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Der Besuch

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Das Haus, in dem Kassim mit seinem Großvater lebte, stand ein wenig außerhalb des Dorfes, in dem Mehmet und seine Familie lebten. Es lag in unmittelbarer Nähe des Baches, der sich in der Ebene des Tales durch den Zustrom weiterer Quellen verbreiterte. Zwei Wege führten von ihrem Haus fort, der eine ging Richtung Nordwesten zum Dorf und der andere verlief entlang des Bachbettes in Richtung Süden. Im Norden sah man die schneebedeckten Gipfel der Berge, die südostwärts erst in sanfte Hügel und schließlich in die weite Wüste ausliefen.

Das sonnige Hochtal war sehr fruchtbar mit endlosen Feldern von Weizen, Hirse, Mais und Kartoffeln. Der Großvater besaß keinen Acker, aber hinter dem Haus einen üppigen Garten, in dem er neben Gemüse vor allem Kräuter und Gewürze anbaute.

Zweimal im Jahr begleitete Kassim ihn nach Kadut, der Stadt am Fuße der Berge, die gleichzeitig die Grenze zur Wüste markierte. Hier pflegten sie ihre Erzeugnisse Gaspar José zu bringen, der ein guter Bekannter war und ein gut laufendes Geschäft führte.

Der Kaufmann zahlte immer einen guten Preis, weil die Waren des Großvaters äußerst gefragt waren. Der Honig wurde Gaspar José fast aus den Händen gerissen, denn er war reich an Propolis, die der alte Mann dem Honig beimischte. Das verlieh ihm einzigartige Heilkräfte. Man konnte ihn ebenso äußerlich wie innerlich anwenden. Er reinigte Verletzungen und half der Haut zu heilen. Eingenommen stärkte er die Widerstandskräfte gegen Krankheiten und nicht zuletzt war er ein begehrtes Schönheitsmittel. Auch der von Babbo selbst gezüchtete blaue Pfeffer war beliebt. Botanisch betrachtet zählte die Sorte nicht zur Gattung des echten Pfeffers, der in Indonesien angebaut wurde, die schwarzblauen Beeren wurden dennoch so bezeichnet. Sie hatten einen ähnlichen, aber reichhaltigeren Geschmack als der echte Pfeffer und verfügten obendrein über eine reinigende Wirkung. Wie der seltene Safran, den man im ganzen Land sammelte, wurde auch dieses Gewürz mit Gold aufgewogen.

Jedes Jahr bat Gaspar José Babbo darum, er möge doch größere Mengen des blauen Pfeffers anbauen und weiteren Honig gewinnen, seine Stammkunden würden laufend mehr davon verlangen. Aber dieser schüttelte nur den Kopf und meinte: »Es freut mich, dass die Früchte meines Gartens und die Arbeit meiner Bienen geschätzt werden, aber wo käme ich hin, würde ich den Wunsch der Menschen nach immer mehr und mehr ernst nehmen?«



Kassim war früh aufgestanden und holte frisches Wasser am Bach, der sich, gesäumt von Büschen und niedrigen Bäumen, an der Grenze ihres Gartens entlangschlängelte. Als er mit seinen vollen Wassereimern zurückkehrte, sah er, dass am Gatter der kleinen Weide ein dunkles Maultier angebunden war. Es hatte einen reich verzierten schwarzen Sattel, unter dem eine auffällig gemusterte rote Decke hervorblitzte. Die noble Ausstattung des Tieres machte ihn neugierig. Rasch füllte er das Wasser in die Tonne an der Hauswand und betrat die Stube. Sein Großvater schenkte gerade einer unbekannten Frau, die am Esstischchen saß, eine Schale heißen Schwarztee ein. Ihr kräftiges Haar war von ein paar grauen Strähnen durchzogen und im Nacken zu einem festen Knoten gebunden. Sie saß betont aufrecht und im Schoß lag über ihren geschlossenen Knien eine blaue Seidentasche.

»Das ist mein Enkel«, sagte Babbo und winkte ihn zu sich.

»Guten Tag, ich komme aus Monte und halte mich für ein paar Tage bei einer entfernten Verwandten im Dorf auf«, erklärte die Fremde dem Jungen und lächelte ihn an. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass hier ein außergewöhnlich kluger Mann lebt und nun bin ich hier, um seinen Rat einzuholen.«

»Babbo ist der weiseste Mensch, den ich kenne«, antwortete Kassim. Sie schaute ihn mit großen Augen an und lächelte zufrieden.

»Ein schöner Flecken, Euer Monte. Ein sonnenverwöhnter Landstrich«, sagte der Großvater.

Der Ort lag auf der Westseite der Berge und war einen Tagesmarsch von ihrem Dorf entfernt. In einem Winter waren sie einmal dort gewesen.

Die Frau deutete auf einen prallen Jutesack, den sie neben der offenen Haustür abgestellt hatte.

»Ich habe Ihnen etwas von unserer letzten Ernte mitgebracht. Ein paar Kilo getrocknete Aprikosen und süße Feigen.«

»Wie großzügig von Euch. So schickt die Sonne von Monte auch zu uns ihre Strahlen«, entgegnete der Großvater freundlich und setzte sich zu ihr in den Schneidersitz an das Tischchen. Kassim ging zur Truhe, in der Zephiros Tasche aufbewahrt wurde, und ließ sich auf ihr nieder. Er wollte die Nähe der beiden nicht stören. Es ist immer das Gleiche. Wenn die Menschen sich mit Babbo unterhalten, wollen sie seine ganze Aufmerksamkeit, wusste er. Außerdem mochte er den etwas versteckten Platz auf der Kiste. Mit dem Rücken angelehnt an der Wand und angezogenen Beinen hatte er von dort aus schon einigen spannenden Gesprächen gelauscht. Die Frau begann zu erzählen:

»Mein Anliegen ist Folgendes: Mein Mann und ich – wir sind kinderlos – besitzen große, fruchtbare Ländereien. Einen Teil davon habe ich in die Ehe eingebracht, die ertragreichsten Äcker jedoch haben wir im Laufe der Jahre dazu erstanden und damit unseren Grundbesitz beträchtlich vermehrt. Ein eben gelegenes, besonders ertragreiches Feld, auf dem wir Weizen anbauen, grenzt an das einzige Stück Land eines unserer Nachbarn. Die Äcker wurden nie ordentlich vermessen, zumindest verfügen wir über keine offizielle Karte. Nun haben wir den Verdacht, dass die Grenzsteine ein wenig versetzt wurden, sodass sich unser Feld verkleinert hat. Dieses Frühjahr haben wir den Nachbarn zur Rede gestellt. Er stritt aber alles ab.« Die Frau atmete tief durch. Dann schwenkte sie in einer Gebärde der Empörung ihre rechte Hand, um damit auszudrücken, was jeder von diesem Bericht zu halten hatte. »Dieser Mann ist ein Dieb, das ist offensichtlich! Aber wir haben nichts in der Hand, wir können es nicht beweisen. Und nun bitte ich Euch, mir zu sagen, wie wir in dieser Sache am besten vorgehen sollten.«

Der Großvater nippte in aller Seelenruhe an seinem Tee, dann stellte er seine Tasse behutsam auf den Tisch und begann leise zu sprechen: »Gute Frau, ich kann Euch als Antwort nur das geben, was ich in mir habe. Es sind meine ganz persönlichen Gedanken. Ihr könnt diese verwerfen oder prüfen, ob Ihr etwas Wertvolles darin findet.«

Zephiros Tasche

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