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Hier und heute: Auf dem
Boden der Tatsachen

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»Eigentlich bin ich ganz normal.«

Etwas unbehaglich rückte ich das kratzige Kissen unter meinem Kopf zurecht. Toll. Das sagen Psychopathen bestimmt auch immer, dachte ich nervös.

»Lassen Sie sich Zeit«, sagte der Mann.

Als ob Zeit etwas ändern würde! Ich ließ den Blick durch den hellen Raum schweifen. Er hatte sich Mühe gegeben, das musste man ihm lassen. Das beigefarbene Sofa sah genauso aus wie mein eigenes. Genauso wie die Couchgarnituren von rund achtzig Prozent der Bundesbürger. Grob geschätzt. Selbst die Liegekuhle, in die ich mich gleich noch etwas tiefer hineindrückte, erinnerte mich an meine eigene, in jahrelanger Arbeit selbst zerschlissene Lieblingscouch. Verrückt!

Gedankenverloren sah ich mich weiter in dem quadratischen Raum um. Vom fleckenunempfindlichen Veloursteppich über die hellholzige Schrankwand bis hin zur weißen Raufasertapete eine perfekte Kopie meines eigenen Wohnzimmers.

Clever, dachte ich nicht ohne Bewunderung. Aber eigentlich wusste ich es besser. Das war kein kluger Schachzug, um mein Vertrauen zu gewinnen – das war einfach nur Standard. Die klassische Einrichtung des Durchschnittsdeutschen. Kein ­Wunder, dass mich das an etwas erinnerte.

Es kostete eine gute Portion Willenskraft, mich wieder auf den Sessel mir gegenüber zu konzentrieren. Auf den Mann, der darin saß und sehr wahrscheinlich für die Einrichtung in diesem Raum verantwortlich war. Ein Mittel-Mann: mittelgroß, mittelalt, mittelblond, mittelattraktiv. In seiner beigen Hose und dem hellgrauen Hemd verschmolz er mit der farblosen Umgebung wie ein bleiches Chamäleon. Bestimmt konnte er auch seine Augen in schönster Echsenmanier unabhängig voneinander bewegen. Im Moment jedoch waren beide Augen fest auf mich gerichtet.

Der Mann betrachtete mich mit einer Mischung aus professioneller Distanz und wissenschaftlichem Interesse. Ungefähr so, wie man einen Frosch auf dem Seziertisch ansieht. Vorausgesetzt, man seziert Frösche. Was ich in der Regel nicht mache. Ich töte nur Gartenzwerge.

Ob er wohl ahnte, dass er eine Massenmörderin vor sich hatte? Ich wagte es zu bezweifeln. Aber er würde es noch früh genug erfahren. Ihm als meinem Psychotherapeuten schuldete ich schonungslose, vollständige Offenheit. So war der Deal.

»Sie müssen an sich arbeiten, Frau Mustermann!«, hatte der Richter gesagt. »Ich möchte Sie nie wieder hier sitzen sehen. Wenn ich Sie jetzt gehen lasse, dann nur, wenn Sie mir das versprechen. Suchen Sie sich Hilfe!«

Und er hatte recht. Ich brauchte dringend Unterstützung. Ich entschuldigte mich bei dem Postboten, der im Zeugenstand ähnlich blass wirkte wie im Angesicht schnell näherkommender Gartenzwerge, und wälzte die Gelben Seiten. Die Wahl fiel auf Dr. Max Müller, Psychologischer Psychotherapeut mit Kas­senzulassung. Auch deshalb, weil er als einziger noch in diesem Jahrhundert einen freien Termin anzubieten hatte. Ob das wohl ein schlechtes Zeichen war? Die durchschnittliche Wartezeit bis zum Beginn einer Therapie beträgt in den deutschen Großstädten fünf Monate. Das hatte ich gerade erst gelesen. Ich hatte keine fünf Monate. Was ich hatte, waren ein traumatisierter Briefträger, ein verwüsteter Schrebergarten, zerfetzte Pflanzenleichen und verstümmelte Gartenzwerge. Und keine Ahnung, wie das alles passiert war. Denn eigentlich, ich sagte es bereits, war ich ganz normal. Ehrlich!

Ich richtete meinen Blick wieder auf den Mann im Sessel und stellte fest, dass auch er seine Musterung abgeschlossen hatte. Was er vor sich sah, war schnell zusammengefasst: Mich. 45 Jahre alt, unverheiratet, straßenköterblond. Größe: normal. Gewicht: normal. Besondere Kennzeichen: keine. Name: Erika Mustermann. Es konnte losgehen!

»Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte ich verlegen. Irgendjemand musste schließlich irgendwann etwas sagen. Diese Stille machte mich ganz nervös.

»Okay«, sagte Max Müller. Sonst nichts. Ich setzte mich auf meinem – seinem – Sofa auf und fand ihn blöd. Ganz offiziell. Hätte ich einen Gartenzwerg zur Hand gehabt, ich hätte für nichts garantieren können.

»Was wollen Sie denn wissen?«, fragte ich barsch. Wenn er jetzt »Alles« sagen würde, wär ich weg!

»Erzählen Sie mir doch erst mal, warum Sie hier sind.«

Also berichtete ich, was geschehen war. Von dem nasenlosen Gartenzwerg und der restlichen Gang. Wie sie fliegen lernten und neben einem vorlauten Postboten zerschellten. Wie die Stockrosen mit meiner Harke Bekanntschaft machten. Und ich mit zwei Polizisten, einer Arrestzelle und zu guter Letzt einem gnädigen Richter.

»Und was meinen Sie, warum das alles passiert ist?«, fragte Max Müller, als ich fertig war.

»Ich habe keine Ahnung«, sagte ich kleinlaut.

»Dann schlage ich vor, Sie hören auf, mich blöd zu finden, und wir gehen der Sache auf den Grund.«

Mir war, als er hätte er mit seinen stechenden Reptilien­augen direkt in die schwärzeste Ecke meiner Seele geblickt. Ich spürte die Röte in meinem Gesicht aufsteigen und setzte mich in der seltsam vertrauten Sitzkuhle zurecht.

»Gut«, sagte ich.

»Gut«, sagte er. »Erzählen Sie mir mehr von sich. Wer ist Erika Mustermann?«

Erika Mustermann

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