Читать книгу Yasirahs Erbe - Geheimnisse der Schatten - Bettina Lorenz - Страница 5
Ein verhängnisvoller Abend
ОглавлениеEs war zehn Uhr morgens und als Celina in die Küche kam, wurde sie bereits von Anne erwartet. Der Tisch war gedeckt und ihre beste Freundin stand am Herd. Sie mühte sich gerade mit Pancakes ab. Die Gelungenen wanderten auf einen großen Teller und die anderen in den Mülleimer, der direkt neben ihr stand. Mittlerweile war Anne zumindest schon so gut, dass die Menge nicht angebrannter Pancakes überwog und sie nicht noch eine neue Pfanne hatten kaufen müssen. Celina wünschte Anne einen guten Morgen, nahm sich einen großen Becher Kaffee und setzte sich auf ihren Platz gegenüber dem Küchenfenster.
Es war erstaunlich, wie viel sich in den letzten paar Monaten geändert hatte. Eines Tages war bei einem gemütlichen Mädelsabend zwischen Celina und ihrer Tante herausgekommen, dass Marie schon seit ihrer Jugend davon träumte, für ein Jahr auf eine kleine Bildungsreise nach Europa zu gehen, um ihrer Kunst neue Einflüsse hinzuzufügen. Kurz bevor sie damals aufbrechen wollte, waren diese Pläne aber gescheitert, da Celina in ihr Leben getreten war. Als Celina das erfuhr, hatte sie ihre Tante dazu überredet, sich diesen Traum endlich zu erfüllen. Sie kannte niemanden, der es sich mehr verdient hatte, als ihre fürsorgliche und sich stets aufopfernde Tante und für Celina würde dadurch auch Einiges leichter werden. Ihre Argumente waren gut und Marie hatte schließlich nachgegeben und ihre Pläne wieder aufgegriffen.
Wenige Tage vor Maries Abreise wurde Anne Celinas neue Mitbewohnerin. Deren Eltern steckten gerade mitten im Scheidungskrieg und die Situation zu Hause war unzumutbar. Mrs. Carper wusste, dass Anne die Sache zwischen ihren Eltern sehr mitnahm und sie Abstand brauchte. Deshalb hatte sie Marie angerufen und ihr den Vorschlag mit der Mädels-WG unterbreitet, als ihr Celina von den Plänen ihrer Tante berichtet hatte. Alle waren einstimmig übereingekommen, dass es so das Beste wäre und nach nicht einmal zwölf Stunden war Anne bereits eingezogen und bewohnte nun das Gästezimmer der Familie Young. Es war jetzt genau eine Woche her, dass Marie in den Flieger gestiegen war. Erst gestern hatte sie Celina angerufen und ihr von Prag erzählt.
Es gab nur zwei Bedingungen, die sie vor Antritt ihrer Reise gestellt hatte: Celina hatte jeden Freitagabend um sieben ein Date mit ihrem Handy, damit Marie sich davon überzeugen konnte, dass es ihr gut ginge und ihre Tante hatte ihr auch das Versprechen abgerungen, dass sie egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit anrufen würde, wenn etwas vorfallen oder sie jemanden zum Reden brauchen würde.
Kurz nach Silvester war sie dann abgereist.
Heute war Samstag, der zwölfte Januar und im Vorgarten lag meterhoch der Schnee. Als Celina aus dem Fenster sah, kam es ihr vor, als ob das Haus ihrer Tante mitten im Nirgendwo stehen würde, da man vor lauter Nebel die Nachbarhäuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite nicht sehen konnte. Das Wetter war so ungemütlich, dass Celina trotz ihres dicken Wollpullis fror. Dies lag aber wahrscheinlich nicht allein am Wetter. Seit sie wusste, dass sie Fort Kain verlassen musste, war ihr ständig kalt und sie fühlte sich schlecht, immer wenn dieser Gedanke in ihr aufkeimte.
«Ist alles ok? Du träumst schon wieder vor dich hin», sagte Anne leise und Celina spürte eine sanfte Hand auf ihrer Schulter.
«Sorry, ich weiß...», murmelte sie in sich hinein.
Anne setzte sich ihr gegenüber und schob ihr schweigend den Teller Pancakes hin. Eigentlich hatte Celina keinen Hunger, aber sie wollte Annes Mühe am frühen Morgen nicht zunichtemachen und bediente sich deshalb trotzdem.
In den letzten Wochen hatte das Verhältnis zwischen den beiden Freundinnen viel von ihrer früheren Leichtigkeit verloren. Celina war oft auf dem Anwesen der Laurents und verbesserte ihre Fähigkeiten. Sie machte unglaubliche Fortschritte und ihre Kraft schien grenzenlos zu sein. Wenn sie nicht dort war, war sie stets darum bemüht sich unauffällig zu verhalten und sich durch nichts zu verraten. Es kam ihr vor, als ob sie auf einmal zwei Leben führen würde und eins davon musste sie unter allen Umständen vor Anne geheim halten. Dieser war natürlich nicht entgangen, dass ihre Freundin sich immer mehr zurückzog. Dafür kannte sie Celina viel zu gut und zu lange. Anfangs hatte sie ihr auch Zeit gegeben, aber mittlerweile hatte sich eine Kluft zwischen ihnen aufgetan und diese schien mit jedem Tag größer zu werden. Sie machte sich große Sorgen und wünschte, Celina würde ihr endlich mitteilen, was ihr auf dem Herzen lag. Deshalb hatte sie sich eine Taktik einfallen lassen, die Celina aus der Reserve locken sollte. Ihr war zwar auch klar, dass ihr Vorschlag sicher nicht gut ankommen würde, aber da ihr nichts anderes mehr einfiel, war es zumindest einen Versuch wert.
Vorsichtig begann sie:
«Heute ist doch Samstag und wir haben schon so lange nichts mehr unternommen...»
Celina sah sie misstrauisch an, als ob sie wüsste, was jetzt gleich kommen würde. Fast hätte Anne ihre Idee aufgegeben, aber jetzt gab es keinen Weg zurück.
Sie atmete tief durch und fragte gerade heraus:
«Im Wohnheim steigt heut' Abend eine Party und ich dachte, dass wir da ja vielleicht hingehen könnten. Nur wir beide. Ich weiß, was du normalerweise davon hältst, aber wir hatten schon so lange keinen lustigen Abend mehr. Bitte, bitte, bitte...», fügte sie bettelnd hinzu.
Celina antwortete ihr nicht gleich. Sie wusste nur eins: das Letzte worauf sie jetzt Lust hatte, war auf eine dieser bescheuerten Wohnheimpartys zu gehen und zuzusehen, wie bei den meisten ihrer Kommilitonen der Alkoholpegel anstieg, während das Niveau immer mehr absank. Ihr war einfach nicht nach feiern und sie hatte echt andere Sorgen. Zwar war Tante Marie jetzt aus dem Haus, aber ihr war immer noch nicht eingefallen, wie sie Anne ihre hoffentlich nur vorübergehende Abwesenheit mitten im Semester erklären sollte. Sie wollte Anne nicht wehtun und deshalb suchte sie fieberhaft nach einer Lösung. Ihr wollte aber nichts einfallen. Auch jetzt saß sie ihr gegenüber und überlegte krampfhaft, wie sie ihrer besten Freundin diese grandiose Idee wieder ausreden könnte. Aber Anne wartete auf eine Antwort und je länger sie ihr die schuldig blieb, desto ungeduldiger wurde diese, bis sie es am Ende einfach nicht mehr aushielt und es aus ihr herausplatzte:
«Ist schon gut. Es scheint ja mittlerweile so schrecklich mit mir zu sein. Vielleicht sollte ich besser wieder ausziehen? Ich weiß echt nicht, was ich dir getan habe, aber vielleicht wäre es dir angenehmer, wenn ich dich einfach in Ruhe lasse und jeder von uns seinen eigenen Weg geht», fauchte sie.
Überrascht sah Celina sie an. Sie hatte ihre beste Freundin noch nie so erlebt. Bevor sie etwas erwidern konnte, sah sie Aaron vom Fenster aus. Celina gab ihm zu verstehen, dass er gehen sollte, aber er blieb wortlos in einiger Entfernung stehen und beobachtete die Szene durch das Küchenfenster. Als Anne ihn bemerkte, stand sie auf und rannte mit einem Is' ja wieder typisch die Treppe hoch. Noch immer verwirrt von Annes Gefühlsausbruch öffnete Celina Aaron die Tür. Fragend sah er sie an und Celina gab ihm einen kurzen Einblick in das vorher stattgefundene Gespräch. Ohne ein Wort zu sagen betrat Aaron nach Celina die Küche und setzte sich. Celina lehnte sich gedankenverloren ihm gegenüber an die Küchenzeile. «Ich weiß, dass ich mich ihr gegenüber nicht fair verhalte, aber vielleicht wäre es besser, wenn sie wütend auf mich ist. Dann fällt es ihr vielleicht leichter, sich keine Sorgen zu machen, wenn ich weg bin», fragte sie mit Tränen in den Augen. Aaron ging zu ihr und zwang sie ihn anzusehen.
Hör mir jetzt bitte zu. Du musst das nicht tun. Wir finden eine Möglichkeit. Es ist auf alle Fälle keine Lösung, alle die dir etwas bedeuten, wegzustoßen, um es ihnen damit leichter zu machen. So bist du doch eigentlich gar nicht. Das wirst du dein Leben lang bereuen , redete er beschwörend auf sie ein.
Celina konnte ein hysterisches Lachen nicht unterdrücken.
Ein Leben lang? Was denkst du, wie lange dieses Leben noch dauern wird, wenn ich es nicht bald schaffe zu gehen? Ich habe eine Aufgabe und anstatt mich hier so dermaßen egoistisch aufzuführen, sollte ich lieber ganz schnell anfangen erwachsen zu werden. Sonst wird bald keiner mehr da sein, mit dem ich es mir verscherzen kann, sagte Celina bitter.
Aaron sah ihren Schmerz und redete beruhigend auf sie ein:
Du bist nicht egoistisch. Du sorgst dich einfach nur um die Personen, die dir wichtig sind. Ich verstehe auch, dass dir solche Gedanken kommen, aber so geht das nicht. Glaub mir, ich weiß wovon ich rede. Ich denke, es wäre wirklich das Beste, dir einen schönen Abend mit deiner besten Freundin zu machen. Wer weiß, wann das wieder möglich sein wird. Willst du es wirklich so enden lassen? Gib dir einen Ruck. Wir finden schon eine Lösung und sie wird es verstehen. Vertrau mir!
Zuerst wollte sie ihm widersprechen, aber als sie ihn ansah, konnte sie nicht anders. Sie glaubte ihm, auch wenn sie nicht verstehen konnte, warum das so war. Sie versuchte sich an ihre Argumente zu klammern, aber ihr wollte plötzlich kein einziges mehr einfallen. Noch bevor sie es weiter versuchen konnte, lagen seine Lippen auf ihren und alle Sorgen waren vergessen. Diese Wirkung hatte er immer auf sie. Allein Aarons Anwesenheit reichte aus, um ihre Probleme in den Hintergrund zu drängen. Statt sich zu wehren, resignierte sie und zog ihn fest an sich. Er war ihr Rettungsanker.
Nachdem sie sich von ihm lösen konnte, wusste sie genau, was sie zu tun hatte. Sanft wischte Aaron ihr die Tränen weg.
Ohne, dass sie etwas sagen musste, schlug er vor:
Komm einfach zu mir, wenn ihr euch ausgesprochen habt.
Sie nickte nur und sah ihm nach, als er das Haus verließ. Dann nahm sie die zwei Kaffeetassen vom Tisch und ging nach oben. Sie atmete noch einmal tief durch, bevor sie an Annes Tür klopfte. Als sie ein tränenersticktes Herein hörte, öffnete Celina vorsichtig die Tür. Anne saß auf ihrem Bett und Celina ging zu ihr. Sie reichte ihr eine der beiden Tassen und setzte sich neben sie. Es war wieder einmal Anne, die als Erste sprach: «Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid mir das tut. Ich weiß auch nicht, was das war. Ich habe das Gefühl, dass du dich von mir distanzierst und da hab ich Panik bekommen. Bitte verzeih mir», sagte sie entschuldigend und sah sie flehend an. Celina war klar, welches Glück sie hatte, mit einer so quirligen, freundlichen und doch so eigensinnigen Person wie Anne, befreundet zu sein. Nur ein Blick in Annes sorgenvolles Gesicht reichte aus und sie schämte sich für ihr Verhalten. Natürlich war es Anne nicht entgangen, dass sie Probleme hatte und sie versuchte ihr irgendwie zu helfen. Aber Celina war einfach nicht zu helfen und da sie Anne ihr Geheimnis nicht anvertrauen konnte, war sie es ihr wenigstens schuldig, so zu tun, als ob alles nur halb so schlimm wäre und sie es allein bewältigen könnte. Celina zeigte sich versöhnlich und begann, so schwer es ihr auch fiel, zu scherzen: «Ich wusste ja nicht, dass es dir sooo wichtig ist. Das hättest du mir auch einfach sagen können. Natürlich lass ich mich von dir dahin schleifen, aber du sollst wissen, dass Freunde zu foltern, nicht die feine Art ist.» Sie nahm einen großen Schluck Kaffee und grinste Anne über den Becherrand an. Es schien zu klappen: Diese atmete erleichtert auf und begann zu glucksen. «Natürlich nicht, aber irgendwie muss ich dich ja aus deinem tristen Alltag locken. Also dann treffen wir uns heute Abend hier und hübschen uns an», fragte sie mit leuchtenden Augen. «Ok, ich gebe mich geschlagen. Wenn es dich glücklich macht», antwortete Celina kapitulierend. «Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr», jubelte Anne, sprang auf und umarmte sie, bevor sie begann, wie wild durchs Zimmer zu hüpfen. Celina sah sie kopfschüttelnd an und seufzte. Annes Freude zeigte ihr, dass sie richtig gehandelt hatte und irgendwie begann sie sich sogar auf den Abend zu freuen, auch wenn sie ein komisches Gefühl bei der Sache hatte.
Gegen achtzehn Uhr trafen sie sich zuhause. Anne hatte ihr Outfit für den Abend schon rausgehängt und für Celina lagen zehn verschiedene Sachen zur Auswahl bereit auf dem Bett. Sie entschied sich für einen schwarzen Rock und das am wenigsten tief ausgeschnittene Oberteil. Es war grün und harmonierte mit der Farbe ihrer Augen. Anne schminkte und frisierte sie und gegen neun gingen sie aus dem Haus.
Als sie beim Wohnheim ankamen, war das ganze Gebäude hell erleuchtet. Aus den Boxen dröhnte gerade Outside von Staind. Wie passend, dachte sich Celina, bevor Anne sie am Arm mit sich zog. Sie unterhielten sich mit ihren Kommilitonen, lachten und tanzten viel. Anne blieb die ganze Zeit an ihrer Seite und auch wenn Celina es sich nicht eingestehen wollte, hatte sie tatsächlich Spaß und vergaß die Zeit. Als sie das erste Mal auf die Uhr sah, war es schon halb eins und es sah nicht so aus, als ob die Party so bald enden würde. Das konnte ihr nur Recht sein. Aaron war sowieso nicht da, weil er mit seiner Familie jagen war. Cyrus war heute Nacht zu ihrem Schutz abgestellt worden. Er hielt sich aber gekonnt im Hintergrund. Sie konnte ihn nirgends entdecken, aber trotzdem war seine Anwesenheit, wenn auch nur in der Ferne, greifbar. Seit mehreren Monaten schon tat sie keinen Schritt aus dem Haus, ohne das ein Mitglied ihrer neuen Familie über sie wachte und irgendwie war das auch beruhigend, wenn man bedachte, welche Gefahr lauerte.
«Ich könnte frische Luft gebrauchen. Lass uns kurz rausgehen», schlug Anne gegen eins vor und sie gingen ihre Jacken holen.
Als sie vor die Tür traten, atmete Celina tief durch. Langsam spazierten sie durch den Nebel über den Campus. Die Musik wurde immer leiser, während sie sich mehr und mehr vom Wohnheim entfernten. Am naturwissenschaftlichen Institut war sie kaum mehr zu hören und sie waren allein. Anne lehnte sich an das Geländer der überdachten Treppe im Eingangsbereich und Celina gesellte sich zu ihr.
«Alles gut», fragte Anne vorsichtig.
Als Celina sie angrinste und nickte, schien sie erleichtert.
«Das war echt eine gute Idee. Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann wir das letzte Mal so viel Spaß hatten. Ich könnte mich sogar dazu hinreißen lassen, das öfters zu machen.»
«Hört, hört. Das sind ja ganz neue Töne», gackerte Anne.
«Ich hab mich ganz ehrlich über Logans Tanzstil amüsiert und hast du gesehen, wie Tim Ruby eine Eifersuchtsszene vom Feinsten geliefert hat, nur weil sie sich eine Minute mit 'nem anderen Typen unterhalten hat. So etwas will man doch nicht verpasst haben», sagte sie und begann zu lachen.
«Ja und wie sie ihm dann vor lauter Wut ihr Getränk ins Gesicht gekippt hat, war doch echt absolut filmreif...», sagte Anne glucksend.
Lachend machten sie sich auf den Rückweg und Anne imitierte dabei andere Leute. Es gelang ihr gut und Celina kam aus dem Lachen nicht mehr raus. Sie wurden richtig albern, aber das tat auch mal gut.
Als sie nur noch vierhundert Meter vom Wohnheim entfernt waren, hörten sie hinter sich den Schrei.
Er klang, als ob er einem Horrorfilm entsprungen sei und ließ ihnen das Blut in den Adern gefrieren. Celina fuhr herum und starrte in die Nacht, aber durch den Nebel konnte sie nichts erkennen. Auch Anne hatte es gehört und sah sie total verängstigt an. Sofort gingen bei Celina die Alarmglocken los. Sie versuchte, nicht in Panik zu geraten und ordnete ihre Gedanken. Dann konzentrierte sie sich auf die Umgebung. Sie hörte ein Röcheln, spürte ein schwächer werdendes Licht und Cyrus, der immer näher kam. Ihr erster Gedanke war, dass sie Anne aus der Gefahrenzone bringen musste.
Sie versuchte lässig zu klingen:
«Geh bitte zurück zur Party. Ich werde kurz nachschauen, was da los ist. Ist bestimmt nichts schlimmes, nur ein paar Leute, die sich einen Spaß erlauben.»
Aber Anne schüttelte den Kopf und sah sie entsetzt an.
«Bist du irre? Ich lass dich doch nicht allein dahin gehen. Egal, ob Spaß oder nicht, das hat sich nicht gut angehört.»
Es blieb keine Zeit für Diskussionen. Instinktiv stellte sie sich Anne genau gegenüber, legte ihr die Hände auf die Schultern und sah ihr direkt in die Augen.
Als sie abermals zu sprechen begann, schaffte sie es erstaunlicherweise ihre Stimme leise und dennoch bestimmend klingen zu lassen:
«Du nimmst jetzt dein Handy griffbereit und gehst sofort zurück zur Party. Rede mit keiner Menschenseele, bis du dort bist. Wenn ich in zwanzig Minuten nicht bei dir bin, rufst du erst mich an und wenn du mich nicht erreichst, rufst du bitte Aaron an und sagst ihm, dass ich Hilfe brauche. Hast du mich verstanden?»
Geistesabwesend hatte Anne ihr Handy in die rechte Hand genommen, aber ihr Blick war leer und sie antwortete nicht.
Celina wusste nicht, was mit Anne los war, aber sie gab nicht auf:
«Nicke mit dem Kopf, wenn du alles verstanden hast und dann geh bitte. Sofort!»
Annes wirkte immer noch abwesend, aber sie folgte ihrer Aufforderung und lief los. Celina sah ihr nach. Kaum war sie weg, kam Cyrus aus dem Nebel.
«Was war das», fragte Celina mit zittriger Stimme.
«Ein Mädchen wurde im Wald angegriffen. Als ich bei ihr war, war es bereits zu spä...»
Bevor Cyrus den Satz beenden konnte, war Celina schon unterwegs in die Richtung, aus der sie den Schrei gehört hatte. Sie wusste, dass er Recht hatte, weil sie merkte, dass das vorher schon schwach gewesene Licht mittlerweile gänzlich erloschen war, aber sie musste sich selbst davon überzeugen.
Cyrus packte sie am Handgelenk und versuchte sie aufzuhalten:
«Celina bleib bitte hier. Das willst du dir doch jetzt nicht wirklich antun? Glaub mir, dass ist echt kein schöner Anblick.»
«Das ist mir egal. Ich will wissen, was genau da passiert ist. Vielleicht können wir ja doch noch helfen», sagte sie mit fester Stimme und wand sich aus seinem Griff.
Cyrus gab auf und folgte ihr schweigend.
Das Mädchen lag auf dem Waldboden. Der Schnee um sie herum färbte sich langsam rot. Das Blut floss aus einer großen Wunde in ihrer Brust. Es sah aus, als ob ihr jemand bei lebendigem Leib das Herz heraus gerissen hätte. Zuerst konnte Celina ihr Gesicht nicht erkennen, weil sie zu ihren Füßen stand. Also ging sie um sie herum und als sie in ihre weit aufgerissenen, ins Leere starrenden Augen sah, hatte Celina das Gefühl, dass für sie eine Welt zusammenbrach.
Ihr gingen Bilder durch den Kopf, wie sie das Mädchen noch vor weniger als einer Stunde auf dem Gang hatte stehen sehen. Streitend und mit vor Wut hochrotem Kopf, aber zumindest lebendig. Das Bild in ihrem Kopf vermischte sich mit dem des gebrochenen seelenlosen Körpers, der hier auf dem Waldboden vor ihr lag und sie hatte das Gefühl zu fallen. Ihre Stimme war nur ein Flüstern und über ihre Lippen kam nur ein einziges Wort:
«Ruby!»
Sie ging drei Schritte rückwärts und Cyrus bewahrte sie gerade noch rechtzeitig vor dem Fall. Sie atmete tief durch und als sie das Gefühl hatte, ihren eigenen Füßen wieder trauen zu können, ließ er sie los. Zur Sicherheit blieb er aber in ihrer Nähe. Plötzlich hörten sie hinter sich ein bösartiges Lachen. Blitzschnell drehte Cyrus sich um und ging in Abwehrstellung. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Celina es ihm gleichtat.
Auf einer leichten Anhöhe stand Tim. Er war blutverschmiert und sein Gesicht war zu einer diabolischen Maske verzerrt.
Ein Verdammt entfuhr Cyrus und er rannte los. Doch noch bevor er Tim erreichen konnte, brach dieser einfach zusammen. Noch fluchend fischte er sein Handy aus der Hosentasche und wählte Samuels Nummer. Nach einem kurzen Bericht legte er auf und ging zurück zu Celina. «Wir rufen jetzt die Cops und sehen dann ganz schnell zu, dass wir hier wegkommen», sagte er eindringlich. Celinas widersprach ihm: «Du kannst jetzt nicht einfach gehen. Wir müssen hier warten und eine Aussage machen», sagte sie vorwurfsvoll. «Und was möchtest du den netten Herren von der Polizei erzählen? Wir haben im Moment echt größere Probleme. Samuel und die anderen brechen die Jagd ab und kommen sofort nach Hause. Ich möchte dir alles in Ruhe erklären, ok?» Cyrus war komplett Herr der Lage, also fügte sie sich. «Was ist mit Tim?» «Mach dir keine Sorgen. Du kannst mir glauben, dass er die nächsten Stunden sicher nirgendwo hingehen kann», sagte Cyrus verbissen. Sie merkte, dass hinter seinen Worten noch mehr steckte, aber sie war sich nicht sicher, ob sie im Moment noch mehr ertragen konnte. Plötzlich summte Celinas Handy in ihrer Tasche. Der Anruf kam von Anne. «Ist alles ok bei dir», fragte sie ängstlich. «Ich bin gleich bei dir», sagte Celina kurz angebunden und lief schon wieder in Richtung Wohnheim. Cyrus lief neben ihr her und rief anonym die Cops. Hundert Meter vor dem Wohnheim blieb er stehen, damit er nicht entdeckt werden konnte. «Bring deine Freundin nach Hause und fahr dann nach Laurent Manor. Erzähl ihr so wenig wie möglich. Du bringst sie nur unnötig in Gefahr. Ich bleib in deiner Nähe», sagte er, bevor er wieder im Nebel verschwand. Celina atmete noch einmal tief durch und ging dann zu Anne, die bereits vor dem Wohnheim auf sie wartete. «Was ist passiert», fragte sie.
Noch mehr Lügen.
«Ich hab nichts gefunden.»
«Aber du warst so lange weg. Ich hab mir schon Sorgen gemacht.»
«Ich kann dir das jetzt nicht erklären. Du musst mir einfach vertrauen. Wir sollten jetzt besser nach Hause fahren. Ich muss nochmal zu Aaron.»
Eine Woge des Misstrauens schlug ihr entgegen. Erst schien es, als wollte Anne noch etwas sagen, aber dann hatte sie es sich anscheinend anders überlegt und ging schweigend mit ihr zum Parkplatz. Als sie dort ankamen, trafen gerade die Cops ein. Anne stieg schweigend ins Auto und während sie losfuhren, starrte sie ihre Freundin die ganze Zeit ungläubig an und wartete auf eine Erklärung. Nach nur wenigen Metern hielt Celina es nicht mehr aus. Sie fuhr an den Straßenrand und stellte den Motor ab.
«Ich hab Rubys Leiche im Wald entdeckt. Tim lag nur wenige Meter neben ihr. Er lebte, aber ich glaube, er hat sie umgebracht. Ich hab die Cops verständigt.»
Während sie Anne alles berichtete und dabei einige Details verschwieg, blickte sie die ganze Zeit in die Dunkelheit. Ein kurzer Blick auf Anne reichte aus, um ihr klar zu machen, wie sie sich fühlte. Anne war totenblass. Plötzlich konnte Celina nicht mehr die Starke mimen.
«Es war schrecklich. Überall war Blut. Ich konnte dort nicht mehr bleiben. Ich musste einfach weg. Aber die Cops wissen Bescheid und haben Tim sicher schon festgenommen. Lass uns jetzt bitte, bitte einfach nach Hause fahren», sagte Celina flehend.
Sie hatte Tränen in den Augen. Als Anne den ersten Schock überwunden hatte und sah wie schlecht es Celina ging, wiegte sie ihre beste Freundin in ihren Armen und strich ihr dabei, wie einem Kleinkind, tröstend über den Kopf.
«Schschsch... Wir fahren jetzt einfach nach Hause. Alles wird wieder gut.»
Als Celinas Schluchzen nach einigen Minuten verebbte, reichte Anne ihr ein Taschentuch und nachdem sie sich wieder gesammelt hatte, brachte sie die Freundin sicher nach Hause. Sie wartete, bis diese ins Haus gegangen war.
Genau in dem Moment, als die Haustür sich schloss, öffnete sich die Fahrertür ihres Wagens. Zuerst schrak Celina zusammen, aber dann sah sie, dass es nur Cyrus war.
«Rutsch rüber. Ich fahre!»
Dankend nahm sie das Angebot an und er fuhr, ohne ein weiteres Wort zu sagen, nach Laurent Manor. Während der Fahrt saß Celina nur da und starrte in die Nacht, ohne auch nur einen klaren Gedanken fassen zu können.