möglichen Formen von Musik. Er hatte ein entspanntes, nicht-exzessives Verhältnis zu Rauschdrogen, war fast ausnahmslos ausgeglichen und freundlich zu Nachbarn und anderen Mitmenschen. Er hatte keine Feinde und anscheinend gab es nur sehr selten überhaupt Situationen in seinem Leben, wo er jemand anderem Missfallen bereitete. Allgemein wurde er als charmant und aufmerksam wahrgenommen. So nahm ihn auch Bell wahr. Und dennoch konnte Bell nicht aufhören, sich über Mikes aufmerksame Gelassenheit zu wundern. Vermutlich ärgerte ihn einfach, dass Mike keinerlei Ehrgeiz zeigte. Er war mit seinem Leben zufrieden und sehnte sich nicht nach irgendeiner Veränderung. Wahrscheinlich war er deshalb ein so verlässlicher und aufmerksamer Assistent. Und konnte man ihm böse sein, dass er nicht noch mehr in seinem Leben erreichen wollte als persönlicher Assistent von einem der wichtigsten Forscher und reichsten Menschen der Welt zu sein?

„Ich werde mich darum kümmern. Die diesjährigen Erstsemester sind 347 Personen, 202 davon weiblich. Sieben Personen hängen noch am Flughafen fest, die üblichen Einreiseschwierigkeiten. Die Sicherheitsbeamten am Airport erwarten wohl eine Tarifanpassung ihres Schmiergeldes. Ein Team um Curtis ist bereits dort, aber die sieben Studenten werden Ihre Eröffnungsrede wohl komplett verpassen. Vier Personen sind anscheinend abgesprungen, ihr Verbleib ist jedenfalls ungewiss. Die restlichen 336 Personen warten bereits in Vorlesungssaal 11, 197 davon weiblich. Die Altersverteilung liegt zwischen 11 und 26 und kommt an eine Gaus'sche Normalverteilung ziemlich dicht dran.“

Eine größere Untergruppe der Flamingos wurde durch irgendetwas aufgeschreckt und flog von ihnen fort zur anderen Seite des seichten Gewässers. Bell wollte Einzelheiten zum Potential des neuen Humankapitals haben: „336 bei einer Sollkapazität von 500. Dies ist das dritte Jahr, dass wir unsere Hallen nicht mehr voll bekommen, nicht wahr? Wie sind die Ergebnisse der IQ- und der Aufnahme-Tests?“

Mike hatte die relevanten Informationen wie immer im Kopf: „Ja, das dritte Jahr. Die depressiven Erkrankungen unter Jugendlichen haben zu stark zugenommen, der Personenkreis für die Rekrutierung wird trotz global steigender Geburtenzahlen immer kleiner. Curtis erklärte mir gestern, dass die Konkurrenz bei der Rekrutierung Hochbegabter deshalb wohl auch stark zugenommen habe. Insbesondere chinesische und indische Institute würden uns das Wasser abgraben.“

Bell ärgerte sich erneut darüber, dass die großen Teile Asiens, die de fakto unter indischer und chinesischer Kontrolle standen, vor einigen Jahren Gesetze erlassen hatten, die es nur noch Erwachsenen erlaubte, nicht-asiatische Bildungseinrichtungen aufzusuchen. Ein großes Potential an Menschen ging dem Institut dadurch verloren. Ausnahmen von diesen Gesetzen gab es nur für die Sprösslinge der politischen und wirtschaftlichen Eliten. Die zogen in der Regel aber ein Jura- oder Wirtschafts-Studium vor und hatten ohnehin nur sehr selten einen ausreichenden IQ. Bell hatte keine Hoffnung mehr, gegen den Protektionismus Asiens etwas ausrichten zu können. Sowohl sein Geld als auch sein politischer Einfluss hatten in den letzten Jahrzehnten nichts Reelles bewirken können. Und er wusste, dass sich noch ganz andere Zähne an diesem Problem Parodontose zuzogen.

Mike fuhr fort mit basalen Informationen über die neuen Studenten: „37 Personen hätten nach den alten Standards ausgemustert werden müssen. 24 von ihnen haben nur IQ-Werte zwischen 133 und 149 erreicht, 21 die erforderliche Punktzahl der Aufnahme-Tests um bis zu 12 Prozentpunkte verfehlt, acht Personen haben folglich beide Hürden gerissen. Eine Auflistung dieser 37 Probekandidaten finden Sie selbstverständlich im Vorlesungspad. 87 Personen haben die 200er-Grenze der IQ-Tests gesprengt und auch ähnlich überdurchschnittlich bei den Aufnahme-Tests abgeschnitten. Besonders interessieren dürften Sie die Wunderkinder: Pablo Perado ist der Jüngste, 11 Jahre alt, stammt aus einer brasilianischen Kleinstadt, hat die 200er-Grenze gesprengt und 96,3 % in den Aufnahme-Tests erreicht. Oh, schauen Sie! Was für Farben!“

Sie gingen nun durch einen kleinen tropischen Urwald, saftiges Grün umgab sie zu allen Seiten des Weges, Insekten und Schmetterlinge umschwirrten sie. Bell war wie immer darüber verwundert, dass Mike sich jedes Mal aufs Neue über die bunten Flatterlinge freuen konnte. Doch etwas in Bell freute sich einfach mit Mike mit. Bell wollte nicht darüber nachdenken, ob Mikes Freude auf ihn übergesprungen war. Aber insgeheim wusste er, dass die Fähigkeit seines Assistenten, sich an den kleinen Dinge des Lebens stets aufs Neue erfreuen zu können, der Hauptgrund war, warum er ihn nicht durch eine hübsche junge Assistentin ersetzte. Noch ein paar Minuten Wegzeit zu den Vorlesungsgebäuden, Bell wurde ungeduldig: „Wer noch?“

Mike konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit, die Versorgung seines Chefs mit Informationen: „Li Li ist 12, über der 200 und bei 94,8 %. Angeblich kommt sie aus Hongkong, aber die Sicherheitsabteilung vermutet, dass die Zugehörigkeit zur Sonderwirtschaftszone gefaked ist. Was soll's, die chinesischen Behörden erheben keinen Anspruch auf sie. Und eine 12-Jährige wird kaum ausgebildete Spionin sein.“

„Das kann man nicht wissen, Mike. Clever genug ist sie offenbar. Aber wir veröffentlichen doch ohnehin die meisten unserer Ergebnisse. Solange China sich mehr oder weniger an die internationalen Vereinbarungen über Patente hält, gibt’s keinen Grund, sich darüber Sorgen zu machen. Die Spanner in der Sicherheitsabteilung werden sie sicherlich bis in die Dusche hinein überwachen. Weiter.“ Bell war sich seines Zynismus bewusst und er konnte ihn rechtfertigen mit seiner herausragenden Intelligenz und den pragmatischen Anforderungen an jemanden, der eine so große Bedeutung für das Leben so vieler Menschen hatte. Doch auch jetzt gab ihm sein Zynismus wieder einen kleinen Stich. Nicht die schlechtesten Theorien seines Fachgebiets behaupteten einen Zusammenhang zwischen Zynismus und dem elenden Zustand, in dem sich die Welt befand. Was trug er an persönlicher Mitverantwortung?

Mike fuhr fort: „Penny McAlister, 12, über der 200 und bei immerhin 87,6 %, kommt aus New York City. Ebenfalls 12 ist Alexandro Bolles aus Mexiko City, IQ 199, 95,2 %. Dann vier 13-Jährige: Melanie Winter aus einer deutschen Kleinstadt in der Nähe von Hamburg, IQ über 200, 85,4 % in den Tests; Lulu Camarez aus einem Kaff in Uruguay, IQ über 200, 99,3 % in den Tests; Bogato Bolomota, ein Junge aus dem mittelafrikanischen Protektorat mit offenbar sehr bewegter Geschichte, IQ über 200, 67,6 % in den Tests, offenbar wegen der Sprachbarrieren nur so wenig; und die Spitzenreiterin der Eingangstests heißt Qua Buratila Magahenga, ihre Bewerbung stammt aus Mumbai, aber die Sicherheitsabteilung konnte nicht klären, woher sie ursprünglich kommt, IQ über 200, volle 100 % im Test.“

„Volle Punktzahl? Wie lange hatten wir das nicht mehr, Mike? Fünf Jahre?“

„Vor sieben Jahren das letzte Mal, Sir, als der junge Dr. Smith vom MIT zu uns rüberwechselte.“ Mike schaute Bell vielversprechend an, der aber guckte sich die geschwungene Architektur der vor ihnen liegenden Vorlesungsgebäude an. Wie eine Arche Noah im Paradies vor allen Sündenfällen und vor der Sintflut lagen die mit Tropenhölzern verkleideten Gebäude vor ihnen, umgeben von Blumenwiesen mit summenden Bienen und zwitschernden Vögeln, Wäldern, einem künstlich angelegten Flüsschen. Am liebsten hätte Bell von jeder Tiergattung, die die letzten Jahrhunderte der menschlichen Herrschaft über den Globus überlebt hatte, ein Paar in den Park geholt, aber die Sicherheitsabteilungen hatten zu viele Bedenken gegen seinen Einfall vorgebracht.

Sie erreichten den Eingangsbereich der Arche. „Wir sind gleich da, Mike. Noch irgendetwas Wichtiges?“

„Nächste Woche findet die jährliche Sitzung der Kommission zur Festlegung der Zugangsvoraussetzungen statt. Die Professoren Hill und Chang insistieren dieses Jahr erneut darauf, auch Kandidaten zu berücksichtigen, die hohe Werte in Tests zur Messung der emotionalen Intelligenz erreichen. Die Sollzahl von 500 könnte so wieder erreicht werden.“ Mike trug bloße Fakten vor. Vermutlich ahnte er nicht einmal, welche weitreichenden theoretischen Streitigkeiten den jährlichen Auseinandersetzungen in der Kommission zugrunde lagen. Bell reagierte unwirsch: „Damit kann ich mich nächste Woche befassen. Was nutzen uns intuitive Studenten, die keinen Zugang zur komplexen Mathematik unseres Fachs finden? Danke, dass Sie mich aufgeklärt haben, Mike. Bitte denken Sie daran, was ich Ihnen vorhin aufgetragen habe.“

„Sehr wohl. Bis später.“ Mike wandte sich um und fing an, eine Melodie zu pfeifen. Er liebte die Spaziergänge durch den Park.

Professor Bell betrat Vorlesungssaal 11. Die Unruhe im Saal verebbte auf der Stelle. Er genoss eine weltweite Autorität, die ihm niemals so klar wurde wie in diesen Momenten, wo er das erste Mal in einen Saal mit neuen Studenten kam. Überall im Raum folgten konzentrierte Blicke jeder seiner Bewegungen.

„Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie am Bell-Institut für medizinische Quantenphysik.“, sagte er noch während er auf das Podium stieg. „Mein Name ist Bell und ich bin der alleinige Eigentümer dieses Instituts. Wie Sie wissen, gehören Sie zur Crème de la Crème der Menschheit, weil Sie es geschafft haben, unsere strengen Eingangsvoraussetzungen zu überwinden. Das heißt, 37 Personen unter Ihnen haben dies leider nicht geschafft und werden in den kommenden Monaten einem Sonderprogramm unterworfen. Betrachten Sie das als Probezeit. Der Rest von Ihnen kann sich darauf verlassen, dass mein Institut Ihnen alle Wünsche erfüllen wird. Jede und jeder von Ihnen bekommt drei Mentoren zugeteilt. Sollten Sie irgendwelche Probleme oder Wünsche haben, scheuen Sie sich bitte auf keinen Fall, mit Ihren Mentoren darüber ins Gespräch zu kommen. Die Instituts-Philosophie betrachtet Sie als eine Investition in die Zukunft der Menschheit. Ich möchte, dass Sie das sehr ernst nehmen: Sie, das heißt insbesondere Ihre geistige Leistungsfähigkeit, sind wertvoller als alles, was Sie vielleicht in ihrem bisherigen Leben als wertvoll betrachtet haben. Ich garantiere Ihnen: Das Institut wird alles daran setzen, dass Sie sich bei uns wohlfühlen. Betrachten Sie sich ab jetzt bitte mit dem Selbstbewusstsein junger Götter, denen kein Wunsch verwehrt werden darf. Betrachten Sie mich als den alten Gott, dessen Zorn furchtbare Verwüstungen anrichten wird, wenn seinen jungen Göttern irgendeine Respektlosigkeit erwiesen wird.“

Die meisten jungen Gesichter ihm gegenüber waren konzentriert, einige wenige deuteten mit verständnislosen Blicken ihre mangelnden Sprachfähigkeiten an, aber viele freuten sich über Bells Worte, grinsten, einige lachten sogar. Allen Menschen schmeichelte der Gedanke, ganz besonders zu sein. Aber niemand konnte mit so naiver Freude auf die Anerkennung der eigenen Bedeutsamkeit reagieren wie junge Menschen. Bell wusste, wie er die Neuen einzuwickeln hatte.

„Falls Sie in irgendeinem lebenspraktischen Belang nicht weiter wissen und auch ihre Mentoren Ihnen nicht helfen können oder wollen, so vereinbaren Sie bitte einen Termin mit mir. Ich verspreche Ihnen, dass Sie sich in diesem Institut keine Sorgen über irgendetwas jenseits unseres Faches machen müssen. Herzlich Willkommen!“

Die jungen Leute applaudierten. Noch freuten sie sich. Ja, die meisten von ihnen würden ein Luxusleben kennenlernen, das sie vorher nicht erahnt hatten. Aber sie würden noch früh genug zu stöhnen beginnen über all die Zumutungen der probabilistischen Theoriekonstrukte, mit denen sie sich herumschlagen würden.

„Sie werden morgen eine Führung über das Gelände bekommen. Es gibt fünf Kantinen, die rund um die Uhr geöffnet sind. Sie können auch einen Bring-Service in Anspruch nehmen. Es gibt ein großes Angebot an sportlichen Betätigungsfeldern auf dem Gelände. Der Wellness-Bereich steht Ihnen ebenfalls rund um die Uhr zur Verfügung. Falls Sie eine Massage wünschen, werden Sie sie dort am schnellsten erhalten. Aber auch Masseure können Sie zu jedem beliebigen Institutsort ordern. Jedem von Ihnen wird ein persönlicher Assistent an die Seite gestellt, der in erster Linie für die Befriedigung persönlicher Bedürfnisse sorgen soll, Besorgungen erledigen, Wäsche waschen und so weiter. Die persönlichen Assistenten werden Ihnen gerade in der Anfangszeit auch hilfreiche Tipps geben, wie Sie sich im Institut zurecht finden können. Zudem sind die persönlichen Assistenten dazu angehalten, Sie bei der Organisation Ihrer Lernmaterialien zu unterstützen. Sie können viele hilfreiche Hinweise von Ihren Assistenten dazu erwarten, wie Sie sich in der Flut von Informationen, die auf Sie einstürzen wird, über Wasser halten können. Ihr persönlicher Assistent wird das selbe Geschlecht wie Sie haben und nach Möglichkeit auch ähnliche ethnische sowie regionale Wurzeln. Ich weiß, dass sich viele von Ihnen noch mit den Plagen der Pubertät herumschlagen müssen, wozu häufig auch eine übertriebene Scham gehört. Ich rate Ihnen, zu Ihrem persönlichen Assistenten ein absolutes Vertrauensverhältnis aufzubauen. Sollte die Chemie zwischen Ihnen und ihrem Assistenten nicht stimmen, können Sie selbstverständlich einen neuen Assistenten beantragen. Wie gesagt: Sollten Sie spüren, dass irgendwas Sie vom Lernen abhält, weil es Sie ärgert oder nervt, ganz gleich, was es ist, dann sprechen Sie das Ihrem Assistenten, Ihren Mentoren oder mir gegenüber aus. Sie sollen und müssen sich in diesem Institut wohlfühlen. Denn Sie werden all Ihre Energien benötigen, um sich in das einzuarbeiten, was die Menschheit heute über die Wellenfunktion des Universums weiß. Das Institut unterhält auch einen großen Pool von Personen, auch solchen in Ihrem Alter, die Ihnen für die Erfüllung Ihrer erotischen Sehnsüchte jederzeit zur Verfügung stehen.“

Wie jedes Jahr ging an dieser Stelle ein Raunen durch den Raum. Etliche Gesichter liefen puterrot an. Pubertierenden unbegrenzte Möglichkeiten sexueller Entfaltung zu offerieren, setzte enorme emotionale Schwingungen in Gang. In früheren Jahren hatte das Institut insgeheim ein gutes Dutzend Screening-Vorrichtungen unter dem Vorlesesaal eingesetzt, um diese Schwingungen zu messen. Das Datenmaterial von drei Jahren war ausreichend, um einige hundert Wissenschaftler ein paar Jahrhunderte zu beschäftigen. Vor einigen Jahren hatte das Screening ohne explizites Einverständnis der Studierenden allerdings zu einer Skandalisierung geführt, so dass man davon abgesehen hatte, in jedem Jahr erneut Daten zu sammeln.

„Sexualität ist ein elementares Bedürfnis der Menschen. Das Institut sorgt für die Befriedigung all Ihrer elementaren Bedürfnisse. Treiben Sie es aber bitte nicht zu bunt. Vergegenwärtigen Sie sich auch stets, dass das Institut von Ihnen einen kontinuierlichen Lernfortschritt erwartet. Verausgaben Sie sich also nicht mit anderen Aktivitäten. Stillen Sie Ihre Sehnsüchte, aber konzentrieren Sie sich auf Ihr Studium. Sie werden übrigens monatlich von dem Ihnen zugeteilten Arzt untersucht. Ein 15-minütiges Screening ist die Regel. Das Institut unterhält ein exzellentes und großes Team von medizinischen Spezialisten und wird alles daran setzen, Ihnen im Krankheitsfall die bestmögliche Behandlung zukommen zu lassen. Die Instituts-Klinik wurde mehrfach als bestes Krankenhaus der Welt ausgezeichnet. Sie werden zudem sehen, dass Sie von Ihrem Arzt alle Substanzen erhalten können, die zur Steigerung der geistigen Fähigkeiten eingesetzt werden können und hinsichtlich der Nebenwirkungen unbedenklich genug sind. Einige dieser Substanzen lösen auch Rauschzustände aus, die beispielsweise mit Halluzinationen einhergehen. Ein mäßiges Experimentieren mit solchen Substanzen wird Ihnen nicht nur gestattet, sondern angeraten. Es ist erwiesen, dass der geistige Horizont sich dadurch erweitern kann. Sie sollten allerdings in solchen Fällen auf eine sogenannte Trip-Begleitung durch Ihren persönlichen Assistenten achten. Auf klassische Rauschdrogen, die Sie vielleicht bereits kennen, werden Sie allerdings verzichten müssen, insbesondere auf Alkohol, das Gehirnzellen abtötet und Ihnen schon daher nicht gestatten werden kann. Sie müssen sich übrigens hinsichtlich der Legalität der institutseigenen Call-Boys&Girls und der Ihnen zugänglich gemachten Substanzen keinerlei Gedanken machen. Das Institut hat auf vielen Gebieten den Status einer Sonderrechts-Zone. Wir sind einer der größten Steuerzahler in den USA.“

Das Raunen hatte eine Weile angehalten, ebbte nun aber langsam ab. Hier und da wurde gelacht. Bell wusste aus Erfahrung, dass das nüchterne Aussprechen von schambesetzten Themen insbesondere bei sehr intelligenten Jugendlichen mittelfristig zu einem sehr nüchtern-pragmatischen Umgang mit dem führte, was momentan noch schambehaftet war.

„Sie werden in den nächsten Tagen von vielen Mitarbeiten des Instituts nähere Informationen dazu erhalten, wie das Leben hier läuft und welche Möglichkeiten, aber auch Schranken Ihnen gesetzt werden. Was ich Ihnen momentan noch sehr ans Herz legen möchte, ist die Offenheit und Transparenz unserer Forschungseinrichtungen. Nur wenige Türen werden Ihnen verschlossen bleiben. Normalerweise können Sie in jedem Büro, in jedem Labor, bei jedem Team, überall und im Prinzip auch zu jeder Zeit einfach mal hineinschnuppern und gucken, was wo am Institut gemacht wird. Sie sollen sich ein Bild von unserer Wissenschaft machen. Und das geht nun einmal am besten, wenn Sie sich Ihrer eigenen Neugierde überlassen und die Forschungseinrichtungen auf eigene Faust erkunden. Fühlen Sie sich einfach wie zuhause.“

Auch an dieser Stelle seines routinierten Vortrags ging wie jedes Jahr aufgeregtes Getuschel durch den Saal. Bells wissenschaftliches Institut mit einem Renommee, das seinesgleichen auf der Welt suchte, war für neugierige junge Geister eine mythische Schatzinsel. Gerüchte wurden tuschelnd ausgetauscht. In der ersten Reihe konnte Bell hören, wie eine junge Frau dem neben ihr sitzenden Mädchen sagte, dass sie als erstes die parapsychologische Abteilung aufsuchen werde. Dort solle es echte Medien mit übernatürlichen Kräften geben. Bell klärte sie und die anderen selbstverständlich nicht darüber auf, dass diese Abteilung zu der Kategorie 'verschlossene Türen' gehörte. Er wollte als der freundliche Onkel dastehen, der keinen Wunsch abschlug und für jeden ein offenes Ohr hatte. Er hatte ausreichend Personal, das die unangenehmere Aufgabe übernehmen konnte, den Neuzugängen ihre Grenzen aufzuzeigen. Bell selbst wollte sich als spendabler Gönner in Szene setzen, der niemandem einen Wunsch abschlagen konnte. Gleichzeitig war er es selbstverständlich, der in letzter Instanz alle Regeln des Instituts bestimmte. Es gehörte ihm.

„Jedem von Ihnen wird ein größeres Arsenal von Rechnern ausgehändigt, kleine Geräte, personal devices auf dem aktuellen Stand der Technik, die Sie stets am Körper tragen sollten, um auch kommunikativ erreichbar zu sein, größere Geräte für Mitschriften und Berechnungen in den Vorlesungen, ganze Bildschirmwände und Touchscreen-Tische in Ihren Wohnungen, die Ihnen einen luxuriösen Freiraum in der Aufbereitung und Organisation Ihrer Studienstoffe geben sollen. Sie werden mit diesen Geräten jederzeit auf alle freigegebenen Datenbanken des Instituts Zugriff haben. Wir haben eine der größten digitalen Bibliotheken weltweit, im Prinzip haben Sie Zugriff auf alles, was je publiziert wurde, in jeder beliebigen Sprache. Zudem können Sie selbstverständlich auf die umfangreichen Screening-Datenbanken des Instituts zugreifen. Ihre Lehrer und auch Ihre persönlichen Assistenten werden Sie dazu auch auffordern. Mit jedem Ihrer Geräte können Sie auf die Rechenkapazitäten unserer Supercomputer zugreifen. Das wird auch nötig sein. Sie werden schnell feststellen, dass nicht erst die Berechnungen der konkreten Daten, mit denen Sie arbeiten werden, sondern bereits die Formung der mathematischen Konstrukte, die zur Berechnung der Daten dienen, nicht im Kopf zu bewerkstelligen sind. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, dass Sie sich mit der Rechnerarchitektur des Instituts und den Software-Tools, die Ihnen das Institut für Ihr Studium bereitstellt, so schnell wie möglich vertraut machen. Selbstverständlich wird es einführende Vorlesungen zu diesem Themenkreis geben. Unter anderem sind zwei Dutzend Quantencomputer der K13-Generation am Institut vorhanden. Selbstverständlich werden Ihnen unsere Lehrer und auch Ihre persönlichen Assistenten dabei hilfreich zur Seite stehen, die Möglichkeiten zu erkunden, die Ihnen diese Rechner an die Hand geben.“

Er sah einige leuchtende Augen im Auditorium. Die Welt der digitalen Spielzeuge war für viele Jugendliche unendlich faszinierend, insbesondere für Hochbegabte. Das Institut bot in dieser Beziehung maßlos viel auf. Angesichts des Forschungsanspruchs des Instituts war das aber nur selbstverständlich und unumgänglich.

„Während das Institut Ihnen den Reichtum seiner Datenbanken und seiner Rechenpower zu Füßen legt, werden Sie allerdings damit leben müssen, nur sehr eingeschränkten Zugang zu externen Netzen zu haben. Das Internet wird Ihnen nicht zugänglich sein. Alle relevanten Informationen finden Sie ohnehin in den Instituts-Datenbanken, auch solche tagesaktueller Art. Wir möchten Sie davon abhalten, sich beliebig zu zerstreuen und sich mit unnützen Informationen zu befassen. Foren und soziale Netzwerke existieren institutsintern. Wir halten Sie dazu an, Ihre sozialen Bedürfnisse in Ihrer Freizeit mit Ihren Kommilitonen sowie dem wissenschaftlichen Personal zu befriedigen. Außenkontakte sehen wir nicht gerne, ebensowenig sollten Sie sich zu intensiv mit dem nicht-wissenschaftlichen Personal im Institut anfreunden. Sie können davon intellektuell wenig profitieren. Und für Ihre intellektuelle Reifung sind Sie schließlich hier. Wenn Sie Außenkontakt wünschen, so sprechen Sie mit Ihrem persönlichen Assistenten. In der Regel sollten Sie nicht mehr als drei Audio- oder Videogespräche à 10 Minuten pro Woche nach außen führen, also z. B. mit Ihren Eltern oder alten Freunden. Ihr persönlicher Assistent kann aber darüber entscheiden, Ihnen in Ausnahmefällen auch umfangreicheren Kontakt nach außen zu gestatten. Das Instituts-Areal umfasst gut hundert Quadratkilometer und hält allen Komfort eines modernen Lebens bereit, eines modernen Luxuslebens. Es ist daher nicht nötig, dass Sie es verlassen. Lassen Sie mich präziser werden.“

Bell liebte diesen Moment in seinem Vortrag. Er sprach seine Macht aus und ließ die jungen Menschen von dieser Macht über sie wissen. Er bot Ihnen viel, aber dafür verlangte er auch in einigen Belangen absolute Unterwerfung. Seine Stimme hatte jetzt das volle Maß an Ernst, das die Autorität mit sich brachte, Professor Bell zu sein: „Wir wünschen nicht, dass Sie während Ihrer Studienjahre das Institutsgelände verlassen. Sie sollen sich ganz und gar auf die Welt der medizinischen Quantenphysik konzentrieren.“

Seine Stimme wurde wieder jovial, freundlich und entspannt: „Selbstverständlich sind Sie keine Gefangenen. Wenn Sie es wünschen, können Sie beispielsweise zu Feiertagen Ihre Familien besuchen. Aber wir sehen auch das nicht gerne. Wir wünschen Konzentration auf das Wesentliche. Dafür ist es am hilfreichsten, wenn Sie die wissenschaftliche community im Institut als Ihre neue Familie betrachten und sich nicht weiter damit befassen, was sich abseits unserer Forschung in der Welt zuträgt.“

Einige Gesichter blickten erschrocken, andere sogar erbost. Der pubertäre Trotz war nicht zu unterschätzen, aber in der Regel wirkten die Worte seines Vortrags Wunder. Hochintelligente Menschen neigen im Schnitt zu verstärkter Affektkontrolle und brauchen nur wenig Anlass, um sich an die gewünschten Gepflogenheiten anzupassen. Der Luxus und die intellektuellen Herausforderungen des Instituts waren ein großer Anlass. Ohnehin konnten seine Studenten schon nach wenigen Monaten kaum noch etwas mit Menschen anfangen, die keinerlei Vorstellung von den Mysterien hatten, denen sich das Institut verschrieben hatte. Viele seiner Wissenschaftler hatten ihm davon berichtet, wie unbefriedigend der Kontakt zur eigenen Familie schon während des Studiums war. Die Familie war in der Regel stolz, aber verständnislos. Die Distanz, die sich nach wenigen Monaten im Institut zwischen den Studenten und ihren Familien aufgebaut hatte, war selbst bei liebevollen Familien immens. Hinzu kam, dass die meisten Familien in ökonomische Abhängigkeit von den Studenten gerieten und daher Ihren Sprösslingen mit doppelter Befangenheit begegneten: Sie waren Genies, Eingeweihte in höheres Wissen und außerdem die Ernährer aus der Ferne.

„Wie Sie wissen, erheben wir keinerlei Gebühren. Im Gegenteil, Sie werden schon als Studenten ein durchaus beachtliches Gehalt erhalten, das Sie gar nicht benötigen, weil alle Ihre Bedürfnisse kostenfrei durch das Institut befriedigt werden. Wir raten Ihnen, den größten Teil dieses Gehalts an Ihre Familien zu überweisen. So wird es nach unserer Erfahrung für Ihre Familien leichter, die Sinnhaftigkeit Ihres Aufenthalts im Institut zu verarbeiten.“

Nur die wenigsten Studenten am Institut entstammten den globalen Oberschichten. Die meisten kamen aus Milieus, für die ein Einkommen unerreichbar war, das Bell seinen Studenten als Bonbons vor die Füße warf. Seine Finanzberater hatten für diese Politik wenig Verständnis. Bell aber verfolgte ein knallhartes Kalkül: Indem er die Familien seiner Studenten ökonomisch vom Institut abhängig machte, was erstaunlich schnell passierte, sorgte er dafür, dass die Familien nicht nur die Entfremdung von ihren Töchtern und Söhnen akzeptierten, sondern ihren Kindern im Fall von Konflikten und Zweifeln gut zuredeten, sich den Regeln des Instituts zu unterwerfen. Geld spielte ohnehin schon lange keine Rolle mehr in Bells Leben. Das Institut verbrauchte davon regelmäßig mehr als z. B. die gesamte spanische Volkswirtschaft, generierte aber gleichzeitig über die Patente an Medikamenten und Technologien weitaus mehr als es verbrauchte. Es gab nur eins, was für Bell wirklich wichtig war: Kluge Köpfe, die die Fähigkeiten seines Instituts erweiterten, sich den enormen theoretischen Schwierigkeiten zu stellen, die mit der quantenphysikalischen Durchdringung des Biologischen einher gingen.

Er machte eine kleine Pause, guckte aufmerksam durch die Reihen der vor ihm sitzenden Studenten und dachte im Stillen an die Worte aus Hochzeitszeremonien: Wer etwas einzuwenden hat, soll jetzt reden oder für immer schweigen.

Selbstverständlich hatten alle Studenten bereits Verträge unterzeichnet, deren umfangreiche Ausführungen in juristisch verklausulierter Sprache wesentlich rigider von den Studenten die Einhaltung der Institutsregeln verlangten als Bell es je hätte formulieren können. Dennoch hatte es in dem einen oder anderen Jahr tatsächlich Rebellen gegeben, die sich gegen die Zumutungen zur Wehr setzten. Letztlich verlangte das Institut von seinen Studenten die Anerkennung ihres Sklavenstatus. Sie lebten in einer künstlichen Luxuswelt mit allen Annehmlichkeiten, sollten sich dafür aber auch mindestens 12 Stunden pro Tag mit all ihrer Energie der Wissenschaft widmen. Viele taten das gerne, es war ein außergewöhnliches und im Prinzip sorgenfreies Leben. Aber nicht alle konnten sich damit abfinden. Wer jedoch erst einige Zeit am Institut verbracht hatte, konnte sich nur sehr schwer davon trennen. Selbst dann, wenn sich ein klares Bewusstsein dafür herausschälte, dass das eigene Leben dem Institut gehörte. Einige wenige Wissenschaftler gingen nach ihren Studienjahren an andere Forschungseinrichtungen, kamen aber zumeist nach wenigen Jahren wieder zurück. Einige fielen auch wegen Depression oder anderen Krankheiten aus, aber gemessen am gesellschaftlichen Durchschnitt waren das nur sehr wenige. Das Institutsleben schien die Menschen gegen die Volkskrankheiten weitgehend zu immunisieren. Die pulsierende Intellektualität auf dem Campus regte die Geister an und ließ ein Abstumpfen kaum zu. Interessant waren die Ausnahmefälle, die sich ganz und gar von ihrer wissenschaftlichen Ausbildung abwendeten. Bell verbrachte ab und an Zeit damit, sich ein Bild von ihrem heutigen Leben zu machen.

Anscheinend gab es in diesem Jahr keine Rebellen, die sich sofort als solche zu erkennen geben wollten. Bell hatte für fast eine halbe Minute geschwiegen und die neuen Studenten gemustert. Es gab ein paar Tuscheleien, aber niemand erhob das Wort. Also fuhr Bell fort:

„Lassen Sie mich nun langsam dazu übergehen, Ihnen einen kleinen Überblick über das weite Themenfeld zu geben, mit dem sich das Institut befasst. Keine Angst, ich werde Sie noch nicht mit detaillierten Einzelheiten belästigen oder Ihnen einen langatmigen Abriss über die Geschichte unserer Wissenschaft geben. Sie werden in den kommenden Wochen, Monaten und Jahren genügend Zeit für die Details haben. Und momentan haben Sie ohnehin noch nicht Ihre Arbeitsgeräte und können sich daher gar keine ausführlichen Notizen machen. Es wäre also auch vertane Zeit. Mir geht es vorerst nur darum, Ihrem jungen Geist ein wenig die Augen dafür zu öffnen, worum es unserer Disziplin sozusagen im großen Wurf geht, was die Meilensteine der Forschung waren, welche theoretische Essenz sich den Experten aufdrängt. Ich weiß, dass ich nicht voraussetzen kann, dass Sie schon Grundlegendes oder gar Vertiefendes über unsere Wissenschaft und ihre mathematischen Modelle wissen. Daher stehe ich vor einer Herausforderung. Denn eine der großen Herausforderungen unseres Faches besteht darin, nicht in den Weltmeeren der Mathematik zu ertrinken, in denen wir Tag für Tag nach Perlen tauchen. Das Bild mag abgeschmackt wirken, aber ich bitte Sie darum, meine Worte sehr ernst zu nehmen: Versuchen Sie so oft es geht, eine möglichst präzise Vorstellung von dem zu bekommen, womit wir es zu tun haben. Wenn ich von Vorstellung spreche, so meine ich Sinngebilde unserer Lebenswirklichkeit: Geschichten, Bilder, Abläufe, die Sie aus Ihrer Erfahrung kennen, etwas, das Sie so genau vor Ihrem geistigen Auge sehen können, dass es fast möglich scheint, es anzufassen. Denken Sie nur zum Beispiel an einen der schönen Schmetterlinge in unserem Park, stellen Sie sich seine Bewegungen in der Luft vor, die Flügelschläge, sein Flattern hin und her im Raum. Geben Sie Ihrer imaginativen Kraft den Raum für einen Schmetterling. Können Sie ihn sehen?“

Bell ließ den Studenten einen Moment der inneren Einkehr. Er sah nickende Köpfe, aber auch ein paar Studenten, die den Kopf schüttelten. Er kannte genügend Wissenschaftler, die eine brillante Einbildungskraft für abstrakte Gegenstände hatten, aber daran scheiterten, sich auch nur so etwas Einfaches wie einen Zuckerwürfel vorzustellen. Er hatte eine vage Theorie dazu, warum diese Wissenschaftler zwar häufig ausgezeichnet darin waren, die etablierten Methoden anzuwenden, aber nur selten mit wirklich innovativen Ideen aufwarten konnten, mit neuen Methoden oder neuen Theorien. Phantasie war fehl am Platz, wenn es um präzises Arbeiten mit bekannten Methoden und Messgeräten ging. Wenn es aber darum ging, den sicheren Boden bekannter Theorien zu verlassen, schien eine plastische Einbildungskraft unerlässlich zu sein. Und Fortschritte in der Theorie waren Bell weitaus wichtiger als die keineswegs unwichtige Anwendung der bereits bestehenden Theorien. Daher hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, gerade den Studenten an seinem Institut die Wichtigkeit bildhafter Vorstellungen zu vermitteln.

„Ich will Ihnen sagen, warum Sie sich den Schmetterling vorstellen sollen. Es ist aus zwei Gründen wichtig, dass Sie sich auf Ihre bildhafte Phantasie verlassen. Der erste Grund ist didaktischer Natur: Die Augen sind unser wichtigstes Sinnesorgan. Viele Informationen stürzen permanent auf uns ein. Mit den Augen nehmen wir die allermeisten wahr. Die Dreidimensionalität des Raumes und die vierte Dimension des zeitlichen Fließens erschließen sich uns auch durchs Anfassen, Begreifen, durch unseren Gleichgewichtssinn, durch das Stereo-Hören und einiges andere. Vornehmlich aber durch die Augen. Das allermeiste, was Sie in Ihrem bisherigen Leben gelernt haben, hat mit dieser vierdimensionalen Vorstellungswelt zu tun, die Sie mit ausreichend Phantasie auch vor Ihrem inneren Auge wiedererschaffen können. Es ist kein Zufall, dass wir von einem inneren Auge sprechen, obwohl das ganz offensichtlich eine metaphorische Sprechweise ist. Glauben Sie mir, ich habe genug Zeit in der Pathologie verbracht: Ein drittes Auge existiert im menschlichen Körper sicherlich nicht auf die Weise, wie wir die beiden anderen Augen erkennen können.“

Es gab ein paar Lacher, aber Bell war enttäuscht. An dieser Stelle seines Vortrags hatte er in früheren Jahren schon mehr Humor auslösen können. Ein Fortschreiten der allgemeinen Depressionstendenzen? Umfangreicheres Vorwissen der Studenten über die Wechselwirkungen von Imagination und quantenmechanischer Wirklichkeit? Oder vielleicht lag es an Bell selbst, vielleicht war er doch zu sehr von dem Durchbruch abgelenkt, den die neuesten Ergebnisse von Team Delta versprachen. Für einen Moment wurde er ungeduldig, hätte den Vortrag am liebsten abgebrochen und sich gleich mit seinen besten Leuten zur Besprechung zusammengesetzt. Aber es war wichtig, dass die neuen Studenten ein Gefühl für den Herrscher über das Institut bekamen.

„Es gibt verschiedene Theorien dazu, was Intellekt ist und was ein IQ-Test eigentlich misst. Was auch immer Intelligenz sein mag, Sie können sich sicher sein, dass Ihre Intelligenz sich bislang vornehmlich an solchen vierdimensionalen Vorstellungen abgearbeitet hat. Und das wird sie auch weiterhin tun, weil Ihnen Ihre Sinnesorgane auch weiterhin eine vierdimensionale Vorstellung von der Wirklichkeit geben, in der Sie nun einmal tagaus tagein leben. Die Wissenschaft, von der Sie ein Teil werden sollen, betrachtet momentan aber die Welt am liebsten aus der Perspektive des sogenannten 37-dimensionalen Standard-Quanten-Raums. Und Sie werden es in bestimmten mathematischen Konstrukten mit nm-dimensionalen Räumen zu tun bekommen. Ich kenne einige wenige Menschen, denen ich durchaus glaube, dass Sie sich solche Räume vor ihrem geistigen Auge vorstellen können, Menschen mit außergewöhnlichem Überblick in mathematischen Theorien und langer Erfahrung im Umgang mit solchen höherdimensionalen Räumen. Doch solche Menschen sind auch hier im Institut mindestens sehr selten. Viele glauben auch, es gibt solche Menschen gar nicht. Diejenigen, die so etwas behaupten, seien Aufschneider, Angeber. Ich erwähne das nur, um diejenigen unter Ihnen zu beruhigen, die sich den Schmetterling vielleicht nicht vorstellen können. Es mag sein, dass Sie dafür in der Lage sein werden, wesentlich abstraktere Gegenstände vor Ihr geistiges Auge zu stellen.

Wie auch immer, der erste Grund, warum Sie sich den Schmetterling vorstellen sollten, warum es wichtig ist, die Vorstellungskraft zu trainieren, ist folgender: Das Training, das Ihre Intelligenz in Bezug auf vierdimensionale Vorstellungen bereits vollbracht hat und für den Rest Ihres Lebens vollbringen wird, ist eine Ressource Ihrer Intelligenz. Sie sollten Sie deshalb pflegen. Bitte versprechen Sie mir, dass Sie sie pflegen werden. Trainieren Sie am besten mehrmals täglich. Und stellen Sie sich bitte dabei nicht immer wieder den Schmetterling vor, sondern alles Mögliche und möglichst auch alles Unmögliche. Betrachten Sie es als eine Hausaufgabe, die allerdings niemals kontrolliert werden wird. Auch wenn Sie wahrscheinlich niemals in der Lage sein werden, sich ein wirkliches Bild von dem zu machen, womit Sie es mathematisch zu tun bekommen werden, so kann allein der Versuch dazu, Ihnen Fähigkeiten Ihres Intellekts zur Verfügung stellen, von denen Sie nichts ahnen, und die Ihnen auf geheimnisvolle Weise auch beim Durchdringen abstrakter Mathematik große Dienste erweisen können. Die Fähigkeit unseres Denkens, Erlerntes aus einer Sphäre in eine völlig andere Sphäre zu übertragen und dort erneut anzuwenden, ist vermutlich die entscheidendste Fähigkeit unseres Denkens überhaupt.“

Bell konnte sehen, dass seine Worte Eindruck machten. Er hatte Sie mit Überzeugung vorgetragen, obwohl er wusste, dass jede Überzeugung kritisiert werden konnte und auch wurde. Hiervon aber war er überzeugt und er wollte auch seine Studenten davon überzeugen. Die Intensität der Blicke, die ihn aus dem Auditorium anstarrten, bewies ihm, dass er damit erfolgreich war.

„Der zweite Grund basiert auf einer Hypothese von mir. Ich habe einmal versucht, diese Hypothese anhand unseres Wissens über die Natur unseres Geistes zu beweisen. Es ist mir nicht gelungen, es gibt zu viele Unwahrscheinlichkeiten und Ungewissheiten, auch fehlen für bestimmte Aspekte des Beweises ganz grundsätzlich mathematische Methoden, die Ihnen aber vielleicht zur Verfügung stehen werden, wenn Sie in mein Alter gekommen sind. Wer weiß. Umgekehrt jedoch ist es ebenso unmöglich zu beweisen, dass die Hypothese falsch ist. Sie hat daher eine gewisse Plausibilität. Und leider werden Sie lernen müssen, dass im strengen Sinne alles in unserer Wissenschaft nur von einer gewissen Plausibilität ist. Die Hypothese hat selbstverständlich eine mathematische Struktur, ist in der Sprache der Mathematik verfasst, aber ich werde versuchen, Ihnen eine umgangssprachliche Vorstellung davon zu geben. Wir wissen seit ungefähr 40 Jahren mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, dass fokussierte Gedanken und Gefühle einen gewissen Einfluss auf die Objekte haben können, auf die sich die Gedanken und Gefühle fokussieren. Wie gesagt: Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit. Sie werden im Fortschreiten Ihres Studiums immer deutlicher begreifen, inwiefern diese vier Worte heutzutage fast schon den einzigen Unterschied zwischen esoterischen Scharlatanen und den Wissenschaftlern der physikalischen Grundlagen unserer Welt ausmachen: Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit.“

Seit Bell mit seinem philosophischen Propädeutikum zu seiner Naturwissenschaft begonnen hatte, war die Atmosphäre im Saal wieder überaus angespannt. Sie stand still und vibrierte zugleich vor angestrengter Konzentration. Bell dachte bei sich, dass diese Konzentration wohl nur mit der von Moses vergleichbar wäre, als dieser seinem Volk erstmals die von Gott erteilten zehn Gebote verkündet hatte. Er wusste, dass das ein eitler Gedanke war, aber er machte sich nichts vor: Er war eitel. So vieles in seinem Leben war außergewöhnlich, dass er sich fast ununterbrochen erhaben fühlen konnte. Erhaben über die Armen, die Dummen, die Unwissenden, die Erfolglosen, die Beherrschten, die Resignierten … Doch selten war das Gefühl der Erhabenheit so intensiv wie in diesen Momenten seines Vortrags vor den neuen Studenten, in denen alles im Raum sich auf seine Gedanken zu konzentrieren schien. Intensiver war es höchstens in den Momenten, wo er nicht nur begriff, sondern durch jede Faser seines Körpers spürte, dass er ein bloß irrwitzig kleiner Teil einer Erhabenheit war, die keinen Unterschied zwischen reich und arm, klug und dumm, wissend und unwissend, erfolgreich und erfolglos, herrschend und beherrscht, motiviert und resigniert, beachtet und unbeachtet machte.

„Für die klassische, Newtonsche Physik und selbst für das Jahrhundert zwischen der Schrödinger-Gleichung und der Cartos'schen Quantenreflexion im Synapsenspalt wäre eine solche Behauptung abergläubisch gewesen: Gedanken und Gefühle können – mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit – fernwirkend Objekte manipulieren. Ebenso erstaunlich, wenn nicht noch erstaunlicher aber ist die Tatsache, dass diese Objekte – mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit – ihrerseits auf eine solche Manipulation antworten und damit sozusagen die Gedanken und Gefühle eines Menschen beeinflussen. Ja, es ist sogar nicht einmal nötig, dass Sie zuerst an eine Sache denken. Theoretisch besteht durchaus eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass Ihre und meine Gedanken von Gegenständen und anderen Lebewesen beeinflusst werden, von denen wir uns gar keine Vorstellung machen. Wie Ihnen vermutlich bekannt ist, sind diese mehr oder weniger wahrscheinlichen Tatsachen die grundlegenden Forschungsgegenstände dieses Instituts.“

Bell sprach damit keine Neuigkeit aus. Jedes Kind hatte heutzutage schon einmal von diesem Zusammenhang gehört. Doch aus seiner Perspektive war es noch immer sonderbar, diese klaren Sätze auszusprechen. Er selbst hatte bereits in seinem Studium von Cartos' Experimenten gehört, entstammte aber doch in gewisser Weise noch einer Zeit, die Cartos' Ergebnisse in das Reich der Fabeln verwiesen hätte, wenn sie nicht experimentell unwiderleglich gewesen wären. Auch wenn er nunmehr fast vier Jahrzehnte auf den Schultern von Cartos forschte, erschien es ihm noch immer absonderlich, mit der Würde eines gealterten Professors solche Worte auszusprechen.

„Wenn Sie sich eben also einen flatternden Schmetterling vorgestellt haben, so besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sie mit dieser Vorstellung eine Art Kontakt zu einem der Schmetterlinge draußen im Park aufgenommen haben. Vielleicht sogar zu mehreren oder sogar allen Schmetterlingen, die in allen möglichen Welten jemals gelebt haben und leben werden. Auf der Ebene der Quantenwelt sprechen wir in einem solchen Fall von Verschränkung: Die Prozesse in Ihrem Gehirn haben sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit mit den Prozessen verschränkt, die wir mit unseren Alltagsvokabeln als 'flatternde Schmetterlinge' bezeichnen. Da diese mehr oder weniger wahrscheinlichen Verschränkungen eine Tatsache darstellen, bin ich auf die Hypothese verfallen, dass unsere intellektuellen Fähigkeiten davon profitieren können, wenn wir unsere Vorstellungskraft auf bestimmte Objekte bündeln. Fokussieren Sie sich z. B. auf die flatternden Schmetterlinge, so könnte eine gewisse Wahrscheinlichkeit bestehen, dass Sie von den kognitiven Verarbeitungsfähigkeiten flatternder Schmetterlinge profitieren. Vielleicht kommen Sie in Ihrem Studium einmal dazu, sich eingehender mit der Physiologie von Schmetterlingen zu beschäftigen. Aber auch ohne detailliertes Wissen dürfte Ihnen einleuchten, dass Schmetterlinge die Welt mit anderen Sinnesorganen wahrnehmen als Menschen das tun, dass sie sich auf andere Weisen durch die Welt bewegen, dass sie auf eine andere Weise in das Gesamtgespinst des Universums eingewoben sind. Selbst wenn wir also davon ausgehen, dass Schmetterlinge unendlich dumm im Verhältnis zu uns Menschen sind, so mögen sie doch über Klugheiten verfügen, von denen wir normalerweise nichts wissen. Und das gilt nicht nur für Lebewesen, denen wir eine wenigstens geringe Intelligenz nicht gänzlich absprechen können, sondern auch für die unbelebte Natur. Ein beliebiger Stein zum Beispiel existiert auf eine andere Weise im Universum als Sie und ich existieren. Insofern er existiert, ist er ein Teil der Wellenfunktion des Universums und repräsentiert damit ein Wissen, dass Sie und ich erst einmal nicht haben. Ich behaupte selbstverständlich nicht, dass ein Stein etwas wissen kann, aber ein Stein ist auf eine Weise in die Welt verwoben, die einzigartig ist. Wenn Sie sich nun auf einen Stein konzentrieren, so kann Ihr Gehirn mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, die übrigens verschwindend gering, aber dennoch vorhanden ist, mit dieser Einzigartigkeit in Berührung kommen und dadurch vielleicht etwas Neues lernen. Meine Hypothese bedeutet also Folgendes: Wann immer Sie sich mit Ihrer bildhaften Phantasie auf etwas konzentrieren, oder auch auf jemanden, unterschätzen Sie bitte nicht die Möglichkeit, sich auf Menschen zu konzentrieren und sich dadurch mit ihnen zu verschränken … also, wann immer Sie sich auf etwas fokussieren, besteht zumindest die prinzipielle Möglichkeit, dass Sie dadurch etwas Neues lernen, weil Sie sich mit etwas verschränken, das Sie nicht selbst sind.“

Bell sah einige faszinierte Gesichter vor sich. Viele schauten ihn aber auch verständnislos an.

„Wie gesagt: Die Hypothese ist zum derzeitigen Punkt der Forschung weder zu beweisen noch zu widerlegen. Sollte sie sich aber eines Tages als wahr erweisen, dann gäbe das einen guten zweiten Grund dafür ab, Sie dazu aufzufordern, sich regelmäßig mit Phantasie auf alles Mögliche und Unmögliche zu fokussieren. Sollte es Ihnen beispielsweise gelingen, sich einen 37-dimensionalen Raum vor Ihrem inneren Auge vorzustellen, so könnte das im Rahmen meiner Hypothese bedeuten, dass Sie mit einer solchen Vorstellung Ihr Wissen über 37-dimensionale Räume insofern erweitern, als sich bestimmte Quantenprozesse in Ihrem Gehirn mit der Objektivität von 37-dimensionalen Räumen verschränkt. Ein faszinierender Gedanke von abgründiger Bodenlosigkeit.“

Mit einem Blick ins Auditorium stellte sich bei Bell das Gefühl ein, dass unterdessen kaum noch jemand im Auditorium dem Sinn seiner Ausführungen folgen konnte. Vielleicht würden die jungen Neuzugänge sich in späteren Jahren aber doch irgendwie an diese Gedanken erinnern. Die Zeit war ohnehin ein umso größeres Mysterium, je mehr man über sie zu wissen glaubte.

„Es ist auf vielen Ebenen bewiesen worden, dass die Menschheit niemals ein exaktes Wissen über die Gesamtheit der Wellenfunktion des Universums gewinnen können wird. Dies liegt an einer Fülle von Problemen. Da wäre zum Beispiel die Selbstbezüglichkeit: Jedes Wissen stellt selbst einen Teil der Gesamtwellenfunktion dar und muss daher als objektiver Tatbestand selbst gewusst werden, was zu einem unendlichen Regress zu führen scheint. Auf jeden Fall aber müsste die Gesamtwellenfunktion des Universums sich mindestens in eine reine Bewusstheit ihrer selbst verwandeln, damit nicht mehr Informationen vorhanden sind als erkannt werden können. Sie kennen vielleicht den alten Spruch, der diesen Zusammenhang in eine Paradoxie kleidet: Wenn unser Gehirn so einfach wäre, dass wir es verstehen könnten, dann wären wir zu dumm, um es zu verstehen. Ein weiteres Problem liegt selbstverständlich in der Heisenbergschen Unschärferelation, die uns ganz grundsätzlich vor das Problem stellt, dass wir immer nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit etwas von unseren grundlegenden Forschungsgegenständen wissen. Dann gibt es das ganz praktische Problem, dass das Universum unermesslich groß ist. Wie sollen wir das alles messen? Und das Problem der Selbstbezüglichkeit reproduziert sich auf der Ebene der Messanordnung: Auch unsere Messgeräte sind ein Teil der Gesamtwirklichkeit und müssten sich also selber ebenfalls messen. Sie werden im Laufe Ihres Studiums etliche Gründe mehr dafür kennenlernen, warum wir das, was uns eigentlich wirklich interessiert, niemals erreichen werden, nämlich eine Allwissenheit, die es uns überhaupt erst ermöglichen würde, nicht mehr mit Wahrscheinlichkeit, sondern mit Exaktheit Aussagen zu treffen.“

Auch wenn Bell von der Schlüssigkeit dieser Gründe überzeugt war, von denen tatsächlich unzählige Varianten in den hochkomplexen Gebilden der Mathematik niedergelegt und auf die empirischen Phänomene der Welt bezogen worden waren, blieb er doch Skeptiker. Ihm behagte die Vorstellung einfach nicht, dass das Wissen beschränkt sei. Er mochte nicht Teil einer Welt sein, die rational undurchdringlich war. Vielleicht mochte er einfach nur nicht die Tatsache, dass er kein allwissender und allmächtiger Gott war.

„So viel wir unterdessen von den Funktionsweisen der gesamten Welt im Allgemeinen und unseres menschlichen Organismus sowie seiner neuronalen Netze im Besonderen verstehen, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit verstehen, so ist es uns doch im Kern unmöglich zu sagen, auf welche Weise sich der Fortschritt der menschlichen Erkenntnis organisiert. Es gibt dazu viele mehr oder weniger gut empirisch begründete Theorien. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit kann man dies oder jenes für den eigentlichen Grund von Erkenntnissen halten. Im Gesamtbild, das wir von der Wirklichkeit haben, bleiben all diese Theorien aber genauso unbefriedigend wie die ganz einfache, aber auch völlig abstrakte Antwort, dass unsere Erkenntnisse ihrerseits eben ein durchlaufender Prozess eines Teils der Wellenfunktion des gesamten Universums sind. Meine Hypothese, die ich Ihnen eben zu skizzieren versucht habe, wird von einer Intuition beseelt: Vielleicht lernt der menschliche Geist vor allem durch die quantenphysikalische Verschränkung mit den Objekten seiner Aufmerksamkeit. Wenn Sie sich also meditierend in den phänomenalen Reichtum der Welt versenken, mögen Sie langfristig vielleicht zu weitgehenderen Erkenntnissen vordringen als durch das reine, vorstellungslose Studium der in mathematischen Struktursprachen formulierten Theorien und durch die Durchführung von Experimenten. Vielleicht, so wäre meine Hoffnung, ist es auf diese Weise sogar möglich, alle Beschränktheit des Wissens zu überwinden und doch als bloßer intellektueller Teilbereich des Universums dieses in seiner Gesamtheit zu erkennen. Aber das ist selbstverständlich ein sehr spekulativer Gedanke, den viele Naturwissenschaftler schon deshalb ablehnen, weil seine Unmöglichkeit bewiesen ist.“

Bell wusste, dass er sich in guter akademischer Gesellschaft befand, wenn er seinen Studenten die Achtung von Kreativität, Intuition und spekulativer Kontemplation anempfahl. Ebenso gut wusste er aber auch, dass in der scientific community letztlich nur zählte, was durch die Einheit von Argumentation und Experiment bewiesen war. Ein Finger erhob sich im Auditorium. Bell war neugierig: „Wenn Sie etwas sagen möchten, so stehen Sie bitte auf, damit alle Sie besser verstehen können.“

Eine junge Inderin erhob sich und stellte Ihre Frage. Das Stimmerkennungs-System analysierte ihre Stimmfrequenzen in Millisekunden und das Vorlesungspad zeigte Bell an, dass es sich um die Musterschülerin handelte, von der Mike berichtet hatte, Qua Buratila Magahenga. Sie sprach in fast akzentfreiem Englisch: „Verehrter Professor Bell, verstehe ich Sie richtig: Wollen Sie sagen, dass das Universum von sich aus möchte, dass wir es verstehen? Spricht Ihrer Auffassung nach jeder Stein und jeder Schmetterling seit Jahrtausenden zu uns, damit wir irgendwann in der Lage sein werden, mit einem göttlichen Bewusstsein von der Welt dieser Welt zu Diensten zu sein? Glauben Sie, dass die Evolution des menschlichen Bewusstseins ein Resultat des Willens des Universums ist?“ Das Mädchen hatte bescheiden und zugleich selbstbewusst gesprochen. Ihre Fragen waren interessant, aber zu sehr von spirituellen Vorstellungen geprägt. Konnte man dem Universum einen Willen unterstellen? Was in der modernen Geschichte der Menschheit könnte wohl darauf hinweisen, dass die Menschen sich in den Dienst ihrer Welt stellen würden und nicht, wie üblich, ihre Welt in den Dienst ihrer Bedürfnisse? Bell musste einen Moment überlegen, wie er dem offenbar größten intellektuellen Juwel im neuen Jahrgang entgegentreten wollte.

„Vielen Dank für Ihre interessanten Fragen, Ms. Magahenga. Setzen Sie sich bitte wieder. Aus der Tatsache, dass wir uns um Wissen bemühen und es in gewissen Grenzen auch erreicht haben, zu folgern, dass das Universum genau das von uns erwartet, ist eine interessante Vorstellung. Sie werden hoffentlich verstehen, dass es für einen naturwissenschaftlichen Professor auch nach Cartos' Revolution schwer möglich ist, dem Universum einen Willen und einen Zweck zu unterstellen. Ich denke, dass Sie den Sinn meiner Ausführungen gut verstanden haben, aber über das Ziel etwas hinausschießen. Ich habe gewisse Intuitionen und Vermutungen. Und ich weiß, dass es im Rahmen unserer besten Theorien zumindest bislang nicht unmöglich ist, dem Universum eine eigene Vernunft zu unterstellen, die aber sicherlich sehr von der verschieden wäre, die wir als Menschen haben. Angesichts der großen Probleme, von denen die heutige Menschheit erschüttert wird, könnte man genauso gut vermuten, dass das Universum uns bloß einen fürchterlichen Streich spielen möchte. Das, was man einst blinden Naturzusammenhang nannte, schlägt jedenfalls unter anderem Ihre und meine Augen auf. Wohnt den Menschen eine Vernunft inne, so auch der Natur, denn die Menschen sind ein Teil der Natur. Ob deshalb die Natur als Ganze etwas Vernünftiges ist, das einen erkennbaren Willen hat, lässt sich hingegen nur spekulativ beantworten. Also mit großen Fragezeichen. Sie wissen sicherlich, dass die spirituellen Bedürfnisse der Menschen eine solche Gesamtvernunft häufig und in sehr vielen verschiedenen Varianten unterstellt haben. Im allgemeinen wird sie einfach Gott genannt. Was an Ihren Fragen allerdings mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit bewiesen ist, ist der Evolutionsbegriff, den sie verwendet haben. Schon in der Darwinschen Vorstellung vom survival of the fittest spielt die Umgebung der Lebewesen für die evolutionäre Auslese eine prägnante Rolle. Dadurch, dass wir heute die Mutationsprozesse auf einer quantenphysikalischen Ebene zumindest mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit verstehen, können wir in der Tat sagen, dass die Evolution der Menschen und damit auch des menschlichen Geistes ein Prozess innerhalb des Gesamtgeschehens des Universums darstellt. Letztlich folgt das einfach aus unserer Vorstellung, dass alles in der Natur untrennbar miteinander verwoben ist, es eben nur eine einzige Wellenfunktion des Universums gibt. Stein und Schmetterling haben ihren Anteil an der Evolutionsgeschichte der Menschen, genauso wie die vielen Facetten von Strahlung, die uns aus den Tiefen des Universums erreichen und verändern. Man kann also zumindest sagen, dass die Evolution der Menschen ein Resultat des Gesamtuniversums ist, wenn man so will. Wie gesagt: Ich möchte mich nicht so weit aus dem Fenster lehnen und von einem Willen des Universums sprechen. Sie werden jedoch im Rahmen Ihres Studiums feststellen, dass es durchaus eine Reihe von Forschern gibt, die einen solchen Willen unterstellen. Es gibt Versuche, ihn zu beweisen, die jedoch einen skeptischen Kenner der Materie nicht überzeugen können. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang nur nebenbei noch erwähnen, dass es ein interessantes Detail der Geschichte der Naturwissenschaften ist, dass der französische Evolutionstheoretiker Lamarck Anfang des 19. Jahrhunderts eine Evolutionstheorie formulierte, die durch die Darwinsche Evolutionstheorie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ziemlich schnell und ziemlich gründlich bei der scientific community in Ungnade fiel. Nur wenige Wissenschaftler hielten über fast zwei Jahrhunderte hinweg zumindest die Möglichkeit offen, dass Lamarck vielleicht doch gegen Darwin Recht behalten könnte. Während Darwin den Grund für genetische Mutationen in blinden Naturprozessen sah und das Schwergewicht seiner Theorie vor allem auf die natürliche Auslese durch die Bewährung an Umweltbedingungen legte, vermutete Lamarck, dass die grundsätzliche Möglichkeit dafür besteht, dass Erfahrungen, dass das Bewusstsein, ja dass vielleicht sogar die Vernunft der Eltern einen Einfluss auf die Art und Weise der Mutationen hat, mit denen sich der Kinderorganismus vom Elternorganismus unterscheidet. Lamarcks geradezu klassisch gewordenes Bild dafür ist die Vorstellung, dass Giraffen deshalb lange Hälse haben, weil in einer langen Abfolge von Generationen das Bedürfnis der Giraffen nach den grünen Blättern in den Baumwipfeln, an die kein Huftier herankommen konnte, sich derart im Mutationsprozess niedergeschlagen hat, dass die Giraffen die langen Hälse bekamen, die wir heute an ihnen bestaunen können. Seit gut 35 Jahren, nämlich nur einige Jahre nach Cartos' Wissenschaftsrevolution, wissen wir, das heißt wissen wir mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, dass Lamarck sich den Prozess vielleicht zu simpel vorgestellt hat, aber durchaus nicht falsch lag. Tatsächlich können wir einen gewissen Einfluss unseres Denkens auf die Biologie unserer Nachfahren mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit nachweisen. Ich erzähle Ihnen dies nur, um Ihre kritische Wahrnehmung sowohl gegenüber der Geschichte der Wissenschaft als auch insbesondere gegenüber dem Mainstream der scientific community zu schärfen: Nur, weil eine bestimmte Theorie als bewiesen gilt und eine andere als widerlegt, heißt das unter den Bedingungen eines unvollständigen Wissens niemals, dass dem tatsächlich so ist. Ich würde mich freuen, wenn Sie sich diesen grundlegend kritischen Gedanken gegen alle Behauptungen, die als positives Wissen auftreten, gut merken würden. Ich danke Ihnen in jedem Fall für die inspirierende Phantasie Ihrer Fragen, Ms. Magahenga.“

Die meiste Zeit während seiner Antwort hatte er Augenkontakt mit Ms. Magahenga gehalten. Ihre Augen faszinierten ihn sofort. Sie hatte so gute Ergebnisse wie Smith und stellte gleich in der Begrüßungsvorlesung interessante philosophisch-spirituelle Fragen mit einem guten Verständnis für die eigentlichen Knackpunkte der Forschung. Sehr vielversprechend war dieses Mädchen. Wer weiß, welche Fähigkeiten sie im Institut würde entfalten können. Ein anderer Finger ging hoch. Bell musste aufpassen, dass sich sein Vortrag nicht in eine offene Diskussionsrunde verwandelte. Es gab Zeitpläne. Er brauchte Zeit außer der Reihe, um die weiteren Schritte für den Umgang mit den Ergebnissen von Team Delta in Gang zu bringen. Und sein Terminkalender ließ ihm wenig Luft. Auch die Lebenszeit der Studenten wurde einem strengen Regiment unterworfen, an das sie sich zudem erst einmal gewöhnen mussten. Bell war sich seiner Vorbildfunktion bewusst: Gleich den Zeithorizont für den ersten Vortrag zu sprengen, würde unter Umständen einer Disziplinlosigkeit Tür und Tor öffnen, die er sich nicht wünschte.

„Stehen auch Sie bitte auf, wenn Sie etwas sagen möchten. Allerdings möchte ich Sie darauf hinweisen, dass ich einen Vortrag halte. Die Regeln der akademischen Höflichkeit sehen eigentlich vor, einen Vortragenden nicht zu unterbrechen, sondern etwaige Fragen am Ende des Vortrags zu diskutieren. Sofern noch Zeit dafür ist. Ich werde diesen Redebeitrag noch zulassen. Haben Sie aber bitte Verständnis dafür, dass ich danach mit meinem Vortrag fortfahren werde. Sie beginnen erst mit Ihrem Studium, es wird noch sehr viel Zeit für Diskussionen geben. Bitte.“

Nach den ersten Silben des Studenten konnte sich Bell auf dem Vorlesungspad darüber orientieren, um wen es sich handelte: Curt Lagrange, ein Bürger Qualimbas, den Bell allerdings nicht persönlich kannte. Irgendetwas dämmerte ihm beim Namen Lagrange, aber Bell kam nicht darauf. Curt war bereits 22 und hatte offenbar seit Jahren erfolglos versucht, am Institut angenommen zu werden. Er gehörte zu den acht Studenten, die sowohl im IQ- als auch in den Aufnahme-Tests die Hürden gerissen hatten, sein IQ lag dieses Jahr bei 137, in den Aufnahme-Tests hatte er nur 39,4 Prozent der möglichen Punkte erreicht. In den vergangenen Jahren waren seine Ergebnisse noch bescheidener gewesen, beim ersten Versuch vor acht Jahren hatte sein IQ bei 121 gelegen. Ganz offensichtlich hatte seine Familie ein erhebliches Interesse, ihn am Institut einzuschleusen. Er war sicherlich seit Jahren von Privatlehrern unterrichtet worden und hatte die besten Medikamente erhalten, die zur Leistungssteigerung der kognitiven Fähigkeiten auf dem Markt waren. Bell kannte den unnachgiebigen, stolzen Ehrgeiz von Familien aus Qualimba aus persönlicher Erfahrung. Curt hätte mit seinen geistigen Fähigkeiten und insbesondere mit den finanziellen Mitteln seiner Familie überall Karriere machen können. Er war überdurchschnittlich begabt, nur leider nicht gemessen an den Verhältnissen in Bells Institut. Es musste politische Gründe geben, warum er am Institut war. Bell merkte sich, dass er die Sitzung der Kommission für die Festlegung der Zulassungsvoraussetzung dafür nutzen sollte, um Näheres herauszufinden. Irgendwer in der Kommission musste Curt protegieren.

„Verzeihen Sie, Professor. Ich dachte, dies sei ein medizinisches Institut. Es geht doch darum, Medikamente gegen die Geißeln der Menschheit zu entwickeln. Insbesondere gegen die Geißel der depressiven Apathie, die die Menschheit niederstreckt. Es kann hier doch nicht darum gehen, sich schöne Gedanken über den Willen des Universums zu machen. Ihre Ausführungen klingen ja fast so, als wäre die beste Medizin, dass wir uns an den Händen fassen und das Universum darum bitten, doch ein bisschen lieber zu uns zu sein. In meiner Familie und meinem Freundeskreis sind eine Reihe von Leuten nur noch ein Schatten ihrer selbst, apathisch, emotions- und antriebslos verbringen sie ihr Leben im Bett. Obgleich sie früher Beachtliches geleistet haben. Dagegen müssen wir doch endlich etwas unternehmen. Oder nicht?“

Das war eine Ansage an Bell. Niemand außer eines Bürgers aus Qualimba würde sich wohl überhaupt trauen, Bell solche dreisten Worte an den Kopf zu werfen. Insbesondere, weil die Ergebnisse der IQ- und Aufnahme-Tests den Studenten bereits mitgeteilt worden waren. Curt wusste, dass er intellektuell auf wackligen Beinen stand und vielleicht nicht länger als ein paar Monate am Institut verbringen würde. Aber was genau sollte das? Curt wollte ihm auffallen und markierte den Rebellen aus Altruismus. Nicht auszuschließen, dass er wirklich an der Depression seiner Lieben litt und daher auf schnell wirkende Ergebnisse der Institutsforschung pochte. Bell wusste, dass es in Qualimba Leute gab, die ihm unterstellten, er würde lieber mit seinen Instrumenten spielen als etwas Reelles gegen das weltweite Sinken der Arbeitsproduktivität zu unternehmen. Und es gab auch in Qualimba Leute, die von Depression und anderen Erkrankungen gebeutelt waren. Nicht viele, aber es gab sie. In ihrer Selbstherrlichkeit folgerten viele Qualimbaner aus ihrer eigenen Ungeduld, dass Bell nicht konzentriert genug an Lösungen arbeitete. Dabei hatten die meisten von ihnen nicht mal im Ansatz ein Verständnis für die außerordentliche Komplexität der modernen Physik. Curts Augen hatten ihn herausfordernd angefunkelt, sein ganzes Auftreten war das eines Mitglieds der oberen Zehntausend. Allein seine Kleidung hatte vermutlich mehr gekostet als der Bau der Arche, in dem sie sich befanden. Curt erinnerte Bell daran, dass auch er in der ganzen Machtherrlichkeit seines Instituts nicht unverwundbar war. Aber er war es gewohnt, seine Worte diplomatisch zu wählen.

„Vielen Dank für Ihre Anregung, Mr. Lagrange. Bitte setzen Sie sich wieder. Sie haben Recht: Dies ist ein medizinisches Institut. Wir verfolgen das oberste Ziel, kranken Menschen Linderung zu verschaffen. Oder besser noch: Sie zu heilen. Sie werden sicherlich wissen, dass dieses Institut in den vergangenen zwei Dekaden die größte Anzahl von medizinischen Wirkstoffen auf den Markt gebracht hat, die von einer einzelnen Einrichtung in der Welt entwickelt wurden. Und Sie haben auch Recht mit Ihrer Ungeduld: Trotz aller Fortschritte auf dem Gebiet der Medizin, stehen wir insbesondere der weltweiten Zunahme der Depression ziemlich hilflos gegenüber. Genau das ist aber die entscheidende Ursache, warum wir uns mit Grundlagenforschung beschäftigen. Ohne ein tieferes Verständnis für die grundlegenden physiologischen Prozesse können wir keine Medikamente entwickeln. Und die Fragen von Mrs. Magahenga sind insofern von schillernder Brillianz gewesen als sie uns mit den grundlegenden Gewissheiten unserer Wissenschaft konfrontieren: Wir existieren als eine Einheit mit unserer Umgebung. Und gleichwohl sind wir nur Teile in dieser Einheit. Dies ist eine unhintergehbare Voraussetzung aller positiven Erkenntnisse, über die wir verfügen. Es ist eine physiologisch Tatsache. Und daher ist es wichtig, dass wir darüber auch sprechen. Ihre polemische Bemerkung, dass der Weisheit letzter Schluss ja nicht sein könne, dass wir uns an den Händen fassen und zum Universum beten, hat selbstverständlich ihre Wahrheit. Sie werden feststellen, dass hier am Institut hartnäckig und fieberhaft gearbeitet wird und auch sie selbst werden wenig Zeit fürs Händchenhalten haben. Wenn Sie sich aber beispielsweise mit dem Magos-Theorem beschäftigen und all dem, was an diesem Theorem dranhängt, dann könnten Sie mit durchaus guten Gründen, wenn auch selbstverständlich nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit aus guten Gründen, auf den Vorschlag verfallen, dass die Menschheit sich doch einmal die Zeit nehmen sollte, sich an den Händen zu fassen und zum Universum zu beten, vielleicht für etwas so Unspezifisches wie die Ausschüttung von mehr Liebe.“

Curt unterbrach ihn ohne von seinem Sitz aufzustehen: „Magos ist ein Kommunist, der nicht einmal in China ernst genommen wird. Ein Spinner, der glaubt, dass die Menschheit überlebensfähig wäre, wenn niemand sagt, wo es langgeht. Lehren Sie hier Kommunismus, oder was?“

Bell wurde ungehalten. Niemand hatte in seinem Institut vor seinen Studenten das Recht, ihm so über den Mund zu fahren. Aber konnte er es wagen, Curt einfach vom Sicherheitsdienst aus dem Institut werfen zu lassen? Die politischen Konsequenzen waren schwer einzuschätzen. Einen Dämpfer musste er diesem arroganten Zögling aus reichem Haus in jedem Fall verpassen.

„Mr. Lagrange, noch so eine Respektlosigkeit von Ihnen und ich werde den Sicherheitsdienst bitten, Ihnen die Möglichkeit zu geben, Ihren Übermut im Park etwas abzukühlen. Man unterbricht Vortragende nicht einfach. Schon gar nicht mit solch unqualifizierten Bemerkungen. Professor Magos ist alles andere als ein Spinner. Jedenfalls sicherlich nicht mehr als auch jeder andere, der heutzutage ernsthaft forscht. Ich bin ihm mehrfach begegnet. Er ist ein freundlicher und bescheidener Mann, der sich der Forschung verschrieben hat. Seine Forschungen sind sachhaltig, zeugen von einem brillanten Geist und wirken auf alle, die sich ernsthaft damit befassen, höchst inspirierend. Die Entwicklung der neuesten Generation von Screening-Geräten verdankt sich in wesentlichen Punkten seiner Forschung. Das nach ihm benannte Theorem ist mit einer Wahrscheinlichkeit von über 37 Prozent eine wahre Aussage über die Natur unserer Welt. Sie werden in Ihrem Studium feststellen, dass das ein enorm hoher Wert ist, ein einzigartig hoher Wert angesichts der Vagheit all unserer Forschungsergebnisse und insbesondere angesichts der Komplexität der Aussagen dieses Theorems. Wobei: Sie, Mr. Lagrange werden das vielleicht nicht verstehen mit ihrem auf bloße 137 Punkte hochgedopten IQ. Das Magos-Theorem erfordert einen immensen Überblick und große Konzentration.“

Das hatte tatsächlich gesessen. Er konnte sehen, wie Curt Lagrange rot anlief. Gut zu wissen: Er schämte sich offenkundig dafür, dass er nicht die intellektuellen Kapazitäten seiner Kommilitonen hatte. Die Rechtsabteilung des Instituts würde von dieser disziplinierenden Indiskretion Bells allerdings alles andere als begeistert sein. Die Ergebnisse der Tests fielen unter Datenschutzbestimmungen, die es der Familie Lagrange ermöglichen würde, Bell vor ein Gericht zu ziehen und nur wegen dieser kleinen Bemerkung um ein paar oder ein paar mehr Millionen leichter zu machen. Bell aber besaß zu viele Millionen, um diese Rechnung nicht gerne zu begleichen.

„Ihr Kommunisten-Gewäsch ist nicht würdig, kommentiert zu werden. Die sozialphilosophischen und sozialwissenschaftlichen Strömungen, die eine gewisse Nähe zu Professor Magos' Theorem haben, lassen sich mit solch unqualifizierten Bemerkungen nicht einfach vom Tisch wischen. Magos selbst hat immer wieder darauf hingewiesen, dass er überhaupt erst durch die Reaktionen nach der Veröffentlichung seines Theorems damit begonnen hat, sich mit diesen Strömungen zu befassen. Sein Theorem ist rein physikalisch und mathematisch motiviert. Wer es studiert hat, weiß das. Dies hier ist kein historisches Seminar und noch weniger eine Bühne für politische Propaganda. Es geht hier um naturwissenschaftliche Forschung. Ich möchte Sie nun alle bitten, mir die Möglichkeit zu geben, meinen Begrüßungsvortrag in der verbleibenden Zeit abzuschließen.“

Die Geburt eines ersten Zombies

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