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Kapitel 1
ОглавлениеMit dem letzten Klingeln für dieses Schuljahr verließen Mira und ihre Mitschülerinnen Susanne, Claudia und Laura gemeinsam das Schulgebäude.
»Endlich Ferien! Ich habe mir übrigens vorgenommen, mich von nun an ausschließlich vegan zu ernähren.«
Mira sah Susanne entsetzt an. »Wie bitte? Ist das dein Ernst? Das bedeutet dann wohl, nie wieder McDonald’s?«
»Ganz genau. Ist doch eh alles nur fettiges, ungesundes Zeug.«
»Aber warum dann gleich vegan und nicht vegetarisch?«, hakte Mira nach.
»Weil die vegane Ernährung die gesündeste ist.«
Laura nickte. »Das ist klasse.«
»Stimmt. Ich habe auch schon mal daran gedacht, mich vegan zu ernähren. Das wäre dann wohl der richtige Zeitpunkt, auch damit zu beginnen«, sagte Claudia.
Mira verdrehte die Augen. Dass Laura und Claudia Susanne alles nachplapperten, war nichts Neues. Aber meinte Susanne wirklich, was sie da sagte? Wie konnte eine Ernährungsform als gesund bezeichnet werden, bei der man sich fehlende Vitamine oftmals mittels Tabletten zuführen musste? Darüber hatte sie erst vor Kurzem einen Bericht gesehen. Aber Mira kannte sich damit nicht wirklich aus und wusste außerdem, wie stur Susanne sein konnte. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, würde sie das auch knallhart durchziehen, ganz egal, was andere davon hielten.
Deshalb zuckte Mira nur mit den Schultern. »Also für mich wäre das absolut nichts. Da fallen viel zu viele leckere Lebensmittel weg.«
Susanne musterte Mira abschätzig. »Das glaube ich dir gern.«
Mira wusste ganz genau, worauf ihre Freundin anspielte. Im Gegensatz zu Susanne, Laura und Claudia hatte Mira eindeutig keine Modelmaße. Nicht nur, dass sie fast einen Kopf kleiner war als Susanne, sie trug auch keine XS. Selbst eine S saß meist sehr eng und ließ sie wie eine Presswurst aussehen. Daher kaufte sie ihre Kleidung stets in Größe M, manchmal auch in L, um mögliche Rundungen besser kaschieren zu können.
In unschöne Gedanken versunken, ob sie vielleicht doch zu dick war, lief Mira neben den anderen über den Schulhof in Richtung Ausgang.
»Also dann, bis bald. Wir sehen uns sicherlich in den Ferien«, sagte Laura und hob die Hand zum Gruß.
»Aber klar doch.« Susanne winkte ihr und Claudia hinterher.
Mira nickte ihnen lächelnd zu. Sie hielt von den beiden nicht viel. Ständig klebten sie an Susanne und mussten alles genau so machen wie sie. Hatten sie denn nie eine eigene Meinung? Mira wusste, dass weder Laura noch Claudia sie wirklich mochten. Sie akzeptierten sie nur, wenn Susanne in der Nähe war. Diese hatte sie auch schon des Öfteren zur Ordnung gerufen, wenn sie Mira wieder einmal verbal angriffen. Auf Susanne konnte sich Mira in der Hinsicht echt verlassen, sie hielt zu ihr, wenn es darauf ankam.
»Weißt du denn schon, was du in den Ferien unternehmen wirst?«, fragte Susanne plötzlich.
»Da wir dieses Jahr nicht in den Urlaub fahren, muss ich mal schauen, was sich ergibt.«
Susanne blieb stehen und starrte sie mit großen Augen an. »Kein Urlaub? Du Ärmste. Wir fliegen dieses Jahr für drei Wochen nach Malta. Nichts als Sonne, Strand und Meer – und hoffentlich auch ein paar echt coole Typen. Ich freue mich jedenfalls schon wahnsinnig darauf, auch wenn ich bis dahin noch die ersten drei Ferienwochen rumkriegen muss.« Auf Susannes Gesicht breitete sich ein Strahlen aus. »Drei Wochen Zeit für die ein oder andere Party. Gleich heute Abend steigt auch eine. Sag mal, Mira, hättest du heute Zeit, um mir wieder mal ein paar Tipps für mein Styling zu geben?« Sie warf ihre langen blonden Haare mit gekonnter Handbewegung nach hinten, legte den Kopf schräg und sah Mira fragend an.
Miras Stimmung trübte sich ein wenig mehr. Nun war sie bereits sechzehn Jahre alt, würde nach den Ferien in die Oberstufe kommen und war noch nicht einmal auf einer richtigen Party gewesen. Die langweiligen Schuldiscos zählten nicht. Da saß sie eh meist nur in der Ecke herum und sah den anderen bei ihrem albernen Rumgehopse zu, das diese tanzen nannten. Nein, eine richtige Party stellte sich Mira ganz anders vor. Lockerer. Klar würde dort ebenfalls Musik gespielt und dazu getanzt werden. Aber es gab sicherlich auch leckeres Essen und tolle Gespräche. Susanne hatte ihr erzählt, dass sie auf Partys gewesen war, bei denen es Alkohol gegeben hatte – vom Rauchen ganz zu schweigen. Beides kam für Mira nicht infrage. Man konnte doch auch ohne solche Drogen Spaß haben.
»Erde an Mira. Hallo, jemand zu Hause?« Susanne fuchtelte albern mit ihren Händen vor Miras Gesicht herum.
Diese blinzelte ihren Tagtraum weg, ehe ihr Susannes Frage wieder einfiel. »Klar kann ich vorbeikommen, gar kein Problem. Wann soll ich bei dir sein?«
»Am besten so um vier. In Ordnung?«
Mira verzog das Gesicht. »Ich kann erst gegen fünf. Du weißt doch, meine Filialleiterin im Supermarkt lässt mich nicht eher gehen. Nicht mal, wenn ich schon alle Regale aufgefüllt habe.«
Verärgert schüttelte Susanne den Kopf. »Ich kann echt immer noch nicht begreifen, warum du dir das antust. Ich an deiner Stelle hätte schon längst das Handtuch geschmissen.« Sie lachte laut auf. »Nein, Quatsch. Ich hätte mit diesem Blödsinn erst gar nicht angefangen.«
Mira seufzte. Diese Diskussion hatte sie mit Susanne schon unzählige Male geführt. Es war für Mira aber nun mal ein schönes Gefühl, sich durch die Arbeit im Supermarkt ihr Taschengeld aufbessern zu können. Außerdem machte sie den Job noch nicht so lange. Sie hatte dort erst vor zwei Monaten angefangen. Aufgeben kam für sie nicht infrage. Warum auch? Ihr machte die Arbeit Spaß und die Kollegen waren allesamt sehr nett.
»Also gut, fünf Uhr geht auch – gerade noch so, also sei bitte pünktlich, ja?«, lenkte Susanne ein. Sie holte ihr Handy und eine Haarbürste aus ihrer Tasche. »Warte mal, wir müssen noch ein Foto für Instagram machen. Schließlich haben wir den letzten Tag des Schuljahres soeben erfolgreich hinter uns gebracht.«
Sie richtete sich die Haare, packte die Bürste weg und legte Mira einen Arm um die Schulter. Beide lächelten in die Frontkamera, als der Selbstauslöser, den Susanne eingestellt hatte, seinen Dienst verrichtete.
Sofort prüfte Susanne, ob das Foto was geworden war. Sie verzog das Gesicht. »Nein, das geht so nicht. Wie liegen meine Haare denn schon wieder?« Sie zog die Haarbürste erneut aus ihrer Tasche, um ihre Frisur in die richtige Form zu bringen. Dabei besah sie sich durch die Frontkamera des Handys. »So, jetzt. Versuchen wir es einfach noch einmal.«
Mira kannte das schon von Susanne. Selten war diese mit dem ersten Foto zufrieden. Oftmals wurde die Prozedur mehrmals wiederholt.
Susanne wiegte den Kopf hin und her, während sie das Foto betrachtete. »Na ja, könnte besser sein, aber ist okay.« Mit ein paar Klicks hatte sie das Bild gepostet und steckte das Handy wieder ein.
Vor dem Schultor verabschiedeten sich die Freundinnen voneinander. Susanne rauschte eiligen Schrittes davon, während Mira in Richtung Fahrradständer blickte.
Da war er wieder: der wohl bestaussehendste Junge der ganzen Schule. Viel wusste Mira allerdings nicht über ihn. Er hieß Marcel und ging in die Klassenstufe über ihr. Schon oft hatte sie ihn heimlich während der Hofpausen von Weitem beobachtet. Ihn anzusprechen traute sie sich allerdings nicht. Obwohl sie ihn noch nie mit einem Mädchen zusammen gesehen hatte, konnte sie sich gut vorstellen, dass er eine Freundin hatte. So süß wie er war, hatte Mira bei ihm sicherlich nicht die geringste Chance.
Genauso wie Susanne trug Marcel ausschließlich Markenklamotten. Solche Kleidung konnten sich Miras Eltern nicht leisten. Dafür verdienten sie nicht genug. Das war auch der Grund, warum sie dieses Jahr nicht wegfuhren. Drei Wochen am Stück waren sie sowieso noch nie weggewesen. Ein wenig beneidete Mira Susanne schon dafür, dass ihre Familie sich so viel leisten konnte. Aber war Geld wirklich alles? Wenn Mira genauer darüber nachdachte, war sie glücklich und es fehlte ihr an nichts.
Markenklamotten interessierten sie nicht im Geringsten. Auch günstigere Kleidung konnte durchaus gut aussehen. Es kam eben immer auf die Kombination an. Klar musste sie deshalb den ein oder anderen fiesen Kommentar ihrer Mitschüler über sich ergehen lassen. Die meisten trugen überwiegend Markenklamotten – und wer das nicht tat, war ein schlechter Mensch. Zumindest kam es Mira hin und wieder so vor. War das vielleicht der Grund, warum Susanne ihre einzige Freundin war? Claudia und Laura waren für sie lediglich Klassenkameradinnen. Aber ganz ehrlich, es war ihr egal. Sie brauchte nicht viele Menschen um sich herum, sie hatte lieber welche, die es ehrlich mit ihr meinten. Noch wichtiger war für sie, dass sie mit sich selbst zufrieden war. Und genau das war sie.
Nur hin und wieder schlichen sich ein paar Zweifel in ihre Gedanken. Wie zum Beispiel eben, als Susanne sie wegen ihrer nicht ganz idealen Figur gemustert hatte. In solchen Situationen fragte sie sich manchmal, ob sie nicht doch mal eine Diät machen sollte. Andererseits fand sie sich nicht wirklich zu dick. Außerdem aß sie viel zu gern.
Da waren ihre Gedanken also wieder beim Thema Styling und Ernährung angekommen. Sie musste daran denken, dass sie Susanne später ein paar Stylingtipps geben sollte. Doch wenn diese von Tipps sprach, war das nicht damit gemeint. Denn es war bei Weitem mehr als lediglich ein bisschen Hilfestellung, die Mira ihr gab. Meistens stylte sie ihre Freundin komplett und half ihr sogar bei der Zusammenstellung der Klamotten für die jeweilige Feier. Susanne hatte dafür kein Händchen. Im Alltag klappte das erstaunlich gut, aber sobald sie auf eine Party gehen wollte, sah sie häufig aus wie ein schräger Papagei. Sie hatte einfach noch nicht begriffen, dass oftmals weniger mehr war. Allerdings legte Susanne großen Wert darauf aufzufallen – um jeden Preis.
Aber im Endeffekt half Mira ihrer Klassenkameradin gern. Es war für sie eine gute Übung, denn sie wollte später unbedingt Kosmetikerin oder Maskenbildnerin werden. So genau hatte sie sich nicht festgelegt, schließlich hatte sie auch noch ein wenig Zeit. Es war faszinierend, wie etwas Schminke, eine andere Frisur und die dazu passende Kleidung aus einem Menschen einen völlig neuen Typ machen konnten.
Sie selbst schminkte sich für die Schule nur dezent. Die Wimpern tuschte sie täglich und hin und wieder legte sie ein wenig Lipgloss auf. Wenn sie Lust und Zeit hatte, kam noch ein Lidstrich dazu. Es hieß doch immer, dass die Augen der Spiegel der menschlichen Seele waren, also durften diese auch entsprechend betont werden. Wenn sie Langeweile hatte, experimentierte sie zu Hause gern mit ihrem kleinen Schminkkoffer herum, den sie vor drei Monaten von ihren Eltern zum Geburtstag bekommen hatte. Darüber hatte sie sich wahnsinnig gefreut. Eine solche Auswahl an Produkten hatte sie noch nie zuvor gehabt.
»Hey, Marcel, sehen wir uns heute Abend auf der Party?« Von dem Rufen eines Jungen wurde Mira zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit aus einem ihrer vielen Tagträume gerissen.
Sie stand noch immer am Schultor und starrte in Richtung der Fahrradständer, wo sich Marcel mit seinen Kumpels unterhielt.
Er drehte sich auf einmal um und blickte zu ihr.
Schnell nahm Mira ihre Schultasche vom Rücken und kramte darin herum. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Hatte er bemerkt, dass sie ihn angestarrt hatte? Hoffentlich nicht.
»Klar werde ich da sein. Was denkst du denn? Schließlich muss man den Ferienbeginn feiern, oder?«, antwortete Marcel.
Die Jungs verabschiedeten sich voneinander und Marcel schwang sich auf sein Fahrrad und fuhr los.
Endlich konnte Mira aufatmen, doch ihr Herzschlag beruhigte sich nur allmählich. Es wurde Zeit, dass sie sich auf den Heimweg machte. Dabei überlegte sie, ob ihr Schwarm am Abend wohl auf derselben Party sein würde wie Susanne.
Eine winzige Hoffnung keimte in Mira auf – wie eigentlich jedes Mal, wenn sie Susanne beim Styling half. Mira würde ihr auch heute wieder die Frage stellen, die ihr fast genauso starkes Herzklopfen bescherte wie Marcels Anblick. Vielleicht würde Susanne diesmal zustimmen und sie endlich einmal mit auf eine Party nehmen. Irgendwann musste sich ihre Hilfe doch auch mal für sie bezahlt machen, oder?