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I) Einleitung I 01) Überblick über die neuere Forschung zu Michael Kohlhaas – kritisch beleuchtet in Hinsicht auf die Resultate aus meinem methodischen Ansatz
ОглавлениеDer neueste Forschungsüberblick über die Arbeiten zum Michael Kohlhaas ist der von Bernd Hamacher aus dem Jahre 20032. Anknüpfend an die traditionelle Unterscheidung von Literaturgeschichte und Literatursystematik (Poetik) möchte ich meine Ansicht der Forschung, wie unten begründet wird, etwas anders einteilen als er. Denn ich möchte die Forschung gruppieren nach A) die sich der Poetik verpflichtet fühlende und B) die im weitesten Sinne literarhistorische Richtung. Zu A) gehören Clemens Lugowski, Beda Allemann, und nach ihrer theoretischen Intention auch Helga Gallas und in neuester Zeit Michael Niehaus; zu B) die übrigen Autoren. Die unter A) genannten Autoren werden im Teil A 01 (den Überlegungen zu Kleists Dramaturgie) besprochen, abgesehen von Helga Gallas und Michael Niehaus3, auf deren methodische Überlegungen schon unten bei der Begründung meines Forschungsansatzes Bezug genommen wird.
Hamacher unterteilt seinen Überblick nach 1) einem einleitenden Problemaufriss in: 2) Textkritik und Quellenforschung; 3) Rechtsgeschichte; 4) Naturrecht und Gerechtigkeit; 5) Wertungsfragen: Protagonist, Erzähler und Leser; 6) methodische Neuansätze: Text und Geheimnis; und schließt 7) mit einem Fazit über Kontroversen und Perspektiven ab. Die ganz wertungsfrei vorgestellten Zusammenfassungen Hamachers müssen hier nicht inhaltlich wiederholt werden, sollen aber a) in ihrem Erkenntnisinteresse aus der Sichtweise meiner Arbeit kommentiert, b) um spätere Beiträge und c) Beiträge zu Schwerpunktthemen meiner Arbeit ergänzt werden.
Zu 2) Textkritik und Quellenforschung gehört die Arbeit von Thomas Nehrlich: »Es hat mehr Sinn und Deutung, als du glaubst.« Zu Funktion und Bedeutung typographischer Textmerkmale in Kleists Prosa, Hildesheim 2012. Sie diskutiert zum einen die editorische Problematik veränderter typographischer Gepflogenheiten seit der autorisierten Ausgabe der Kleist’schen Erzählungen 1810/11. Zum anderen widmet sie sich – ebenfalls gründlich historisch differenzierend – ausführlich der Deutung typographischer Merkmale und Besonderheiten der Kleist’schen Verwendung von Druckschrift.
Meine Interpretation stützt sich auf die von Kleist 1810/11 veröffentlichte vollständige Fassung der Erzählung. Ihre sorgfältige Rekonstruktion durch Helmut Sembdner (1977) wurde zugrunde gelegt und mit den neuesten Textausgaben abgeglichen4.
Zu 3) Rechtsgeschichte sind mir keine neuen Beiträge bekannt. Das grundsätzliche Problem bei der Bewertung der Ergebnisse der rechtshistorischen Forschung zu Kleists Erzählung scheint mir zu sein, dass sich das Konstruktionsprinzip des Werkes den historischen Stoff in einer solchen Weise zueignet, dass der ihm zugrunde liegende Weltzustand nicht mit dem des historischen Hans Kohlhase identisch ist.5 Dies ist schon vor längerer Zeit an symptomatischen Anachronismen, etwa der erwähnten Hamburger Bank, nachgewiesen worden. Ganz offensichtlich ging es Kleist nicht um die detailgetreue, ›naturalistische‹ Rekonstruktion eines historischen Falls.6 Statt dessen finden sich durch das Stilisationsprinzip bedingte charakteristische Abänderungen der stofflichen Vorlage – bestehe sie nun in den bekannten Quellentexten von Hafftitz oder in Akteneinsicht7 – hinsichtlich des Handlungsverlaufs, der Personen, von Ort und Zeit und der allgemeinen Bestimmungen des Weltzustandes. Wie in meiner Arbeit am Text gezeigt wird, gehen insbesondere historische Forschungen in Richtung Fehde- oder Widerstandsrecht an den textimmanent vorgebrachten Begründungen der Handlungsmaximen vorbei. Eine Betrachtung der Mythisierung der Kohlhaas-Figur in terroristischem Zusammenhang betrifft eher einen wirkungsästhetischen Aspekt, den hinzuzuziehen und analytisch zu diskutieren mit meiner Arbeit nicht bezweckt wird8.
In neuerer Zeit hat Johannes Süssmann in einem etwas versteckt veröffentlichten Kapitel9 über Michael Kohlhaas im Kontext des »literarischen Problems der Erzählung«10 das Verhältnis der Erzählung zum historischen Stoff herausgearbeitet. »Die historische Zurechnung des Dargestellten macht die Forschung blind für seine immanente Problemstellung. Denn in Kleists Text sind, […], beide Positionen gleich wichtig: die Achtung gebietende Staatsautorität wie das unveräußerliche Recht des Einzelnen. […] es [sind, B. W.] keine historischen Positionen, sondern dialektische.«11 Im Weiteren kann Süssmann nachweisen, dass sich Kleists konstruktiver Umgang mit den stofflichen Elementen nicht nur auf historische Ereignisse, sondern auch auf Personennamen, Ortsnamen und Schauplätze, Motive (etwa aus dem Fundus der Ritterromane) und literarische (Goethes Götz von Berlichingen) oder religiöse (Bibelreminiszenzen) Anspielungen erstreckt. Gerade aber gegenüber der sich zunehmend als quellentreu gebenden Erzählinstanz im Kohlhaas tun sich Widersprüche auf. Der Schein des Historiographischen gehört nach Süssmann zu Kleists »Doppelstrategie«12 als Autor: »Entschlossen, sein Dasein als freier Schriftsteller zu fristen, begibt Kleist sich mit seinen Erzähltexten auf einen verheißungsvollen Markt«13. Er habe dabei nicht den Kompromiss mit dem populären Geschmack an Ritterromanen gescheut. Die Widersprüche verweisen dagegen durch ihre Irritationen auf das eigentliche Erzählproblem: »Nur wer sie wahr- und ernstnimmt, dem zeigen sie sich nicht als Fehler des Autors, sondern als Hinweis darauf, was es mit dem behaupteten Quellenbezug auf sich hat.«14 Warum Kleist seiner Erzählung den Schein des Historischen gibt, obwohl sie doch keine Darstellung von Geschichte ist, beantwortet sich für Süssmann aus den politischen Implikationen der Erzählung. An Jochen Schmidt (2003) kritisch anschließend sieht er sie zunächst in reformfördernden Identifikationsangeboten angesichts der Irritationen durch die Französische Revolution: »Immer häufiger, immer bewusster geschah dies durch Appelle an eine landschaftlich, politisch und eben auch historisch, vor allem historisch bestimmte Identität. […]. So, will es scheinen, können Rebellionen aufgefangen werden. Von einer klugen Obrigkeit fruchtbar gemacht für Reformen, werden sie zum Motor der historischen Entwicklung.«15 Mit einer seltsamen Inkonsequenz geht Süssmann über Schmidt hinaus, denn »zu paradox erweist sich bei genauem Hinsehen das Beispiel, zu zweifelhaft eine Selbstüberwindung, die die übrig gebliebenen Rachewünsche erst richtig auszuagieren gestattet, zu fragwürdig eine Versöhnung, die Kohlhaas mit dem Leben bezahlt«16. Doch ausgerechnet, »dass ein Staat ihn ›als Unterthan reclamir[t]‹ (228), um […] ihn ernsthaft zur Rechenschaft zu ziehen, das wendet das Geschehen unverhofft in die Utopie. […]. Gemeint ist das Preußen nach den Reformen. Das ist die politische Dimension der Erzählung. Wie dieses Preußen aussehen soll, hält Kleist ihm im Michael Kohlhaas vor.«17 – Die Zweifel am Verhältnis von Konflikt und Versöhnung nimmt meine Dissertation ernster als Süssmann. Darum gewinnt auch der Kant’sche Begriff des ethischen Gemeinwesens als Bestimmung des Geschichtsziels gegen die Perspektiven der historischen Reformpolitik für sie an Bedeutung. Süssmann relativiert damit historisch seine eigene Interpretationsdimension: »Schließlich ist auch Kleists Gegenstand kein historischer, sondern aktuell, solange Staaten beanspruchen, die Konflikte ihrer Mitglieder auf dem Rechtsweg zu schlichten, solange sie ihre Mitglieder zwingen, auf Selbsthilfe zu verzichten, solange sie ihnen abverlangen, ihre Rechtsansprüche auf staatliche Organe zu übertragen, die dafür ein Gewaltmonopol reklamieren.«18
In die historische ökonomische Dimension der Kohlhaas-Erzählung versuchen zwei Autorinnen in der Aufsatzsammlung von Christine Künzel / Bernd Hamacher: Tauschen und Täuschen. Kleist und (die) Ökonomie, (Frkf./M. 2013) in neuester Zeit Licht zu bringen. In dem Buch finden sich unter der Rubrik: »Beiträge zu zeitgenössischen ökonomischen Diskursen« zwei Aufsätze, die die Titelfigur des Michael Kohlhaas unter ökonomischem Aspekt durchleuchten. Gemeint sind mit diesem von Bernd Hamacher als bisher vernachlässigt bedauerten Aspekt aber nicht marxistische Textinterpretationen.
Sabine Biebl stellt in ihrem Aufsatz: Für eine »bessere Ordnung der Dinge«. Eigentumsverhältnisse in Kleists Michael Kohlhaas,19 fußend auf Jochen Schmidt u. a., Kleists Erzählung in den Kontext der Stein-Hardenberg’schen Reformen, die sich um eine gesetzliche Verankerung der Liberalisierung des bürgerlichen Eigentums bemühten. Auf dieser Zielgerade des bürgerlichen Weltgeistes findet Biebl den Protagonisten: »In der Hauptfigur Michael Kohlhaas haben wir es zweifellos mit einem homo oeconomicus zu tun, der als Verfechter der Freiheit des Eigentums auftritt.«20 Dann zeigt sie, dass Kohlhaas in der Exposition der Erzählung im Sinne des Eigentumsrechts stimmig handelt. Aus dem Verkauf von Haus und Hof zieht sie den Schluss, dass Kohlhaas »seinen Status als Eigentümer und Wirtschaftender aufgibt«, sich in »naturzuständliche Besitzverhältnisse« begibt und sich als »Anführer einer Bande […] durch Plünderungen Zugriff auf Ressourcen verschafft«.21 Dadurch erfahre »jenes grundsätzliche Problem des Abhängigkeitsverhältnisses von Freiheit und Eigentum als Entfaltungsbereich und Garant der menschlichen Freiheit, […], seine äußerste Zuspitzung.«22 Nur der Rechtsspruch bezüglich der Pferde restituiere Kohlhaas’ »Personsein, sein Menschsein«23, da er »Kohlhaas also in der existenziellen Dimension des Eigentums seine menschliche Freiheit wiedergibt«.24
Am Verweis auf den Text, der referiert, Kohlhaas nenne sich nach dem Verkauf seiner Güter in seinem Manifest »›einen Reichs- und Weltfreien, Gott allein unterworfenen Herrn‹« (II, 36) zeigt sich der Mangel der Biebl’schen Fokussierung auf das Verhältnis von Recht, Freiheit und Eigentum. Ihre Analyse fällt hinter die Diskussion um den Gesellschaftsvertrag zurück und vermag das problematische Verhältnis von Recht und Moral nicht in den Blick zu nehmen. Indiz dafür ist, dass ihr das Wort »Rechtgefühl« nichts als ein »paradoxes Kompositum«25 zu sein dünkt. Zweifel am Kriterium der Tauschäquivalenz melden sich bei Biebl in der Betrachtung des Endes der Erzählung: »Aber im Exzess der Genugtuungen, der am Ende losbricht, stellt sich die Frage nach dem Eigentum noch einmal neu. Denn hier wird das ›Leben‹ endgültig zur allgemeinen Währung der Wiedergutmachung: […].«26
Christine Künzel nimmt sich in ihrem Aufsatz: Der Rächenfehler der Kaufleute. Anmerkungen zu Michael Kohlhaas und Der Findling27 der Frage an: »Wie kommt es, dass es ausgerechnet Kaufleute sind, die in der Literatur immer wieder exzessiv der Rache frönen?«28 Die Auflösung des Problems von kaltem, ökonomischem Kalkül und heißer Leidenschaft der Rache findet sie auf drei Ebenen: a) in der Etymologie, die eine Verbindung zwischen »rächen« und »rechnen« nahelege; b) in Rache als »Abrechnung« oder »Vergeltung«, so dass folgt: »Rache erscheint hier also gewissermaßen als eine Fortführung kaufmännischen Denkens und Handelns mit anderen Mitteln«29; sowie c) darin, dass sich das Verwerfliche der Rache und Anerkennenswerte des Geschäftssinns in der traditionellen Vorstellung vom Kaufmann finde, da sie die Entgegensetzung von Ehrbarkeit und Tugend sowie amoralischer Monstrosität vereint enthalte.30
Detaillierter noch als Biebl – und dabei die Motive des »Pferdehändlers« und der »Rappen« ökonomisch ausdeutend – zeigt auch Künzel zunächst, dass sich Kohlhaas in der Exposition auf der Tronkenburg ganz als Kaufmann verhält. Im Sprung zur Lutherszene verweist sie eingangs auf die Position des historischen Luther, »die Kaufleute und Edelleute bzw. Ritter gleichermaßen als ›Räuber‹ betrachtet.«31 In dem Disput zwischen Luther und Kohlhaas würden zwei verschiedene Rechnungen aufgemacht. Dabei stellt sich Künzel auf die Seite des historischen Luther: »In der Bilanz, die Kohlhaas aufstellt, findet eben jene fatale Verdoppelung der (doppelten) Buchführung statt, die für die Kleist’schen Kaufleute charakteristisch ist: Hier werden nicht allein ökonomische Schulden mit moralischer Schuld vermengt, sondern es findet […] eine Überschreitung jener Grenze zwischen den beiden Reichen statt, für die sich Martin Luther so vehement eingesetzt hatte.«32 Abschließend aber hält sie fest, dass sich Kohlhaasens kaufmännisches Kalkül im Geschäft der Rache langfristig, weil auf seine Erben berechnet, »– sofern man vom Tod Kohlhaas’ absieht – auszuzahlen« »scheint«.33
Chr. Künzel hat gezeigt, dass man durch Fundierung der Interpretation mit dem Begriff des Kaufmanns einen identischen Begriff eines Sozialcharakters als identische Basis entgegengesetzter Bestimmungen zu Grunde legen kann, der den in der Erzählung dargestellten Prozess zu dessen Bebilderung oder tautologischen Bestätigung macht.
Zu 4) Naturrecht und Gerechtigkeit
Als Problemaufriss und Exponierung der Herangehensweise meiner Arbeit sei hier einleitend der Aufsatz von Joachim Rückert von 1988/8934 diskutiert, der den mir als zuverlässigsten erscheinenden Überblick über die Rechts- und rechtsphilosophische Geschichte um 1800 gibt. Gerade in der Frage des persönlichen Widerstandsrechts auf dem Hintergrund des damals allgemein bekannten Gedankens vom Gesellschaftsvertrag stellt er zwei gegensätzliche Strömungen heraus: die der prinzipiellen Ablehnung und die der bedingungs- und ausnahmsweisen, geregelten Zulassung eines Widerstandes gegen den Staat. Die Seite der Ablehnung bezieht ihre Berechtigung aus dem allgemeinen praktischen Prinzip, also dem Recht als dem gegenüber allen Einzelnen verselbständigten Allgemeinen, und lädt die Kosten seiner ausnahmsweisen Fehlbarkeit dem Einzelnen auf (der zu dulden habe); die andere Seite bekennt sich zum Einzelnen und begründet aus seiner Pflicht gegen sich selbst, die ihm Aufopferung verbietet, ein Recht auf Gewalt gegen die Angriffe gegen seine Rechte. Eine biographisch und rechtsgeschichtlich angelegte Interpretation versucht nun, unter Auffindung eines Gewährsmannes, eine Theorie zu finden (bei Rückert sind dies die Schriften von Ludwig Heinrich Jakob), die es ermöglicht, das Handeln des Protagonisten des Kohlhaas mit rechtsphilosophischen Theorien als in Übereinstimmung befindlich zu erklären. Dies ist im ersten Schritt sinnvoll, insofern es dazu helfen kann, die konsequente Durchgestaltung des Textes nach seinem idealischen Geist verständlich zu machen. Doch hat es zwei Grenzen: a) die eine ist die, wo der Text vermöge der Wechselwirkung zwischen geistiger Form und Stoff aus den Schranken der Rechtsphilosophie ausbricht und das Verhältnis zur Moral thematisiert. Rückert hat diese Grenzüberschreitung sehr sorgfältig an der Begriffsgeschichte des »Rechtgefühls« als eines moralischen Gefühls nachgewiesen35. Und b) darin, dass es sich bei dem rechtsphilosophischen Problem um eine Antinomie handelt36, die innerrechtlich nicht zu lösen ist und die ihren Grund in der Unmöglichkeit hat, Recht als Erweiterung der Moral zu begründen. Eben diese Antinomie und ihr Grund werden in der Erzählung Kleists ästhetisch entwickelt. Zu ihrer theoretischen Darstellung als Grundlage der Interpretation ist es notwendig, nicht einzelne historische Positionen zu referieren, sondern das Verhältnis von Recht und Moral an dem dafür sachlich einschlägigen, zudem das Denken seiner Zeit zusammenfassenden Text, Kants Metaphysik der Sitten, zu diskutieren, wie es in dieser Arbeit im Kap. A.03 geleistet wird.
Hans Richard Brittnacher äußert sich in seinem Aufsatz Das ›Rechtgefühl einer Goldwaage‹ oder: Kohlhaas läuft Amok37 zur Frage der Gerechtigkeit, ausgehend von der »Kombination der Superlative von ›rechtschaffen‹ und ›entsetzlich‹.«38 Brittnacher diskutiert das Verhältnis von Rechtsverletzung und Rache und konstatiert pazifistisch: »Aber dem Skandalon des ›zugleich‹, wie es die Lektüreanweisung des Erzählanfangs insinuiert, ist keine dieser Lektüren gewachsen, unterstellen sie doch, dass die Novelle sich zuletzt, […], auf eine Seite der Gewalt schlage – sei es die persönlich verständliche, aber nicht rechtsförmige, sei es die staatlich legitimierte, aber ungerechte.«39 Nun sieht Brittnacher, dass die Erzählung selbst Partei nimmt: »Wie man es auch drehen und wenden mag – bei allem Für und Wider scheint die Erzählung doch ja zu sagen zu der Grandiosität des Kohlhaas und zum Exzess seiner Rache.«40 So vorsichtig dieser Befund bei Brittnacher formuliert ist, geht er doch mit meiner Deutung konform. Doch dann nimmt seine Interpretation eine überraschende Wendung, denn die Lösung dieser parteilichen Schieflage sieht Brittnacher im Amoklauf. »Wenn aber die Macht blind ist, dann kann auch die Rache derer, die aufbegehren, nicht präzise gerichtet sein. […]. Die Selbstermächtigung zum Racheengel und zum Souverän einer provisorischen Weltregierung ist die Metapher für die Pathologie eines Helden, den die Anomie der Verhältnisse zu einem unberechenbaren Täter werden lässt, der rot sieht: Kohlhaas läuft Amok.«41 Überraschend ist an der These vom Amoklauf, dass die von Brittnacher selbst aufgeführten Merkmale einer solchen Tat, insbesondere Einzeltäterschaft und Wahllosigkeit, auf Kohlhaasens zielgerichteten, bewussten und gut organisierten Rachekrieg ganz und gar nicht zutreffen. Von einem Fortschritt der Forschung kann nicht gesprochen werden, weil, abgesehen vom Text, schon 1984 Horst Sendler in seiner Kritik einer These von Günter Blöcker (1960) die Rede vom »Amokläufer des Rechts«42 begründet abgewiesen hat. Bei Brittnacher wird die Kohlhaas-Erzählung zur Warnung an moderne Gesellschaften: »Auch in dieser Hinsicht (der Reaktion von aufgebrachten Menschenmassen, B. W.) deutet sich im Amoklauf des Michael Kohlhaas ein bis dahin unbekannt gebliebenes, spezifisch modernes Risiko an, die Drohung einer neuen Form von Gewalt, die am Ende der Erzählung in Zucht genommen wird.«43
Da Hamacher unter 4) auch die Kontroverse um Luther abhandelt, so ist hier der Beitrag von Claus-Dieter Osthövener: ›Die Kraft beschwichtigender Worte‹44 zu erwähnen. Osthövener bemüht sich, insbesondere in der Kritik der Luther-Darstellung bei Jochen Schmidt, die beschwichtigende Rolle Luthers auf der Grundlage von dessen seelsorgerischem Religionsverständnis herauszustellen. »Denkt man sich (aus Luthers Plakat im Kohlhaas, B. W.) die heftigen Kraftausdrücke einmal hinweg und ermäßigt die eschatologische Temperatur, dann ist das Plakat nicht mehr gar so weit von dem ruhig ermahnenden Seelsorgerschreiben Luthers an den historischen Kohlhase entfernt.«45 Hierbei wird auch das Motiv des Abendmahls erläutert: »Tatsächlich bildet das Abendmahl auch eine der vielen durchgehenden Linien der Erzählung, indem es zu Beginn, in der Mitte und am Ende aufscheint«46. Osthövener macht sich die Zwei-Welten-Lehre Luthers zu eigen: »Kohlhaas ist nicht zuletzt darin ein Komplement zu Luther, dass er eine für die Religion charakteristische Unbedingtheit nun auch in rechtlicher Hinsicht vertritt und dass er eben darum scheitert, weil die Sphäre des Rechts derlei Unbedingtheiten nicht verträgt«47 und gewinnt daraus das Bild eines beschwichtigenden Luthers: »Ähnlich wie in der Begegnung mit Kleists Kohlhaas hat Luther seine Widersacher, die sich prophetische Kräfte zumaßen und himmlisches Licht in sich spürten, als satanische Kräfte gebrandmarkt. Ihm ging es tatsächlich um einen Endkampf des Göttlichen gegen das Satanische, und darin hat Kleists Stilisierung des Kohlhaas etwas Treffendes an das Licht gestellt, […].«48 – Gegenüber dieser polaren Gut/Böse-Dichotomie kommt meine Arbeit, eher auf Seiten Jochen Schmidts49 stehend, zu einer differenzierteren Einschätzung der Rolle Luthers in der Erzählung. Osthöveners emphatische Loyalität gegenüber Luther lässt ihn noch nicht einmal die Verlogenheit in der Diplomatie Luthers thematisieren, der z. B. gegenüber Kohlhaas den Vorwurf erhebt, er habe sich bloß leichtfertig (II, 45) um den Rechtsweg bemüht, zugleich aber weiß, dass es allgemein bekannt war, dass die im Kurfürstentum zweitmächtigsten Herren Hinz und Kunz von Tronka die Klage unterschlagen hatten (II, 49). Luthers – weihevoll mit theologisch imaginiertem Urteil vor dem Jüngsten Gericht – aufgestellte Behauptung, der Kurfürst wisse nichts von Kohlhaas’ Angelegenheit, (»Und muß ich dir sagen, Gottvergessener, daß deine Obrigkeit von deiner Sache nichts weiß – was sag ich? daß der Landesherr, gegen den du dich auflehnst, auch deinen Namen nicht kennt, dergestalt, daß wenn dereinst du vor Gottes Thron trittst, in der Meinung, ihn anzuklagen, er, heiteren Antlitzes, wird sprechen können: diesem Mann, Herr, tat ich kein Unrecht, denn sein Dasein ist meiner Seele fremd?« [II, 45]) beruht zumindest auf grob fahrlässiger Sachfremdheit, denn der Erzähler berichtet: »Der Kurfürst, durch einen Eilboten, von der Not, in welcher sich die Stadt Leipzig befand, benachrichtigt, erklärte, daß er bereits einen Heerhaufen von zweitausend Mann zusammenzöge, und sich selbst an dessen Spitze setzen würde, um den Kohlhaas zu fangen. Er erteilte dem Herrn Otto von Gorgas einen schweren Verweis, wegen der zweideutigen und unüberlegten List, die er angewendet, um des Mordbrenners aus der Gegend von Wittenberg loszuwerden; […]« (II, 43 f.), um dann zusammenzufassen: »Unter diesen Umständen übernahm der Doktor Martin Luther das Geschäft, […].« (II, 44) Sollte diese damals dort höchste theologisch-moralische Instanz von den Umständen, unter denen sie dieses Geschäft übernahm, so wenig gewusst, sich so einseitig informiert, und sich doch so seelsorgerisch weitreichend in ihr engagiert haben können, ohne dass dabei Zweifel an ihrer Integrität aufkommen müssen?50
Unter 5) Wertungsfragen: Protagonist, Erzähler und Leser lässt sich der kleine Aufsatz von Karl Philipp Ellerbrock mit dem Titel Wasser und Eloquenz51 einordnen, der sich mit dem Motiv des Wasserausschüttens in der Abdeckerszene befasst und darin wird feststellt: »Entscheidend ist jedoch, dass in der Abdeckerszene Geste und Handlung zuletzt über das gesprochene Wort triumphieren.«52 Wie Ellerbrock motivgeschichtlich nachzeichnet, eröffnet die Geste des Abdeckers »einen Deutungshorizont für das Geschehen, indem sie alle Rede verwirft und eine Rückkehr in das alltägliche Leben vorstellbar macht.«53 Die detaillierte Analyse der Abdeckerszene in meiner Arbeit kommt zu anderen, nicht so optimistischen Resultaten.
Ganz allgemein ist aus der Sicht meines Forschungsansatzes zu den Wertungsfragen, die in fast alle Beiträge zum Kohlhaas hineinreichen, Folgendes zu sagen: Es ist das hermeneutische Anliegen dieser Dissertationsschrift aufzuzeigen, dass die Beurteilung des Handelns des Protagonisten, dessen Bedingungen und Maximen in Kleists Text immer wieder selbst reflektiert werden, nicht aus der Gesamtbetrachtung des ästhetischen Verlaufs der Handlung abgelöst werden kann, sondern als Moment dieses Handlungsverlaufes und seiner Formbestimmungen betrachtet werden muss. Die Isolation einzelner Extremhandlungen oder die Identifikation eines bestimmenden Charakterzuges (etwa die vielerwähnte Rachsucht) erscheinen dem hier angewandten Verfahren gegenüber – selbst wenn sie partiell zutreffen – als verkürzende Personalisierungen.
Zur Problematik der Gewalt und des Erhabenen:
In Iris Dennelers Aufsatz: Kleists Bankrotterklärung des Erhabenen54 ist, nach der aus der Rhetorik stammenden engen Definition, das Erhabene im Wesentlichen identisch mit dem Heroischen und Dramatischen. Die sog. Bankrotterklärung wird aber, auf die Schiller- und Kant’sche Bestimmung des Erhabenen zielend, über eine angebliche Destruktion der »Allianz von Ordnung, Sittlichkeit und Vernunft durch die Aufklärung«55 begründet und mündet in einem blinden Opferwillen: »Auch der Leser kann angesichts der ständig wechselnden Erzählperspektiven keinen souveränen Standpunkt mehr gewinnen, sondern muss blind für die Werte- und Normenangebote des Erzählers ›in Grund und Boden‹ gehen.«56 Kleists Sprache ist Iris Denneler Beleg sowohl für einen zugleich das eigentliche »Begehren« verdeckenden Ausbruch in Gewalttätigkeit als auch für Kleists »Kriegserklärung gegen die Gesellschaft«57 und eben gegen das bürgerliche Vertrauen in das Erhabene als ästhetische Aufrufung der Vernunftideen. »Kleists Stil ist in seiner Monstrosität außergewöhnlich. Grauenhafte Szenen korrespondieren mit einer Gewalttätigkeit im Satzbau und in der Wortwahl, die geradezu von einer Vergewaltigung des syntaktischen und morphologischen Bestandes sprechen läßt: Sperrungen, Schachtelsätze und wie auf einer Folterbank gedehnte Perioden sind Kennzeichen der gewaltigen und gewalttätigen Sprache Kleists. Das Konkrete ist weniger die so paradoxe und undurchschaubare Realität, als die Körperlichkeit der Sprache, die sich in extremer Detailtreue, in voluminösen Sätzen, in einer Ästhetik der Intensität Luft verschafft. Kleists Sprache – eine Rhetorik des Terrors. Der Dichter, so erkannte Karl Heinz Bohrer, war weniger ›am moralischen Gehalt von Emotionen interessiert, sondern an ihrem sozusagen energetischen Ablauf überhaupt‹.«58 Um diese sprachliche Mordlust glaubwürdig zu machen, musste sich der Künstler zum Beweis selbst gewaltsam zu Tode bringen: »Seine rhetorische Gewalt zerstörte und legitimierte sich im Akt der Selbstexekution, der letzten, möglichen Form der Heroik des modernen Subjekts. Der Autor Kleist führte vor, was seine Leser nicht verstehen wollten, nämlich die Kunst ›sich aufzuopfern, ganz für das, was man liebt, in Grund und Boden zu gehen‹«59. Hätte Denneler Recht, so hätte schon Goethe mit seiner Einschätzung der Kleist’schen Werke richtig gelegen. Dennelers Gesellschaftskritik ist angesichts ihrer undialektischen Vernunftkritik politisch fragwürdig. Und problematisch ist ebenfalls ihr interpretatorischer Umgang mit Kleists Sprache. Denn die Isolation der Sprache und der von Kleist verwendeten Mittel gegen das durch sie ästhetisch zum Ausdruck Gebrachte trifft die methodische Entscheidung, die sprachlichen Mittel eines Kunstwerkes seien gegenüber dem Darzustellenden beliebig oder austauschbar und ihre Verwendung beruhe auf einer dezisionistischen Wahlfreiheit des Autors. Kleist habe also, so wird unterstellt, die Freiheit gehabt, dem Gewaltsamen, das er zu charakterisieren versuchte, auch auf sprachlich sanfte, harmonische und glattere Weise Ausdruck verleihen können, ohne den Sachverhalt zu verklären oder eben die jeweilige Bedeutung der Gewaltausübung, die es ihm herauszuarbeiten ging, zu verfälschen. Dennelers Auffassung wird von der Saussure’schen Sprachtheorie mit ihrer These von der Arbitrarität der Zeichen nahegelegt. Gälte diese Theorie unumschränkt, dann schlösse dies die Möglichkeit sprachlicher Kunst aus, da Sprachkunstwerke, deren Material die Sprache ist, dann nicht mehr mimetisch sein könnten. Denn Mimesis verlangt, dass das Material zum Sprechen gebracht werden kann, m. a. W., dass das Material Ausdrucksträger des Gehaltes wird, der, wie Adorno sagt, als Geistiges, an seinen »Ort im Phänomen«60 gebunden ist. Mit dem Hinweis auf das Übersetzungsproblem von Sprachkunstwerken in eine andere Sprache lässt sich wohl am leichtesten demonstrieren, dass die Zeichen des Bezeichneten in Kunstwerken nicht einfach arbiträr sind, denn dann wäre ihre Übertragung ein fast mechanisches Unterfangen.
Es verhält sich nicht viel anders als bei den Wertungsfragen, wenn die Sprache aus Textpassagen als Kleists Individualstil identifiziert oder als eine Art zeitbedingte Espéce isoliert wird, anstatt sie sowohl als spezifischen kontextuellen Ausdrucksgehalt zu analysieren als auch sie im Zusammenhang des Werkganzen in Beziehung auf das Erhabene bei Kleist zu setzen. Träte nämlich der Autor in der Bemühung um den Ausdruck der Sache ganz hinter diese zurück oder ginge seine Persönlichkeit ganz in ihr auf, dann wäre ganz unabhängig von der persönlichen psychischen Struktur des Autors oder seiner wie immer auch gearteten Weltsicht, nach der aktuell für das kritische Selbstbewusstsein aussagekräftigen ästhetischen Wahrheit seiner Werke und der als deren Moment in ihnen gestalteten gewaltsamen Szenen zu fragen. Löst man aber, wie Denneler, die Sprache von ihrer Verschränkung mit dem Gehalt los, dann ist eine in ihren gewöhnlichen Regeln gebrochen und also gewaltsam verwendete Sprache, die dadurch zum mimetischen Ausdruck des in ihr Gestalteten wird (so wie bei Kleist, vgl. meine Analyse von Herses Verhör im Kapitel B 05), nicht von einer Sprachverwendung zu unterscheiden, bei der sich die Deformation des Sprachleibes mit dem Ausdruck tatsächlich nicht mehr verträgt, sondern sich willkürlich verselbständigt.
Folgt man Denneler und geht es in poetischen Werken nicht mehr um die Angemessenheit der Sprache an den jeweiligen Sachverhalt61, also hier das Wie der Kleist’schen Sachlichkeit62, dann wird der Möglichkeit nach die Gewaltsamkeit eines Sachverhaltes, den sie angemessen in Worte zu fassen versucht, zu ihrer Schuld, denn sie hätte ihn ja auch mit ganz gegenteiligen, also gewaltlosen Sprachformen zur Darstellung bringen können. Damit wird implizit der ästhetischen Sprache vorgeworfen, dass sie nicht verklärt. Dennelers Charakterisierung der gewaltsamen Sprache gehorcht dann einem Schema von Anpassung, denn eine Sprache, die durch Monstrositäten nach dem Ausdruck des Ungeheuerlichen trachtet, erinnert mimetisch an Missstände, und nach dem Schema von Identifikation und Projektion wird, wer an Missstände erinnert, persönlich für sie verantwortlich gemacht und/oder als Defätist beschimpft. Weil er den kollektiven falschen Schein durchschlägt, gilt er als Verursacher des Übels, dem er jedoch nur den richtigen Namen gibt, d. h. ihn in passende Sprache setzt. Damit wird dann nicht nur das Leiden, sondern selbst noch sein sprachlicher Ausdruck verdrängt. An der disziplinierenden Struktur dieser Argumentationsweise ändert gewiss auch nichts, dass Denneler anscheinend die von ihr analysierte Gewaltsamkeit als Kritik bürgerlicher Vernunft gutheißt.
Ebenso anregend wie irreführend ist im Kontext dieser Gewaltproblematik der auch von Denneler zitierte Aufsatz von K.-H. Bohrer Stil ist frappierend. Über Gewalt als ästhetisches Verfahren.63 Anregend ist sein Bemühen, die Frage literarischer Gewaltdarstellung aus dem Bann plumper Stofflichkeit zu befreien; irreführend, dass sein begriffliches Instrumentarium es ihm ermöglicht, die poetische Gewaltdarstellung grundsätzlich als partielles Formelement gegen den Handlungsverlauf zu isolieren. So kommt er zu einem Begriff der »Gewaltphantasien«, der changiert zwischen poetisch-künstlerischer Stilisation und realer Gewalt. Aus zwei Argumenten gewinnt Bohrer seine These: a) zum einen sei jedes Kunstwerk gewalttätig durch seine formbedingte Selektion, so dass sich »hier eine spezifische Formentscheidung oder spezifische Redeform vom prallen Leben selbst gewissermaßen abschneidet.«64 b) Ein in seiner Wirksamkeit auf den Rezipienten metaphorisch als »frappierend« (zustoßend) bezeichneter Stil, der »etwas mit einer Pointe, also mit einer Spitze zu tun hat«65, sei seinem rhetorischen Modus nach gewaltsam. Der »Präsenscharakter literarischer Phantasie«66 sei aggressiv.
An a) ist nicht die Einsicht selbst, sondern ihre undialektische Verkürzung zu kritisieren, die gerade an Bohrers Beleg deutlich wird: »[…], dass in diesem buchstäblichen Abschneiden [dies ist eine unzulässig suggestive Entmetaphorisierung, B. W.] vom Ganzen eine Vereinzelung, ja Verletzung gegenüber dem Ganzen auftritt, die es in der normalen Rede oder konventionell wissenschaftlichen Rede nicht oder nur selten gibt.«67 Normale Rede hat es mit isolierten Fakten zu tun und Einzelwissenschaften kümmern sich in der Regel auch nicht um das Ganze. Dagegen ist es gerade die Fähigkeit und Aufgabe der Kunst, das gesellschaftliche Ganze am Einzelnen durchscheinen zu lassen, wie es in meiner Kohlhaas-Interpretation extrapoliert wird. Kunst arbeitet mit Verdichtung, Intensivierung und Konzentration, gegen die sich die Rede vom »prallen Leben« als Euphemismus ausnimmt. Dass bei Baudelaire das pralle Leben als Ennui (Langeweile) erkannt, diesem die künstlichen Paradiese gegenübergestellt und zugleich als Lüge durchschaut werden, macht die Dialektik aus, auf deren Grundlage das poetische Subjekt auf die Selbstzerfleischung im Medium seiner künstlerischen Imagination reflektiert. Kafka, auf den sich Bohrer als zweiten Belegautor bezieht, schließt an Baudelaire an und auf ihn wäre Bohrers Analyse zutreffend, löste er nicht irrationalistisch die von Kafka als einem bewussten Künstler durchdachte parabolische Leistung ästhetischer Selbstreflexion vom »künstlerischen Ich« ab und spräche dagegen von »einer Idee vom kreativen Prozess. Der aber ist als ein unbewusster Vorgang aufgefasst, nicht integrierbar in die humanitäre Diskursidee des Künstlers«68. Bohrers These gilt aber schon gar nicht für Kleist, bei dem die Ohnmacht des Subjekts und die der Kunst noch über die Handlung reflektiert werden, zu deren Ausdruck die Sprache noch ganz dient. Dass dem Kleist’schen Ausdruck als Moment des Erhabenen ein Gewaltsames eignet, ist unbestritten, aber als Privatisierung der, wie sich Th. Mann äußerte, »dramatische[n] Ur-Erschütterung«69 muss es gelten, wenn Bohrer hier einzig einen infantil anmutenden Stilwillen des Weh-tuns als Selbstzweck entdecken will: »Man gewinnt an solchen zentralen Stellen den Eindruck, dass nicht nur der Held dem Widersacher ›weh-tun‹ will mit nachhaltiger Grausamkeit, sondern dass dies weh tun Wollen das Ausdrucksgesetz von Kleists eigenem Stil ist.«70 Weder bei Kleist noch bei Kafka findet sich ein »Stil der Gewalt«, der »immer auf einen in sich selbst enigmatisch-wilden Vorgang bezogen«71 ist, in dem sich von Bohrer zum Selbstzweck erklärte Gewaltphantasien austoben.
Ralf Schnell72 wirft, ausgehend von der kurzen Episode von Kohlhaasens Selbstinszenierung als provisorisch weltregierender Souverän, einen Blick auf die autoritäre Seite am Erhabenen. Denn er entdeckt am Synkretismus der Requisiten, mit denen sich Kohlhaas kostümiert (II, 43 f.), einen Grundzug, der ebenso der faschistischen Inszenierung der totalitären Macht innewohnt. »In den choreographierten Massenveranstaltungen zumal der Reichsparteitage findet der nationalsozialistische Erhabenheitsgestus seine Identität. […]. Im Kontext eines Rituals also, das zahlreiche Mythen zu einem erhabenen Bild ästhetisierter Politik integriert. […]. Der Bezug zur synkretistischen Emblematik des Kohlhaas’schen Erhabenheitsgestus ist evident.«73 Schnell begründet diesen Synkretismus aus »dem Mangel an gewachsenen und verbürgten Traditionen«74 und sieht in »Kohlhaas’ ›Aufzug‹ […] offenbar eine Überbietung der plakatierten Selbstermächtigungsrhetorik.«75 Nicht der Charakterisierung, die Schnell hier gibt, muss in meiner Arbeit widersprochen werden, sondern ihrer Deutung. Wenn man nämlich diesen »Aktionshöhepunkt«76 im Kontext des Formverlaufs betrachtet, dann gewinnt die Bestimmung der »Überbietung« die Ausdruckskraft verzweifelter Selbstüberforderung, die zeigt, dass der Höhepunkt schon in einem prekär werdenden Maß überschritten ist. Was im Faschismus Mittel angekurbelter Manipulation ist, ist im Handlungsverlauf des Michael Kohlhaas Ausdruck des zum Zerreißen angespannten Widerspruchs zwischen dem sich als autonom behauptenden dramatischen Subjekt und der Mittel, deren es sich dabei bedienen muss. Ralf Schnell sieht dies nicht, weil er Kohlhaas kurzweg als sich »rächende[n] Verbrecher«77 bezeichnet, ihm einen von jedem vernünftigen Inhalt befreiten »Willen zur Macht«78 unterstellt, der ihn dann allerdings in die Nähe derer rückt, die »das Prinzip der Herrschaft unmittelbar proklamiert«79 haben. Wenn Schnell in der ästhetischen Dimension seines Aufsatzes den Kohlhaas »zu einem nachkantischen Repräsentanten des Erhabenen«80 erklärt, so nimmt meine Arbeit dazu Stellung, dass sich das Erhabene im Kohlhaas nicht in der Vorwegnahme »signifikante[r] Strukturmerkmale nationalsozialistischer Erhabenheitsszenarien«81 erschöpft. Außerdem bleibt die Frage offen, ob die geschichtsphilosophische Entwicklung des Kant’schen Erhabenen im faschistischen Machtkultus kulminieren muss, wie es Schnells Aufsatz nahelegt. Da er selbst zunächst von der vorkantischen Definition des Erhabenen bei Edmund Burke ausgeht, die den Schrecken und den Schmerz als Quelle des Erhabenen bestimmt und damit als das, »was die stärkste Bewegung hervorbringt, die zu fühlen das Gemüt fähig ist«82, so ist darin wirkungsästhetisch verkürzt das Erhabene, im Kontrast zu Kants Bestimmung83, von jedem Vernunftinhalt abgelöst. Die geschichtsphilosophische Begründung des Untergangs des Kant’schen Erhabenen aus »dem Mangel an gewachsenen und verbürgten Traditionen«84 verkennt, dass sich das Erhabene der antitraditionellen Moderne85 gerade an der Verbrauchtheit der tradierten Formen des harmonistischen Schönen entzündet. Der Übergang in ein Mittel des Herrschaftskultus erscheint aus Schnells Sicht als zwingend: »Das Erhabene vermag sich als ein Kantisch-Erhabenes, als ungebändigte, gefährliche Naturkraft, die auf den Betrachter per se wirkt, nicht länger zu legitimieren. Es besitzt als solche keine hinreichende Evidenz. Deshalb sucht es Stützung und Erweiterung durch eine politische Chiffrensprache, die sich über eine religiös inspirierte Kollektivsymbolik vermittelt.«86 Zwischen der Ästhetisierung der Politik und der genuin ästhetischen Entwicklung des Erhabenen wird bei Schnell nicht mehr explizit unterschieden.
Dem Thema des Erhabenen bei Kleist hat Bernhard Greiner87 ein eigenes Buch gewidmet. Da sein Beitrag im Kapitel A 01-2 Über das Erhabene bei Kleist in meiner Arbeit ausführlich diskutiert wird, soll hier der Hinweis darauf genügen.
In seiner Kohlhaas-Interpretation verschränkt Greiner neben der Parallelisierung der ästhetischen Begriffe Kants mit Elementen des Handlungsverlaufs der Kohlhaas-Erzählung im Wesentlichen zwei Gedanken: a) Kohlhaas’ Bestrebung ist es, zu versuchen, die »Idee ›Recht‹ in die empirische Welt zurückzuholen«88; und b) damit dies gelingen kann, muss sowohl Kohlhaas als auch das Erzählen selbst in die Selbstvernichtung getrieben werden89. Die Bestrebung a) hat zum Ziel, »die Idee ›Recht‹ in die Anschauung zurückzuholen, derart, dass sie im jeweiligen Rechtsakt, auf den jeder Anspruch erheben darf, zur Anschauung gelangt.«90 Damit sei, nach Greiner, der »Brückenschlag« zwischen theoretischer und praktischer Vernunft, zwischen Idee und Empirie gegeben. Die Motivierung durch b) mache es möglich das »Ärgernis«91 der Zigeunerin-Episode »als notwendig«92 zu erklären. Ein Problem dabei sei, dass Kohlhaasens Handeln durch die Umstände bedingt, somit nicht autonom sei. Greiner nennt Kohlhaasens Handeln »die Entsetzung der Entsetzung des Gesetzes«93, eine »doppelt negierende Geste der Verfremdung«94.
Um die Kohlhaas-Handlung mit den ästhetischen Bestimmungen aus Kants Kritik der Urteilskraft analog zu setzen – anstatt sie, wie in meiner Arbeit, an der ästhetischen Form durchzuführen – parallelisiert Greiner das klare Unrecht der Rechtsverweigerung unter dem Namen des Versuchs, »die gegebene empirische Situation unter den Begriff des Rechts (der Rechtsprechung im jeweils gegebenen Fall) zu bringen«95 mit Kants Begriff des Schönen, dessen Gegenstand sich nach Kant nicht unter Verstandesbegriffe subsumieren lässt. Da es nach Greiner aber prinzipiell möglich ist, sowohl die empirische Situation unter einen Rechtsbegriff zu subsumieren, als auch die »Idee ›Recht‹« in die Anschauung »zurückzuholen«96, ist eine Parallelisierung mit den Kant’schen Bestimmungen des Schönen und Erhabenen in dieser Weise unzulässig, da diese beides ausschließen.
Greiner rekonstruiert den Handlungsverlauf zunächst soweit, dass in ihm »der Rechtsfall und der Fall des Rechtsbegehrens, wie die Erzählung diese entwirft, sodann begründet und zum erläuterten Ende bringt, in sich völlig schlüssig behandelt«97 ist. Gleichwohl beruht Greiners argumentative Konstruktion der Begründung der »völlig schlüssig« behandelten Rechtsangelegenheit darauf, dass sich Kohlhaas nicht »im Sinne seiner naturrechtlichen Argumentation auf Fragen struktureller Änderung der Ordnung konzentrierte, durch die die Rechtsverweigerung unmöglich gemacht wird.«98 Statt dessen »kapriziert«99 er sich »auf die Frage zu bewahrheitender Repräsentation der Idee ›Recht‹ in der empirischen Welt.«100 Es ist nun, Greiner folgend, von höchster Relevanz für die Frage der Stimmigkeit der ästhetischen Konstruktion bis zur Zigeunerinepisode, konsequent zu begründen, warum Kohlhaas nicht auf dem insistiert, was den Namen einer vernünftigen Idee des Rechts verdiente, sondern sich letztlich von Luther dazu verführen lässt zu glauben, »dass der jeweilige Kurfürst unangetasteter Repräsentant der Idee ›Recht‹ in der Welt sei.«101 Das später für Greiner so entscheidende ästhetische Opfer wäre also unnötig, wenn Kohlhaas sich nicht ideosynkratisch »kapriziert« und dadurch von Luther hätte zu einer Inkonsequenz verleiten lassen. Der Begriff der »Idee ›Recht‹« wird deshalb bei Greiner ebenso unscharf, wie der der »Versöhnung« (um derentwillen sich das Erzählen selbst negieren müsse) und damit auch die Erfüllung des »Brückenschlags«. Eine auf einer solchen autoritativ vermittelten Inkonsequenz aufgebaute »Versöhnung« ist nun aber ebenso fragwürdig wie das Opfer der Erzählung um ihretwillen.
Das Opfer des Protagonisten und das des Erzählens sind nach Greiner notwendig: »Die Wende der Erzählung in eine Welt magischer Praktiken und unwahrscheinlicher Zufälle restituiert die Rechtsprechung in ihrem rechtserhaltenden Aspekt, indem sie eine Welt eröffnet, in der der falsche Repräsentant der Idee ›Recht‹ vernichtet werden kann.«102 Doch damit »hat die Erzählung vom Selbsthelfer Kohlhaas in diesem Part mit der aus der bisherigen Logik der Handlung herausfallenden Wende in den Zufall gleichfalls zum Selbsthelfertum gegriffen, insofern die Willkür des Erzählers nach Belieben Zufälle stiften kann.«103 Greiner bezeichnet diesen Schritt in die Willkür als »Selbstnegation«104 des Erzählens. »Im paradoxen Rechtsschluss über Kohlhaas wird nicht nur die verworrene Wirklichkeit unter den Begriff des Rechts gebracht, sondern auch die rechtsprechende Instanz in ihrem Vermögen, die Idee ›Recht‹ im jeweiligen Akt der Rechtsprechung zu repräsentieren, neu gekräftigt.«105 Damit wäre der »Gestus der doppelten Negation als ästhetisches Verfahren der Repräsentanz des Ideellen«106 erfüllt. Weil dies aber nur um den Preis der Selbstnegation des Protagonisten und des Erzählens möglich ist, werden diese sodann wiederum dadurch ideell entschädigt, dass »Kohlhaas dabei zum Topos des Selbsthelfers wird«107 und die Erzählung einen »Gegen-›Ort‹« »begründet«108, ein legendäres Jüterbock.
Greiners Deutung bleibt aus der Sicht meines Ansatzes heraus unbefriedigend, weil er sich nicht auf den prozessualen Charakter des Kunstwerks und die spezifischen Wandlungen der Subjektivität des Helden einlässt. Statt dessen muss er zu einer Konstruktion greifen, die vom Text nicht wirklich gedeckt ist (vgl. auch etwa seinen Bezug auf das Rechtsmittel der Fehde). Gerade im Hinblick auf den letzten Teil entgeht ihm die Wandlung zum lyrischen Subjekt und damit ein entscheidender Aspekt in der Frage des Erhabenen: Kohlhaas’ Rache als Manifestation, gesetzt durch ein Subjekt, das nach dem Scheitern seiner dramatischen Intention sich in der bestehenden Welt nicht mehr produktiv entäußern kann. Gerade an dieser Stelle ist gegenüber Greiner anzumerken, dass Kohlhaas nicht als autonomer Wille auf sein Leben verzichtet, um durch seine Hinrichtung das bestehende Recht zu bestärken, sondern im Gegenteil um seiner demonstrativen Rache willen, die allein ihrer Form nach der bürgerlichen Rechtspflege, die Kohlhaas passiv über sich ergehen lässt, gegenüber steht. Soll jedoch nach Greiner das geschwächte »Vermögen der Rechterhaltung«109 durch die Vernichtung des »falschen Repräsentanten der Idee ›Recht‹«110 gestärkt sein, so kann nichts deutlicher gegen die von Greiner behauptete Versöhnung sprechen, als dass diese »Vernichtung« gerade nicht durch die autorisierten und institutionalisierten Rechtsinstanzen vorgenommen wird. Dann kann aber auch folglich »der von Magie und Zufall geprägte Handlungsteil der Kohlhaas-Erzählung«111 gerade nicht die Funktion erfüllen, die Greiner ihm zuspricht, und um deretwillen sich das Erzählen nach Greiners These selbst hatte negieren müssen.
Da die Analyse dramaturgischer Antizipation von Beda Allemann112 in meiner »dramaturgischen Grundlegung« (Teil A 01) erörtert wird, soll hier noch auf die im Jahre 1999 von Anthony Stephens vorgetragene Kritik an Allemann eingegangen werden.
Dabei nun ist es symptomatisch für den formfremden Geist der gegenwärtigen Forschung, dass A. Stephens in seiner Kritik an Beda Allemanns Konzeption der Antizipation deren formbestimmende dramaturgische Bedeutung nahezu völlig ignoriert, sich auf Antizipation als Erzählprinzip konzentriert und statt einer Formanalyse philosophiegeschichtlich »eine bei Allemann fehlende Perspektive auf Kleists Auseinandersetzung mit dem Gedankengut der europäischen Aufklärung als Quelle der Antizipationsthematik« verfolgt, »damit die mannigfaltigen Ambivalenzen, die einigen Beispielen aus den Dramen und Erzählungen innewohnen, in ihrem historischen Kontext verstanden werden können.«113 Könnte ich hier dem Verfahren der »Erschöpfenden Interpretation« des Michael Niehaus folgen, so wäre an Stephens Aufsatz detailliert zu erweisen, dass die, sich als historisch in ihrer Geltung als belegt glaubende, biographisch-geistesgeschichtliche Deutung deshalb am Text vorbeidenkt, weil sie die zum interpretatorischen Aufschließen des Textes nötigen philosophischen Begriffe nicht aus der Logik des Textes selbst entwickelt, sondern sich an äußerlichen Merkmalen der geistigen Biographie des Autors orientiert. Da Stephens außerdem die Verbindung von Leibniz’scher Monadenlehre und erzähltechnischer Antizipation eingeleuchtet hat, wird die frühe theologische Phase Kleists (vor der sog. Kantkrise) mit der Leibniz’schen Monadologie überblendet und zugleich als Bedingung der Möglichkeit von (Allemann’scher) Antizipation unterstellt. Damit ist dann die metaphysische Kontrastfolie geschaffen, vor deren Hintergrund im Weiteren mit Rousseau’schem Gedankengut, dessen Einfluss auf den Autor niemand leugnen kann, ein nachtheologischer Desillusionismus bei Kleist und in seinen Werken nachgewiesen werden soll.
»Weit davon entfernt, durch antizipierende Einschätzungen der Wirklichkeit ›das Schicksal selbst zu leiten‹ (SW II, 310), scheinen die handelnden Figuren in Kleists Dichtungen eher dazu verurteilt zu sein, die im Text selbst inhärenten Muster auf Kosten der Autonomie des eigenen Bewusstseins zu vervollständigen.«114 Die über die Monadenlehre von Leibniz eingeführte metaphysische Totalität geht an Kleists Werken ebenso vorbei wie an dem, was Allemann an Kleist entdeckte. Stephens stellt der falschen Allemann’schen Einseitigkeit der These vom statischen Heldendrama die Seite der Selbstverwirrung als ebenso Einseitiges entgegen, ohne sich auf den dramatischen Verlauf und seine Motiviertheit aus dem Antizipationsmoment einzulassen. Dabei zerrinnt der Bezug auf die literarischen Formbestimmungen, die Allemann bei aller Problematik seiner Analysen, in den Vordergrund rückt, bei Stephens zu einem vagen Spannungsfeld aus erzähltechnischer Antizipation und Bewusstseinszustand der Protagonisten. »Auf diese Weise entsteht in den Dichtungen Kleists eine fundamentale Spannung zwischen Antizipation als literarischem Kunstgriff im Dienste der jeweiligen ästhetischen Einheit einerseits und jenen antizipierenden Bewusstseinszuständen innerhalb der jeweiligen Fiktion andererseits, die ausnahmslos des Gefühls der Sicherheit entbehren, die sich in der vordichterischen Phase daraus ergab, daß das Erkenntnisvermögen des Individuums in der Sinnfülle eines teleologischen Weltmodells gegründet war. Gegen das von Beda Allemann skizzierte ›dramaturgische Modell‹ darf man in diesem Sinne zweierlei einwenden: erstens, daß es diese Spannung unberücksichtigt läßt; zweitens, daß es die Inhalte antizipierender Visionen als nur positiv hinstellt: […].«115 Stephens ausführliche Belege für seine These von der metaphysischen Verunsicherung gehen deshalb am Begriff des »moralischen Wunsches« (Kant) und seiner Erahnung bei Allemann vorbei, weil sie a) von einer falschen Kontrastfolie ausgehen (theologisch-teleologisches Weltmodell nach Leibniz), und b) aus den Phasen der Selbstverwirrung bezogen sind. »Da Beda Allemann die Antizipation bei Kleist nur im Sinne erträumter Erfüllungen auslegt, gelangt er zum Schluss: ›Tatsächlich ist eine Antizipation im Sinne Kleists kaum denkbar ohne eine geradezu göttliche Gewalt, die hinter ihr steht.‹ Aber das Gegenteil ist eher der Fall. Denn ausgerechnet die Loslösung der individuellen Entelechie aus der Abhängigkeit von einer göttlich fundierten Weltordnung ist mit jenem Verlust des Paradieses synonym, den Kleists Dramen und Erzählungen von der Familie Schroffenstein an immer wieder thematisieren.«116 Hätte Stephens, anstatt sich mit Spekulationen über die geistige Biographie am theologisch denkenden jungen Kleist zu orientieren, die in der Sache einschlägige Kant’sche Postulatenlehre aus der Kritik der praktischen Vernunft hinzugezogen, dann wäre ihm der Zusammenhang zwischen moralischem Wunsch und postulierter Gottheit vielleicht deutlich geworden. Aber anstatt dass Stephens der – für den bei Kleist keineswegs einfach ›positiven‹ ästhetischen Schein maßgebliche – dramaturgische Sinn der Antizipation aufgeht, bekommt sie für ihn nur Bedeutung im Sinne einer faden oder lauen Desillusionierung: »Die Ironien und Ambivalenzen, die antizipatorische Erzählungen, Ahnungen und Visionen in den Dichtungen Kleists begleiten, legen nahe, daß das Projizieren der eigenen Wünsche oder Ängste auf die Mitmenschen oder auf das im jeweiligen Text heraufbeschworene Simulakrum einer Weltordnung manchmal an eine tragische Hybris grenzt, wie der emotionelle Gehalt der ›Träume‹ einer Penthesilea oder eines Prinzen von Homburg andeutet. Wieder einmal findet sich bei Rousseau ein mahnender Kommentar zur Gewohnheit des Menschen in der Gesellschaft, sich durch seine antizipierenden Fähigkeiten über die Gegebenheiten seiner realen Situation hinwegzusetzen: […].«117 Anstatt jedoch den Verlust des Paradieses einzubleuen und jede Erinnerung daran – in der sich das Bewusstsein über die positivistische Fesselung an die »Gegebenheiten seiner realen Situation« erhebt – als hybride Wunschprojektion auf unschuldige Mitmenschen zu feiern, stellt Kleist im Marionettentheater-Aufsatz118 dar, dass der Zugang zum Paradies nur durch zweite Reflexion wiederzugewinnen sei. Der Gehalt Kleist’scher Werke ergibt sich aus dem Formverlauf, wohingegen es zu Fehldeutungen führen muss, wenn er aus der Kontrastierung eines absoluten Ideals und den Anschauungen der Protagonisten erschlossen werden soll: »Der Anschein der Hybris wird dann erweckt, wenn das Individuum Ansprüche an seine Umgebung stellt, die eigentlich der Verankerung in einer göttlich verbürgten ›Ordnung der Dinge‹ (SW II, 761) bedürfen, wenn sie nicht zu fatalen ›Mißgriffen‹ im Sinne des Aufsatzes Über das Marionettentheater führen sollen, einer solcher Grundlage jedoch prinzipiell entbehren.«119 Damit das Glück der Menschen nicht gegen hypokride Widerstände und Zumutungen sich behauptend bloß kurzzeitig aufblitzt, dann zu Verwirrungen führt und verwässert wird, bedarf es einer vernünftigen Weltordnung, die bei Kant »ethisches Gemeinwesen« heißt und als aufgeklärte Säkularisierung des Reichs Gottes auf Erden gelten kann (vgl. dazu Teil A 02).
Zur psychologischen und postmodern-strukturalistischen Interpretation; oder zu 6) methodische Neuansätze: Text und Geheimnis:
Aus dem Bereich der psychologischen Interpretationen ist im Jahr 2007 das Buch Modernität und Bewusstsein von Gerhard Oberlin120 erschienen, das sich mit den letzten Erzählungen Kleists beschäftigt und einen ausführlichen Teil über Michael Kohlhaas enthält. Psychologischer Bezugspunkt Oberlins ist dabei nicht primär der Autor Kleist, sondern ein kreativpsychologisch betrachtetes hypothetisches auktoriales Subjekt, denn: »Die kreative Bewusstseinsarbeit des Autors spiegelt sich in der intermediären Tiefendynamik der Werke wider, […]«121, wobei Oberlin »den dazu nötigen Theorierahmen aus der Psychoanalyse bezieht.«122 Er gibt seinem Verfahren den Namen »Intermediäre Hermeneutik«, die den Prozess aufdecken soll, wie »elementare Prozesse der Subjektwerdung [sich] dynamisch abbilden, wie sie im heuristischen Widerstreit von Trieb und Triebhemmung, Lust- und Realitätsprinzip, Regression und Progression Ereignis werden.«123 Ausgehend von der »Tatsache, dass die Geschichte der Unterdrückung nicht ohne Folgen bei den Unterdrückten bleibt und dass deren Widerstand aus einer durch systematische Kränkungen bewirkten Antriebskonstellation kommt, die sie in eine tragische Dynamik der Gewalt und des Idealismus hineinzwingt«124, bestimmt Oberlin das kreative Prinzip der Erzählung Michael Kohlhaas als narzisstische Persönlichkeitsstörung. Deren dynamische Pole sind ein megalomanisch übersteigertes Ideal-Ich mit seinem Rechtgefühl und eine pathogen übersteigerte Verletzbarkeit (Vulnerabilität). »Das aktuelle Maß […] ist die ›erlittene Kränkung‹ (11) durch den Landjunker, das wahre Eichmaß aber, das ahnt der Leser, ist eine tiefe Vulnerabilität, die letztlich die psychische Eskalationsdynamik in Gang setzt.«125 In Kleists Lutherfigur findet Oberlin denjenigen gestaltet, der Kohlhaas durchschaut: »In dieser Szene wird also die Figur (Kohlhaas, B. W.) nicht nur moralisch, juristisch und politisch auf den Prüfstand gestellt, sondern auch psychologisch, indem Luther den narzisstischen ›Wahn‹ in Kohlhaas als wahre Ursache seiner Machtfiktionen und den Furor des Rechtskämpfers als egozentrische Attitüde eines Entehrten entlarvt.«126 Folgerichtig erweisen sich Kohlhaasens Vorstellungen von Recht, – die allein es möglich machen zu bestimmen, »dass ›das Unrecht, das Kohlhaas widerfährt, symptomatisch ist für das allgemeine Unrechtssystem […]‹ (Schmidt 2003, S. 216)«127 – als Derivate einer Persönlichkeitsstörung, was an der Zigeunerin belegt wird: »Elisabeth ist also nicht nur das psychische Derivat von Lisbeth, sondern auch der Ersatz für die väterlich apostrophierte, indes mütterlich archaische Rechts- und Staatsfiktion, an die Kohlhaas sein Ich-Ideal und seine bürgerliche Rollenimago koppelt.«128
Immanent nachgewiesen ist Oberlins Interpretation fragwürdig, weil sie selbst zeigt, dass ihre Voraussetzung nicht gegeben ist. Denn Oberlin muss davon ausgehen, dass eine von früher Kindheit her existierende narzisstische Struktur durch die Ereignisse im 30. Lebensjahr aktiviert wird. Im Text jedoch fehlt für den Nachweis der Existenz eines entsprechenden »Milieus« psychotroper soziokultureller Faktoren129 nicht nur jeder Hinweis130, sondern alles spricht für das Gegenteil. Kohlhaas ist alles andere als ein Mensch, der durch narzisstische Allüren auffällig geworden war, oder ein vor Hass kranker Unterdrückter, sondern »der musterhafte Bürger, der ›sich durch sein Gewerbe ruhig ernährte‹, ist Pferdehändler, […], hält auf ›Arbeitsamkeit‹, ›Gerechtigkeit‹, ›Treue‹, […]«131 etc. Kohlhaasens Übereinstimmung mit den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen könnte, wie seine anfänglichen Vorstellungen in der Exposition des Konflikts belegen, nicht harmonischer sein (vgl. Teil B 03).
Auf den prinzipiellen Mangel aller psychologischen Interpretationen, die Kassierung des Unterschieds zwischen dem vernünftigen Ich und dem psychischen Ich, kann hier nur mit einem zitatweisen Verweis eingegangen werden: »Das Ich fällt als Organisationsform aller seelischen Regungen, als das Identitätsprinzip, welches Individualität überhaupt erst konstituiert, auch in die Psychologie. Aber das ›realitätsprüfende‹ Ich grenzt nicht bloß an ein Nichtpsychologisches, Auswendiges, dem es sich anpasst, sondern konstituiert sich überhaupt durch objektive, dem Immanenzzusammenhang des Seelischen entzogene Momente, die Angemessenheit seiner Urteile an Sachverhalte.«132
Die Kassierung dieses Unterschieds wird noch radikalisiert, wenn in der auf Lacan, Deleuze, Foucault, Derrida etc. fußenden Richtung der postmodern-strukturalistischpsychologischen Literaturanalyse über den totalisierten Begriff des Unbewussten als eines unabschließbaren Fließens eine Vorstellung von einem abstrakten Anarchismus entwickelt wird, der sich gesellschaftskritisch dünkt, weil er blind gegen seine eigenen Voraussetzungen und in undialektischem Furor alles Feste mit Herrschaft oder Macht gleichsetzt, die es aufzulösen oder zu verflüssigen gelte. Dazu als Beleg: »Der Apparat ist ein Versuch, das Fließen des Textes zu unterbrechen, sich zwischen den Text und den Leser zu setzen, und zu bestimmen, wie und wohin der Text fließen soll. (Deleuze 2001a) Die Kodierung des Fließens ist eine grundlegende Operation jeder Gesellschaft, und jeder, der sich der Gesellschaft als nicht kodierbares Fließen präsentiert, wird von ihr als Feind behandelt. (Deleuze 2001a)«133 Hier wird, unter Rückfall auf das Heraklidische Prinzip des »panta rei (alles ist in Fluss)«134, ganz nach kleinbürgerlicher Manier Willkür mit Freiheit verwechselt und rigoros das geschichtliche Vermittlungsproblem menschlicher Freiheit unterschlagen. Die Rede vom »Fließen des Textes« unterstellt eine Unmittelbarkeit auf Seiten des Kunstwerks ebenso wie auf Seiten des Lesers, die in einer durch und durch rational vermittelten Gesellschaft weder produktionsästhetisch nachweisbar ist, noch kulturellen Standards entspricht. Ein Kunstwerk ist als ein Geistiges ein Gemachtes und steht damit in Beziehung zu Tradition und Gesellschaft, noch wo es sie aus innerer Konsequenz heraus verleugnet. Soll Kunst nicht das abstrakt ›ganz Andere‹ und damit menschlichen Zwecken gegenüber gänzlich Gleichgültige sein, so hat die Interpretation das Verhältnis beider zum individuellen Kunstwerk zu erklären. Andernfalls bleibt es auf Grund der Abstraktheit des jeweiligen Prinzips gleichgültig, ob man die prinzipielle Unzulänglichkeit jeder Interpretation aus dem Fließen des Unbewussten oder aus der Saussure’schen Sprachtheorie ableitet (prinzipielle ›Fehllektüren‹). Darum entbehrt es nicht einer absurden Komik, wenn Peter Horn an den Dekonstruktivisten ihre Inkonsequenz kritisiert: »Sie (die dekonstruktivistische Methode, B. W.) fetischisiert die Aporie, den Abgrund an dem Ort des Widerspruchs zwischen zwei und mehr Diskursen, besteht aber dennoch auf einem sicheren Standpunkt in der Sprache, die diese Aporie aufdeckt, als ob der Text der Dekonstruktion eine Sicherheit böte gegen den Widerspruch. […]. Viele Dekonstruktivisten feiern die Tatsache, dass die Aporie der Ort des freien Spiels ist. Bei allem Misstrauen dem Text gegenüber wird die Aporie für den dekonstruktivistischen Kritiker der Anlass, noch mehr Text zu produzieren.«135 Schon Aristoteles136 wusste, dass man aus einem Widerspruch etwas und sein Gegenteil folgern kann und dass der, der Entgegengesetztes sagt, nichts Bestimmtes und damit nichts sagt. Für die genannten Strömungen der Literaturanalyse gilt dieses Gegenteil von Wissenschaft (denn für Wissenschaft ist der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch die formale Voraussetzung) als condition humaine. Wissenschaft wurde und wird dagegen auf der Grundlage dieser formalen Voraussetzung durch das präzise Stellen von Problemen (Widersprüchen) und durch deren Aufhebung (nicht nur im Hegel’schen Sinn, also auch in der Forderung ihrer) entwickelt – und nicht im Angesicht der Widersprüche durch ein sogenanntes freies Spiel, das nichts Anderes ist als ein sich aus dem ›Schatz‹ der Tradition großzügig bedienendes willkürliches und eklektizistisches Assoziieren, das sich durch die Verwendung gewichtiger Begriffe und fachwissenschaftlicher Detailkenntnisse den Anschein von exakt argumentierender Wissenschaft gibt137.
Diethelm Brüggemann138 versucht dem Leser jegliche Orientierung in Kleists Texten als Illusion nachzuweisen, indem er sich selbst der Mittel der Boulevardpresse und von diktatorischen Gerichts- und Verhörmethoden bedient, die er Kleists Erzähler unterstellt, der seine Leser manipuliere. Strategie ist bei Brüggemann vornehmlich die jeglichen Kontext ignorierende Zitierweise, die durch Zeit oder Umstände bedingte gegensätzliche Aussagen zu einer Sache – sei es die Aussage einer Person oder der Erzählung – unmittelbar miteinander konfrontiert, um so die sozusagen als Zeugen der Interpretation fungierende literarische Figur oder Erzähleraussage als unglaubwürdig erscheinen zu lassen. Es sei, so bemüht er sich z. B. nachzuweisen, ein allgemein verbreiteter Irrtum innerhalb der Kleist-Forschung, dass es für die Forderung des Junkers nach einem Passschein auf der Grundlage eines Einfuhrverbots für brandenburgische Pferde keine gültige Rechtsgrundlage gegeben habe. Darum entbehre Kohlhaasens Rache überhaupt jeglicher Berechtigung und die Erzählung führe die Leser an der Nase herum, indem sie ihnen suggeriere, Kohlhaas könne eventuell einen Rechtsgrund gegen Tronka gehabt haben. Denn in ihrer Eingabe an das Gericht in Dresden hätten die Junker Tronka auf ein vor vielen Jahren erlassenes Gesetz hinweisen können. Es ist nun symptomatisch für Brüggemanns Methode, dass er den Verweis auf dieses Gesetz nicht in Relation zum Kontext seiner Vorbringung innerhalb der Verzögerungs- und Verwischungstaktik des dresdener Prozesses gegen Kohlhaas stellt, auch nicht in Relation zu dem Kohlhaas erteilten und öfters wiederholten Gerichtsbescheid, dass ein solches Gesetz derzeit nicht in Geltung sei. Sondern Brüggemann verlangt, dass die Handlung nach diesem veralteten Gesetz beurteilt wird, von dem in ihr niemand etwas weiß und wissen kann, bis es zu seiner rabulistischen Verwendung absichtsvoll wieder ausgegraben wurde. Eine solche methodische Vorgehensweise Brüggemanns hat nicht wissenschaftliche Erkenntnis zum Ziel, sondern ist boshafte Stiftung von Verwirrung, die sich unredlicher Verfahren bedient. Nicht Kleist, sondern Diethelm Brüggemann manipuliert seine Leser.
Hingewiesen sei abschließend und einen Rückblick auf die frühere Forschung ermöglichend, auf den ersten Teil von Bernd Fischers Interpretation des Michael Kohlhaas139 von 1988, die er mit der Diskussion von »vier neueren Deutungen« einleitet, »die repräsentativ für die gegenwärtigen Tendenzen der Germanistik stehen können und sich zudem ihrerseits durch einen kritischen Bezug auf die ältere Kohlhaas-Forschung auszeichnen.«140 Vorgestellt werden dann die Arbeiten von Ellis141, Gallas142, Lützeler143 und Bogdal144. – Fischers eigene, der Intention nach idealismuskritische Deutung des Kohlhaas, deckt sich keineswegs mit der meinigen, da sie nur undialektisch ironisch alles als hypokrise Anmaßung entlarven möchte, was im Kohlhaas an Autonomie erinnert. Bei Fischer werden – ganz auf der Linie der neueren französischen Schule – der »utopische Anspruch der ästhetischen Modelle« mit der idealistischen Generalthese von der »versöhnten Idee« identifiziert. Der »Autonomieanspruch der erzählenden Gattungen« werde von Kleist »in subtilen Engführungen unterwandert« wobei die »Lösungsmodelle der klassisch romantischen Literatur […] ihrer realitätsfernen Mechanismen überführt«145 würden. Dem wird in meiner Arbeit entgegengehalten, dass der Gehalt Kleist’scher Werke darin besteht, die Differenz aufzuzeigen zwischen der ästhetischen Darstellung eines vernünftigen Begriffs von Freiheit und seiner abstrakten idealistischen Verabsolutierung, die seine vermeintliche geschichtliche Erfüllung impliziert. Darum werden die Formen nicht einfach nach dem Maßstab der Realitätsgerechtigkeit unterwandert, sondern es wird immanent durchgeführt, wie sie ihre Grenzen überschreiten.