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Das Musterkind:
Wie alles begann

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Wie das in der Regel so ist mit den Entstehungsgeschichten, war meine eigene für mich selbst zunächst eher unspektakulär. Meine Mutter hätte dazu vielleicht etwas mehr beitragen können. Aber da es hier ja um mich geht und nicht um meine Mutter, kann ich Ihnen nur berichten, wie sich die Sache für die kleine Erika darstellte.

Es war das Jahr 1971. Meine Eltern Renate und Erwin Mustermann lebten in einem schmucken Reihenmittelhaus am Stadtrand von München. Nachdem sie ihr Hochzeitsgeld ebenso wie ein Startkapital aus zwei Bausparverträgen in die Anzahlung ihres Eigenheims, eine massive Schrankwand Eiche rustikal, eine graubraune Sofagarnitur und einen Küchentraum im legendären Siebzigerjahre-Grün investiert hatten, fanden sie es an der Zeit, eine Familie zu gründen. Mit 24 und 26 Jahren waren sie im allerbesten Alter für das erste Kind. So kam es, dass sich schon bald die kleine Sabine ankündigte, die ihr Leben für immer verändern sollte. Und die Mustermanns wollten noch mehr. Da sie mit meiner Schwester Sabine offenbar nicht vollständig ausgelastet waren, trafen sie rund ein Jahr nach ihrer Geburt eine revolutionäre Entscheidung: Sie wollten ein zweites Kind. In einer Zeit, in der jede deutsche Frau in ihrem Leben statistisch gesehen rund 1,6 Kinder zur Welt brachte, müssen sich die mustergültigen Mustermanns gefühlt haben wie eine Großfamilie. Die angepasstesten Eltern der Welt waren im Begriff, die Statistik zu übertreffen.

Doch zurück zum Tag meiner Geburt. Ich hatte mir scheinbar schon früh vorgenommen, mich mit meinen Eltern und dem Rest meiner kleinen Welt gut zu stellen und kam pünktlich zum errechneten Geburtstermin auf die Welt. Ganz im Gegensatz zu Sabine, die unsere Eltern schon vor ihrem ersten Zusammentreffen auf eine harte Probe gestellt hatte. Erst hochdosierte Wehenmittel und die Androhung eines Kaiserschnitts hatten meine Schwester zwei Jahre zuvor davon überzeugen können, endlich den Mutterleib gegen die harte Realität einzutauschen. Wäre es nach ihr gegangen, dann hätte ich mir wahrscheinlich nach all den Jahren immer noch die Gebärmutter mit ihr teilen müssen. Mit tagelanger Verspätung und unter heftiger Gegenwehr war sie dann schließlich auf der Bildfläche erschienen. Schreiend natürlich. Man munkelt, Sabine habe schon lauthals geschrien, bevor sie überhaupt das Licht der Welt erblickt hatte. Im Mutterleib also. Und obwohl ich das für ein Gerücht halte: Jeder, der meine Schwester kennt, hat sich sicher schon mehr als einmal gefragt, ob es nicht doch der Wahrheit entspricht.

Auf jeden Fall hatte Sabine mit ihrem dramatischen ersten Auftritt die Messlatte für das zweite Kind der Familie angenehm niedrig angesetzt. So kam es, dass ich mit meiner eigenen, fast etwas langweiligen Geburt gleich richtig punkten konnte. Flupp, da war ich. Eine kleine Erika. 3400 Gramm schwer, 52 Zentimeter groß. Schrumpelig, glitschig und eher schlecht gelaunt. Alles ganz normal. Die Hebamme säuberte mich notdürftig und reichte mich meiner glücklichen Mutter.

»Da ist sie«, sagte sie überflüssigerweise – ich bin sicher, meiner Mutter war mein Erscheinen durchaus schon aufgefallen. »Ihre kleine Erika. Ein wahres Musterkind.«

Auch wenn ich selbst in diesem Moment über eine rein körperliche Anwesenheit wohl nicht hinauskam, meine ich mich deutlich an den Gesichtsausdruck der Hebamme zu erinnern. Sie schien mächtig stolz auf ihr kreatives Wortspiel. Ein Muster­kind. Ich war die buchstäbliche Neugeburt des Durchschnitts und hieß mit Nachnamen Mustermann. Wenn Sie mich fragen, war der Musterkind-Witz, der mich durch meine gesamte Kindheit begleiten sollte, eher lahm als kreativ.

Soweit ich weiß, verzichteten meine Eltern an diesem schönen Tag jedoch darauf, die vorwitzige Hebamme auf ihre wenig originelle Bemerkung hinzuweisen, und widmeten sich lieber ihrem frisch geschlüpften Familienzuwachs. Ob das ein Ausdruck purer Erschöpfung oder auf ein gesteigertes postnatales Harmoniebedürfnis zurückzuführen war, werden wir wohl nie erfahren.

Ich gewöhnte mich schnell an die unwirtliche Umgebung außerhalb meines liebgewonnenen Mutterleibs und begnügte mich für den Augenblick damit, auf Mamas Brust eine Verschnaufpause einzulegen. So verschlief ich den ersten Besuch meines Lebens, der aus Mamas Schwester Inge, ihrem Mann Josef und meiner damals fünfjährigen Cousine Annika bestand. Berichten zufolge habe ich da wohl nicht viel verpasst. In ihrer Angst vor Keimen nötigte meine Mutter in den ersten Lebensmonaten ihrer Kinder alle Besucher nämlich zu einer peniblen Säuberungsaktion, die jeder Quarantänestation das Wasser reichen konnte. Da es ihr aus organisatorischen Gründen nicht möglich war, ihre Gäste nackt auszuziehen und mit dem Hochdruckreiniger abzuspritzen, bediente sie sich dafür aller anderen Hilfsmittel, die der Markt so hergab.

Als Mamas Familie nun endlich ihren strengen Hygienevorschriften genügte und einen ersten Blick auf die kleine Erika werfen durfte, hielten sich die Begeisterungsstürme entsprechend in Grenzen.

»Und, wie findest du deine neue Cousine?«, fragte meine stolze Mutter ihr kleines Patenkind.

»Geht so.«

»Wem sieht sie denn ähnlich? Der Mama oder dem Papa?«

»Weiß nicht«, lautete Annikas gelangweilte Antwort. »Sieht aus wie jedes Baby. Gut, dass wir die nicht mit nach Hause nehmen müssen.«

Baby Erikas besagte erste Verschnaufpause dauerte Mama zufolge mehrere Jahre. Ich war ein angenehmes Kind, das offenbar nicht viel zu erzählen hatte: Auf den obligatorischen »Da-bin-ich-und-ich-habe-Hunger-Schrei« unmittelbar nach Verlassen des Geburtskanals sollten lange Zeit keine weiteren folgen. Ich meldete mich nur dann zu Wort, wenn ich wirklich etwas zu erzählen hatte, und verinnerlichte schon früh die deutschen Tugenden, zu denen man in der Familie Mustermann erzogen wurde. Das jedenfalls war den Erzählungen meiner Mutter zu entnehmen, mit denen sie ungefragt und exzessiv ihre spärlich gesäten Bekannten unterhielt. Ihre Erika war nämlich so zuverlässig und höflich wie genügsam. Nach ihrer Erika konnte man von Anfang an die Uhr stellen. Ihre Erika schlief, wenn es Schlafenszeit war, und trank, wann immer es Essenszeit war – und zwar systematisch. Linke Brust, rechte Brust, Bäuerchen. Dann schlief Klein-Erika mit einem zufriedenen Lächeln auf den satten Babylippen ein. Ein Kind wie aus dem Bilderbuch. In einer ebenfalls bilderbuchartigen rosafarbenen Babywelt, in der sich Hello Kitty sicher wie im Paradies gefühlt hätte. Natürlich kannte zu der Zeit noch niemand das spätere Kult-Kätzchen.

Während sich die Brust-Bäuerchen-Babylippen-Sache relativ schnell änderte, blieb ich doch weiterhin ein liebes, ruhiges Mädchen. Alle mochten mich. Außer Sabine vielleicht. Meine Schwester und ich hätten kaum unterschiedlicher sein können. Wenn ich das Musterkind war, dann war sie wohl das Montagsmodell der Reihe, das immer und überall aneckte und für Ärger sorgte. Sabine war das egal. Sie machte, was sie wollte – und das war in der Regel genau das Gegenteil von dem, was alle anderen von ihr erwarteten.

Als Sechsjährige schnitt sie ihren Barbiepuppen Irokesenschnitte und malte ihnen Totenkopf-Tattoos auf die streichholzdünnen Oberarme. Ihr nächstes Styling-Opfer sollte ihre kleine Schwester werden. Ich hatte die blonden Flusen auf meinem vierjährigen Kopf gerade erstmals zu einer Art Frisur wachsen lassen und schrie wie am Spieß, als Sabine mir mit Mamas großer Schneiderschere auf die Pelle rückte. Die Tür flog auf, unsere Eltern stürmten das Kinderzimmer – und fanden ihre beiden Töchter in einem verstörenden Kampf verkeilt auf dem Fußboden vor. Sabine hielt noch immer die Schere umklammert. Ich schätze, sie sah aus wie eine Massenmörderin in der Ausbildung.

Den folgenden Zimmerarrest nutzte meine Schwester dazu, ihr rosafarbenes Barbiehaus mit dem Edding schwarz anzumalen. Genug Zeit hatte sie ja nun.

Abgesehen von Sabines gelegentlichen Eskapaden verlief meine Kindheit in ruhigen Bahnen. Papa war selbstständiger ­Tischler und verbrachte einen Großteil der Woche in seiner kleinen Werkstatt am anderen Ende unseres Wohnviertels. Wenn er abends nach Hause kam, roch er wunderbar nach Sägespänen und ehrlicher Arbeit. Mama hatte eigentlich Ärztin werden wollen, es dann aber nur bis zur Hobby-Quacksalberin geschafft. Das sagte mein Vater zumindest immer. Es sollte noch einige Jahre dauern, bis ich diese Äußerung verstand. Auf jeden Fall hatte meine Mutter vor Sabines Geburt als Sekretärin gearbeitet und kümmerte sich jetzt neben der Kindererziehung um Papas Buchführung.

Die Wochenenden im Hause Mustermann gehörten der Familie und dem Garten. Und natürlich dem Auto – einem großen, schwarzen Audi, der Papas ganzer Stolz war. Er hatte einen Schonbezug über dem Fahrersitz, weil mein Vater als Handwerker nun einmal häufig in Arbeitskleidung unterwegs war. Da dieser Schonbezug aber nicht schmutzig werden durfte, lag zusätzlich ein großes Handtuch auf dem Sitz. Dieses Handtuch jedoch durfte unter keinen Umständen schmutzig werden – wer sitzt schon gern auf verdreckten Draufsitzhandtüchern?

»Dann macht doch einen Schonbezug über den Schonbezug!«, schlug Sabine eines Tages vor. »Und vielleicht noch einen Schonbezug über den Schonbezug über dem Schonbezug. Und diesen Schonbezug …«

»Schon gut!«, fiel Mama ihr ins Wort. »Danke für den konstruktiven Vorschlag. Und jetzt leg bitte das frische Handtuch auf den Schonbezug.«

Ich fand das alles irgendwie komisch und erntete zum ersten Mal in meinem mustergültigen Leben so etwas wie Anerkennung von meiner Schwester.

»Jetzt hast du’s auch gemerkt!«, seufzte sie erleichtert. »Vielleicht gibt es ja doch noch etwas Hoffnung.«

Dass ich nicht ganz verstand, was sie damit sagen wollte, behielt ich lieber für mich. Stattdessen sonnte ich mich in dem Moment schwesterlicher Eintracht, von dem es in den folgenden Jahren nicht viele geben sollte.

Während Mama samstagnachmittags Unkraut zupfte und ihre prächtigen Blumenbeete in Form brachte, wusch unser Vater die Familienkutsche. Sabine und ich halfen den beiden, wie eben nur Kinder helfen können. Wir reichten Papa den Schwamm, hielten den Gartenschlauch und polierten Chromfelgen, bevor wir das Wort auch nur aussprechen konnten. Wir schleppten volle Unkrauteimer auf den Kompost, harkten im Herbst das Laub unserer Apfelbäume zusammen und mähten mit unseren pinkfarbenen Plastikrasenmähern den Vorgarten. In unbeobachteten Momenten aßen wir Blumenzwiebeln und setzten Papas Fußmatten unter Wasser. Was man halt so macht als Kinder. Danach traf sich die Familie zu Kaffee, Kakao und Kuchen am massiven, von Papa selbst gebauten Küchentisch. Ich liebte unsere idyllischen Familiensamstage. Sabine nannte sie spießig und hasste sie.

Am Sonntag wurde ausgeschlafen. Irgendwann holte Papa dann beim Bäcker um die Ecke frische Brötchen, während Mama das Frühstück vorbereitete. Es gab gekochte Eier – sieben Minuten, Eiweiß hart und Eigelb flüssig, wie sich das gehört – und selbst gemachte Erdbeermarmelade. Dann, so war der Plan, sollten Sabine und ich zusammen spielen, damit Mama und Papa etwas Zeit für sich hatten. Und damit begann der spannende Teil des Wochenendes.

»Lass uns Memory spielen!«, befahl Sabine. Dass meine Schwester um nichts bat, sondern einforderte, was auch immer sie gerade haben wollte, war wohl eine der ersten Lektionen meines noch jungen Lebens gewesen. Also spielten wir Memory. Sabine mischte die Karten und legte sie kreuz und quer auf dem großen Küchentisch aus, von dem wir gerade erst das benutzte Frühstücksgeschirr abgeräumt hatten. Dann rückte sie sich einen der schweren Stühle zurecht.

»Du musst dir erst die Hände waschen!«, wies ich sie im schönsten Mama-Ton zurecht.

»Muss ich nicht. Sie sind ja gar nicht schmutzig.«

»Sind sie wohl! Wer weiß, wer schon alles die Karten angefasst hat?«

»Du und ich! Wer sonst sollte unser Memory benutzt haben?« Sabines Stimme wurde mit jeder Silbe lauter.

»Und was ist mit den Arbeitern in der Memory-Fabrik?«, fragte ich herausfordernd. »Meinst du, die waschen sich immer die Hände, bevor sie unsere Spiele einpacken?«

»Das machen alles Roboter!«, behauptete meine Schwester, die ein großer Fan der Sendung mit der Maus war.

»Roboter haben auch schmutzige Hände. Mit Öl dran. Und Keimen. Davon wird man krank!«

Ich hatte noch nie einen Memory-Einpack-Roboter gesehen und war mir nicht sicher, ob er überhaupt Hände hatte. Aber bei einem so wichtigen Thema wie Hygiene wollte ich auf keinen Fall klein beigeben.

»Du bist echt noch schlimmer als Mama!« Genervt rannte meine Schwester ins Bad, um sich die Hände zu waschen. Vielleicht drehte sie auch nur kurz den Wasserhahn auf, um ihre reinliche Spielgefährtin ruhigzustellen. Ganz sicher konnte man sich bei ihr niemals sein.

Als sie zurück in die Küche kam, hatte ich die Zeit genutzt, um die unordentlich auf dem Tisch verteilten Spielkarten in übersichtlichen Viererreihen anzuordnen.

»Was hast du denn jetzt schon wieder gemacht? Bestimmt hast du dir auch alle Karten angeguckt!«

»Habe ich nicht!«, widersprach ich beleidigt. »Ich habe nur etwas aufgeräumt.«

»So geht das nicht!«, rief Sabine böse und wirbelte die frisch geordneten Pappbildchen wieder durcheinander. »Das darf nicht ordentlich sein!«

»Dann spiele ich nicht mit!« Wütend funkelten wir uns an.

»Dann lass es eben!« fauchte meine Schwester.

Entschlossen fegte sie die Karten vom Tisch auf den klinisch reinen Teppichboden. Mit einem missbilligenden Schnauben bückte ich mich, um sie wieder aufzuheben. Doch meine Schwester hielt mich zurück.

»Denk nicht mal dran!«, zischte sie bedrohlich. »Wenn du diese Karten aufhebst, dann hau ich dich!«

»Hier wird niemand gehauen«, murmelte Papa geistesabwesend, der gerade im passenden Moment in die Küche gekommen war.

Triumphierend streckte ich Sabine die Zunge raus und räumte das Chaos auf.

»Streber«, fauchte sie so leise, dass nur ich es hören konnte.

Es war mir egal. Der Fußboden war wieder sauber.

»Und was machen wir jetzt?«

»Wir puzzeln!«, entschied Sabine.

Mühsam zog sie ihr Lieblingspuzzle aus den Untiefen ihrer überquellenden Spielkiste. Die Autowerkstatt mit Tankstelle. Ich hätte viel lieber mein rosa Feenpuzzle gemacht. Eine leise Stimme in meinem Inneren jedoch hielt mich davon ab, das auch nur vorzuschlagen. Heute weiß ich, es war der pure Überlebensinstinkt.

Sabine schüttete den Pappkarton auf dem großen Tisch aus und begann die Teile zurechtzulegen. Ich entspannte mich etwas. Der Sturm hatte sich wohl fürs Erste gelegt. Mit beiden Händen griff ich ebenfalls nach den Puzzleteilen und begann sie systematisch zu ordnen. Eine Weile arbeiteten wir still und konzentriert zusammen.

»Ich hab die Decke mit der Hebebühne fertig!«, berichtete meine Schwester schließlich stolz. »Und wie weit bist du?«

»Ich habe alle Teile mit drei Löchern zusammen.«

Fassungslos starrte Sabine auf die ansehnliche Sammlung gleicher Puzzleteile, die ich fein säuberlich auf dem Tisch vor mir aufgereiht hatte.

»Wen interessieren denn die Löcher?«, schrie sie, als sie endlich ihre Stimme wiedergefunden hatte.

»Mich«, antwortete ich arglos. Irgendwie musste man doch schließlich anfangen.

Genau in diesem Moment kam unsere Mutter zur Tür herein.

»Was ist denn hier los?«, fragte sie. »Streitet ihr euch schon wieder?«

»Mit Erika kann man nicht spielen«, maulte Sabine. »Die will immer nur alles ordentlich machen.«

»Ordnung ist das halbe Leben!«, belehrte Mama meine große Schwester.

»Dann ist das halbe Leben eben scheiße!« Zufrieden registrierte Sabine, wie ich beim Klang des verbotenen Schimpfwortes zusammenzuckte. »Es sei denn, man heißt Erika. So ein Psycho!« Und weg war sie. Wütend. Der typische Sabine-Abgang mit knallenden Türen und einer Extra-Portion Vorwurf, die noch Stunden später in der Luft zu liegen schien.

Ich war mir keiner Schuld bewusst und sah hilfesuchend zu meiner Mutter auf.

»Mach dir nichts draus«, sagte sie und tätschelte meinen mittelblonden Hinterkopf. »Sabine ist einfach nicht so wie wir. Du bist kein Psycho. Du bist ganz normal.«

Aus Mamas Mund klang das wie das größte Kompliment, das ein Mensch jemals bekommen hatte. Mit stolzgeschwellter Brust räumte ich das Durcheinander auf, das mein Wirbelwind von Schwester hinterlassen hatte. Ich war ganz normal!

Am darauffolgenden Sonntag spielten wir Mikado. Schwungvoll ließ Sabine die bunt gestreiften Holzstäbchen auf den blanken Küchentisch donnern. Kreuz und quer wirbelten die Hölzer durch die Gegend, um schließlich in einem wilden Durcheinander zum Liegen zu kommen. Ich hatte noch nie Mikado gespielt, wusste aber von meiner Schwester, was von mir erwartet wurde. Fasziniert betrachtete ich das entstandene Chaos und streckte die Hand aus.

»Nicht!«, wies Sabine mich zurecht. »Ich fang an!« Geschickt packte sie eines der Stäbchen und zog es aus dem Haufen, ohne dass sich die benachbarten Hölzer bewegten.

»Hah!«, rief sie triumphierend und griff nach dem nächsten Hölzchen. So ging das weiter, bis sie endlich mit einer unkonzentrierten Bewegung den fragilen Turm zum Wackeln brachte.

Jetzt war ich an der Reihe. Ohne groß nachzudenken, griff ich mit beiden Händen in den Stäbchen-Haufen und schob die Holzspieße zu einer ordentlichen, glatten Schicht zusammen. Sah viel schöner aus!

Mit offenem Mund starrte die sonst so schlagfertige Sabine die fein säuberlich aufgereihten Mikadostäbe an.

»Du kannst doch nicht den ganzen Stapel verschieben!«, zischte sie schließlich.

»Ich war dran!«

»Ja, aber … du darfst immer nur ein Hölzchen anfassen!«

»Das hast du nicht gesagt. Du hast gesagt, ich kann Hölzchen rausziehen, bis was wackelt.«

»Es hat gewackelt!«, schrie Sabine mit sich überschlagender Stimme. Schon als Kind besaß sie das fragwürdige Talent, sozusagen in Großbuchstaben schreien zu können. »JEDES EINZELNE STÄBCHEN HAT GEWACKELT!«

»Okay«, sagte ich gelassen, »dann bist du dran.«

»Du bist echt nicht normal!«

»Bin ich wohl! Mama sagt das auch!«

»Dann spiel doch mit Mama!«

Das Thema Mikado war ein für alle Mal durch. Gleich unter den Punkten »Memory« und »Puzzeln« gesellte es sich auf die schnell wachsende Liste der Spiele, die meine Schwester und ich nie wieder zusammen spielen sollten.

»Waren Sie denn wirklich ein so ordentliches Kind?«

Ich hatte die Anwesenheit des blassen Chamäleons vollkommen ausgeblendet und zuckte beim Klang seiner Stimme unwillkürlich in der Sitzkuhle seines Sofas zusammen. So intensiv hatte ich schon lange nicht mehr an meine Kindheit gedacht.

Es war unsere zweite Sitzung und bisher fühlte sich das Ganze eher an wie ein gemütliches Kaffeekränzchen ohne Kaffee als eine professionelle Therapie.

»Ich mag es gern ordentlich«, bestätigte ich. »Wer Ordnung hält, verschwendet neunzig Prozent weniger Zeit mit suchen.«

Für den Bruchteil einer Sekunde meinte ich, in Max Müllers Augen ein belustigtes Funkeln wahrzunehmen. Etwas pikiert setzte ich mich auf der beigefarbenen Couch auf. Lachte der mich etwa aus?

»Was ist denn so schlimm am Suchen?«

»Was ist denn so schlimm am Ordnunghalten?«, konterte ich kampflustig.

»Nichts«, sagte der Psychotherapeut ruhig, »es klingt nur nicht gerade nach Spaß. Schon gar nicht für ein kleines Kind.«

»Oh, ich hatte Spaß!«, erboste ich mich. »Jede Menge! Pausenlos hatte ich Spaß! Da machen Sie sich mal keine Sorgen!«

Okay, das klang jetzt selbst in meinen Ohren etwas übertrieben. Warum hatte ich bloß das Gefühl, diesem komischen ­Schnösel etwas beweisen zu müssen?

»Das freut mich«, erwiderte er mit einem ungebührlichen Grinsen.

Ich glaubte ihm kein Wort. »Soll ich jetzt weitererzählen?«

»Gern. Erzählen Sie mir mehr. Was hat der kleinen Erika Spaß gemacht?«

Als ich fast fünf war, kam ich den Kindergarten. Mama wollte wieder arbeiten gehen.

»31,1 Prozent der Frauen sind heutzutage erwerbstätig«, erklärte sie mir. »Also fast alle!«

Ich war beeindruckt. Auch wenn ich nicht wusste, was »erwerbstätig« hieß: Wenn es so viele Frauen im Land machten, war es bestimmt etwas Gutes.

Darüber hinaus waren meine Eltern der Meinung, ich müsse auch mal andere Kinder als Sabine treffen – zumal die Beziehung zu meiner Schwester spätestens seit dem Mikado-Desaster eher frostig war. Ihren Freunden aus der Nachbarschaft erzählte Sabine immer, sie sei ein Einzelkind. Das sagte wohl alles.

Ich hatte mich zu Hause bisher sehr wohlgefühlt und nicht den Eindruck, dass in meinem Leben etwas fehlte, aber Mama und Papa sahen das anders. Genau genommen sah Mama das anders und Papa pflichtete ihr bei, um das Thema schnell abhaken zu können.

Als die Sommerferien vorbei waren und der Kindergarten losging, wurde ich krank. Der Arzt sagte, ich sei einfach erkältet. Mama meinte, es wäre ganz sicher eine handfeste Laryngitis und der Arzt ein Idiot. Papa nannte es Würfelhusten. Auf jeden Fall musste ich das Bett hüten und durfte erst in den Kindergarten gehen, als alle drei mich für geheilt hielten. So kam es, dass ich zwei Wochen später als geplant an Mamas Hand die nahe gelegene Kita erkundete – und mich plötzlich ohne Mamas Hand inmitten fremder Kinder zwischen Bergen an Spielsachen ­wiederfand.

Alle außer mir kannten sich bereits. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich unglaublich einsam. Unvermittelt dachte ich an Mama und meinen missglückten Fahrrad-Stunt vom vergangenen Wochenende. Ich hatte mir ordentlich das Knie aufgeschlagen und war schluchzend in Mamas Arme gesunken, während Sabine lässig meinen verbogenen Fahrradlenker gerichtet und ein spontan selbst komponiertes Lied über kleine Heulsusen gesungen hatte.

»Jeder Mensch weint in seinem Leben rund achtzig Liter ­Tränen«, hatte meine Mutter mich getröstet. »Das ist keine Schande!«

Ich hatte gerade entschieden, dass der erste Tag im Kindergarten ein würdiger Anlass war, um ein paar Milliliter kostbare Tränenflüssigkeit zu investieren. Da setzte sich ein großes, schlaksiges Mädchen zu mir, das sich als Christine vorstellte.

»Ich kenne dich!«, sagte sie bestimmt. »Du bist Kerstin. Ihr wohnt neben dem Spielplatz. Euer Hund kackt immer in den Sandkasten, sagt mein Papa.«

»Wir haben keinen Hund.« Dass ich außerdem nicht ­Kerstin hieß und nicht neben dem Spielplatz wohnte, vergaß ich vor ­lauter Aufregung zu erwähnen.

»Natürlich!«, widersprach Christine. »Ich seh euch doch immer.«

Ein winziges Mädchen mit rotblonden Zöpfen gesellte sich zu uns, bevor ich zu einer Erwiderung ansetzen konnte. Ihr kleines Gesicht mit dem etwas verhuscht wirkenden Blick wurde fast vollkommen von einer riesigen Hornbrille verdeckt, mit der sie aussah wie Puck, die Stubenfliege. Ich war ein großer Fan von Biene Maja und ihren Freunden und lächelte ­entzückt.

»Das ist Kerstin«, stellte Christine mich vor. »Sie wohnt neben dem Spielplatz.«

Puck warf mir einen scheuen Blick zu und machte einem dicken Jungen Platz, der sich etwas unsanft auf die Bank neben mir drängte.

»Kerstin ist neu hier«, klärte Christine ihn auf.

»Nö. Die war letzte Woche auch schon hier. Ich kenne die«, behauptete das Pummelchen und zog weiter, um Puck von der nächsten Bank am anderen Ende des Zimmers zu vertreiben.

Ich war also Kerstin, wohnte neben dem Spielplatz und hatte einen Hund, der in Sandkästen kackte. Von mir aus, dachte ich schicksalsergeben und machte mir nicht die Mühe, das Missverständnis aufzuklären. Viel wichtiger war schließlich, dass ich eine Freundin gefunden hatte – und die wollte ich um nichts in der Welt vor den Kopf stoßen.

Christine und ich verstanden uns prächtig. Wir bastelten und malten, machten das Piratenschiff im Garten unsicher und hielten uns gegenseitig das Pummelchen vom Leib, das sich schnell zu einer echten Plage entpuppte. Mama hatte recht gehabt: Es war eine völlig neue, angenehme Erfahrung für mich, nicht immer nur mit Sabine zusammen zu sein.

»Hast du Lust, Verstecken zu spielen?«, fragte Christine nach einer Weile.

Argwöhnisch starrte ich meine neue Spielgefährtin an. Sabine fragte nie, ob ich Lust auf irgendetwas hatte. Vor allem aber hatte ich gerade vor einigen Tagen äußerst schlechte Erfahrungen mit dem Versteckspiel gemacht. Alles hatte ganz harmlos angefangen.

»Los, du versteckst dich!«, hatte meine Schwester befohlen.

Gehorsam war ich davongeflitzt und hatte mich für ein innovatives Versteck hinter dem Sofa entschieden. Dort hatte ich aufgeregt auf Sabines Schritte gelauscht und inständig gehofft, dass sie mich nicht allzu schnell entdecken würde. Alles blieb still. Ich beglückwünschte mich innerlich zu meinem grandiosen Versteck. Die Minuten vergingen. Langsam wurde es langweilig. Vielleicht war mein Versteck auch einfach zu schwierig. Doch wo war Sabine überhaupt? Hätte ich sie nicht wenigstens hören müssen? Tapfer verharrte ich hinter der Couch und wünschte mir nun doch, dass sie mich bald finden würde. Als ich endlich Schritte hörte, streckte ich erleichtert meine steifen Glieder und machte mich auf meine Entdeckung gefasst.

»Erika? Wo bist du denn?«, rief meine Mutter. Sie klang ­verwundert.

»Hier«, sagte ich und schälte mich aus meinem Versteck.

»Was machst du denn hinter dem Sofa?«

»Wir haben Verstecken gespielt. Aber Sabine hat mich nicht gefunden.«

»Sabine ist vor einer halben Stunde rausgegangen. Sie wollte Papa helfen, das Auto zu waschen«, rutschte es Mama heraus. Erst dann schien ihr zu dämmern, was passiert war. »Und ich habe mich schon gewundert. Ach, bestimmt hat sie das Suchen ganz vergessen. Macht nichts. Jetzt habe ich dich ja gefunden!«, sagte sie. Ihre Fröhlichkeit klang gezwungen.

Folgsam begleitete ich sie in die Küche, wo ich ihr bei der Zubereitung des Abendbrotes half. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich von meiner Schwester gelinkt worden war.

»Was ist denn jetzt?«, Christines Stimme holte mich in die Gegenwart zurück.

Ich hatte keine Lust, den Rest meiner Kindheit unentdeckt hinter einem Sofa im Spielzimmer des Kindergartens zu verbringen. Und doch schien es mir noch unangenehmer, die Freundschaft zu meiner neuen Gefährtin aufs Spiel zu setzen.

»Verstecken ist toll!«, sagte ich also mit einem schiefen Grinsen.

An diesem Tag wurde ich nicht enttäuscht. Wir versteckten und suchten uns abwechselnd. Niemand wurde in seinem Versteck vergessen. Und auch sonst lagen meine Freundin und ich auf einer Wellenlänge. Beim Memory durfte ich die Karten in ordentlichen Viererreihen ablegen. Mikado fand Christine doof. Genauso wie Irokesenschnitte, Totenkopf-Tattoos und schwarze Barbiehäuser. Ich war überglücklich. Bestimmt fühlten wir uns auch deshalb so verbunden, weil wir beide Einzelkinder waren: Tine hatte keine Geschwister, und ich – ich hatte Sabine.

Als Mama mich mittags abholte, war meine anfängliche Unsicherheit längst verfolgen.

»Das ist Christine!«, rief ich stolz und zerrte das schlaksige Mädchen hinter mir her, um es meiner Mutter zu präsentieren. »Wir sind beste Freundinnen!«

»Das freut mich aber!«, sagte Mama herzlich.

»Ich mag Kerstin«, verkündete Tine feierlich.

Mama war sichtlich verwirrt. »Wie schön. Ist Kerstin auch hier im Kindergarten?«

Just in diesem Moment gesellte sich Christines Mutter zu uns. »Da bist du ja, Tine. Wer ist denn deine Freundin hier?«

»Das ist Kerstin. Ich glaube aber nicht, dass ihr Hund in den Sandkasten kackt.«

Mama blickte ratlos von mir zu Christine und übernahm schließlich das Wort: »Renate Mustermann«, sagte sie zu der fremden Frau, »und das ist meine Tochter Erika.«

»Anne Schulz«, sagte Tines Mutter. Dann wandte sie sich an mich. »Dich kenne ich ja schon. Ihr wohnt doch neben dem Spielplatz, richtig?«

Schüchtern schüttelte ich den Kopf.

»Ich glaube, Sie verwechseln uns«, stellte Mama klar. »Wir wohnen nicht neben dem Spielplatz und wir haben auch keinen Hund.«

»Vielleicht hat Erika eine Doppelgängerin«, lachte Tines Mutter.

Wie oft ich das in meinem Leben noch hören würde, ahnte ich an diesem ersten Tag im Kindergarten glücklicherweise nicht.

Die Zeit verging wie im Flug. Schon bald fand ich mich mit der wohl weltgrößten Schultüte der Geschichte im Klassenzimmer unserer kleinen Grundschule wieder.

»Bist du nicht schon in der zweiten Klasse?«, fragte unsere Lehrerin Frau Stein argwöhnisch, als sie mich in der ersten Reihe erblickte.

Ich schüttelte nur stumm den Kopf. Unsere Klassenlehrerin schien nicht überzeugt.

»Wie auch immer«, sagte sie achselzuckend, »vielleicht hast du ja auch eine Doppelgängerin.«

Tine saß neben mir und futterte Erdbeerschnüre aus ihrer Schultüte, bis ihr schlecht wurde. Puck, die Stubenfliege, die ebenfalls in unserer Klasse war, kicherte schadenfroh, als Frau Stein meine beste Freundin mit einem gehetzten Gesichtsausdruck zur Toilette begleitete.

Ich ging gern zur Schule und war auch ohne viel Einsatz eine durchschnittliche Schülerin.

»Wie gut du erst wärst, wenn du dich etwas mehr anstrengen würdest!«, versuchte Papa mich nach meinem ersten Zeugnis zu motivieren.

Mama sah das wie immer anders. »Durchschnitt ist perfekt«, sagte sie ruhig und strich mir zärtlich über den Kopf. »Es reicht, dass deine Schwester immer aus der Reihe tanzt!«

Jeden Mittag holte Mama mich auf dem Rückweg von ihrer Halbtagsstelle als Sekretärin von der Schule ab. Auf dem kurzen Fußmarsch nach Hause erzählten wir uns gegenseitig, was wir tagsüber erlebt hatten. Mamas Geschichten handelten meist von ihren Kolleginnen, die für sie quasi genauso exotisch waren wie für mich ein sagenhaftes Land namens Australien, über das wir gerade in der Schule gesprochen hatten.

Die Arbeitskolleginnen meiner Mutter waren allesamt viele Jahre jünger als sie. Ungefähr hundert, wenn man ihren Ausführungen Glauben schenken durfte. Und auch sonst hatten sie mit der seriösen Frau Mustermann nicht viel gemeinsam.

»Erika«, sagte Mama dann mit dieser speziellen Mischung aus Augenrollen und Kopfschütteln, die sie sich ausschließlich für ihre Arbeitsgeschichten angeeignet hatte, »du kannst dir gar nicht vorstellen, was da los ist!«

Ich hatte längst verstanden, dass diese spezielle Art der Unterhaltung keine Kommentare meinerseits erforderte, und konzentrierte mich stattdessen darauf, auf meinen kurzen Beinchen mit dem Tempo meiner Mutter mitzuhalten.

»Die Frau Schmidt hat sich am Samstag einen Ring durch die Nase stechen lassen. Wie ein wilder Stier sieht sie aus! Und dafür auch noch eine Blutvergiftung zu riskieren! Bitte versprich mir, dass du so etwas niemals machst!«

Ich wollte weder aussehen wie ein Stier noch vergiftetes Blut haben und versprach meiner Mutter bereitwillig, mir keine Ringe durch die Nase stechen zu lassen.

»Meine kleine Erika«, seufzte Mama dann zufrieden, »du bist wirklich mein Musterkind.«

Stolz wie Oskar hing ich an ihrer Hand und ihren Lippen und hätte ihr wahrscheinlich selbst meine Seele versprochen, wenn wir nicht in diesem Moment an unserem gepflegten Reihenmittelhaus angekommen wären.

Am nächsten Tag war es die junge Kollegin Fräulein Braun, die den Ärger meiner Mutter erregt hatte.

»Erika, bei der geht es zu wie in einem Freudenhaus. Die hat jetzt den dritten neuen Freund in sechs Wochen. Wenn die sich nicht mal bald irgendeine dieser Krankheiten abholt! Erika, so etwas macht ein vernünftiges Mädchen nicht. Und du bist doch ein vernünftiges Mädchen, oder?«

Ich wusste nicht, was ein Freudenhaus war, und fand den Gedanken an drei neue Spielgefährten in nur sechs Wochen durchaus verlockend. Wenn die allerdings irgendwelche Krankheiten mitbrachten, dann war ich natürlich raus aus der Nummer! Eifrig nickte ich also mit dem Kopf und freute mich wie Bolle, dass ich so vernünftig war.

Zu Hause angekommen, half ich Mama beim Kochen. Um ein Uhr kam Papa zum Essen und hatte exakt dreißig Minuten Zeit, bevor er wieder zurück in seine Werkstatt musste. Da hieß es schnell sein! Wir kochten Schweinsbraten mit Knödeln, Haxen mit Sauerkraut und all die anderen schönen Dinge, die schon Generationen von Mustermanns an Generationen von Kochstellen zubereitet hatten. Nur Sabine konnten wir mit unserer bayrischen Hausmannskost nicht begeistern. Wirklich verwundert war darüber aber wohl niemand.

»Ihr solltet mal an eure Cholesterinwerte denken!«, belehrte sie uns. Es war offensichtlich, dass sie eigens für dieses Gespräch eines von Mamas medizinischen Wörterbüchern konsultiert hatte. »Ständig dieses Schweinefleisch. Asiatisch müsst ihr kochen. Das ist viel gesünder. Deshalb werden die Chinesen auch alle hundertvierzig.«

»Das fehlte mir noch!« Der mütterliche Stolz, den Sabines Ausflug in die Welt der Medizin in Mamas Gesicht gezaubert hatte, war echter Empörung gewichen. »Damit es hier riecht wie in Peking? Was sollen denn die Nachbarn denken?«

Ich kannte unsere Nachbarn nur vom Sehen und hatte nicht das Gefühl, dass sie besonders viel über unsere Essgewohnheiten nachdachten. Mama jedoch sah das scheinbar anders. Es war also entschieden: Die Mustermanns kochten bayrisch. Selbst wenn ihnen das Cholesterin eines Tages aus den Ohren wieder rauskommen würde!

Die Meinung der Leute, das war mir schon vor der Cholesterin-­Debatte mehrfach aufgefallen, war für Mama und Papa von ungeheurer Bedeutung. Auch wenn wir kaum ihre Namen kannten und außer eines gelegentlichen gemurmelten Grußes keinerlei Kontakt pflegten, hatten unsere Nachbarn einen erstaunlich großen Einfluss auf unsere Lebensgewohnheiten. Als ich noch ganz klein war, dachte ich eine Zeit lang, ein Nachbar wäre in etwa dasselbe wie ein König – bei dem Aufwand, den wir betrieben, um diesen fremden Leuten zu gefallen.

Es fing an mit unseren Jalousien, die wir quasi nur für unsere Nachbarn besaßen. Jeden Abend bei Einbruch der Dunkelheit rannte Papa wie von der Tarantel gestochen durch das gesamte Haus und ließ jeden einzelnen Rollladen runter. Weil man das in einem ordentlichen Haushalt so machte. Morgens dann, wenn es wieder hell war, lief Mama in umgekehrter Reihenfolge von Zimmer zu Zimmer, um die Jalousien wieder hochzuziehen. Erneut waren die Nachbarn der ausschlaggebende Punkt: Schließlich sollte niemand denken, dass wir noch in den Federn lagen! Selbst wenn ich krank war und im Bett bleiben musste, durften die Rollläden unter keinen Umständen geschlossen bleiben.

»Wir sind ordentliche Leute!«, sagte Mama energisch, wenn ich mich an solchen Krankheitstagen wie ein Vampir im grausam eindringenden Sonnenlicht wand. »Du willst doch nicht, dass die Nachbarn etwas anderes denken!«

Klar wollte ich das nicht. Aber ein bisschen lästig fand ich es schon, dass Nachbarn immer gleich so ein schlechtes Bild von einem hatten.

Das ausgeprägte Denkvermögen eben dieser gefürchteten Nachbarn war darüber hinaus auch für unsere Gartengestaltung sowie den Zeitplan aller Draußen-Aktivitäten verantwortlich. Der Anblick von langen Grashalmen und Unkraut in unserem Garten etwa konnte ihnen auf keinen Fall zugemutet werden. Ebenso wie Spielzeuge im Vorgarten, achtlos abgestellte Fahrräder oder im Beet vergessenes Arbeitsgerät. Bei den Mustermanns war es mustergültig! Da wurde gemäht, gezupft, gewienert und aufgeräumt – aber selbstverständlich niemals in der Mittagsruhe. Auch das – Sie ahnen es sicher bereits – hätte schließlich schnell wieder zu unerwünschten Gedankengängen jenseits des Gartenzauns führen können.

In dem Haus zu unserer Linken wohnte eine alte Frau mit Dutt und chronisch hochgezogenen Augenbrauen. Sie trug eine randlose runde Brille und hochgeschlossene Kostüme, die in der Nachkriegszeit sicherlich der letzte Schrei gewesen waren. Jetzt, das sagte Sabine zumindest immer, brachten sie einen höchstens noch zum Schreien. Da kurioserweise niemand von uns Kindern ihren Namen wusste, wurde der korrekt gekleideten Nachbarin ihre Ähnlichkeit mit einer gewissen Hausdame zum Verhängnis: Nach der Lektüre unserer ersten Heidi-Heftchen tauften Sabine und ich sie feierlich auf den Namen »Fräulein Rottenmeier«. Natürlich ohne ihr Wissen.

Fräulein Rottenmeier war eine angenehme Nachbarin. Ein wenig lag das sicherlich auch daran, dass sie fast nie ihr Haus verließ und dann und wann allenfalls ein paar alte Damen zum Kaffeetrinken beherbergte. Um ihren Garten kümmerte sich ein Gärtner und im Haushalt half ihr einmal wöchentlich ihre Schwiegertochter.

Bei Fräulein Rottenmeier konnte man buchstäblich vom Boden essen. Obwohl niemand von uns bislang einen Fuß in ihr Haus gesetzt hatte, war Mama da ganz sicher. Der sorgfältig gestutzte Rasen und die üppigen, professionell gepflegten Blumenbeete verliehen dieser etwas gewagten Aussage den passenden Nachdruck. Ohne je auch nur ein Wort zu sagen, hatte Fräulein Rottenmeier es mit ihrem vorbildlichen Haushalt irgendwie geschafft, bei meinen Eltern den Takt vorzugeben. Wenn in ihrem Garten der Rasenmäher ansprang, war es stets nur eine Frage von Minuten, bis auch Papa unseren leidgeprüften Grashalmen auf den Pelz rückte. Und wann immer Fräulein Rottenmeiers Schwiegertochter die Fenster putzte, hatte Mama in Nullkommanichts den Wassereimer gesattelt und polierte unsere Scheiben, als gäbe es kein Morgen.

Auf Mama und Papa folgte schließlich das Ehepaar mittleren Alters aus dem Haus zu unserer Rechten. Der Mann, ein untersetzter, glatzköpfiger Zwerg, der bei jeder Temperatur jenseits der 15-Grad-Marke schwitzte wie im Hochsommer, hieß Horst. Das wussten wir nur deshalb, weil seine Frau ihren Ehemann mit schöner Regelmäßigkeit lautstark zu ihrer Unterstützung herbeirief.

»Ho-horst! Bring mir doch mal das Klopapier!«, schallte es dann durch die gesamte Siedlung. Oder: »Ho-horst, kannst du mal die Nudeln abschütten?«

Da Ho-horst seine Frau scheinbar weniger gern um sich hatte – oder einfach nur nicht so laut nach ihr brüllte –, wusste niemand ihren Namen. Wir nannten die beiden der Einfachheit halber »die Horsts« und hatten immer etwas Mitleid mit Herrn Horst.

Jedenfalls waren die Horsts die Nächsten, die sich vom Sauberkeitsfimmel der Häuser Rottenmeier und Mustermann anstecken ließen. Dann schließlich griff der Putzwahn um sich wie eine Epidemie: Wie die Ameisen umsorgten ganze Horden von fleißigen Nachbarn ihre Häuser und Grundstücke und gaben nicht eher Ruhe, bis auch das letzte Staubkorn mit entschlossener Miene dahingemetzelt worden war.

Schon bald stand die nächste große Veränderung in meinem Leben an: Nach vier erstaunlich kurzen Jahren war die Grundschulzeit vorbei. In Zukunft würde ich wie fast dreißig Prozent meines Jahrgangs zur Realschule gehen, die ich bequem mit dem Fahrrad erreichen konnte. Wäre es nach Papa gegangen, dann hätte ich das Gymnasium besucht.

»Erika könnte viel besser in der Schule sein, wenn sie mehr gefordert würde. Sie strengt sich gar nicht richtig an!«, redete er Mama ins Gewissen.

»Ein gutes Pferd springt nicht höher, als es muss«, sagte diese mit einem stolzen Blick auf ihr Musterkind. »Wir sind normale Leute mit normalen Kindern. Da ist es vollkommen in Ordnung, wenn wir sie auf eine normale Schule schicken.«

Da das Gymnasium für meine Mutter anscheinend keine normale Schule war, war die Entscheidung gefallen: Ich ging zur städtischen Realschule. Für den ersten Tag war die feierliche Einschulung vorgesehen, zu der Mama mich begleiteten sollte. Am Morgen hatte ich schlimme Bauchschmerzen und wäre am liebsten im Bett geblieben. Die Hobby-Quacksalberin in meiner Mutter hatte zunächst eine Gastroenteritis diagnostiziert und mir fast sogar erlaubt, die Jalousien unten zu lassen, als sie sich plötzlich eines Besseren besann. Entschlossen korrigierte sie ihre professionelle Diagnose in »nervöse Gastritis« und scheuchte mich gnadenlos unter die Dusche. Dann steckte sie mich in mein bestes Sonntagskleid und flocht meine mittelblonden Haare zur Feier des Tages zu einem dicken Zopf. Ich sah aus wie das Kind aus der Waschmittelwerbung im Fernsehen. Das deutsche Durchschnittsmädchen. Nur dass ich mich am liebsten in unserem Durchschnittsbad eingesperrt hätte, bis dieser bedeutende Tag endlich vorüber war. Mein einziger Trost war, dass Tine und ich weiterhin in einer Klasse sein würden.

Hand in Hand näherten Mama und ich uns schließlich der Aula, in der die Begrüßung der »Neuen« stattfinden sollte.

»Guck mal, die Sonja vom Hockey ist auch da!«, sagte eine mir unbekannte Frau zu ihrer mir unbekannten Tochter, als wir uns in den Menschenstrom einreihten, der träge in den geschmückten Schulsaal floss.

Neugierig sah ich mich nach der hockeyspielenden Sonja um. Erst dann merkte ich, dass sie mich gemeint hatte. Die können doch nicht alle so aussehen wie ich, dachte ich genervt. Wie viele Doppelgänger kann ein Mensch denn schon haben? Noch bevor ich zu einer Richtigstellung ansetzen konnte, hatte der weit geöffnete Eingang der Aula die fremde Frau und ihre Tochter verschluckt. Auch Mama und ich betraten nun den großen Saal, in dem es zuging wie bei einem hyperaktiven Bienenvolk. Leute kamen und gingen, lachten und schwatzten, rückten Stühle zurecht und suchten ihre Familienmitglieder oder Freunde. Eingeschüchtert folgte ich meiner Mutter in die erste Reihe, um mich auf einem der letzten freien Plätze niederzulassen. Tine hatte ich in dem ganzen Gewühl noch nicht entdeckt.

»Hallo Kerstin«, begrüßte mich stattdessen ein großer, dünner Junge, der mit seinem Vater auf die freien Stühle hinter uns zuhielt.

Wenn der mich jetzt nach meinem Hund fragt, dann schrei ich, dachte ich mit einem Anflug echter Verzweiflung.

In diesem Moment betrat der Schuldirektor die kleine Bühne. Er war groß und hager und hatte den gewaltigsten Adamsapfel, den ich je gesehen hatte. Wie ein mutiertes Jo-Jo sprang dieser bei jedem Wort auf und ab. Fasziniert starrte ich dem Direx auf den Hals und kicherte ungezogen.

»Erika!«, zischte Mama sichtlich schockiert. »Reiß dich zusammen! Du blamierst uns.«

Folgsam riss ich meinen Blick von dem Adamsapfel los und konzentrierte mich stattdessen auf das Blumengesteck, das rechts neben der Bühne aufgestellt worden war. Zwischen blauen Hortensien waren kunstvolle Tupfer aus türkisfarbenem, wild gemustertem Stoff angeordnet. Es sah aus, als hätten sich die Schlümpfe in einen Blumentopf übergeben. Wieder grinste ich albern.

»Ich freue mich, dass es nun endlich losgehen kann«, versicherte der Schulleiter gerade mit Nachdruck. »Ich freue mich über die vielen neuen Gesichter, die es in den nächsten Wochen kennenzulernen gilt. Natürlich freue ich mich aber auch, die vielen Jungen und Mädchen häufiger zu sehen, die ich bereits kenne. Hier vorn zum Beispiel sehe ich schon ein bekanntes Gesicht.«

Ohne aufzublicken, registrierte ich, dass er mich meinte. Ich hatte den Mann noch nie zuvor gesehen. Den Adamsapfel hätte ich ganz sicher nicht vergessen! Resigniert verzog ich das Gesicht zu einer Fratze, die hoffentlich wie ein Lächeln aussah, und ignorierte den überraschten Seitenblick meiner Mutter. Hatte ich denn wirklich so ein Allerweltsgesicht?

Wie in Trance ließ ich den Rest der Rede über mich ergehen. Endlich war die feierliche Eröffnung überstanden. Während sich die Eltern verstohlen über die Augen wischten und ohne ihre Kinder den Heimweg antraten, wurden wir in unsere Klassen verteilt.

»Woher kennst du denn den Direx?«, fragte Tine, die von der anderen Seite der Aula aus zu mir gestoßen war.

»Wir sind im gleichen Handarbeitskurs«, antwortete ich schnippisch und machte mir nicht die Mühe, die Situation zu erklären.

Mit hochgezogenen Augenbrauen folgte Tine mir und dem restlichen Rudel in unseren Klassenraum. Sie war klug genug, sich jede weitere Frage zu verkneifen.

Unsere erste Unterrichtsstunde in der Realschule begann mit einer Vorstellungsrunde. Tine war vor mir an der Reihe.

»Ich bin Christine Schulz«, sagte sie mit fester Stimme. »Ich wohne in der Beethovenstraße und habe keine Geschwister. Ich mag Häkeln und Stricken und meine Katze Kitty.«

Erwartungsvoll richteten meine neuen Mitschüler ihre Blicke nun auf mich. Ich spürte, wie ich rot wurde, und räusperte mich entschlossen.

»Ich bin Erika Mustermann. Nicht Kerstin, nicht Sonja, sondern Erika. Ich wohne nicht neben dem Spielplatz und habe keinen Hund. Ich habe noch nie im Leben Hockey gespielt und auch nicht vor, das jemals zu tun. Ach ja, und den Schulleiter kenne ich auch nicht.«

Im Klassenraum herrschte verwirrte Stille. Neben mir rutschte Tine unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. Mein Gesicht fühlte sich an, als müsste ich in Kürze verglühen wie ein Meteorit beim Eintritt in die Erdatmosphäre.

»Schön«, sagte endlich unser Klassenlehrer, der sich als Herr Koch vorgestellt hatte. Er wirkte verunsichert. »Das haben wir verstanden. Der Nächste bitte.«

Abgesehen von dem etwas holprigen Start mochte ich meine neue Schule. Herr Koch war für einen Lehrer ganz in Ordnung, die Mitschüler waren nett und Christine und ich hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Ich schrieb gute Noten, war höflich, pünktlich und fleißig, wie ich es von meinen Eltern gelernt hatte, und Mama wurde auf jedem Elternsprechtag förmlich mit Lob überschüttet. Mein Leben war buchstäblich musterhaft.

Doch dann passierte es. Eines schönen Tages riefen Mama und Papa meine Schwester und mich am großen Küchentisch zusammen. Sabine, die sich in dieser Woche die Haare blau gefärbt und damit eine frostige Stimmung à la Eiszeit verursacht hatte, wirkte auffallend nervös. Mama war weiß wie ein Laken und selbst Papa sah irgendwie so gar nicht aus wie Papa. Während ich noch versuchte, die seltsame Veränderung zu begreifen, die in der Luft waberte wie zäher Nebel, ergriff Mama das Wort.

»Wir müssen mit euch reden«, sagte sie unheilvoll.

Papa nickte bedeutungsschwer mit dem Kopf. So ernst hatte ich ihn noch nie gesehen.

»Ich war es nicht!«, rief Sabine plötzlich. »Also, irgendwie war ich es schon, aber ich habe echt nicht gewollt, dass gleich das ganze Ding in die Luft fliegt!«

»Was warst du nicht?«, fragte Mama zerstreut. »Und was in Gottes Namen hast du jetzt wieder in die Luft gejagt?«

»Ach, tu doch nicht so! Ihr wisst es doch schon längst!«

Wie gebannt blickte ich zwischen den beiden hin und her. Von rechts nach links und wieder zurück. Wie auf dem Tennisplatz, zu dem Papa mich im Sommer mal mitgenommen hatte.

»Wovon in aller Welt sprichst du?«, fragte Mama Sabine gereizt.

»Wir sind also nicht wegen des Elektrozauns hier?« Langsam dämmerte meiner Schwester, dass sie gerade dabei war, sich ordentlich zu verplappern.

»Nein, sind wir nicht. Es geht nicht immer nur um dich.«

Mama warf Papa einen vernichtenden Blick zu. Papa wand sich wie ein Wurm. Ich war gespannt wie ein Flitzebogen auf die Geschichte vom Elektrozaun und dem mysteriösen »Ding«, das die Begegnung mit meiner Schwester offenbar nicht überlebt hatte. Unsere Eltern jedoch hatten anderes im Sinn.

»Darüber sprechen wir noch!«, sagte Mama mühsam beherrscht. »Jetzt hat euer Vater euch etwas zu sagen.«

»Bevor ich anfange, möchte ich, dass ihr wisst, wie lieb ich euch habe«, begann Papa etwas unbeholfen.

Mama verdrehte demonstrativ die Augen. Sabine, die sich anfangs noch sichtlich über ihre unerwartete Schonfrist gefreut hatte, wirkte plötzlich besorgt. Wachsam.

»Das wisst ihr doch, oder?«

»Klar«, bestätigte meine Schwester misstrauisch.

Ich nickte folgsam. Mama schnaubte verächtlich. Was war hier nur los?

»Mama und ich werden uns trennen. Wir hatten in der letzten Zeit gewisse … Differenzen und haben gemeinsam beschlossen, dass es besser ist, wenn ich mir eine eigene Wohnung nehme.«

»Euer Vater hat sich in die Sekretärin vom Holzhandel verliebt«, erklärte Mama säuerlich und erntete dafür einen bösen Blick von Papa. »Wenn ihre Eltern es erlauben, zieht sie vielleicht bald bei ihm ein.«

»So jung ist sie auch wieder nicht, Renate!«

»Ich will nicht, dass du dich von uns scheiden lässt«, sagte ich mit dünner Stimme.

Endlich hörten Mama und Papa auf, sich mit Blicken zu töten, und wandten sich ihren Töchtern zu.

»Ich würde mich niemals von euch beiden scheiden ­lassen«, widersprach unser Vater. »Ihr bleibt immer meine kleinen ­Mädchen.«

»Mamas und Papas trennen sich eben manchmal. So etwas passiert«, mischte sich jetzt auch unsere Mutter ein. »Rund dreißig Prozent aller Ehen werden in Deutschland heutzutage geschieden.«

Dreißig Prozent. Das war bestimmt viel. Ich nickte tapfer.

»Und fast zwanzig Prozent aller Männer gehen fremd!«, ergänzte Papa eifrig, nur um wieder mit einem von Mamas vernichtenden Blicken bestraft zu werden.

Es war alles längst beschlossen. Papas neue Wohnung lag nur zwei Straßen von uns entfernt. Seine Sachen hatte er offenbar nach und nach in sein neues Zuhause gebracht, ohne dass Sabine und ich es bemerkt hatten. Und auch jetzt sollte die Trennung unserer Eltern ein wohl gehütetes Geheimnis bleiben.

»Ich möchte nicht, dass die Nachbarn über uns reden«, sagte Mama bestimmt. »Fürs Erste muss das keiner wissen. Wir sind schließlich ordentliche Leute!«

So kam es, dass Mamas und Papas Trennung sich zu einer logistischen Herausforderung der besonderen Art entwickelte. Jeden Abend nach der Arbeit kam unser Vater wie gewohnt nach Hause zu seiner Familie. Er parkte den Audi in der Einfahrt und grüßte ebenso lautstark wie demonstrativ jeden Nachbarn, der sich auch nur annähernd in Rufweite befand. Im Haus angekommen, lauerte er, notdürftig hinter der Gardine versteckt, an der Terrassentür, bis er ganz sicher war, dass sich keiner der Nachbarn in den angrenzenden Gärten aufhielt. Dann verschwand er wie ein Schwerverbrecher in fliegender Hast durchs Gartentor, um die Nacht in seiner eigenen Wohnung zu verbringen. Am nächsten Morgen in aller Frühe ließ Mama ihn schließlich auf demselben Wege wieder ins Haus. Seelenruhig stolzierte er durch die Vordertür auf den Hof, grüßte freundlicher denn je in die Runde und fuhr mit dem Auto zur Arbeit, als sei nie etwas passiert. Für Sabine und mich hatte das Ganze einen entscheidenden Vorteil: Es war so absurd, dass sich die anfängliche Traurigkeit schnell in Belustigung verwandelte. Heimlich bastelten wir kleine Pappmaschee-Papas und hatten uns bereits einen straffen Zeitplan überlegt, wann wer die Papa-Figur vor welchem Fenster auf und ab bewegen sollte, als Mama uns erwischte. Schimpfend konfiszierte sie die liebevoll gestalteten Alibi-Papas.

»Also wirklich, Erika! Von dir hätte ich solche Dummheiten nicht erwartet! Du bist doch sonst so vernünftig«, sagte sie vorwurfsvoll.

Sabine grinste nur. Von ihr hatte sowieso niemand etwas anderes erwartet. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich etwas neidisch auf das schwarze Schaf der mustergültigen ­Mustermänner.

Mama und Papa hielten das schräge Versteckspiel offenbar für eine grandiose Lösung. Doch die Probleme ließen nicht lange auf sich warten. Eines Abends, es muss etwa zwei Wochen nach der Familiensitzung am Küchentisch gewesen sein, hatte Papa sich längst durch den Hinterausgang verdrückt, als es an der Tür klingelte. Es war Ho-horst.

»Hallo Frau Mustermann«, hörten wir ihn an der Tür sagen und wunderten uns etwas, dass er im Gegensatz zu uns wusste, wie seine Nachbarn mit Nachnamen hießen. »Kann ich kurz Ihren Mann sprechen? Er hat mir angeboten, sich mal unsere Haustür anzuschauen. Die hat sich doch so verzogen.«

»Das ist gerade schlecht«, sagte Mama, ohne dem armen Nachbarn auch nur die Tür komplett zu öffnen. »Mein Mann ist krank. Er hat sich etwas hingelegt.«

Aus Sabines Zimmer drang der ohrenbetäubende Lärm, den sie in der Regel Musik nannte. Ho-horst lugte ungläubig durch den Türschlitz.

»Dass ihr Mann bei dem Lärm überhaupt schlafen kann.«

»Übungssache«, grinste Mama nervös und schlug dem verwirrten Nachbarn fast die Tür vor der Nase zu. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden? Ich habe das Essen auf dem Herd.«

Herr Horst wandte sich zum Gehen. Ich beobachtete seinen Abgang durch das Fenster und war mir ziemlich sicher, von seinen Lippen ein gemurmeltes »Blöde Kuh« ablesen zu können.

Am nächsten Abend war Papa gerade durch die Terrassentür entschwunden, als es erneut an der Tür klingelte. Wieder war es Herr Horst.

»Ist Ihr Mann wieder fit?«, fragte er mit einem etwas angestrengten Lächeln. »Es geht noch mal um unsere Haustür.«

»Nein, der ist leider immer noch krank.«

»Ich habe ihn gerade ins Haus gehen sehen. Vielleicht kann er zumindest einmal ganz kurz um die Ecke schauen.« Ho-horst hatte sich offenbar vorgenommen, sich heute nicht so leicht abwimmeln zu lassen.

»Mein Mann steht gerade unter der Dusche.«

»Das macht nichts. Er kann ja einfach rüberkommen, wenn er so weit ist«, beharrte der Nachbar.

»Eigentlich wollte er dann direkt ins Bett«, widersprach Mama. Für mich als geübte Zuhörerin waren in ihrer Stimme bereits die ersten Anzeichen einer drohenden Hysterie erkennbar. »Er fühlt sich wirklich noch nicht besonders gut.«

Herr Horst trippelte unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Genau in diesem Moment sah ich eine Bewegung am Fenster des Nachbarhauses: Frau Horst! Hinter der Gardine versteckt, beobachtete sie die Szene. Auch ihr Horst hatte sie scheinbar gesehen und machte sich so groß, wie es für einen schmächtigen Mann wie ihn eben möglich war. Mit einem Nein darf der heute wohl nicht wieder nach Hause kommen, dachte ich belustigt.

»Es dauert nicht lange. Wissen Sie, wir kriegen die Haustür jetzt gar nicht mehr zu. Das kann ja über Nacht nicht so bleiben!«

Der kleine Nachbar klang aufrichtig verzweifelt. Mama ging es nicht viel anders. Einen Moment lang rechnete ich fest damit, die beiden würden dem Druck nicht standhalten und sich weinend in die Arme fallen. Doch der Augenblick verstrich und die beiden Nachbarn standen sich noch immer unschlüssig an der halb geöffneten Tür gegenüber.

»Ich sag’s ihm«, antwortete Mama schließlich. »Wenn er fertig ist, schicke ich ihn rüber.«

»Das wird ja immer besser!«, juchzte Sabine neben mir. »Bin mal gespannt, wie sie aus der Nummer wieder rauskommt!«

»Danke«, hauchte Herr Horst mit einer Erleichterung, als hätte Mama ihm gerade eine ihrer Nieren versprochen. »Vielen Dank, Frau Mustermann.«

Mama selbst lächelte nur dünn, schloss die Tür und spurtete ans Telefon, ohne ihre lauschenden Kinder auch nur zu bemerken. Mit zitternden Fingern betätigte sie die Wählscheibe des orangefarbenen Apparats und wartete ungeduldig.

»Erwin, Gott sei Dank. Du musst sofort kommen!«, stammelte sie in den Hörer, als unser Vater sich am anderen Ende der Leitung gemeldet hatte.

So aufgelöst, wie unsere Mutter war, rechnete er bestimmt schon mit dem Schlimmsten. Vielleicht stand das Haus in ­Flammen. Oder Sabine hatte schon wieder etwas in die Luft gejagt. Es dauerte eine ganze Weile, bis Mama ihm die Situation erläutert und ihn dazu bewegt hatte, sich auf den Weg zum Haus seiner Ex-Familie zu machen. Als er schließlich durch den ­Garten ins Haus schlich, waren seine Haare schweißnass.

»Gut, das ist gut«, murmelte Mama, als stünde sie kurz vorm Nervenzusammenbruch, »sieht aus, als hättest du gerade geduscht.«

Kopfschüttelnd schnappte sich Papa seinen Werkzeugkasten, reparierte die Tür der Horsts und verschwand auf dem gleichen Weg, den er gekommen war.

»Krass!«, sagte Sabine mit leuchtenden Augen. »Und alles nur, weil ihr so ordentliche Leute seid.«

Wenn ich angenommen hatte, nach dieser Erfahrung würden Mama und Papa die Geheimniskrämerei aufgeben, so hatte ich mich eindeutig getäuscht. Auch in den nächsten Tagen wurde die Fassade der heilen Familie um jeden Preis aufrechterhalten. Am Samstag, an dem sich Mamas Handarbeitsgruppe zum Strickmustertausch bei uns zu Hause verabredet hatte, huschte Papa zu zwei vorher genauestens festgelegten Zeiten repräsentativ durch unser Wohnzimmer. Und der Plan ging auf.

»Schön, dass ihr immer noch so verliebt seid«, seufzte eine hagere Frau im grünen Strickkleid gerade, als ich mich auf dem Weg in die Küche unauffällig an der offenen Wohnzimmertür vorbeischlich. »Mein Mann flüchtet immer, wenn meine Freundinnen zu Besuch kommen.«

Die Antwort meiner Mutter bekam ich leider nicht mehr mit.

Erst Tage später sollte ein erneuter Zwischenfall dem Versteckspiel ein jähes Ende bereiten. Papa hatte sich wie gewohnt von uns Kindern verabschiedet und sich im Schutze der einsetzenden Dämmerung auf den Weg nach Hause gemacht. Ich hatte gerade die Terrassentür hinter ihm geschlossen, als draußen plötzlich die Hölle ausbrach.

»Stehen bleiben!«, schallte eine durch ein Megafon verzerrte Stimme durch unseren Garten.

Ein riesiger Scheinwerfer tauchte die Szene in gleißend helles Licht. Am Rande des Gartenzauns blitzte unheilvoll das Blaulicht eines Streifenwagens auf. Völlig perplex öffnete ich die Terrassentür und sah meinen Vater, der wie erstarrt mitten auf dem gepflegten Rasen stand. Etwas unsanft schob sich meine Mutter an mir vorbei ins Freie. Ungläubig öffnete sie den Mund, um etwas zu sagen. Ein lauter Schrei hielt sie davon ab.

»Das ist er!«, ertönte Fräulein Rottenmeiers schrille Stimme durch den bis eben noch so friedlichen Abend. »Jede Nacht treibt der sich hier herum! Jetzt haben wir dich endlich, du Perversling!«

Ein seltsames Glucksen neben mir lenkte meine Aufmerksamkeit auf sich. Es war Sabine. Das erstickte Geräusch verwandelte sich nach und nach in hysterisches Gelächter.

»Das ist gut!«, japste meine Schwester immer wieder. »Das ist so gut! Gott sei Dank haben wir niemandem erzählt, dass Mama und Papa sich getrennt haben. Was hätten denn sonst die Nachbarn von uns gedacht?«

Mit einer Hand hielt sie sich den Bauch, mit der anderen wischte sie sich die Lachtränen aus dem Gesicht. Mama sah aus, als hätte sie sie am liebsten gewürgt. Wahrscheinlich waren es nur die uniformierten Beamten in unserem Garten, die sie davon abhielten.

Papa hatte als Erster seine Fassung wiedererlangt und trat ins Licht des Scheinwerfers.

»Ich treibe mich nicht herum!«, rief er herrisch. »Ich wohne hier!«

»Stimmt ja gar nicht!«, mischte Sabine sich ein.

»Du gehst jetzt wohl besser in dein Zimmer!«

Mamas Blick ließ keinen Widerspruch zu. Etwas enttäuscht folgte meine Schwester der unmissverständlichen Anweisung. Mich hatte man in all dem Trubel wohl einfach vergessen.

»Das ist mein Mann«, stellte unsere Mutter endlich klar. »Das ist kein Perversling!«

»Warum schleicht der dann jede Nacht hier draußen rum?«, kreischte Fräulein Rottenmeier.

»Das würde ich auch gern wissen!«, bestätigte einer der herbeigeeilten Polizisten.

Mama und Papa wechselten einen gequälten Blick. Dann endlich erklärten sie den Beamten, Fräulein Rottenmeier und der halben Nachbarschaft, die sich mittlerweile rund um unseren Gartenzaun versammelt hatte, die ganze Situation.

»Wusst ich’s doch!«, triumphierte Frau Horst.

»Warum haben Sie sich nicht einfach getrennt wie ganz normale Menschen?«, fragte Fräulein Rottenmeier gereizt. »Das ist doch keine Schande. Rund dreißig Prozent aller Ehen werden in Deutschland heutzutage geschieden.«

»Und fast zwanzig Prozent aller Männer gehen fremd«, krächzte ich der Vollständigkeit halber von meinem Logenplatz auf der Terrasse aus.

Ein Raunen ging durch die Menge. Mama sah mich an wie eine Außerirdische. Dann wurde auch ich auf mein Zimmer verbannt, wo ich das Ende des aufregenden Abends nicht weiter verfolgen konnte.

Von diesem Tag an fuhr Papa von der Arbeit aus direkt in seine neue Wohnung. Mama, Sabine und ich blieben allein in dem Reihenhaus an der Stadtgrenze und machten das Beste aus der Situation.

»Das muss schwer für Sie gewesen sein!«

Dr. Max Müller saß in seinem großen Sessel und sah heute irgendwie anders aus. Weniger mittelmäßig. Bis zu dem Moment, in dem er mit seiner mitfühlenden Äußerung in den Therapeuten-­Modus gewechselt hatte, hatte ich ihn direkt etwas attraktiv gefunden.

»Ach, für meine Mutter war es schwerer«, sagte ich leichthin. »Aber sie hatte ja mich.«

Nachdenklich sah der Therapeut mich an. Ob er wohl wusste, dass er beim Denken den Kopf schief hielt wie ein aufmerksamer Hund? Etwas schadenfroh grinste ich in mich hinein. Der sollte sich mal nicht einbilden, dass er hier nicht auch unter Beobachtung stand.

»Wie meinen Sie das?«, fragte er.

»Na ja. Es wurde einfach anders. Mama achtete jetzt noch mehr darauf, dass bei uns alles vorbildlich lief.« Überrascht registrierte ich, wie mir die Tränen in die Augen stiegen, und verstummte.

»Und Sie haben alles getan, um Ihre Mutter stolz zu machen und nicht noch mehr Probleme zu verursachen«, resümierte Max Müller nüchtern.

Ich nickte nur.

»Sie waren fleißig und bescheiden und zuverlässig und pünktlich und höflich und ganz furchtbar vorbildlich. Und jetzt fällt Ihnen gerade auf, dass Sie vor lauter Tugendhaftigkeit vergessen haben, sich um sich selbst zu kümmern. Mal Spaß zu haben, etwas Verrücktes zu machen, über die Stränge zu ­schlagen.«

Pikiert setzte ich zu einer Erwiderung an. Was wusste der denn schon? So was Unverschämtes! Doch der Therapeut kam mir zuvor.

»Ich will jetzt gar nichts hören!«, sagte er streng und wischte meinen Widerspruch mit einer ungeduldigen Handbewegung weg. »Denken Sie mal darüber nach. Wir sehen uns nächste Woche.«

Ehe ich mich versah, fand ich mich auf dem Parkplatz vor seiner Praxis wieder.

Erika Mustermann

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