Читать книгу Zephiros Tasche - Besra Ode - Страница 11
Оглавление»Grundgütiger, Babbo!«, rief er laut. Er hätte in diesem Augenblick gerne seine Freude mit jemandem geteilt, aber sein Großvater hatte bereits zu früher Stunde das Haus verlassen. Er zog das Messer aus der Scheide und konnte kaum glauben, was er da in seinen Händen hielt. Die feine Klinge glänzte wie ein Spiegel und der schmale Griff war aus einem schwarzen Holz, das er nicht kannte. In aufwendigen Intarsien aus Perlmutt stand dort sein Name. »Kassim«, las er und strich voller Bewunderung mit dem Daumen darüber. Endlich ein richtiges Messer, das nur mir gehört, dachte er.
Er stand auf und ging zu seiner Jutetasche, die neben der Kommode an einem Eisenhaken hing.
»Und dich – dich brauche ich nun nicht mehr«, sagte er laut und fischte ein altes Klappmesser aus dem Beutel. »Aber ich danke dir für deine guten Dienste.«
Sein Großvater hatte es vor vielen Jahren aus dem Tontopf neben dem Herd gezogen, ihm gegeben und gesagt: »Vorerst musst du dich mit diesem Taschenmesser hier begnügen. Wenn du älter bist, wirst du dein ganz persönliches bekommen.« Vierzehn Jahre alt musste er dafür werden. Kassim hielt das kleine Messer nochmals für einen Moment fest in der Hand und betrachtete es, als würde er etwas ansehen, das längst vergangen war. Dann steckte er es zurück in den Tontopf zu den Kochlöffeln und schnallte sich seine neue Lederscheide an den Gürtel. Mit dem neuen Messer schnitt er eine Ecke vom Käse ab. Es lag gut in der Hand und war scharf. Er hatte nichts anderes erwartet. Dann nahm er seine Umhängetasche von der Wand, steckte eine Scheibe Brot ein und verließ pfeifend das Haus. Auf dem Weg zur kleinen Weide sah er in den Himmel. Das wolkenlose Blau zauberte ihm ein Lächeln ins Gesicht.
Die Ziegen drängten sich bereits ungeduldig am Gatter des Geheges. Nur Tebl, die alte Eselstute, stand abseits im Schatten der großen Kastanie und als sie Kassim bemerkte, trottete sie herbei. Das kleine Glöckchen, das sie am Hals trug, klingelte aufgeregt bei jedem ihrer Schritte. Ein Sarde hatte sie vor langer Zeit auf der Durchreise bei ihnen zurückgelassen.
»Ich komm schon«, rief Kassim ihr zu. »Gleich hast du deine Ruhe.«
Tebl war eine Einzelgängerin und bevorzugte die kleine Wiese am Haus ohne die Gesellschaft der Ziegen. Überhaupt war die sardische Eselrasse etwas Besonderes. Die Tiere waren zwar zierlich gebaut, aber tüchtig und zäh. Gleichzeitig waren sie hübsch anzusehen mit ihrem hellgrauen Fell und den großen, dunklen Augen. Er kraulte ihre Stirn und ihren Rücken, während er das Tor öffnete und seine neun Ziegen nach draußen sprangen. Dann marschierte er mit der kleinen Schar los.
Auf den nahen Berg führten unterschiedliche Pfade. Er wählte an diesem Morgen den Weg durch den Wald, der an den Bienenstöcken seines Großvaters vorbeiführte. Eine Weile wanderten sie im Schatten der Steineichen und Mandelbäume entlang des gelb blühenden Ginsters bergauf, bis sie auf eine ebene Lichtung kamen, an deren Ende eine Reihe Holunderbüsche wuchsen. Die bunten Bienenkästen waren trotz der herabhängenden, von Blütendolden schweren Zweige gut zu sehen.
Kassim setzte sich auf den Stamm eines umgestürzten Baumes, der am Rande der Lichtung lag. Er war vor langer Zeit von einem Unwetter entwurzelt worden. Moos bedeckte seine brüchige Rinde. Von dort schaute Kassim seinem Großvater zu, wie er die Holzkästen der Bienen öffnete und prüfte, ob die Brut gesund war und wie viel Honig sie gesammelt hatten. Die warme Luft duftete würzig-süß und war erfüllt vom Summen der emsigen Insekten.
Es würde eine gute Ernte werden, wie immer, da war sich Kassim sicher. Man musste nur den Bienen zuschauen. Sie sagten alles. Sie spüren es – genau wie wir Menschen.
Er beobachtete, wie die Arbeiterbienen den alten Mann ruhig umkreisten. Anstatt aufgeregt herumzuschwirren, wie man es erwarten würde, ließen sie den Großvater gewähren. Er benutzte keinen Rauch, um seinen Schwarm zu besänftigen, so wie es andere Imker taten. Die Bienen ließen ihn seine Arbeit verrichten, als gäbe es nichts Normaleres auf der Welt.
Babbo ist immer voller Frieden, dachte Kassim. Der Alte pflegte stets zu sagen, dass Gott die große Kraft in seinem Leben sei. Viele sprechen von Gott, aber er hat ihn gefunden, das weiß ich.
Der Großvater sprach mit anderen wenig über Gott und wenn doch, dann nur, wenn sie ihn darum baten oder um Rat ersuchten. Keinem drängte er seine Gedanken oder Erkenntnisse auf.
»Über Gott versuche ich nicht zu reden. Wenn jemand eine Frage an mich hat, soll er sie stellen und ich werde sie ehrlich beantworten. Und in meinem Fall bedeutet ehrlich, mich darauf zu berufen, was Gott mir eingibt. Mehr tue ich nicht«, hatte er einmal erklärt. »Was der andere mit meinen Worten macht, steht nicht in meiner Macht. Und es ist auch nicht meine Sorge.«
Während Kassim so dasaß, nahm er das neue Messer aus der Scheide und betrachtete seinen Namen darauf. Dann drehte er es langsam zwischen den Fingern und beobachtete, wie die Buchstaben verschwanden und der Griff schwarz und leer glänzte. Das brachte Kassim zum Grübeln:
»Um Gott zu begegnen, muss man ein Niemand mit leeren Händen werden«, sagt Babbo immer. Aber was bedeutet das? Wie kann ein Mensch ein Niemand sein? Selbst Babbo ist jemand, ich kenne niemanden, der angesehener ist. Alle schätzen ihn und seine Weisheit.
Die Stimme des Großvaters riss ihn aus den Gedanken: »Mein Junge!« Der alte Mann kam langsam mit einer großen, gelb schimmernden Wabenwand in der Hand auf ihn zu. »Und?« Er deutete auf das Messer. »Ist es so, wie du es dir gewünscht hast?«
»Viel besser, Babbo. Ein so schönes Messer habe ich nicht erwartet.« Er stand auf und umarmte ihn. »Ich danke dir! Ich bin mir sicher, Mehmet wird Augen machen, wenn ich es ihm zeige.«
Der Großvater schmunzelte, brach ein kleines Stück aus den Waben und gab es Kassim, der es schnell in den Mund steckte und begann, den Honig herauszusaugen.
»Mehmet wirst du mit deinem Messer leider nicht überraschen. Ich habe es letztes Jahr in Kadut erstanden und ihm gegeben, damit er deinen Namen hineinschnitzt«, erklärte der Alte.
»Natürlich! Wieso habe ich nicht gleich daran gedacht?«, entfuhr es Kassim. Mehmet, sein Freund, war ein begabter Schnitzer und konnte aus jedem beliebigen Stück Holz feinste Figürchen und Muster hervorzaubern.
»Gehst du heute zum Bach?«, wollte der Großvater wissen.
»Ja. Mehmet wird auch kommen.«
Daraufhin schnitt der alte Mann die Wabenwand in mehrere Teile und nahm aus einer Kiste bei den Bienenstöcken ein paar Weinblätter und ein Stück grobes Leinen. Zuerst wickelte er die tropfenden Wabenschnitze in die großen Blätter, dann verschnürte er sie mit dem Stoff zu einem Säckchen und reichte es seinem Enkel.
»Für dich und Mehmet«, sagte Babbo. »Gib acht, die Ziegen haben es eilig, du hast zu lange geschlafen!« Beide lachten, als sie sahen, dass die kleine Horde bereits alleine den Waldweg hinauftrottete.
»Das ist wegen Jago. Immer wenn ich seine Geschichte lese, finde ich kein Ende«, seufzte Kassim, sprang auf und rannte seinen ungeduldigen Ziegen nach. »Bis heute Abend«, rief er noch über die Schulter und sah das verständnisvolle Lächeln seines Großvaters.
Kassim kannte den Berg wie seine Westentasche und manchmal suchte er mit seinen Ziegen auch die abgelegensten Weideplätzchen auf. Am liebsten war er aber in der Nähe des Baches unterwegs. Kurz nachdem dieser einer Bergquelle entsprang und als funkelndes, schmales Band die Graslandschaft durchzog, befand sich eine Stelle, die eine besonders schöne Aussicht auf das weite Hochtal und das Dorf bot.
Vom Hunger der Weidetiere angetrieben kamen sie schnell voran und erreichten nach einer guten halben Stunde den Bergbach. An seinem Ufer stand eine knorrige, alte Kiefer, die den rauen Winden hier oben schon seit einer Ewigkeit trotzte. Vom Wind gebeugt, krümmten sich ihre kräftigen Äste fast bis zum Boden.
Die Ziegen sprangen auf der Suche nach den schmackhaftesten Kräutern über den Hang. Kassim legte sich unter den Baum, halb im Schatten, halb in der Sonne, und schaute in den tiefblauen Himmel. Er entdeckte einen Bussard und sah ihm zu, wie er sich vom Wind tragen ließ, als würde es nichts Leichteres auf der Welt geben. Ob es wohl für jeden Menschen eine Bestimmung gab? So wie für diesen Vogel, der wissen musste, dass er ein Bussard war, und deshalb auch wie einer lebte? Oder war es bei den Menschen komplizierter? Wie erkannte man, welche Aufgaben im Leben auf einen warteten und was zu tun war, um diese zu erfüllen? Er hätte das nur allzu gerne gewusst. Plötzlich stieß der Raubvogel einen spitzen Schrei aus und Kassim setzte sich auf, um zu beobachten, wie er seine Beute fing. Da sah er Mehmet mit einem Korb auf dem Rücken und einem Stock in der Hand den Hang hochsteigen. Sie winkten sich zu. Oben angekommen musste Mehmet erstmal tief durchatmen.
»Du schnaufst, als wärst du älter als diese Kiefer hier!«, neckte Kassim ihn. Sein Freund entledigte sich seiner Last und ließ sich lachend neben ihn auf das Gras fallen.