Читать книгу Dunkler Engel - Beth St. John und Michelle Parker - Страница 4
Kapitel 1
ОглавлениеKarolina schreckte zusammen, als ihr plötzlich das Glas aus den Händen rutschte und mit einem lauten Klirren auf dem Boden landete. Es zersprang in tausende schimmernde Scherben. Sie konnte von Glück reden, dass sich nur noch ein letzter Schluck Wasser darin befunden hatte, denn ansonsten stünde sie nun in einer riesigen Pfütze. Schnell griff sie in den Schrank unter der Spüle, um den Handfeger herauszuholen und die Splitter aufzufegen. Eigentlich sah ihr so ein Ungeschick gar nicht ähnlich, denn als Violinistin musste sie stets eine ruhige Hand haben. Doch heute war ein ganz besonderer Tag – sie hatte ein Vorspielen für die erste Geige bei einem Engagement an der Oper in Sydney. Obwohl Karolina seit dem fünften Lebensjahr Geige spielte und aktuell eine hervorragende Anstellung im SFSO – dem San Francisco Symphony Orchestra – besaß, und in den letzten Wochen fast ununterbrochen geübt hatte, war sie sehr nervös. Mit diesem Engagement würde ein Wunschtraum für sie in Erfüllung gehen. Sie könnte San Francisco und damit ihr kleines Loft in Haight-Ashbury endlich verlassen.
Nicht, dass sie die Stadt nicht lieben würde, im Gegenteil, sie liebte San Francisco und vor allem diesen Stadtteil, der durch die vielen Cafés und seine kreative Szene seinen ganzen eigenen Charme ausstrahlte. Und auch mit ihrem modernen Loft war sie sehr zufrieden. Es war zwar nicht besonders groß, aber es genügte ihr vollkommen und bot einen herrlichen Ausblick. Direkt neben der Eingangstür befand sich eine Treppe, die nach oben in ihren ganz privaten Bereich führte, wo sich ihr Schlafzimmer und ein Bad befanden. Ansonsten hatte sie den unteren Bereich durch mehrere Regale in verschiedene Bereiche getrennt. Es gab ein Wohnzimmer, eine Küche und auch einen separaten Platz zum Proben. Dort spielte sie unheimlich gerne, denn durch die großen abgerundeten Fenster konnte sie die Menschen beobachten, wie sie in ihrem eigenen Rhythmus durch die Straßen wanderten. Das inspirierte sie immer aufs Neue.
Trotzdem zog es Karolina auch in die Welt hinaus und sie sehnte sich danach, ihre Leidenschaft für Musik mit so vielen Menschen wie möglich zu teilen. Ohne die Musik fehlte etwas in ihrem Leben und es kribbelte in ihren Fingern, wenn sie bloß einen Tag nicht spielen konnte. Sie brauchte die Musik, um sich wohl zu fühlen und um sich auszudrücken. Eigentlich war es ein Wunder, dass ihre Liebe zur Musik nicht längst erloschen war. Schließlich hatte sie ihre Mutter, eine erfolgreiche Klavierlehrerin, jahrelang unter Druck gesetzt, mehr zu üben und endlich besser zu werden. Nie war Karolina gut genug gewesen. Das Ganze hatte angefangen, als ihr Vater kurz vor ihrem fünften Geburtstag durch einen Unfall ums Leben gekommen war. Er war Arzt gewesen und zusammen mit ihrer Mutter einige Jahre vor ihrer Geburt aus Russland in die Staaten eingewandert. Zunächst hatte der Geigenunterricht nur dazu gedient, sie von der Trauer um den Vater abzulenken und einen Weg zu finden, ihre Gefühle zu verarbeiten. Doch mit den Jahren hatte sich das geändert. Irgendwann hatte ihre Mutter das Potenzial bemerkt, das in Karolina steckte und nur noch den Erfolg gesehen. Schon mit vierzehn hatte sie ihre ersten Auftritte in ausverkauften Opernhäusern absolviert und auch heute, mit sechsundzwanzig, war sie sehr gefragt. Dementsprechend unterkühlt war das Verhältnis zu ihrer Mutter inzwischen und manchmal wünschte sie sich, dass ihr Vater noch leben würde. Alles wäre anders. Immerhin hatte Karolina wirklich gute Freunde, die immer für sie da waren. Nur einen Mann an ihrer Seite gab es nicht. Ihre letzte Beziehung war fast vier Jahre her und natürlich daran gescheitert, dass sie so viel und hart an sich arbeitete. Ihr Ex-Freund hatte Karolinas Liebe zur Musik nie nachempfinden können und so war die Beziehung zerbrochen.
Als sie die letzte Scherbe aufgefegt und auch die kleine Wasserlache vom Boden aufgewischt hatte, warf Karolina einen Blick auf die Uhr. Sie musste bald los. Ihr Magen zog sich vor Anspannung zusammen. Natürlich war sie heute besonders früh aufgestanden in der Hoffnung, dass sie vor dem Vorspielen noch etwas essen konnte. Nicht, dass sie die Nervosität nicht ohnehin die halbe Nacht wach gehalten hatte. Und diese sorgte dafür, dass der Gedanke an eine Mahlzeit Übelkeit in Karolina hervorrief. Trotzdem schüttete sie sich Müsli und Milch in eine Schale und zwang sich, ein paar Bissen zu essen. Währenddessen schweiften ihre Gedanken wieder zum Vorspielen ab. Es passierte nur alle paar Jahre, dass jemand in Sydney gesucht wurde. Und es war auch nicht oft der Fall, dass ein australischer Intendant in die USA kam, um sich dort neue Talente anzuhören. Das war ihre Chance, ihren Traum endlich zu erfüllen. Es wäre ein gewaltiger Karriereschritt!
Als Karolina schließlich das Haus verließ, wehte ihr ein kräftiger, kühler Wind entgegen. Überall lagen bunte Blätter herum, die die Bäume durch den Herbst verloren hatten. Wild tanzten sie vom Wind verwirbelt um die Ecken. Zwischen den Häusern hatte sich dicker Nebel angestaut, der dafür sorgte, dass die Menschen schnell durch die Stadt eilten. Die sonst so lebendig gefüllte Straße war so gut wie ausgestorben und das sorgte dafür, dass eine seltsame Stimmung über Haight-Ashbury lag. Karolina zog den Mantelkragen enger um ihren Hals und verstärkte den Griff um ihren Geigenkasten, als sie zur nahgelegenen Bushaltestelle ging. Der Bus kam nur wenige Minuten später und sie setzte sich nach ganz hinten, um ein bisschen für sich zu sein. Der Knoten in ihrem Magen wurde immer größer je näher das Vorspielen rückte. Es musste einfach klappen! Plötzlich riss das Klingeln ihres Handys Karolina aus ihren Gedanken und sie kramte in ihrer Manteltasche danach. Der Name auf dem Display verriet ihr, dass es Henry war.
Henry McGillen teilte ihre Leidenschaft für die Musik, denn er spielte schon seit Jahren Kontrabass im SFSO. Doch er war weit mehr als nur ein Kollege. Henry war so manches Mal der Vater für Karolina gewesen, den sie immer so schmerzlich vermisst hatte. Und ihr bester Freund. Er war zuverlässig, liebenswert und besaß eine freche Art, die Ihresgleichen suchte – und das, obwohl er schon knapp über fünfzig, glücklich verheiratet und mit zwei Kindern im Teenager-Alter gesegnet war.
„Hey Kleine, wie geht es dir?“, fragte er fröhlich und sehr interessiert. „Bist du sehr nervös?“
Karolina war erleichtert seine Stimme zu hören, denn Henry strahlte immer eine unglaubliche Zuversicht aus. Sofort hatte sie sein Bild vor Augen, das breite Grinsen, die strahlend blauen Augen und die kurzen, grau-blonden Locken. Sie musste schmunzeln. Er schaffte es einfach immer, jemanden mitzureißen und hatte insgesamt eine sehr ausgeprägte, positive Persönlichkeit. Wenn er einmal Begeisterung für etwas zeigte – was recht schnell der Fall war – fiel es im Allgemeinen schwer, ihm zu widersprechen.
„Hey Henry, lieb, dass du anrufst“, antwortete Karolina und gleich löste sich der Knoten in ihrem Magen.
„Natürlich! So einen wichtigen Termin würde ich doch nicht vergessen. Also, erzähl, wie geht es meiner Lieblingsviolinistin?“
„Ach Henry …“, fing sie an und Sorgen lagen in ihrer Stimme. Doch bevor sie weitersprechen konnte, unterbrach er sie schon.
„Nun erzähl mir nicht, dass du nervös bist! Du spielst wundervoll. Deine Musik ist wie Balsam für die Seele. Ein bisschen mehr Selbstvertrauen könnte dir wirklich nicht schaden.“
Karolina musste lachen, denn es war natürlich nicht das erste Mal, dass sie so eine Unterhaltung führten.
„Ich bin mir sicher, du wirst gleich ganz fantastisch vorspielen“, fuhr er fort. „Ich werde dich zwar vermissen, wenn du dann zukünftig in Sydney wohnst, aber es gibt ja Telefone und Computer und notfalls auch Flugzeuge!“ Er hatte eine verdammt überzeugende Art.
„Du sprichst schon von Dingen, die noch gar nicht eingetreten sind. Nun mach aber mal langsam, Henry“, ermahnte sie ihn scherzhaft.
„Nun gut“, er wurde ein bisschen ernster, „ich wünsche dir auf jeden Fall viel Glück für gleich. Ich gönne dir das von ganzem Herzen, aber ganz gleich, wie es ausgeht, du darfst mich später gerne anrufen. Ich sterbe vor Neugierde.“
Sie verabschiedeten sich und Karolina versprach hoch und heilig, sich später auf jeden Fall noch einmal zu melden.
Das Vorspielen fand in einem mittelgroßen Theater in Richmond statt. Dafür, dass es unter Musikern eigentlich ein riesiges Ereignis war, wirkte diese kleine Theaterhalle irgendwie ungeeignet für diesen Anlass. Karolina konnte nicht verstehen, warum man nicht das Opernhaus dafür ausgesucht hatte, in dem sie sich fast wie zuhause fühlte. Hier aber waren ihr die Gegebenheiten und die Akustik der Räumlichkeiten völlig unbekannt. Eventuell wollte man die gleichen Voraussetzungen für alle Violinisten schaffen. Sie wusste es nicht, aber so oder so musste sie sich damit abfinden. Hastig eilte sie die paar Stufen bis zur Tür hinauf und betrat schließlich die Eingangshalle. Diese war bereits gefüllt mit ihren Konkurrenten, von denen einige ganz ruhig auf ihren Plätzen saßen, andere wiederrum nervös umherliefen. Das Proben war vor dem eigentlichen Vorspielen verboten, weswegen keiner Geige spielte. Das war ein Segen für Karolina, denn es hätte ihre Anspannung sicherlich nur noch gesteigert. Bei dem Gedanken, dass sie hier die Besten vor sich hatte, spürte sie den Knoten in ihrem Bauch wieder ganz deutlich. Natürlich durfte nicht jeder dahergelaufene Geiger vor dem Intendanten des Sydney Orchestra spielen und alle, die hier waren, waren entsprechend qualifiziert. Zum einen konnte sie sich glücklich schätzen, dass sie dabei war, aber zum anderen war die Konkurrenz eben auch sehr groß.
Nachdem Karolina sich angemeldet und ihren Mantel an der Garderobe abgegeben hatte, suchte auch sie sich einen Platz und wartete darauf, dass es endlich losging. Nach wenigen Minuten wurde der erste Name aufgerufen und ein junger Mann Mitte Zwanzig verschwand hinter den Türen des Theatersaals. Nach und nach gingen immer mehr Personen durch die Tür und kamen wenig später wieder heraus. Sie versuchte, ruhig zu atmen, die Nervosität in sich zu unterdrücken und wartete ungeduldig darauf, dass endlich ihr Name fiel. Jeder hatte nur drei Minuten, um zu zeigen, was er konnte. Das war nicht viel Zeit, aber es musste genügen. Karolina hatte sich dazu entschieden, den Erlkönig von Franz Schubert zum Besten zu geben. Dieses Stück gehörte zu ihren absoluten Lieblingen, denn sie fand, dass es eine unglaubliche Energie inne hatte. Während viele andere Bach oder Mozart spielten, war sie der Meinung, dass der Erlkönig oft unterschätzt wurde. Als etwa die Hälfte der Anwesenden vorgespielt hatte, wurde sie endlich in den Theatersaal gerufen. Ihren Geigenkasten fest in der Hand, ging sie schnellen Schrittes durch die Tür, die sich sofort hinter ihr schloss. Der Intendant, den sie von Fotos kannte, saß mit einigen anderen Personen auf den Theatersesseln in der ersten Reihe vor der Bühne. Karolina legte ihren Geigenkasten an die Seite und holte ihre Violine heraus und betrat die Bühne.
Noch bevor sie oben angekommen war, bat der Intendant: „Stellen Sie sich bitte kurz vor und erzählen Sie, welches Stück Sie für heute ausgesucht haben.“
Karolina nickte und strich sich nervös das bernsteinfarbene, lange Haar zur Seite. Jetzt ärgerte sie sich darüber, dass sie es sich nicht vorher zusammengebunden hatte.
„Mein Name ist Karolina Ivanek. Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt und spiele Geige seit meinem fünften Lebensjahr. Aktuell habe ich ein Engagement im San Francisco Symphony Orchestra. Ich habe mich dazu entschieden, den Erlkönig von Franz Schubert vorzuspielen.“
Der Intendant nickte ihr zu, als Zeichen, dass sie anfangen sollte. Nichts in seiner Mimik und Gestik verriet, was er über sie und ihre Musikauswahl dachte. Karolina nahm ihre Geige an die Schulter, setzte den Geigenbogen an, schloss die Augen und atmete ein letztes Mal tief durch. Dann erklang der erste Ton. Während sie sanft über ihr Instrument strich, spürte sie, wie die Musik ihr eine Gänsehaut verursachte. Weitere Töne folgten und eine sanfte Melodie entstand. Aber im Gegensatz zu sonst konnte Karolina diesmal ihre Umgebung nicht ausblenden und der Knoten in ihrem Innern wollte sich einfach nicht lösen. Sie spürte die Anspannung beim Spielen in ihren Händen und merkte, dass sie sich nicht wie üblich einfach fallen lassen konnte. Zwar traf sie jeden Ton perfekt, doch selbst sie konnte hören, dass die Leidenschaft in ihrer Melodie fehlte – sie kam nicht aus ihrem Innern. Trotzdem gab sie ihr Bestes, spielte das Stück genau so, wie sie es wochenlang geübt hatte. Die drei Minuten vergingen wie im Flug und es fühlte sich an, als seien sie nur Sekunden gewesen. Karolina wurde ohne weitere Kommentare entlassen. Sie verließ den Saal und war innerlich vollkommen aufgelöst. Natürlich hatte sie nicht schlecht gespielt, ohne Frage, aber sie wusste selbst, dass sie es besser konnte. So blieb ihr nur zu hoffen, dass es gereicht hatte und die anderen eventuell schlechter gewesen waren. Jetzt hieß es abwarten. Die zweite Hälfte der Geiger musste noch vorspielen, bevor vom Intendanten eine Entscheidung getroffen werden konnte. Karolina holte sich einen Kaffee an einem Automaten im Foyer und setze sich zurück auf ihren Platz. Die Minuten zogen sich nun wie Stunden und es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, bis endlich der letzte Violinist aus dem Theatersaal zurückkehrte. Natürlich mussten sie sich jetzt noch beraten und Karolina wippte unruhig mit dem Fuß hin und her. Immer wieder strich sie sich die widerspenstigen Haare hinter die Ohren. Als sie ihren Blick durch den Raum schweifen ließ, sah sie die Anspannung auch bei ihren Konkurrenten. Das schlechte Gewissen machte sich in Karolina breit. Sicherlich hatte jeder hier dieses Engagement auf irgendeine Art und Weise verdient und es widerstrebte ihr, dass auf so viele Menschen eine Enttäuschung wartete. Sie jedoch wollte nicht enttäuscht werden. Normalerweise war sie ein sehr herzlicher und zurückhaltender Mensch, der niemandem etwas Böses wünschte. Aber jetzt wollte sie dieses Engagement so sehr, dass sie nur an sich denken konnte.
Als sich die Türen zum Theatersaal öffneten, war es schon später Nachmittag. Der Intendant trat hervor und sofortige Stille kehrte ein. Die Ungeduld aller war geradezu greifbar. Er verkündete, dass er viele wundervolle Talente gehört habe, aber leider nur einer der neue Violinist am Opernhaus in Sydney werden könne. Außerdem vertröstete er diejenigen, die es nicht geschafft hatten, und versicherte ihnen, dass es wirklich nicht an fehlenden Fähigkeiten lag. Ihm sei die Entscheidung unglaublich schwergefallen. Karolina interessierte sich allerdings kaum für seine Worte, denn am Ende zählte es nicht, wie gut der Intendant einen gefunden hatte, wenn man die Anstellung nicht bekam. Bodenlose Enttäuschung machte sich in Karolina breit, als schließlich nicht ihr Name fiel. Sie spürte Tränen in sich aufsteigen, die sie nur mit größter Mühe zurückdrangen konnte. Sie wollte nicht hier vor allen Leuten weinen – obgleich sie nicht die einzige gewesen wäre. Der Höflichkeit halber klatschte sie mit, als der Glückliche nach vorne trat und sich verneigte. Der Intendant bat ihn, allen anderen etwas vorzuspielen und diesen anstrengenden Tag mit einem Lied ausklingeln zu lassen. Der Gewinner kam dieser Bitte natürlich gerne nach. Karolina war jedoch zu verletzt, um das hier länger durchzuhalten und so huschte sie schnell zur Garderobe, um ihren Mantel zu holen und zu verschwinden.
Sie kauerte sich erneut in die hintere Ecke des Busses, auf den sie viel zu lange hatte warten müssen, und sah betrübt nach draußen. Das triste Wetter entsprach ihrer Gefühlslage. Sie hatte versagt. Die Worte des Intendanten hallten in ihrem Kopf wider und tanzten wild durch ihre Gedanken. Wie konnte das nur passieren? Sie hatte wochenlang für dieses Vorspielen geübt, aber vorhin hatte sie die Musik einfach nicht gespürt. Alles war falsch gelaufen. Die Nervosität hatte alles kaputt gemacht. Und jetzt? Jetzt sah sie ihren Träumen zu, wie sie vor ihrem inneren Auge zerplatzten wie zu große Seifenblasen. Kein neues Land, kein großes Abenteuer, kein Schub für die Karriere – gar nichts.
Karolina lehnte ihre Stirn an die Fensterscheibe und genoss die Kühle, die diese ausstrahlte, denn sie hatte das Gefühl, dass ihr Gesicht brannte. Nach einem Moment der Ruhe holte sie schließlich das Handy aus ihrer Manteltasche und wählte Henrys Nummer. Sie wusste zwar noch nicht, wie sie es ihm erklären sollte, aber sie war sich sicher, dass er die richtigen Worte finden würde, um sie aufzumuntern.
„Na Schneckchen, wie lief es?“, meldete er sich gespannt zu Wort und Karolina schluckte den Kloß herunter, der sich in ihrem Hals angesammelt hatte.
„Ich habe das Engagement nicht bekommen“, sagte sie gerade heraus und unterdrückte dabei erneut die aufsteigenden Tränen. Für einen kurzen Moment war es still auf der anderen Seite der Leitung. Sie hatte schon Angst, dass Henry nun fürchterlich enttäuscht von ihr war, so sehr, wie sie eben von sich selbst enttäuscht war.
Aber dann sagte er: „Wenn ich ehrlich bin, wäre das Orchester von Sydney sowieso eine Nummer zu klein für dich gewesen. Was wolltest du überhaupt in Down Under, wo es nur giftige Tiere und Menschen mit seltsamem Akzent gibt? Kopf hoch, da draußen wartet noch etwas richtig Großes auf dich!“
Obwohl ihr gar nicht danach war, musste Karolina lächeln.
„Soll ich vorbeikommen und wir trommeln ein paar verrückte Leute zusammen? Du weißt, wie schnell ich Partys organisieren kann“, bot Henry an. Jetzt musste sie wirklich lachen und schüttelte energisch den Kopf, obgleich Henry das gar nicht sehen konnte. Ja, selbst wenn er spontan einen Aufruf startete, kamen alle. Das hatte sie oft genug erlebt.
„Das ist wirklich lieb von dir. Aber ich denke, ich werde mir gleich eine heiße Schokolade anrühren und es mir auf dem Sofa bequem machen. So ein ruhiger Abend ist eher das, was ich jetzt brauche.“
„Na gut, aber lass es mich wissen, wenn du Gesellschaft möchtest.“
Sie überlegte schon, das Gespräch zu beenden, als ihr dann doch noch etwas einfiel.
„Henry?“, flüsterte sie ins Handy.
„Ja, Schnecke? Was hast du noch auf dem Herzen?“
„Ich habe die Musik nicht gespürt. Sie war nicht da.“
„Wie meinst du das?“, hakte er nach.
Karolina überlegte einen Augenblick, wie sie es ihm erklären sollte. „Wenn ich spiele, dann fließt die Musik durch mich hindurch und wird zu etwas Wunderbarem, etwas Lebendigem, aber heute waren es einfach nur aneinandergereihte Töne, ohne Bedeutung, ohne Gefühl. Das ist mir noch nie passiert.“
„Dann ist es auch nicht das Richtige für dich gewesen, Karolina. Mach dir keine Sorgen. Ich würde sagen, dass das Schicksal dir einen Wink gegeben hat und nächstes Mal passt es dann.“
„Denkst du denn, dass es ein nächstes Mal geben wird?“, fragte Karolina vorsichtig und Henry fing an zu lachen.
„Aber natürlich! Wir können alle mal einen schlechten Tag haben, doch das Leben hält immer eine zweite Chance für uns bereit. Und meist noch eine dritte und vierte. Du wirst noch viele bekommen, versprochen.“
Karolina atmete erleichtert aus. Tatsächlich beruhige sie Henrys Zuversicht.
„Vielen Dank für alles“, sagte sie erleichtert.
„Nichts zu danken, immer wieder gerne. Das weißt du doch hoffentlich?“
„Ja, das weiß ich.“
Zuhause angekommen, war Karolinas Enttäuschung durch das Gespräch mit Henry schon ein ganzes Stück weit verflogen. Er hatte recht, das Versagen heute war keinen Grund, den Kopf für immer hängen zu lassen. Diese Chance hatte sie vertan, aber es würde noch andere Chancen für sie geben. Es gab also keinen Grund, warum sich ihre Träume nicht noch erfüllen konnten. Vielleicht hatte er auch recht, wenn er sagte, dass dieser Job einfach nicht der richtige für sie gewesen wäre und dass das Schicksal anderes mit ihr plante. Aber Karolina wollte noch besser vorbereitet sein, für das, was noch kommen würde. Sie musste noch mehr üben und vor allem musste sie neue Impulse finden! Mit den Übungsmethoden, die sie kannte, war sie gut, aber sie musste noch besser werden, um das nächste Mal überzeugen zu können. Neue Trainingsmethoden mussten her, überlegte sie, während sie ihre Tasse mit kaltem Kakao in die Mikrowelle stellte.