Читать книгу Fürchtet euch nicht - Betsy Duffey - Страница 6

Оглавление

Kapitel 1

Die Geburt Jesu

Elisabeth war im sechsten Monat schwanger, als Gott den Engel Gabriel nach Nazareth schickte, einer Stadt in Galiläa. Dort sollte er eine junge Frau namens Maria aufsuchen. Sie war noch unberührt und mit Josef, einem Nachkommen von König David, verlobt.

Lukas 1,26 – 27

Pastor Jeremy Higgins stand in der Kirche vor dem Lagerraum und starrte die Tür an. Alles in ihm sträubte sich hineinzugehen. Um diesen Augenblick hinauszuzögern, hatte er schon zwei Tassen starken Kaffee getrunken und drei Himbeerscones verputzt. Danach hatte er sich in die Morgenzeitung vertieft und seine E-Mails beantwortet. Doch jetzt war der Augenblick gekommen. Er konnte sich nicht länger davor drücken.

„Früher oder später musst du einen Anfang finden“, sagte Holly, seine Sekretärin und seit Neustem auch seine Verlobte. Die Hände in die Hüfte gestemmt, blickte sie ihn streng an, was sie in seinen Augen nur noch hinreißender machte.

Krampfhaft überlegte er, welche anderen dringenden Probleme seine Aufmerksamkeit fordern könnten, aber leider fiel ihm nichts ein.

Pastor Higgins war eigentlich keiner, der vor schwierigen Aufgaben zurückscheute. Wenn er mit einem Gemeindemitglied ein ernstes Gespräch zu führen hatte, nahm er dies ohne zu zögern in Angriff. Wenn er an das Bett eines Sterbenden gerufen wurde, machte er sich sofort auf den Weg.

„Ich weiß“, sagte er, rührte sich aber nicht.

Warum nur empfand er einen so großen Widerwillen gegen diese Aufgabe? Warum schloss er nicht einfach die Tür auf, krempelte die Ärmel hoch und machte sich an die Arbeit?

Holly verschränkte die Arme vor der Brust. „Danny Cappers hat eben angerufen. Seine Leute fangen heute Nachmittag an. Bis dahin muss der Raum leer sein.“

„Leer?“, fragte er.

„Ja, leer“, erwiderte sie. „Dieser Lagerraum muss gänzlich ausgeräumt sein.“ Sie fuchtelte mit den Armen wie ein Verkehrspolizist.

„Gänzlich ausgeräumt“, wiederholte er.

Sie wollten den Gottesdienstraum erweitern und brauchten dazu einen der kleinen Gruppenräume und eben diesen Lagerraum. Der Gruppenraum war kein Problem gewesen. Die Stühle hatten sie auf die anderen Räume verteilt – und fertig. Aber der Lagerraum, das war etwas anderes.

Ohne Holly schaffte er das nicht. Holly war wundervoll. Sie wusste genau, was sie sagen musste, wann sie sanft auf ihn eingehen und wann sie den direkten und offenen Ansatz wählen musste. Jetzt brauchte er die direkte und offene Ansprache, und genau das tat sie.

Jeremy griff in seine Tasche und holte den Schlüsselbund heraus.

Während er nach dem richtigen Schlüssel suchte, sagte er: „Die Gemeinde wächst und platzt aus allen Nähten. Die Erweiterung ist dringend nötig.“

Das wussten sie beide natürlich, aber es half, es noch einmal laut auszusprechen.

„Und es ist gut, dass wir die Möglichkeit haben, mehr Raum zu schaffen. Schließlich wollen wir unser Gebäude bestmöglich nutzen“, fuhr er fort.

„Ja“, stimmte Holly ihm zu. „Unsere Kapazitäten sind ausgeschöpft. Es ist einfach kein Platz mehr für zusätzliche Gäste bei einem Hochzeitsempfang im Gottesdienstraum oder für ein gemeinsames Mittagessen mit den Gemeindemitgliedern.“ Sie stieß ihn in die Seite. „Und die Tanzfläche ist auch viel zu klein.“

Er lächelte.

Das war natürlich ein Argument. Die Tanzfläche musste groß genug sein. Er und Holly tanzten für ihr Leben gern. Und nachdem sie nun offiziell verlobt waren, hoffte er auf viele Gelegenheiten für dieses Vergnügen.

Seine romantischen Gefühle für Holly waren bei einer Hochzeit aufgeflammt. Seit fünfundzwanzig Jahren war sie seine Sekretärin. Sie hatte ihn in den schwierigen Jahren, als seine Frau so krank gewesen und schließlich gestorben war, begleitet. Sie war während der Jahre der Trauer an seiner Seite gewesen. Und dann war der Moment gekommen, als er sie auf der Tanzfläche angeschaut und plötzlich mit ganz neuen Augen gesehen hatte.

Jeremy fasste Holly um die Taille und tanzte mit ihr ein paar Schritte durch den Flur. Sein Projekt war für den Augenblick in den Hintergrund getreten. Sie strahlte ihn an, und er lächelte zurück. Nach dem Tod seiner Frau war er nicht davon ausgegangen, dass er sich noch einmal verlieben würde.

Noch ein letztes Mal wirbelte er Holly herum und ließ sie schließlich los.

„Wieder an die Arbeit!“, sagte sie lächelnd. Er konnte sich wirklich glücklich schätzen.

Entschlossen nahm er den Schlüsselbund zur Hand, suchte den passenden Schlüssel und steckte ihn ins Schloss.

Da er nun endlich in die Gänge gekommen war, kehrte Holly ins Büro zurück.

„Alles kannst du durch Christus, der dir Kraft und Stärke gibt“, rief sie über die Schulter zurück, als sie um die Ecke bog.

Und Kraft würde er definitiv brauchen. Seit Jahren räumten die Gemeindemitglieder alles, was sie nicht mehr brauchten, in diesen Lagerraum. Wann immer die Frage aufkam, wo man etwas abstellen könnte, wovon man sich nicht trennen konnte oder wenn der Mut fehlte, es wegzuwerfen, war die Antwort die gleiche: „Stell es doch in den Lagerraum.“

Und was das Schlimmste war: Jeremy hatte es genauso gemacht wie alle anderen. Als die Gemeinde neue Abendmahlskelche bekommen hatte, war er gebeten worden, die alten zu entsorgen. Er hatte gezögert, sich an die vielen besonderen Abendmahlsgottesdienste mit genau diesen Kelchen erinnert und daran, dass seine Frau aus einem dieser Kelche ihr letztes Abendmahl empfangen hatte. Schließlich hatte er gesagt, was auch alle anderen immer sagten: „Wir stellen sie erst mal in den Lagerraum.“

Als die Vorhänge im Pfarrhaus erneuert worden waren, hatte er einen liebevollen Blick auf die alten geworfen. Eigentlich hätte er sie an das Sozialkaufhaus geben sollen, aber er musste an die Frauen im Frauenkreis denken, die diese Vorhänge genäht hatten, und er konnte sich einfach nicht davon trennen. Schließlich war doch noch Platz im Lagerraum, und genau dort waren sie am Ende gelandet.

Sogar die längst nicht mehr aktuellen Gemeindeblätter lagen noch auf den kaputten Stühlen an der Wand. Er konnte sich einfach nicht davon trennen.


Noch immer stand Jeremy vor der Tür zum Lagerraum und scheute sich, den Schlüssel umzudrehen und sich dem zu stellen, was sich hinter der Tür verbarg. In der Kirche gab es keinen weiteren Lagerraum. Diese ganzen Sachen einfach woanders unterzubringen, war also nicht möglich. Im Gemeindehaus war ebenfalls kein Platz. Schwierige Entscheidungen standen ihm bevor. Bei dem Gedanken, einige Sachen wegwerfen zu müssen, lief Jeremy ein kalter Schauer über den Rücken. Er brachte es einfach nicht übers Herz, Dinge wegzuwerfen, die zur Ehre Gottes erschaffen worden waren.

Gestern hatte Holly schon mal zwei Kisten mit alten Vorhängen und einem Sammelsurium von Geschirr weggebracht.

„Ich bringe das in das Sozialkaufhaus“, hatte sie gesagt und die Kisten nach draußen getragen, während er zurückgeblieben war und ihr wehmütig hinterhergeschaut hatte.

„Aber das sind doch die Vorhänge aus dem Pfarrhaus“, hatte er kläglich eingewandt.

„Die sind zwanzig Jahre alt!“, hatte sie erwidert.

Leider waren es nicht nur Sachen, die der Gemeinde gehörten, die er nicht wegwerfen konnte. Auch von den Dingen aus seinem Haushalt konnte er sich nicht trennen, so nutzlos und alt sie auch sein mochten. Ganz besonders nach dem Tod seiner Frau. Er war nicht unbedingt ein Hamsterer, aber er neigte dazu alles aufzuheben.

Da waren zum Beispiel die alten Zeitschriften. Man konnte Klassiker doch nicht einfach wegwerfen. Geschweige denn die Erinnerungsstücke an seine Kinder! Sein Dachboden quoll über vor Plastikbehältern voller Trophäen, Puppen, Spielzeug und alten Sportshirts. All das hatte eine Bedeutung für ihn. Wenn er diese Sachen wegwerfen würde, wäre es, als würde er seine Erinnerungen wegwerfen.

Ein entsetzlicher Gedanke durchzuckte ihn. Natürlich hatte auch Holly einen Haushalt. Neigte sie vielleicht ebenfalls dazu, alles zu horten? War ihr Dachboden etwa auch so vollgestopft mit Erinnerungsstücken? Du liebe Güte! Auf diese so wichtige Frage hatte er schlicht keine Antwort.

Sie hatten einen mehrwöchigen Ehevorbereitungskurs besucht und bei diesen Gesprächen die unterschiedlichsten Themen angesprochen, gegenseitig ihre Persönlichkeiten eingeschätzt und miteinander verglichen. Sie passten gut zueinander – in einigen Bereichen besser als in anderen. Organisation war definitiv sein Schwachpunkt, aber ihre Stärke. Er war introvertiert und gern auch mal allein, sie war extrovertiert und liebte Menschen und Feste.

Sie hatten über vieles gesprochen, aber nicht über … diesen Punkt. Wenn sie genauso viel Kram besaß wie er, dann hatten sie ein Problem. Jeremy nahm sich fest vor, sie danach zu fragen.

Würde Holly seine Sachen in Kisten packen und ebenfalls ins Sozialkaufhaus bringen? Oder schlimmer noch … Er stellte sich vor, wie die Kisten mit seinen Erinnerungen in den Müll wanderten.

„Sei ein Mann“, ermahnte er sich, drehte den Schlüssel im Schloss und stieß die Tür auf.

Das Licht aus dem Flur fiel auf ein großes Durcheinander von Gegenständen, die von einer dicken Staubschicht überzogen waren. Jeremy schaltete das Licht ein, doch das Grau blieb. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Helligkeit und er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Es sah übel aus, aber der Staub war in gewisser Weise sogar hilfreich. Diese offensichtlich schmuddeligen und nutzlosen Dinge zu entsorgen, würde ihm vielleicht doch nicht allzu schwerfallen.

Mit neuem Mut trat er vor und öffnete die erste Kiste. Alte Kassetten mit biblischen Geschichten für Kinder kamen zum Vorschein. Das war leicht. Sie hatten nicht einmal mehr einen Kassettenrecorder, um diese Kassetten abzuspielen. Müll. Er stellte die Kiste in den Flur. Walter, der Hausmeister der Gemeinde, würde sie später zum Müllcontainer bringen.

Danach stapelte er mehrere Arme voll alter Gemeindeblätter im Flur. Die waren reif für den Altpapiercontainer.

In der nächsten Kiste fanden sich alte Tischdecken, mit denen die Tische im Gottesdienstraum für Feierlichkeiten gedeckt worden waren. Er nahm eine heraus. Als er sie ausschüttelte und ins Licht hielt, entdeckte er viele kleine Löcher. In dieser Kiste hatten einige kleine Lebewesen einen warmen Winter verbracht und sich durch den Damast gefressen. Auch diese Entscheidung war leicht. Müll.

Während er eine Kiste nach der anderen vor die Tür stellte, traf Walter ein und machte sich sogleich daran, die aussortierten Gegenstände nach draußen zum Müllcontainer zu tragen.

Jeremy arbeitete sich von Kiste zu Kiste vor und traf seine Entscheidungen mit erstaunlicher Klarheit. Vieles wanderte in den Müll, aber einige Sachen, zum Beispiel die Abendmahlskelche, wollte er den Gemeindemitgliedern als Erinnerungsstücke anbieten. Er sprach ein stilles Gebet und dankte Gott für seine Führung und Hilfe.


Am späten Vormittag war der Lagerraum so gut wie leer.

Jeremy hatte es tatsächlich geschafft! Endlich war der Raum ausgeräumt, genau wie Danny Cappers es wollte. Nur noch diese letzten Teile …

So schlimm war das gar nicht gewesen. Vielleicht sollte er sich seinen Dachboden zu Hause auch mal vornehmen.

Alte Sachen ausmisten, um Platz zu schaffen für neue Möglichkeiten.

„Wir sind fast fertig“, sagte Walter, der jetzt neben dem Pastor stand. Seit mehr als einem Jahr arbeitete er inzwischen für die Gemeinde, nachdem er etliche Jahre obdachlos gewesen war. Jeremy war dankbar für seine Unterstützung und die Ruhe, die er ausstrahlte. Walter machte ihm die Arbeit um einiges leichter.

Jetzt mussten sie sich nur noch die linke hintere Ecke vornehmen.

„Was um alles in der Welt ist das denn?“ Jeremy schob eine alte Leinwand zur Seite und stand vor einem mit einem Tuch bedeckten, sperrigen Gegenstand.

Walter stieß einen leisen Pfiff aus.

Der Pastor trat näher, atmete tief durch und machte sich daran nachzuschauen, was sich unter dem Tuch verbarg. Ein ungewöhnliches Gebilde. So sehr er sich auch anstrengte, ihm fiel nichts ein, was so sperrig war und so viel Platz in Anspruch nahm.

Beherzt zog er das Tuch herunter und stellte fest, dass es sich nicht um einen einzelnen Gegenstand handelte, sondern um mehrere, die man übereinandergestapelt hatte. Jeder Gegenstand war in eine dicke schwarze Plastikfolie eingeschlagen. Jeremy wickelte den ersten aus seiner Verpackung aus. Seine Überraschung hätte größer nicht sein können: Eine Person starrte ihn an, ihre Arme waren ausgestreckt.

Er trat einen Schritt zurück und betrachtete verblüfft den etwa ein Meter zwanzig großen Mann mit Turban, der ein goldenes Kästchen in der Hand hielt. Sein violettes, mit roter Bordüre eingefasstes Gewand verlieh ihm eine königliche Erscheinung.

Einer der drei Weisen.

Jeremy musterte eingehend die anderen Gegenstände, und ihm wurde klar, dass er vor den Krippenfiguren stand, die jedes Jahr zu Weihnachten aufgestellt wurden.

Er schloss die Augen und rief sich in Erinnerung, wie die Figuren auf dem Rasen vor der Kirche standen: Josef blickte hinab auf die sitzende Maria, die die Arme nach dem Jesuskind ausstreckte. Die drei Weisen in ihrer prachtvollen Kleidung, in ihren Händen die Geschenke, die sie für das Kind mitgebracht hatten. Der Engel, der die goldene Posaune an die Lippen hielt. Einige Tiere und die Hirten mit einem Ausdruck des Erstaunens auf ihren Gesichtern. Sie streckten die Hand aus und deuteten auf das Kind.

„Das ist Balthasar!“, sagte er zu Walter.

„Wer?“

„Einer der drei Weisen. Das sind die Krippenfiguren.“

Mit Walters Hilfe befreite Jeremy seine alten Freunde von der Plastikfolie. Zuerst erschien Josef, dann Maria. Die Krippe, so erinnerte Jeremy sich, stand in Saul Haskins Scheune, zusammen mit dem Holzrahmen für den Stall.

Er packte die übrigen Figuren aus. Da waren die beiden anderen Weisen. Der Engel. Ein Lamm. Ein Esel. Ein Hirte und auch ein Kamel, das ganz hinten gestanden hatte, kamen zum Vorschein.

„Nun“, sagte Jeremy, während er zurücktrat, um die Figuren zu bewundern, „jetzt werden wir wohl einen Platz für euch finden müssen, wo ihr bis Weihnachten bleiben könnt.“

„Und dann?“, fragte Walter.

„Dann stellen wir sie auf dem Rasen vor der Kirche auf.“

Nacheinander trugen sie die Figuren hinaus in den Flur.

„Wo wollen Sie sie denn unterbringen, Pastor?“ Walters Blick wanderte über die Krippenfiguren. „Gibt es hier noch einen zusätzlichen Raum? Vielleicht einen Lagerraum, von dem ich nichts weiß?“ Er zuckte mit den Schultern. „Bald wird es hier vor Arbeitern wimmeln.“

„Sie haben recht. Ich werde mich heute Nachmittag ein wenig umhören. Vielleicht finde ich ein paar Gemeindemitglieder, die unseren Freunden bis Weihnachten Asyl gewähren.“

Walter, der sich sonst immer schnell verabschiedete, trat von einem Fuß auf den anderen.

„Was überlegen Sie?“, fragte Jeremy.

„Nun, ich wohne ja in dieser kleinen Wohnung drüben auf der Main Street. Sie ist wirklich klein, und ich kann auf keinen Fall alle nehmen, aber … ich könnte … ich meine, ich würde gern … Also, wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich gern eine Figur mit nach Hause nehmen.“

Verblüfft schaute Jeremy den Hausmeister an. Es erstaunte ihn, dass er eine der Krippenfiguren mit nach Hause nehmen wollte. Aber nach so vielen Jahren als Pastor sollte ihn eigentlich nichts mehr wundern.

„Natürlich können Sie eine mitnehmen.“ Er wandte sich um und ließ den Blick über die Figuren schweifen. „Möchten Sie eine bestimmte?“

„Also, wenn es Ihnen recht ist, würde ich gern Balthasar mitnehmen. Ich fand die Weisen schon immer …“ Er suchte nach dem richtigen Wort. „Nun, weise eben.“

„Eine gute Wahl“, erwiderte der Pastor. „Ich kann mir kein besseres Zuhause für ihn vorstellen.“

„Sind wir hier fertig? Dann nehme ich ihn gleich mit.“ Walter strahlte, als hätte er in der Lotterie gewonnen. Er legte dem Weisen den Arm um die Taille, hob ihn vorsichtig hoch und ging mit ihm davon, als wären sie alte Freunde.


Fünf Minuten später verließ Pastor Higgins gerade den Lagerraum, als die Lindall-Schwestern den Flur entlangkamen.

„Wir haben gerade Walter mit Balthasar gesehen“, erklärte Joy. „Er sagte, Sie suchen nach einem Zuhause für die Krippenfiguren. Wir würden auch gern einen Weisen mitnehmen.“

„Für mehr haben wir leider keinen Platz“, wandte Grace ein.

„Natürlich.“

Die Schwestern tänzelten aufgeregt durch den Flur und begannen, den Refrain von Wir drei Könige zu singen. Jeremy stimmte mit ein, und kurz darauf verabschiedeten sich die Schwestern mit Melchior, dem zweiten Weisen, im Gefolge.

Der Pastor atmete auf. Das würde vielleicht gar nicht so schwierig wie gedacht. Er würde die Figuren auf dem Rasen vor der Kirche aufstellen und die Gemeindemitglieder bitten, sich eine auszusuchen.

Nacheinander trug er die Figuren nach draußen. Gleichzeitig überlegte er, wen er anrufen und bitten könnte, eine von ihnen bei sich aufzunehmen.

Er ließ den Blick über das Krippenensemble schweifen.

Irgendetwas störte ihn. Was war es nur? Die Figuren waren vollkommen intakt und unbeschädigt. Sie sahen wunderschön aus. Aber …

Irgendetwas stimmte nicht.

Und dann fiel es ihm schlagartig auf: Das Jesuskind fehlte!

Er ging zurück in den Lagerraum und suchte den nun leeren Raum ab. Kein Jesuskind.

Wo konnte es nur sein? Er sah das Baby ganz deutlich vor sich. Klein und blass, kaum größer als ein richtiges Neugeborenes. Seine Hände waren ausgestreckt, die Handflächen nach oben gedreht, und es war in weiße Windeln gewickelt. Es konnte nicht aufrecht stehen wie die anderen Krippenfiguren. Vielleicht hatte jemand es eingepackt und in eine Kiste gelegt. Aber in welche? Er hatte doch alle Kisten durchgesehen und jede Ecke und jeden Winkel des Lagerraums abgesucht. Zumindest dachte er das.

Aber da waren noch die Kisten, die sie am Tag zuvor an das Sozialkaufhaus weitergegeben hatten. Altes Geschirr und die Vorhänge aus dem Pfarrhaus, außerdem noch alte Chormappen und anderen Kleinkram. Könnte das Jesuskind in einer der Kisten gelegen haben, die sie weggegeben hatten? Du liebe Zeit!

Pastor Higgins betrachtete die übrigen Figuren, die ihm jetzt sehr traurig vorkamen, als wüssten sie, dass die Hauptfigur in ihrem Stück fehlte.

Sein Herzschlag beschleunigte sich.

Wo war das Jesuskind nur? Es konnte doch nicht sein, dass der Pastor Jesus verloren hatte. Oder doch?

„Wir werden ihn finden“, sagte er zu den anderen Figuren.

Aber als er an die Kisten für das Sozialkaufhaus dachte, war er sich dessen nicht mehr so sicher.


In der Zwischenzeit im Sozialkaufhaus …

„Sieh nur, was wir hier haben.“ Sue Johnson hielt das Jesuskind in die Höhe.

Die anderen Ehrenamtlichen, die die gespendeten Waren sortierten, hielten inne und bestaunten das Baby.

„Wer gibt denn so etwas weg?“ Sue nahm die Plastikfigur in die Arme, als würde sie ein richtiges Baby halten.

„Die Leute geben die unglaublichsten Dinge weg“, bemerkte Julius.

„Und die Leute kaufen die unglaublichsten Dinge“, ergänzte Sue.

„Aber“, fuhr Julius fort, „ich habe noch nie erlebt, dass jemand Jesus weggibt.“

Er lachte.

Sue war gerade dabei gewesen, die neuesten Kisten auszupacken, die sie gespendet bekommen hatten. Altes Geschirr und alte Vorhänge. Dinge, die häufig bei ihnen abgegeben wurden. Und in einer dieser Kisten hatte sie das Jesuskind gefunden.

„Also dann: Hallo, Jesus“, sagte sie. Ihr Blick ruhte auf seinem sanften, freundlichen Gesicht.

„Was mache ich jetzt mit dir?“

Sie hielt ihn eine Weile im Arm.

In welcher Abteilung soll ich Jesus unterbringen?, fragte sie sich.

Beim Spielzeug?

Nein, sie konnte ihn nicht zum Spielzeug räumen. Es erschien ihr nicht richtig, ihn zu den Puppen und den Teddybären zu legen.

Haushaltwaren?

Sie schüttelte den Kopf.

Gemischtwaren?

Okay. Sie ging in die Krimskrams-Abteilung und platzierte die Krippenfigur zwischen einer Lavalampe und einer Brotmaschine.

Doch mit einem Mal fühlten sich ihre Arme seltsam leer an, und ihr Blick wanderte erneut zu dem Baby.

Sie wollte es nicht zurücklassen.

Seit Jahren hatte Sue nicht mehr an Jesus gedacht, aber als sie ihn jetzt anschaute, bohrte sich ein tiefer Schmerz in ihr Herz. Da war so eine nicht greifbare Sehnsucht in ihr. Wonach, das wusste sie nicht so genau.

Vielleicht fehlte etwas in ihrem Leben.

Vielleicht hatte dieses Baby, dieser Jesus ihr etwas zu sagen.

„Aber was denn?“, fragte sie ihn.

Er schaute sie unverwandt an, die Arme nach ihr ausgestreckt.

Als sie Feierabend hatte, ließ Sue Jesus im Laden zurück, aber auf der Heimfahrt musste sie unentwegt an ihn denken.

Ihr Weg führte sie an einer Kirche vorbei. Am Kirchengebäude hing ein Schild, das einlud, mittwochs zum Abendessen hereinzukommen. Heute war Mittwoch.

Hunderte Male war sie an dieser Kirche vorbeigefahren, doch dieses Mal fuhr sie auf den Parkplatz und beobachtete die Leute, die in das Gebäude strömten.

Vielleicht gab es hier ja doch etwas für sie. Sie stieg aus und ging Richtung Eingang.

Fürchtet euch nicht

Подняться наверх