Читать книгу Dunkler Engel - Beth St. John und Michelle Parker - Страница 6
Kapitel 3
ОглавлениеDer Supermarkt war bereits am Montag furchtbar überfüllt, denn am Donnerstag war Thanksgiving und die Leute kauften ein, als würde danach die Welt untergehen. Wenn ihr Kühlschrank nicht so leer gewesen wäre, hätte sie es vermieden, überhaupt einen Fuß vor die Tür zu setzen. Leider hatte Karolina nicht einmal mehr eine Scheibe Brot im Haus. Das war eben das Leben einer Musikerin. Sie war so beschäftigt mit den Proben und dem Orchester gewesen, dass sie das Einkaufen einfach total vergessen hatte. Zum Glück brauchte sie sich wenigstens um Thanksgiving keine Gedanken zu machen, denn sie war bei Henry und seiner Familie zum Essen eingeladen worden. Karolina freute sich schon sehr darauf. Schon seit Jahren verbrachte sie diesen Feiertag bei den McGillens. Henrys Familie war einfach wundervoll. Er hatte eine herzensgute Ehefrau, die unglaublich gut kochen konnte und zwei Töchter im Teenageralter, die zwar nicht immer ganz einfach, ihr jedoch ans Herz gewachsen waren. Karolina konnte sich an kein Thanksgiving ohne Henry mehr erinnern und sie liebte es, ein Teil dieser Familie zu sein. Gerade quetschte sich Karolina mit ihrem Einkaufskorb an einer Gruppe von aufgeregten Hausfrauen vorbei, als ihr Handy klingelte. Sie brauchte einen Augenblick, es in dem ganzen Chaos zu finden, entdeckte es aber schließlich in ihrer Hosentasche. Ohne auf das Display zu gucken, nahm sie den Anruf an.
„Ivanek“, meldete sie sich gestresst und hörte am anderen Ende der Leitung lautes Gekicher.
„Hallo?“, fragte Karolina, weil sie das verzerrte Gelächter nicht zuordnen konnte.
„Karolina. Ich bin es“, antwortet eine vertraute Frauenstimme.
„Lindsay? Was ist los? Was ist so lustig?“
„Seine Nummer war tatsächlich noch aktuell!“
„Häh? Welche Nummer?“ Karolina stand total auf dem Schlauch. Wovon redete Lindsay? Und wieso war sie so vergnügt?
„Na, die Nummer von Tom Edwards“, kicherte Lindsay und Karolina flog aus allen Wolken.
„Oh“, war alles, was sie zustande brachte, doch das störte ihre Freundin nicht, denn die redete munter weiter.
„Er hat zugesagt, sich mit dir zu treffen. Naja, er hat mir noch einen Gefallen geschuldet, du darfst mir später dafür danken.“
„Gefallen?“, fragte Karolina vorsichtig. „Wofür?“
„Das geht dich nichts an“, fuhr Lindsay fröhlich fort. „Ihr geht morgen lunchen. Um Zwölf im Benu. Oh, das ist ja so aufregend!“
Karolina schluckte. Wirklich damit gerechnet, dass Lindsay den Stargeiger erreichen würde, hatte sie nicht.
„Lindsay, daran ist gar nichts aufregend“, entgegnete sie dann. „Ich kann morgen nicht, dienstags haben wir immer große Orchesterprobe und Einsatzbesprechung.“
„Dann lass dir etwas einfallen, Karolina, denn er fliegt am Mittwoch schon wieder zurück nach New York. Das ist die einzige Chance, die du bekommst, um mit ihm zu reden. Okay, Amy schreit, ich muss auflegen. Überleg es dir einfach. Ciao, Süße!“ Damit legte sie auf.
Lindsay hatte gut reden, dachte Karolina. Wie sollte sie das denn dem Orchesterleiter erklären? Ihre Freundin wusste schließlich, wie streng die Übungsanordnungen waren. Sie könnte lügen, sich krankmelden, aber eigentlich schwindelte sie nicht gerne, denn dafür war sie viel zu ehrlich. Aber darüber würde sie sich später Gedanken machen müssen, jetzt wollte sie erst einmal aus diesem viel zu vollen Supermarkt raus und draußen konnte sie dann in Ruhe in Panik ausbrechen.
Am Dienstagmittag saß Karolina tatsächlich im Benu und wartete auf den wohl berühmtesten Geiger der Welt. Sie hatte heute Morgen beim Dirigenten angerufen und sich krank gemeldet. Nun plagte sie deswegen das schlechte Gewissen, wobei es immerhin nur eine halbe Lüge gewesen war: Durch das kühle Herbstwetter spürte sie ein unangenehmes Kratzen im Hals – das minderte ihre Schuldgefühle ein wenig.
Das Benu war ein sehr ausgefallenes Restaurant, in das man nicht hineinkam, wenn man nicht auf der Gästeliste stand und mindestens zwei Monate im Voraus reserviert hatte. Aber natürlich galt das nicht für Tom Edwards. Schon als das Sternerestaurant eröffnet wurde, hatte es ziemliche Wogen in der Restaurantszene verursacht, hauptsächlich aufgrund der fantastischen Verschmelzung von amerikanischen Klassikern mit asiatischen Aromen. Da in ganz San Francisco in der Thanksgiving-Woche die Hölle los war, war Karolina froh, dass sie es mit dem Bus überhaupt pünktlich hierher geschafft hatte. Der Kontrast zur Außenwelt könnte nicht größer sein. Sie schaute sich aufmerksam in dem Restaurant um. Der Look war hell und minimalistisch. Zeitgenössische Skizzen schmückten die cremefarbenen Wände. Der Tisch, an den man sie geführt hatte, stand in einer Art Separee, abgetrennt vom Hauptraum und kaum von außen einsehbar. Obwohl es ihr auf den ersten Blick missfiel, dass sie so abgeschottet und für sich alleine sein würden, musste sie doch zugeben, dass diese Privatsphäre Vorteile bot. In aller Öffentlichkeit hätte Tom sicherlich jeder erkannt und sie hätte keine ruhige Minute gefunden, um sich mit ihm ernsthaft über Trainingsmethoden auszutauschen. Aufgeregt zupfte sie an ihrem Kleid. Überhaupt war Karolina ziemlich nervös vor diesem Treffen gewesen und sie hatte gestern Stunden vor ihrem Kleiderschrank zugebracht. Normalerweise war sie nicht so eitel, in diesem besonderen Fall war sie allerdings der Meinung, dass man sich neben Tom Edwards schick machen musste, um nicht gerade wie ein Mauerblümchen auszusehen. Der gestrige Tag war jedoch reine Zeitverschwendung gewesen, denn heute Morgen hatte sie alle Ideen wieder über den Haufen geworfen. Spontan hatte sie sich für ein elegantes, aber doch schlichtes Etuikleid aus dunkelblauer Seide entschieden. Es betonte exakt ihre Augenfarbe und die Ärmel ließen die Hälfte ihrer Schulter frei, sodass sie ein bisschen Haut zeigte, aber nicht zu viel verriet. Außerdem war es nicht sehr tief ausgeschnitten und der Saum endete kurz vor den Knien. Das war ihr wichtig gewesen, um nicht zu sexy zu wirken und eventuell falsche Erwartungen zu wecken. Das Haar hatte sie sich locker hochgesteckt, was eher einen praktischen Zweck hatte: So konnte sie nicht ständig damit herumspielen.
Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass Tom schon fünfzehn Minuten überfällig war. Bei jedem anderen Menschen hätte sie das geärgert, denn Pünktlichkeit war für Karolina auch ein Zeichen von Respekt und Höflichkeit. Aber Tom Edwards konnte man solche Kleinlichkeiten leider nicht vorhalten. Er war ein viel beschäftigter Mann und sie konnte schon froh sein, dass er sich überhaupt die Zeit für sie nahm. Wie immer, wenn sie nervös war, wippte sie mit dem Fuß auf und ab.
Plötzlich hörte Karolina zwei männliche Stimmen hinter sich. Sie drehte sich um und erblickte einen unheimlich gut aussehenden Mann. Tom Edwards. Er war groß, breitschultrig, trug einen Drei-Tage-Bart und hatte seine wilden blonden Locken zu einem kurzen Zopf zusammengebunden. Das tiefschwarze Hemd versteckte kaum seinen muskulösen Oberkörper und die ausgewaschene Jeans und die mit Silberschnallen verzierten Stiefel ließen ihn verwegen aussehen. Karolina musste zugeben, dass Tom in der Realität noch viel besser aussah als in den Medien und es verschlug ihr für einen kurzen Moment die Sprache. Er war charismatisch – und spielte offensichtlich in einer anderen Liga als sie.
Er warf ihr einen flüchtigen Blick zu und fragte: „Bist du Karolina Ivanek?“
Sie nickte. Mehr als ein zaghaftes „Ja“ brachte sie nicht heraus.
„Gut“, sagte er und wandte sich dann wieder dem Kellner zu, der ihn zum Tisch begleitet hatte. „Bitte bringen Sie das bestellte Essen und sorgen Sie dafür, dass wir in den nächsten dreißig Minuten nicht gestört werden. Von niemandem.“
Der Kellner verneigte sich auf eine altmodische Weise und drehte ihnen den Rücken zu. Karolina schluckte, denn so, wie Tom es gesagt hatte, klang es, als wenn er nicht nur reden wolle. Sie wusste, dass es nur an ihrer wilden Fantasie lag, dass sie seine Worte zweideutig aufgefasst hatte, aber dennoch …
Jetzt wandte Tom sich ihr vollends zu, lächelte frech und ließ sich lässig auf dem lederbezogenen Stuhl ihr gegenüber nieder. Seinen Geigenkoffer stellte er auffallend behutsam neben sich ab.
„Tut mir leid für die Verspätung, da waren noch ein paar Betthäschen, die einfach nicht verschwinden wollten“, erklärte er und sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. War das seine Art von Humor oder schlicht die Wahrheit? Sie verkniff sich eine Antwort darauf, die so oder so ein Fettnäpfchen gewesen wäre.
Er nahm sich eines der Gläser, die auf den Tisch standen, und goss sich Wasser ein, bevor er sich einen großen Schluck gönnte. Anscheinend erwartete er auch gar keine Reaktion von ihr, denn als er ausgetrunken hatte, fuhr er direkt fort: „So, so. Du bist also Karolina Ivanek. Die beste Freundin von Lindsay. Die Frau, die so fantastisch Violine spielen kann.“ Es klang herablassend und Karolina fragte sich unwillkürlich, warum er sich anscheinend schon ein Urteil über sie gebildet hatte, obwohl sie doch noch kein einziges Wort miteinander gewechselt hatten.
„Und du bist also der berühmt berüchtigte Tom Edwards. Es ist mir eine unfassbare Ehre“, antwortete sie schroff und hoffte, dass er die Ironie in ihrer Bemerkung verstanden hatte.
Auf einmal fing er an zu lachen, stellte das leere Glas auf den Tisch und sah sie durchdringend an. „Nur zu, Karolina, was kann ich für dich tun?“
Bevor sie etwas erwidern konnte, brachte der Kellner das Essen herein. Es war eine riesige Platte voller verschiedener Köstlichkeiten, bestimmt genug, dass fünf Leute davon hätten satt werden können. Als der Kellner, nachdem er Besteck und Teller arrangiert hatte, schließlich wieder verschwand, schnappe Tom sich eine Erdbeere und spielte mit ihr zwischen den Zähnen, bevor er sie herunterschluckte.
„Also? Ich habe in dreißig Minuten meinen nächsten Termin. Von mir aus können wir auch nur das Essen genießen – oder andere Dinge tun.“ Er hob bei den Worten eine Augenbraue und grinste anzüglich. „Aber Lindsay sagte mir ausdrücklich, dass du nur mal mit mir reden willst.“
Karolina räusperte sich leise. Tom war so ganz anders als sie, unkonventionell, abgedreht, direkt – eigentlich das komplette Gegenteil von ihr. Sie konnte schlecht einschätzen, ob er sich allen Menschen gegenüber so offensiv verhielt oder nur bei ihr. Eventuell war es einfach seine Art?
„Lindsay hat mir erzählt, dass du außergewöhnliche Trainingsmethoden kennst, um deine Performance zu verbessern. Ich interessiere mich für deine Technik. Beim Geige spielen.“ Obwohl Karolina nervös war, hatte sie ihr Anliegen selbstbewusst geschildert.
Tom setzte einen anerkennenden Gesichtsausdruck auf. „Aha. Darum geht es also. Damit hätte ich jetzt nicht gerechnet. Erzähl mir deine Geschichte“, forderte er sie bestimmt auf.
„Geschichte?“, fragte sie überrascht, gab dann aber das wieder, was sie auch dem Intendanten aus Sydney erzählt hatte. „Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt und spiele Geige seit meinem fünften Lebensjahr. Aktuell habe ich eine Anstellung im San Francisco Symphony Orchestra.“
Doch Tom schüttelte verärgert den Kopf. „Deine richtige Geschichte. Wer bist du? Was macht dich aus? Was hast du verloren? Wieso liebst du die Musik?“
Karolina zögerte. Wollte sie wirklich ihre Persönlichkeit einem vollkommen Fremden offenlegen?
„Nicht so schüchtern“, unterbrach er amüsiert ihre Gedanken. „Das war ich auch mal, schüchtern. Das macht dich sympathisch, nur leider bringt dich das in der Musikbranche nicht weiter. Ein bisschen Mut musst du schon zeigen.“
Vielleicht hatte er recht. Karolina dachte noch einmal an ihren Traum, in einem berühmten Orchester zu spielen. Wenn das bedeutete, dass sie sich öffnen musste, um ihrem Traum ein Stück näherzukommen, so war das ein geringer Preis. Also fing sie noch einmal von vorne an.
„Ich habe kurz vor meinem fünften Geburtstag meinen Vater verloren. Der Geigenunterricht sollte ein Ventil für meine Trauer sein. Ich habe lange Zeit unter dem Verlust meines Vaters gelitten und in der Musik tatsächlich die Kraft gefunden, um weiterzumachen. Ich brauche die Musik wie die Luft zum atmen, und ich weiß nicht, wohin mit mir, wenn ich zu lange nicht spielen kann. Meine Mutter hat mich immer gedrängt, besser zu werden, mehr zu üben, doch sie hat nie verstanden, wie viel die Musik mir eigentlich bedeutet. Sie hat nicht erkannt, dass es nicht darum geht, jeden Ton zu treffen, sondern darum, sein Herz in die Melodie zu legen, die Noten zum Leben zu erwecken und einfach frei zu werden. Am Ende gebe nicht ich der Musik ihren Rhythmus, sondern die Musik gibt meinem Leben einen Rhythmus.“
Er klatschte in die Hände und applaudierte Beifall. „Siehst du, Karolina, das bist du – das wollte ich hören. Fantastisch. Ich mag dich“, erklärte er seine Sympathiebekundung. Karolina lächelte zaghaft.
Auf einmal stand Tom auf, griff nach seinem Koffer und hielt ihn ihr entgegen.
„Spielst du etwas für mich?“, fragte er sie gerade heraus.
Karolinas Herz setzte für einen Moment aus. Wollte Tom Edwards wirklich, dass sie etwas auf seiner Geige spielte? Das konnte doch nur ein Scherz sein! Jeder wusste, dass Tom Edwards eine Stradivari spielte. Sie wollte nicht mal daran denken, was passierte, wenn sie diese in die Hand nahm und irgendetwas damit passierte. Als sie mit dem Kopf schüttelte und ihre Hände abwehrend vor ihren Körper hielt, wurde Tom deutlicher.
„Du möchtest doch meine Trainingsmethode erfahren? Wie soll ich denn einschätzen, ob es einen Sinn macht, dir etwas zu verraten, wenn ich dich noch nie spielen gehört habe?“
„Ja, aber …“, noch bevor Karolina ihre Bedenken vortragen konnte, unterbrach er sie.
„Außerdem bekommt man im Leben nichts ohne Gegenleistung. Nur wenn du für mich spielst, verrate ich dir mein Geheimnis.“
Karolina erkannte, dass eine Diskussion zwecklos war, also nahm sie den Geigenkasten kommentarlos entgegen. Sie hätte nicht gedacht, dass sie jemals im Leben die Möglichkeit erhalten würde, auf so einer wertvollen und klangintensiven Geige zu spielen. Mit zittrigen Händen öffnete sie den Geigenkoffer und holte so vorsichtig wie möglich das Instrument aus seinem Innern. Eine echte Stradivari! Wow! Sie konnte es gar nicht fassen. Tom nickte ihr aufmunternd zu und sie stand auf, um sich im Raum zu positionieren. Karolina verfügte über ein ordentliches Repertoire an klassischen und schwierigen Stücken, mit denen sie Tom gewiss hätte beeindrucken können. Doch das war sicherlich das erste und letzte Mal, dass sie eine solche Geige in den Händen halten würde, daher beschloss sie, aus dem Bauch heraus zu spielen; das Stück eines unbekannten Komponisten, das sie sehr berührte. Langsam ließ sie den Geigenbogen über die Seiten der Violine wandern, schloss die Augen und verlor sich in der Melodie, die genauso gefühlvoll wie traurig war. Dann aber ließ sie den Bogen schneller über die Seiten wandern und das Stück nahm an Energie auf. Es war, als würde die Geige eine Geschichte erzählen, eine Geschichte über eine Reise, die niemals enden sollte. Die Melodie stieg an, wurde immer schneller und endete dann auf einmal genauso abrupt wie sie gekommen war. Für einige Sekunden war es still im Raum. Tom sah sie fassungslos an. Damit hatte er nicht gerechnet. Aber Karolinas Stück war noch nicht zu Ende. Sie setzte den Bogen wieder an, strich noch viel langsamer als am Anfang über die Seiten und erzeugte damit eine sentimentale Sehnsucht nach dem verklungenen Galopp in der Mitte. Irgendetwas war geschehen – etwas war zerbrochen und ließ nun eine außergewöhnliche Melancholie zurück, mit der das Stück schließlich endete. Es dauerte eine Weile, bis Tom sich gefangen hatte, doch dann klatschte er begeistert in die Hände.
„Das war fantastisch“, sagte er vollkommen außer sich und sie merkte, dass er es ehrlich meinte. Sie selbst verspürte am ganzen Körper eine Gänsehaut, denn die Stradivari war wirklich ein unfassbar schönes Instrument. Karolina wusste in diesem Moment, dass sie nie wieder spielen könnte, ohne sich insgeheim nach ihrem Klang zu sehnen. Es fiel ihr schwer, sie in den Geigenkoffer zurückzulegen und ihn wieder zu Tom zurückzuschieben. Er nahm den Koffer entgegen, stellte ihn wieder hinter seinen Sessel und sah sie immer noch vollkommen begeistert an.
„Also, was ist dein Geheimnis? Quid pro quo!“, erinnerte sie ihn nun an sein Versprechen, während sie sich wieder setzte. Tom brauchte einen Moment, um wieder zurück in die Gegenwart zu kommen und ihre Frage zu beantworten. Wie er zugesagt hatte, weihte er sie nun ein.
„Ich praktiziere luzides Träumen, auch Klarträumen genannt.“
„Bitte was?“, fragte Karolina überrascht und Tom musste grinsen.
„Beim Klarträumen ist sich der Träumende vollkommen darüber bewusst, dass er träumt und er kann diesen Traum kontrollieren. So kann man quasi die gesamte Nacht üben, erwacht am Morgen entspannt und erfrischt – und man kann mehr als am Tag davor.“ Sein Grinsen wurde breiter. „Das Coole an den luziden Träumen ist, dass man über alle seine fünf Sinne voll verfügt, jede Situation – große Konzerte, Vorspielen, Solo-Auftritte – nachbilden kann und alles, was du im Schlaf einübst, kannst du in der Realität umsetzen.“
Karolina zog skeptisch die Augenbraue nach oben. „Das ist also dein Geheimnis?“, fragte sie und er nickte.
„Sowas ähnliches hast du sicherlich schon selbst erlebt. Morgens vor dem Aufwachen, wenn man halb wach und noch halb schlafend ist, kann man des Öfteren seine Träume kontrollieren. Das sind zwar keine komplett luziden Träume, weil man sich nicht richtig bewusst hineinversetzt hat, aber es ist zumindest vergleichbar.“
Wenn sie so darüber nachdachte und Tom nicht scherzte, schienen Klarträume tatsächlich die perfekte Lösung für ihr Problem zu sein. Denn so konnte sie zusätzlich Zeit nutzen, um noch besser zu werden. Und wenn es Tom geholfen hatte, warum sollte es bei ihr anders sein? Begeisterung machte sich in ihr breit.
„Okay, kannst du mir erklären, wie es funktioniert?“, fragte sie enthusiastisch. Tom warf einen Blick auf seine Uhr und schüttelte dann den Kopf. „Tut mir leid, aber unsere dreißig Minuten sind um.“
Enttäuschung stieg in Karolina auf. „Verstehe“, murmelte sie betrübt und machte Anstalten aufzustehen. Tom hielt sie jedoch am Handgelenk fest und meinte: „Warte. Ich kann dir aber das hier geben.“ Er kramte in seiner Tasche, die neben dem Geigenkoffer lag und zog ein Buch mit dem Titel ‚Klarträume – Definition und Methoden‘ daraus hervor.
„Da stehen verschiedenen Methoden drin, wie man einen Klartraum hervorrufen kann. Meist klappt es nicht auf Anhieb, aber lass dich davon nicht entmutigen. Du musst es trainieren. Aber wenn man den Dreh einmal raus hat, ist es ganz einfach.“ Dann holte er noch ein Blatt und einen Stift heraus. „Schreibst du mir deine Nummer auf? Damit ich zwischendurch mal nachfragen kann, wie das luzide Träumen so läuft?“
Karolina war vollkommen überrascht, dass Tom Edwards ihre Nummer haben wollte. Sie schrieb ihm diese ohne zu zögern auf. Vermutlich würde er sie sowieso nie anrufen, aber es war höflich, dass er danach fragte. Anscheinend war Tom Edwards doch ganz nett und Karolina musste ihren ersten Eindruck von ihm relativieren. Sie waren zwar immer noch zwei komplette Gegensätze, aber trotzdem schien er kein schlechter Kerl zu sein – wenn auch ein Playboy.
Als er fertig war, packte er seine Tasche und seine Geige, warf sich noch eine Erdbeere in den Mund und ging dann in Richtung Ausgang. Zum Abschied drehte er sich noch einmal zu Karolina um.
„Noch ein Rat von mir: Vergiss neben deiner Liebe zur Musik dein Leben nicht. Ohne die Realität verliert man irgendwann den Stoff für die Melodie. Finde etwas, das dir Spaß macht. Ich zum Beispiel nehme mir jeden Abend etwas mit ins Bett, an dem ich Freude habe. Du siehst im Übrigen fantastisch aus und nun nimm dir die Zeit und lass es dir schmecken!“ Er deutete auf die Platte mit den Köstlichkeiten, bevor er verschwand.
Karolina blieb perplex zurück. Hatte der berühmteste Stargeiger ihr tatsächlich ein Kompliment gemacht? Wobei das sogar das zweite gewesen war, denn es war natürlich auch ein Kompliment, dass ihm ihr Geigenspiel so gut gefallen hatte. Jetzt hatte sie nicht einmal Zeit gehabt, sich für das Spiel auf seiner Stradivari zu bedanken.
Karolina ließ sich ratlos zurück auf den Stuhl sinken und erst jetzt fiel ihr auf, dass das Essen fast unangetastet vor ihr stand. Sie schob das Buch in ihre Tasche, kramte nach ihrem Handy und wählte sogleich Lindsays Nummer. Diese ging direkt nach dem ersten Klingeln ans Telefon.
„Und? Wie ist es gelaufen?“
„Lindsay, das glaubst du nicht. Er hat mich auf seiner Stradivari spielen lassen!“, sprach sie begeistert ins Telefon.
„Wahnsinn! Das ist ja unglaublich. Das durfte ich nie. Konnte er dir denn weiterhelfen?“
„Ja, ich denke schon. Aber jetzt genieße ich erst einmal das Essen im Banu!“