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ОглавлениеKapitel 2
Der Hirte
In dieser Nacht bewachten draußen auf den Feldern vor Bethlehem einige Hirten ihre Herden.
Lukas 2,8
„Hallo, Buck!“ Pastor Higgins stand in der Tür und winkte dem jungen Mann zu, der gerade den Rasen vor der Kirche mähte.
Buck winkte zurück. Die Sonne auf seinem Rücken tat ihm gut. Er erledigte gern die Gärtnerarbeiten rund um das Kirchengebäude. So kam er wenigstens mal raus aus seinem kleinen Zimmer im Wohnheim auf dem Collegecampus. Und es lenkte ihn von seinen negativen Gedanken ab. Die Arbeit auf dem Kirchengelände und das Rudern auf dem Fluss waren die beiden Dinge, die ihn antrieben. Dinge, die ihm halfen, nicht den Verstand zu verlieren.
Der Lärm des Rasenmäher-Motors übertönte alle anderen Geräusche, und das ständige Vor und Zurück mit dem Rasenmäher half ihm dabei, ein wenig abzuschalten. Rasenmähen war ähnlich wie rudern auf dem Fluss. Buck mochte Dinge, bei denen man nicht allzu viel nachdenken musste.
Als er heute früh am Morgen rudern gegangen war, war die Welt noch am Schlafen gewesen. Auch seine Muskeln mussten erst wach werden und sich an die Belastung gewöhnen, doch schon bald fand er seinen Rhythmus. Seine Füße waren in die Halterungen im Inneren des Bootes gepresst, seine Arme zogen die Ruder zurück und das Boot glitt vorwärts. An der Oberfläche wirkte das Wasser friedlich, doch Buck wusste, dass die Strömung darunter heimtückisch war, ähnlich wie die Emotionen im Inneren eines Menschen.
Auch das Rasenmähen war eine friedliche Tätigkeit. Das gleichmäßige Schieben des Mähers quer durch den ganzen Garten und der Geruch des frisch geschnittenen Grases taten seiner aufgewühlten Seele gut.
Erneut schaute er zu Pastor Higgins hinüber, der inmitten einer Gruppe von Plastikfiguren stand. Er hatte die Hände in die Hüfte gestemmt und schüttelte den Kopf. Vermutlich war er gestresst wegen der anstehenden Renovierungsarbeiten.
Am Ende der Rasenfläche angekommen, wendete Buck den Rasenmäher und schob ihn ein paar Meter versetzt wieder zurück. Ein hellgrüner, ebenmäßiger Graspfad blieb zurück.
Buck sog erneut den Duft des frisch gemähten Grases ein. Die warmen Sonnenstrahlen genoss er heute ganz besonders.
Am Morgen auf dem Fluss war es recht kühl gewesen. Bereits um fünf Uhr war er zum Bootshaus gefahren. Er besaß einen Schlüssel und konnte das schmale Boot ohne Hilfe herausholen.
Der Fluss war ganz ruhig. Das Wasser schlug nur sanfte Wellen, da so gut wie kein Wind herrschte. Die Morgensonne ging auf, und die vom Wasser zurückgeworfenen Strahlen blendeten ihn. Die beiden Enten, die ihn eine Weile begleitet hatten, gaben auf und flogen davon.
Das Ruderboot schnitt so sauber durch das Wasser wie ein Messer. Die Ruder in seinen Händen fühlten sich gut an, und er zog und zog und zog. Wenn er morgens allein auf dem Fluss ruderte, war er mit sich im Reinen. Alles war gut.
Er liebte jeden Meter dieses Flusses und kannte ihn gut. Die Weide nahe beim Ufer, auf der zwei Rotschimmel grasten, mochte er besonders gern. Jedes Mal, wenn er daran vorbeifuhr, erfreute er sich an der ländlich-friedvollen Atmosphäre.
Buck zog und zog, bis er die Weide hinter sich gelassen hatte und zum angrenzenden Wald gelangte. Am Flussufer watschelte ein Murmeltier zum Wasser, tauchte seine Nase hinein und schüttelte sich das Wasser aus dem Fell.
Er nahm immer den Zweier. Der Einer war ihm zu kurz. Und zu einsam.
Als er das Boot wieder ins Bootshaus zurückbrachte, traf er auf Ken. „Du bist wirklich unglaublich!“, staunte der. „Ein wahrer Frühaufsteher.“
Ken konnte natürlich nicht wissen, dass Buck so gut wie nie richtig schlief. Er brauchte meist Stunden, um einzuschlafen. Und wenn er dann endlich schlief, kamen die Albträume, und er schreckte schwitzend, zitternd und manchmal sogar schreiend aus dem Schlaf hoch.
Da war es besser, so wenig wie möglich zu schlafen und morgens früh aufzustehen.
„Würdest du morgen mal einen der Jungs mitnehmen?“, fragte Ken. Auf der anderen Seite des Flusses fand gerade ein Rudercamp für Jungen im Teenageralter statt. Sie waren laut und ausgelassen, boxten und schubsten sich ständig. Ken hatte beim Training alle Hände voll zu tun.
„Nein, lieber nicht.“ Buck schüttelte den Kopf. Er mochte den leeren Platz vor sich.
Pastor Higgins winkte Buck zu sich, der mit seinem Rasenmäher sogleich Kurs auf ihn und die Krippenfiguren nahm.
„Soll ich die wegbringen?“
„Nein, Buck, wegen der Renovierung mussten wir den Lagerraum ausräumen. Einige Gemeindemitglieder haben sich bereit erklärt, eine Krippenfigur bis Weihnachten mit nach Hause zu nehmen.“ Er hielt kurz inne und fragte schließlich: „Könntest du auch eine von ihnen mitnehmen?“
Buck betrachtete die Figuren. Er war es nicht gewohnt, mit einbezogen zu werden. Er mochte es, allein zu sein. Das war sicherer. Aber er mochte auch Pastor Higgins.
„Ich weiß nicht“, erwiderte Buck. „Ich wohne immer noch im Wohnheim.“
„Kein Problem. Ich finde sicher jemand anderen.“
„Nein, nein“, ruderte Buck zurück, „ich möchte Ihnen helfen. Ich nehme ihn.“ Er deutete auf den jungen Hirten, der sich schwer auf seinen Hirtenstab stützte. In der freien Hand hielt er ein kleines Lamm.
Buck stellte sich vor, wie der Hirte in seinem winzigen Zimmer im Wohnheim stand. Es würde eng werden.
„Reservieren Sie ihn für mich. Wenn ich fertig bin, nehme ich ihn mit.“
Er hoffte nur, dass der Hirte in seinen Jeep passte.
„Vielen Dank!“ Pastor Higgins lächelte ihn an.
Buck lächelte zurück, so gut er konnte, und machte sich wieder an die Arbeit. Er zog an dem Seil und startete den Motor.
Auf der anderen Seite des Rasens stand der Hirte und schaute ihm zu.
Als Kinder hatten Buck und sein Bruder Bruno beim Krippenspiel in der Kirche mitgewirkt. Sie hatten zwei Hirten gespielt.
Wie stolz Buck gewesen war! Er trug den hellblauen Bademantel seiner Mutter, auf dem Kopf ein Geschirrtuch, das mit einem Lederschnürsenkel festgebunden war, und natürlich durfte auch ein typischer Hirtenstock nicht fehlen. So verkleidet warteten er und Bruno im hinteren Teil der Kirche auf ihren großen Auftritt.
Zuerst betraten Maria und Josef, die immer von den größeren Kindern gespielt wurden, die Bühne. Maria hielt eine in ein Tuch gewickelte Babypuppe im Arm.
Dann kam der zottelige Esel in seinem braunen Kostüm durch den Gang geschlendert. Danach drei Schafe, die von den Kindergartenkindern gespielt wurden. Sie trugen Kostüme, die mit Wattebäuschen besetzt waren, und Kopfbänder mit weiß-rosa Ohren.
Und schließlich hatten auch die Hirten ihren großen Auftritt.
Buck erinnerte sich noch, dass es immer mindestens zwei in ihrem Krippenspiel gegeben hatte. Sein Blick wanderte zu seinem Hirten, der zwischen den anderen Krippenfiguren stand. Er wirkte irgendwie einsam. Er brauchte einen zweiten Hirten, der ihm Gesellschaft leistete, so wie Bruno –
Buck zwang sich, nicht an seinen Bruder zu denken. Das tat er immer, wenn ihn schmerzliche Erinnerungen einzuholen drohten …
Buck konzentrierte sich wieder auf das Rasenmähen. Vor und zurück. Wenn er an den Figuren vorbeikam, schaute er zu seinem Hirten hinüber.
Für das Krippenspiel hatte ihre Sonntagsschullehrerin den Hirten die Gesichter mit Asche eingerieben und auch ihre Gewänder damit bestäubt, damit sie schmutzig wirkten, wie richtige Hirten eben. Im Vergleich zu den drei Weisen in ihren feinen Gewändern sahen sie schäbig und verlottert aus.
„Die Hirten waren unrein“, hatte ihre Lehrerin ihnen erklärt. „Sie durften die Stadt Bethlehem nicht einmal betreten.“
Was für eine Ehre und Überraschung musste es für diese abgezehrten und schmutzigen Hirten gewesen sein, als die Engel zu ihnen gekommen waren. Ausgerechnet zu ihnen!
Die Stimme des Erzählers der Weihnachtsgeschichte klang noch in seinem Kopf nach. In dieser Nacht bewachten draußen auf den Feldern vor Bethlehem einige Hirten ihre Herden.
Und dann waren sie durch den Gang gekommen, Buck und Bruno und die kleinen Schafe mit ihren Wattebauschkostümen, und es war irgendwie genau richtig gewesen. Bruno und er hatten nie in die Kirche gepasst. Aber die Rolle der Hirten beim Krippenspiel war absolut perfekt für sie gewesen.
Das alles war schon lange her, und seither war viel geschehen.
Dr. Morgan hatte Buck ermutigt, das Rudern beizubehalten. Sie meinte, das sei eine „therapeutische“ Maßnahme. Und Buck konnte ihr nur zustimmen. Für ihn bedeutete das Rudern Frieden, ein paar Stunden, in denen er seine bedrückenden Gedanken verdrängen und einfach nur sein konnte. Ein paar Stunden Erleichterung von dem Zorn, der immer wieder in ihm hochstieg.
Der Fluss war wie sein Leben. Äußerlich heiter und ruhig. Buck konnte viele Seminare gleichzeitig belegen, Vorlesungen und Prüfungen und Hausarbeiten mit Leichtigkeit schaffen. An der Oberfläche wirkte er gelassen, aber in seinem Inneren versteckten sich tückische Strömungen.
Niemand wusste um seine Nächte. Niemand wusste um den Stress, unter dem er stand. Niemand außer Dr. Morgan.
Der Trainer seiner Rudermannschaft hatte Buck gedrängt, Dr. Morgan aufzusuchen, nachdem es geschehen war. Bucks Wutausbruch hatte ihn hellhörig werden lassen.
Bei seinem ersten Besuch in Dr. Morgans Praxis war Buck sehr zornig gewesen. Zornig darüber, dass er zu einem Psychiater gehen sollte. Einen Seelenklempner aufsuchen, was sollte das schon bringen? Er war wütend auf die ganze Welt. Deshalb setzte er sich erst gar nicht hin, sondern lief wie ein Tier im Käfig in dem kleinen Sprechzimmer auf und ab.
„Möchten Sie etwas trinken?“
Er warf der Therapeutin einen finsteren Blick zu. „Ich bin doch nicht zu einer Teeparty hier!“, fuhr er sie an.
„Warum sind Sie denn hier?“, fragte sie ruhig.
Ihre Ruhe entfachte seinen Zorn erst recht.
„Sie wissen doch genau, warum ich hier bin“, antwortete er. „Mein Trainer hat mich hergeschickt.“
„Was meinen Sie, warum er Sie hergeschickt hat?“
Bucks Zorn wurde so groß, dass er ihr keine Antwort geben konnte. Er stürmte aus dem Sprechzimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Er rannte die Treppen hinunter zum Parkplatz, wo er seinen Jeep geparkt hatte, setzte sich ans Steuer und legte den Kopf auf das Lenkrad.
Warum hatte er das gemacht? Warum hatte er die Tür hinter sich zugeschlagen und war dann abgehauen?
Er wollte nicht so empfinden. Er wollte nicht so handeln.
Er stieg die Treppe wieder hoch und klopfte an Dr. Morgans Tür. Sie öffnete ihm und blickte ihn freundlich an. Als wäre er nie weggelaufen.
„Warum sind Sie hier?“, fragte sie erneut.
Dieses Mal nahm er auf dem Ledersofa Platz.
„Ich habe jemanden geschlagen“, gestand er. Und dann fingen sie an zu reden.
Seine Gefühle waren wie der Fluss. Tiefe Unterströmungen zerrten an ihm. Oberflächlich schien alles in Ordnung zu sein, aber tief unten herrschte Dunkelheit.
Während er den Rasenmäher zur Gartenhütte zurückschob, dachte er über den Hirten nach. Dieser einfache Mann aus Plastik hatte die Erinnerungen an seinen Bruder und das Krippenspiel zurückgebracht. Gute Erinnerungen. Ein warmes Gefühl durchströmte Buck.
Er dachte an sich und seinen Bruder in dem großen, massiven Ruderboot, das sein Großvater immer an den Bootssteg des Santee Rivers angebunden hatte. Damit ruderten sie Tag für Tag hinaus, um Krabbenfallen auszulegen oder Barsche zu angeln. Seite an Seite saßen sie auf der verwitterten Bank und griffen nach den Rudern, die in den verrosteten Metallringen hingen, dann setzten sie das Boot in Bewegung.
Ihre nackten Füße waren gegen das feuchte Holz auf den Boden des Bootes gedrückt. Mit aller Kraft kämpften sie gegen den Widerstand des Wassers an, während ihnen die Sonne auf ihre gebräunten Rücken schien.
Diese Zeit erschien Buck heute unschuldig und sorgenfrei. Zwei Jungen an einem sonnigen Tag auf dem Wasser.
Von klein auf waren sie zusammen rudern gegangen. Das Ziehen der Ruder einte sie, und sie ruderten im selben Rhythmus, beinahe so, als wären sie ein und dieselbe Person. Vier gebräunte Hände umklammerten die beiden Ruder. Vier dünne Ärmchen zogen mit vereinten Kräften. Zwei blonde Köpfe beugten sich gemeinsam hinunter und kamen wieder hoch. Zwei strahlende Gesichter mit Sommersprossen, die sich auf den vor ihnen liegenden Weg konzentrierten.
Nacheinander überprüften sie die Krabbenfallen. Buck zog das Seil hoch, bis die Falle aus dem Wasser auftauchte. Bruno öffnete die Holzkiste hinten im Boot, und gemeinsam schüttelten sie die Krabben aus der Falle in die Kiste und warfen schnell den Deckel zu, damit die Scheren der Tiere sie nicht erwischten.
Als Bruno nach der Highschool aufs College ging, entdeckte er das Rudern als Sportart für sich. Er trat der Rudermannschaft bei, und Buck lauschte mit Begeisterung den Geschichten, die Bruno ihm erzählte, wenn er übers Wochenende oder während der Semesterferien nach Hause kam. Er berichtete spannende Dinge von Ruderwettkämpfen und dem Wetteifern der Studenten.
Aber irgendwie machten seine Geschichten Buck auch traurig. Bruno war weitergezogen und brauchte ihn nicht mehr.
Bruno schien sein langes Gesicht zu bemerken.
„Ich rudere jeden Morgen“, sagte er. „Ganz allein. Aber ich nehme immer den Zweier. Der vordere Platz bleibt leer“, tröstete er ihn. „Den habe ich für dich reserviert.“
Buck lächelte. Mehr brauchte er nicht zu wissen.
Während die Zeit verging und Buck jeden Morgen allein mit dem alten Ruderboot hinausfuhr, dachte er an Bruno, der allein in seinem Zweierboot ruderte und den vorderen Sitz für ihn reserviert hatte.
Buck folgte Bruno schließlich aufs College, und wieder waren sie zwei Brüder, die dieses Mal zwar hintereinander im Boot saßen, aber dennoch eins waren im Rhythmus des Ruderns und in dem Willen, das Boot voranzutreiben.
Der Hirte von Pastor Higgins’ Krippenfiguren war leicht. Buck trug ihn mühelos zu seinem Jeep und legte ihn in den Kofferraum, wobei der Kopf des Hirten aus der geöffneten Heckklappe ragte. Auf dem Weg durch die Stadt bemerkte Buck die Blicke, die ihm zugeworfen wurden, und er lächelte. Es war schön, Gesellschaft zu haben, auch wenn die Gesellschaft nur aus Plastik war.
Er trug den Hirten in sein Zimmer und legte ihn auf das leere Bett. Brunos Bett. Nach dem Unfall seines Bruders hatte Buck keinen neuen Mitbewohner zugewiesen bekommen.
Die Erinnerung an sein letztes Gespräch mit Bruno verfolgte ihn. Bruno hatte versucht, Buck aufzuwecken, weil er mit ihm rudern wollte, aber Buck war am Abend zuvor feiern gewesen und hatte sich das Kissen über den Kopf gezogen.
„Steh auf, Bruderherz“, sagte Bruno, aber draußen es war noch dunkel, und Buck hatte keine Lust.
„Nö“, stöhnte er und kniff die Augen zusammen.
„Du verpasst was“, erklärte Bruno.
Er probierte es noch ein letztes Mal und zog dann allein los.
„Dann eben nicht“, sagte er, als er das Zimmer verließ.
Es war das letzte Mal, dass Buck Bruno sah.
Einige Zeit, nachdem Bruno hinausgegangen war, wurde Buck von einem lauten Donnerschlag geweckt und war erleichtert, dass er nicht mit seinem Bruder zum Rudern gegangen war. Der Gedanke, dass Bruno etwas passiert sein könnte, kam ihm nicht. Er war der Ältere, Stärkere.
Aber es war etwas passiert. Zwei Stunden später stürmte einer seiner Kommilitonen in Bucks Zimmer. Mit vor Schreck geweiteten Augen starrte er ihn an.
„Komm mit“, sagte er.
„Was ist los?“
„Bruno!“, sagte sein Kommilitone. Furcht ergriff Buck. Gemeinsam rannten sie hinaus auf den Parkplatz, wo ein Polizeiauto im prasselnden Regen stand.
Später sagte man ihm, das Gewitter sei ganz plötzlich aufgezogen. Bruno war wie üblich frühmorgens rudern gegangen, und niemand hatte mit einem solchen Wetterumschwung gerechnet. Die Wolken hatten sich dunkel und bedrohlich zusammengeballt, und man vermutete, dass Bruno vom Blitz getroffen worden war.
Sein Bruder hatte ihn zum zweiten Mal verlassen, war weitergezogen wie damals, als er aufs College ging. Aber dieses Mal gab es keine Besuche und keine Geschichten. Gar nichts.
Wäre es anders ausgegangen, wenn sie zusammen gewesen wären?
Der Zorn baute sich wieder in Buck auf. Doch er hatte mittlerweile gelernt, ihn im Zaum zu halten. Dr. Morgan hatte ihm geraten zu atmen, wenn er die Wut hochkommen spürte. Also atmete er tief ins Zwerchfell, wie sie es ihm gezeigt hatte.
Wenn Buck an die bedrohlichen Wolken und den Blitz dachte, der seinen Bruder getroffen hatte, dann war er unglaublich böse auf Gott. Wie hatte er ihm seinen Bruder nehmen können?
Bucks Zorn richtete sich aber nicht nur gegen Gott, sondern gegen alles und jeden. Seine Freunde gingen ihm aus dem Weg. Seine Mannschaftskameraden wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben.
Dr. Morgan hatte ihm geholfen, mit seinem Zorn umzugehen, und es war auch schon besser geworden, aber er verstand es immer noch nicht. Warum Bruno? Dr. Morgan meinte, es sei gut, wenn er darüber reden oder schreiben oder es irgendwie zum Ausdruck bringen würde. Aber Buck konnte nicht gut über seine Gefühle reden. In seinem Elternhaus hatte man ihm das nicht beigebracht.
Das war der Zeitpunkt gewesen, als er angefangen hatte, für Pastor Higgins den Rasen zu mähen. Einer Kirche wollte er keinesfalls beitreten. So nah wollte er Gott nicht kommen. Gott hatte ihm seinen Bruder genommen. Aber Pastor Higgins mochte er.
Wo war Bruno jetzt? Diese Frage beschäftigte ihn. Pastor Higgins hatte ihn einmal gefragt, was er denn glaube. Buck wusste es nicht mit Sicherheit, aber seiner Meinung nach war Bruno im Himmel.
„Warum musste das passieren?“, fragte Buck den Hirten, der neben ihm saß, aber der Mann aus Plastik antwortete nicht.
Er wollte gern wieder an Gott glauben, so wie früher, als Bruno noch am Leben gewesen war.
Die Vorstellung, dass es einen Himmel gab, hatte etwas Tröstliches an sich. Buck hatte gelesen, im Himmel gebe es einen Fluss. So stellte er sich Bruno vor: Nicht in einem weißen Gewand und mit einer Harfe auf einer Wolke schwebend, sondern rudernd auf einem wunderschönen, glasklaren Fluss. Vielleicht ruderte sein Bruder wieder mit einem leeren Vordersitz und wartete auf ihn.
Die Enge in seiner Brust löste sich, und Buck schloss die Augen.
Ein Gebet schlich sich in sein Herz und machte es weicher.
„Ich hätte ihn aufhalten sollen“, sagte er zu dem Hirten, doch eigentlich war das Gesagte an Gott gerichtet.
Der Hirte hielt das kleine Lamm fest und schaute Buck an. Sein Blick war freundlich.
Hirten hielten Wache bei ihren Herden in der Nacht.
Ein Gedanke blitzte in Bucks Kopf auf. Jesus war der gute Hirte. Vielleicht wachte Jesus über ihm wie die Hirten über ihren Herden. Dass der gute Hirte in der Nacht über ihm wachte, war tröstlich. Denn die Nächte waren besonders schlimm für ihn.
Er dachte an das Trainingslager der Jungen auf der anderen Seite des Flusses. Er könnte ebenfalls eine Art Hirte sein. Er könnte den Jungen helfen, und vielleicht würden sie anschließend die richtigen Entscheidungen für ihr Leben treffen.
Die Hände des Hirten hielten das Schaf, und Buck spürte, dass auch er gehalten wurde.
„Danke“, sagte er zu dem Mann aus Plastik.
Und während er die Hände des Hirten betrachtete, wurden sie zu seinen Händen, die bereit waren, für andere da zu sein.
„Danke“, sagte er noch einmal, diesmal jedoch als Gebet.
Der Zorn in ihm lockerte seinen Griff, und Bruno atmete tief durch. Frieden durchströmte ihn.
Am nächsten Morgen wartete er am Bootssteg auf Ken. „Ich nehme den Zweier“, erklärte er. „Braucht einer der Jungen ein bisschen Training?“
Ken lächelte. „Da sind ein paar, die nur zu gern mit dir rudern würden.“ Er rief einen Namen, und sofort kam einer der jüngeren Teenager auf sie zugelaufen. Buck deutete auf den leeren Sitz vor sich.
„Möchtest du mitkommen?“, fragte er den Jungen. „Ich kann dir ein paar Tipps geben.“
Der Junge strahlte ihn an.
„Ich hole nur schnell meine Sachen“, sagte er und rannte zum Bootshaus zurück.
Buck betrachtete den leeren Sitz und dachte an Bruno. Brunos Lächeln. Seine angespannten Armmuskeln, wenn er ruderte. Der Blick, den er zu ihm zuwarf, wenn Buck ihn über die Schulter hinweg anlächelte und ihm zunickte.
„Mach’s gut, Bruno. Wir werden uns wiedersehen.“
Er atmete durch. Der Zorn war weg. An seine Stelle war Hoffnung getreten.
Der Fluss war geheimnisvoll und tief, genau wie Gott.
Buck schaute ein letztes Mal auf den leeren Sitz vor sich und stellte sich vor, wie Bruno im Himmel den Fluss entlangruderte. „Und halte den vorderen Sitz für mich frei.“
In der Zwischenzeit im Sozialkaufhaus …
„Wie viel kostet Jesus?“
Eigentlich hatte Marjorie nach einem schwarzen Pullover gesucht. Sie freute sich immer, wenn sie ein Schnäppchen machte. Ein Schnäppchen würde sie auch diesmal aufmuntern. Heute Morgen nach dem Aufwachen hatte sie sich niedergeschlagen und einsam gefühlt – und beschlossen, sich einen Einkaufsbummel zu gönnen.
Einige ihrer schönsten Kleidungsstücke hatte sie im Sozialkaufhaus gefunden. Sie besaß sogar eine Webpelzjacke. Und ein grünes Samtkleid, das vermutlich einmal der Großmutter von jemandem gehört hatte.
Sie war auf dem Weg zur Damenabteilung gewesen, als sie das Jesuskind in der Gemischtwarenabteilung entdeckt hatte. Ausgestreckte Arme. Helle kleine Augen, die sie interessiert anblickten.
Es hatte etwas an sich gehabt, wie es da zwischen Kaffeemaschinen und alten Lampen lag. Sie hatte es hochgenommen, konnte aber kein Preisschild entdecken.
„Wie viel kostet Jesus?“, fragte sie erneut. Das Mädchen im nächsten Gang beantwortete ihre Frage.
„Alles in dieser Abteilung kostet fünf Dollar.“
Marjorie betrachtete das Baby in ihren Armen. Wie konnte man Jesus einen Preis geben?
„Ich nehme ihn“, sagte sie. Lächelnd legte sie die Figur in den Einkaufswagen.
Sie ging zur Kasse und reichte dem Mädchen einen Fünfdollarschein. Der schwarze Pullover war vergessen.
Sie setzte Jesus auf den Beifahrersitz, schnallte ihn an und fuhr langsam nach Hause. An jeder Ampel blickte sie zu dem Baby hinüber und lächelte.
Erinnerungen an ihre eigenen Kinder überfielen sie; Kinder, die jetzt erwachsen waren und auf eigenen Beinen standen. Sie erinnerte sich, wie sie mit ihnen in den Gottesdienst gegangen war, an all die Lieder von Jesus, die sie gesungen hatten, und an die Geschichten.
„Jesus liebt mich, ganz gewiss“, sang sie laut – und war überrascht, wie klar und zuversichtlich ihre Stimme dabei klang. Das tat ihr gut. Sie war nicht allein.
„Denn die Bibel sagt mir dies.“
Ein Mann im Auto neben ihr schaute zu ihr herüber. Sie winkte ihm zu. Er wandte sich ab.
Wen kümmerte es? Jesus war bei ihr.
„Ja, Jesus liebt mich!“ Mit jeder Zeile sang sie lauter.
Bei der letzten Zeile fuhr sie in ihre Einfahrt und schaltete den Motor aus.
„Denn die Bibel sagt mir dies.“
Sie schnallte das Baby ab und lächelte. „Du bist diese fünf Dollar wirklich wert.“
Jesus schaute unverwandt zu ihr hoch. Ein sanftes Lächeln umspielte seine Babylippen.
„Danke.“