Читать книгу Maggie - Bettina Reiter - Страница 7
2. Kapitel
ОглавлениеDas Cottage der Campbells lag in der herbstlichen Nachmittagssonne, als Maggie es hinter Alec betrat. Sofort schlug ihr abgestandene Luft entgegen, was jedoch nebensächlich war. Immerhin bot die Auszeit endlich eine Gelegenheit, ihre Gedanken zu ordnen, da sich das Misstrauen zu ihrem Leidwesen nicht gänzlich abschütteln ließ. Umso inständiger hoffte sie, dass die Woche mit Alec einiges relativieren würde.
„Ich hole die Lebensmittel aus dem Auto“, verkündete er und verschwand wieder nach draußen, während Maggie die Tür zur kleinen Küche öffnete.
Nach einem prüfenden Blick in den antiquarischen Spiegel hinter der Tür ging sie zum Fenster und kippte es. Dann blickte sie zum runden zerkratzten Holztisch, um den sie sich bei ihren Aufenthalten in St. Agnes immer versammelt hatten. Polly war eine ausgezeichnete Köchin und hatte sie mit den wundervollsten Speisen verwöhnt. Oft bereitete sie die Mahlzeiten auf dem Zusatzherd zu, der allabendlich von Hank beheizt wurde. Für einen Mann war er eine ziemliche Frostbeule und fühlte sich erst bei dreißig Grad im Schatten wohl. Kein Wunder, dass er am liebsten bei der ärgsten Hitze Arbeiten im Freien verrichtete.
Als Maggie die rotkarierten Vorhänge zurückzog, wirbelte Staub durch die Luft. Sofern sie Zeit hatte, würde sie ordentlich durchputzen. Aber in erster Linie freute sie sich, wieder hier zu sein. Das Cottage hatte einen ganz eigenen Charme, trotz des vorsintflutlichen Mobiliars. Allerdings passte es zum einstigen Fischerhäuschen, das die Campbells im halbverfallenen Zustand gekauft hatten. Damals waren sie jung gewesen und hatten gerade die heruntergewirtschaftete Farm von Alecs Grandpa übernommen. Deshalb richteten sie das Ferienhaus nur notdürftig her. In den letzten dreißig Jahren blieb beinahe alles unverändert, obwohl Polly und Hank inzwischen vermögend waren.
„Da bin ich wieder“, hörte sie Alec, der die angelehnte Tür mit dem Fuß aufschob und den Karton mit den Lebensmitteln auf dem Tisch abstellte. Maggie schloss den Kühlschrank und schob den Stecker in die Dose. Sofort surrte das alte Gerät neben der Speisekammer, die Gold wert war, da die abgenutzte, maritime Küchenzeile kaum Platz bot. „Ich bringe unser Gepäck ins Schlafzimmer“, raunte Alec, der sie an der Taille umschlang und ihr einen zärtlichen Kuss auf den Hals hauchte. Sofort erfasste Maggie Erregung. „Obwohl ich deine Koffer im Auto lassen könnte. In den nächsten Tagen wirst du ohnehin mehr nackt als angezogen sein.“
Lachend drehte sie sich zu ihm um. „Das hättest du wohl gerne.“ Nein, sie durfte sich den Aufenthalt in St. Agnes nicht selbst vermiesen. Und wo, wenn nicht hier an diesem besonderen Ort, würden sie sonst zur Ruhe kommen?
„Erraten, das hätte ich tatsächlich gerne.“ Bevor sie reagieren konnte, hob er sie auf die kleine Arbeitsplatte hoch und küsste sie leidenschaftlich. Maggie presste sich an ihn und stöhnte, als sich seine Hände unter ihren Pulli schoben. Fordernd glitten sie höher …
„Himmel, Arsch und Zwirn, was wird das, wenn es fertig ist?“
Erschrocken fuhren Maggie und Alec auseinander. Eine ältere Frau mit Dauerwelle und einem Schottenrock am korpulenten Körper stand mit grimmiger Miene vor ihnen. Dabei stemmte sie die Hände in die Hüften und erinnerte Maggie an Ernie. Bloß, dass die Frau haufenweise Haare auf den Zähnen zu haben schien.
„Wer sind Sie?“, fasste sich Maggie als Erste, richtete sich den Pullover und rutschte verlegen von der Arbeitsfläche.
„Dasselbe könnte ich Sie fragen!“, pflaumte die Unbekannte sie an. „Das Haus gehört den Campbells und als nette Mitbürgerin halte ich Augen und Ohren offen. Immerhin steht das Cottage meistens leer und könnte allerhand Gesindel anlocken.“
Wen meinte diese Frau damit? Etwa Alec und sie?
„Minnie, wie sie leibt und lebt.“ Alec grinste. „Schön, dich wiederzusehen.“
Plötzlich erhellte sich ihre Miene. „Alec Campbell? Bist du es wirklich? Meine Güte, aus dem kleinen Hosenscheißer ist ja ein richtiger Mann geworden.“ Ehe sich Alec versah, wurde er in ihre Arme gerissen und heftig gedrückt. „Was freue ich mich, dich zu sehen!“ Lächelnd klopfte sie ihm ein paar Mal lautstark auf die Schulter, bis sie ihn schließlich vor sich hielt und wohlwollend betrachtete. „Und Sie waren sein bleicher Schatten, nicht wahr?“, nahm sie unvermittelt Maggie in Augenschein, ließ Alec los und runzelte die Stirn. „Wie war Ihr Name doch gleich?“
„Maggie“, stellte sie sich vor und kramte in ihrem Gedächtnis nach irgendeiner Erinnerung an diese Frau. Nachhaltig eingebrannt schien sie sich nicht zu haben, da sie im Dunkeln tappte.
„Richtig. Die dürre Maggie.“ Jäh grinste die Frau. „So, so, ihr zwei seid also ein Paar. Wer hätte das gedacht, nachdem die Kleine so an dir geklebt hat, Campbell. Du bist sie wohl nicht mehr losgeworden, was?“ Ihr hölzernes Lachen schallte durch die Küche.
„Ganz so war es nicht“, versuchte sich Maggie zu verteidigen und schluckte aus Respekt vor dem Alter alle schnippischen Worte hinunter, die ihr auf der Zunge lagen. „Woher kennen Sie uns eigentlich?“
„Hab Polly und Hank bereits vor Alecs Steißgeburt kennengelernt“, entgegnete Minnie. „Die beiden kauften mir damals den halben Hausstand ab.“ Aha, das alte Zeug stammte von ihr. Das erklärte einiges! „Später kamen sie dann mit Alec. Wenn sie ausgingen, passte ich auf ihn auf. Himmel, was hat der Kerl gestunken! Ich habe den Geruch seiner Windeln noch heute in der Nase.“ Alec lachte verlegen auf. „Mit fünf oder sechs war er zum letzten Mal in meiner Obhut und irgendwann sind Sie mit von der Partie gewesen, Kleines. Ständig in Alecs Windschatten.“
„Wie kommt es, dass ich mich nicht an Sie erinnern kann?“, fragte Maggie und hielt sich neuerlich ihre gute Erziehung vor Augen, was ihr jedoch zunehmend schwerer fiel.
„Das kann ich mir auch nicht erklären“, meinte Minnie. „So schnell vergisst mich niemand.“ Das glaubte Maggie ihr unbenommen. „Aber als Sie die Familie zum ersten Mal begleitet haben, waren Sie ein Gartenzwerg. Danach seid ihr meistens gegen Ende des Sommers nach St. Agnes gekommen. Für unsereins die stressigste Zeit im Jahr und so verlor sich der Kontakt mit den Campbells. Allerdings habe ich euch manchmal beim Town Hill gesehen, wenn ich zufällig einen Blick aus dem Schaufenster meines Geschäftes geworfen habe.“ Zufällig? Wer’s glaubte. Dieser Frau sah man von weitem an, dass sie ihre neugierige Nase überall hineinsteckte.
„Jetzt erinnere ich mich“, konnte es sich Maggie nicht länger verkneifen. „Ich hielt Sie immer für einen Aufkleber. Da blieb kaum Luft zwischen Ihnen und dem Schaufenster.“
„Genau wie zwischen Ihnen und Alec“, erwiderte Minnie ungerührt. Diese Frau war eine Zumutung und hatte scheinbar Nerven wie Drahtseile. Davon abgesehen, dass ihr Rollkragenpullover dehnbar wie Kaugummi sein musste, um nicht an den Nähten aufzuplatzen. Jede Fleischfalte kam zur Geltung und davon hatte sie ein wahres Sammelsurium.
„Wie geht es Duncan?“, wollte Alec wissen. Er hätte sie ruhig verteidigen können! Stattdessen ließ er Minnies Behauptung im Raum stehen. Als wäre sie tatsächlich eine Klette!
„Ausgezeichnet. Wir sind nach wie vor sehr glücklich miteinander.“
„Schön. Übrigens, Maggie und ich sind eine Woche hier“, wurde Alec mitteilsam wie eine alte Plaudertasche. „Vielleicht habt ihr Zeit, am Samstagabend zum Essen zu kommen.“ Maggie starrte ihn an und wünschte sich die Fähigkeit der Medusa. Alec hatte nicht mehr alle Tassen im Schrank! Mit Minnie würde sie es keine fünf Minuten im selben Raum aushalten. Nun sollte sie diese Frau sogar bewirten? War nur zu hoffen, dass sie keine Zeit hatte.
„Liebend gerne“, säuselte Minnie in Maggies Richtung, der das Herz in die Hose rutschte. „Wir sind um sieben bei euch.“ Kaum war das letzte Wort verklungen, eilte sie aus dem Cottage. Als die Eingangstür ins Schloss gefallen war, wandte sich Maggie ihrem Zukünftigen zu.
„Aber sonst geht es dir gut. Wie konntest du diese Frau einladen? Sie ist schrecklich.“
„Sorry, ich wollte dich nicht übergehen.“ Unvermittelt zog Alec sie an sich. Jeglicher Widerstand schmolz dahin wie Schnee in der Märzsonne. „Aber Minnie ist schwer in Ordnung. Harte Schale, weicher Kern. Du wirst sie mögen, sobald ihr euch näher kennengelernt habt.“
„Wie kannst du das behaupten? Ihr habt euch eine Ewigkeit nicht gesehen.“
„Dennoch blieb sie mir in Erinnerung. Als kleiner Junge bin ich gern bei ihr gewesen.“ Er küsste Maggie zärtlich auf den Mund. „Komm schon, gib ihr eine Chance.“
„Dir zuliebe“, begrub sie ihren Widerstand. „Vielleicht ist sie wirklich netter, als es den Anschein macht. Aber das kostet dich eine Liebesnacht.“
„Das wäre ganz in meinem Sinn“, sagte er nahe an ihrem Mund, bevor er sie in aufregender Weise küsste und sie da weitermachten, wo Minnie sie gestört hatte.
♥♥♥
Vogelzwitschern verkündete den neuen Morgen, während Maggie das Frühstücksgeschirr abwusch. Alec und sie waren trotz einer kurzen Nacht früh auf den Beinen gewesen und bei der Erinnerung an seine Liebesschwüre und die unnachahmliche Leidenschaft erfasste sie ein warmes Gefühl. Nur die Begegnung mit Minnie trübte ihre Freude ein wenig. Christin und alles andere hatte sie dagegen erfolgreich in den Hintergrund geschoben.
War sie wirklich eine Klette? Sicher, sie hatte mit Alec die meiste Zeit verbracht, aber umgekehrt war es nicht anders. Da blieb nicht viel Zeit für Freundschaften. Nur gelegentlich ging Alec mit ein paar Schulkollegen oder seinem besten Freund Jerry – der die Nachbarfarm bewirtschaftete – auf ein Bier.
Auch sie hatte einige Bekannte im Ort. Teilweise kannte sie die Frauen ebenfalls aus ihrer Schulzeit oder aus dem Line-Dance-Club. Allerdings keine gut genug, um sie zum Junggesellinnen-Abschied einzuladen.
Seufzend griff Maggie zum Geschirrtuch und trocknete die blauen Porzellantassen ab. Alec war in den Ort hinuntergefahren, um ein paar Sachen zu besorgen. Sie wollten nachher wandern gehen und hatten unter anderem ihre Rucksäcke zuhause vergessen. Hoffentlich gab es in St. Agnes welche zu kaufen.
Als Maggie die Tassen in den Schrank stellte, fiel ihr Blick auf den Verlobungsring. Ein Erbstück von Alecs Ur-Großmutter Agnes. Stolz trug sie den Schmuck und würde ihn eines Tages an ihre älteste Tochter weitergeben. So verlangte es die Tradition. Da Polly und Hank keine weiteren Kinder hatten, wurde ihr diese Ehre zuteil.
Maggie merkte, dass sie lächelte und fuhr mit der Arbeit fort. Als der letzte Teller im Schrank verstaut war, hängte sie das Geschirrtuch über den Griff am Zusatzherd. Dann nahm sie ihre halbvolle Kaffeetasse und schlenderte zur Veranda hinaus. Dabei warf sie einen zweifelhaften Blick auf Hanks unzählige Jagdtrophäen, die sich im gesamten Cottage verteilten. Die meisten hingen im schmalen Flur. Fast ausschließlich welche von Büffeln, da Hank ein Cowboy- und Westernfan war und sich entsprechend kleidete. Deswegen nannte man ihn gerne den kornischen Cowboy, was er mit Freude zur Kenntnis nahm, so wie die Bewunderung seiner Trophäen, die auch auf der Farm die Wände verunstalteten. Den wenigsten Menschen band er auf die Nase, dass diese hässlichen Dinger Made in China waren.
Als Maggie ins Freie trat, atmete sie die salzige Seeluft tief in sich ein und nahm im Korbsessel Platz, der unter dem Vordach befestigt war. Das sanfte Schaukeln hatte etwas Entspannendes wie der Blick über den endlosen tintenblauen Atlantik, aus dem sich die rauen Klippen erhoben. Wie ein breites goldenes Band sandte die Morgensonne ihre Strahlen über die herbstliche Landschaft. Moose, Heidekrautteppiche und Stechginster, geheimnisvolle Moore, blaurosa Hortensienhecken oder ursprüngliche Weiden – an allen Ecken und Enden Cornwalls schien sich das Land neu zu erfinden. Mitsamt den malerischen Hafenstädtchen, den endlosen Stränden, den vielen Buchten und Höhlen, den wildromantischen Küsten sowie verwitterten Ruinen und magischen Steinkreisen, von denen eine ganz eigene Energie ausging. Mythen gehörten genauso zu Cornwall wie der würzige Wind, der in jeden Winkel wehte. Als ob er uralte Legenden von Generation zu Generation weitertragen wollte, damit Cornwalls Geschichte lebendig blieb.
Wer hier lebte, der liebte unweigerlich. Wenn nicht einen Menschen, dann zumindest die Heimat. Maggie empfand beides, und fragte sich plötzlich, ob sie woanders ähnlich fühlen würde. New York, Dublin oder Berlin. Großstädte boten viele Möglichkeiten, aber trotz ihrer Fortbildung in London hatte sie früher nie von einer Karriere oder dem Leben in einer dieser Metropolen geträumt. Allerdings ändern sich Menschen im Laufe der Zeit und die fehlende Alternative in Redruth tat ihr Übriges. Alec ging es scheinbar ähnlich, der ein schwereres Los hatte als sie. Hank baute auf ihn, war mit Leib und Seele Farmer. Darum ließ er den Gedanken erst gar nicht zu, dass es seinem Sohn anders gehen könnte.
Das Schlagen der Kirchturmuhr hallte herauf. Geruhsam wie ein Herzschlag. In Gedanken zählte Maggie mit, obwohl sie wusste, dass es zehn sein musste. Wo Alec bloß so lange blieb?
Eine Frage, die bis zur Mittagszeit unbeantwortet blieb. Einige Male war Maggie nahe daran, ihn anzurufen, verwarf den Gedanken jedoch wieder, woran nur Minnie schuld war! Vor dieser Begegnung der dritten Art hätte sie ohne nachzudenken seine Nummer gewählt. Nun saß sie am Küchentisch und starrte auf das Handy.
Als sich endlich Motorgeräusch näherte, sprang sie auf und humpelte fluchend zum Fenster, da ihr rechter Fuß eingeschlafen war. Fahrig schob sie den Vorhang beiseite, um hinauszuspähen. Kaum rückte Alecs schwarzer Mazda in ihr Blickfeld, erfasste sie Erleichterung, die umgehend in Hektik umschlug. Sie musste sich irgendwie betätigen. Nicht, dass er auf die blöde Idee kam, sie hätte Däumchen drehend auf ihn gewartet …
Schnell massierte sie sich den Fuß, schnappte sich in der nächsten Sekunde ein Staubtuch aus dem Schrank unter der Spüle und eilte ins angrenzende Wohnzimmer hinüber. Auch dieser Raum wirkte wie aus einer anderen Zeit. Die abgewetzte Couch und die beiden Armsessel hatten einen zarten pastellfarbenen Blümchenstoff. Unzählige Kissen mit selbstgehäkelten Überzügen schichteten sich darauf. Der rechteckige Massivholztisch war viel zu groß für den winzigen Raum. Wie der offene Kamin. Wenn man saß, musste man vermutlich zusehen, dass man nicht Feuer fing oder sich nicht die Haare versengte. Zumindest war das anzunehmen. Bisher war der Kamin in ihrem Beisein nie beheizt worden. Wahrscheinlich stand der dekorative Zweck im Vordergrund und den Mittelpunkt der Familie bildete ohnehin die Küche.
„Hier bin ich, Alec“, rief Maggie in einem betont heiteren Ton, als sie seine Schritte im Flur hörte. „Ich bin gerade dabei, das Wohnzimmer zu …“ Weiter kam sie nicht, da er im Türrahmen erschien und aussah, als stünde der Weltuntergang bevor. „Was ist mit dir?“ Sie legte das Staubtuch auf den Tisch und wappnete sich innerlich gegen irgendeine Hiobsbotschaft.
„Nichts, ich …“ Mit beiden Händen fuhr er sich durch das zerzauste Haar. „Ich musste einige Geschäfte abklappern, bis ich endlich unsere Liste abgearbeitet habe. Jetzt bin ich völlig durchgeschwitzt und werde duschen gehen, falls du nichts dagegen hast.“
„Natürlich, mach das.“ Sein Blick war undurchdringlich, ehe er sich umdrehte und mit schleppenden Schritten die Treppe hochging. Fragend blieb Maggie zurück. Schließlich holte sie die Sachen aus dem Auto und bereitete einen Mittagsimbiss vor. Zum Wandern war ihr die Lust vergangen. Doch nach einer knappen Stunde kam Alec ein fröhliches Lied pfeifend in die Küche. Er schien wieder ganz der Alte zu sein, was sie vollends verwirrte.
„Entschuldige wegen vorhin“, sagte er lachend, „fürs Einkaufen bin ich leider nicht geboren. Allein wegen deinem Rucksack war ich völlig überfordert. Die hatten eine Riesenauswahl, was mich eine geschlagene Stunde gekostet hat.“
„Dafür sieht er wirklich toll aus“, rang sich Maggie ein Kompliment ab. Neonpink! In dieser Hinsicht hatte Alec echt danebengegriffen. Sie mochte keine Farben, bei denen man sich wie eine wandelnde Leuchtreklame vorkam. Sowas gefiel ihrer Mom oder einem Teenie, der gerne auffiel, aber aus dem Alter war sie mit ihren vierundzwanzig Jahren längst heraus.
„Nicht wahr?“, freute er sich. „Damit kann ich dich unmöglich aus den Augen verlieren.“
„Wem sagst du das.“ Maggie brachte ein Lächeln zustande und schaltete den Herd aus. In der Pfanne brutzelten einige Würste. Der Kartoffelsalat stand bereits auf dem Tisch. Die einzigen Gerichte, die sie zustande brachte. Das Rezept stammte von ihrer deutschen Großmutter und wurde so oft von Maggies Mom zubereitet, dass sie jeden Arbeitsschritt im Blut hatte.
Schnuppernd beugte sich Alec über die Salatschüssel. „Mhm, das duftet wunderbar. Eine Köchin wie dich sollte man auf der Stelle heiraten.“ Grinsend richtete er sich auf.
Seine gute Laune war ansteckend und verscheuchte Maggies diffuses Bauchgefühl. „Hallo, Sarkasmus.“, nahm sie sich selbst auf die Schippe. Sie war alles andere als eine Küchenfee und Alec kam oft in den Genuss von verkohltem Fleisch, das sich kaum von einem Stück Brett unterschied. Sogar dem Gemüse ging meistens das Wasser aus. Matschig auf der Ober- und extrem kross an der Unterseite.
„Trotzdem will ich keine andere als dich zur Frau“, versicherte er immer noch grinsend.
„Leider bin ich schon vergeben.“ Sie legte die Gabel neben den Herd und trat zu Alec.
„Wer ist der Glückliche?“ Warm legte sich seine Hand an ihre Wange, die er zärtlich mit dem Daumen streichelte.
„Alec Campbell, ein Farmer aus Redruth.“ Maggie sog seinen Anblick in sich auf und spürte dieses wohlbekannte süße Prickeln in sich. Gleichzeitig dachte sie an ihr Treffen beim Basset-Denkmal, wo sie sich zum ersten Mal geküsst hatten. Ein Kuss, der plötzlich wieder auf ihren Lippen brannte. „Er ist mein ganz persönlicher Robin Hood.“ Maggies Stimme versagte beinahe. Ob Alec ahnte, wie sehr sie ihn liebte? So sehr, dass sie nur mit Mühe die Tränen zurückhalten konnte. Erst recht bei dem Gedanken, wie schnell man das Wichtigste verlieren konnte, wenn man sich selbst im Weg stand. Alec und sie waren seelenverwandt und würde er sie hintergehen, hätte sie ihn nie richtig gekannt. „Außerdem sieht er verdammt sexy aus.“
„Tja, ich wusste schon als kleiner Junge, dass du nur meinen Körper willst“, entgegnete er mit dem typischen Schelm in den Augen.
„Sicher, es war ja genug davon da.“ Trotz ihrer Melancholie musste Maggie lachen. „Meine Mom nannte dich nicht umsonst Rippengerüst.“ Wie wunderbar es war, ihn so befreit lachen zu hören und sich selbst frei zu fühlen.
„Weshalb ich dankbar war für jede Schwellung, die sämtliche Mücken hinterlassen haben. Natürlich nur an den Stellen, die es nötig hatten.“ Zweideutig zwinkerte er Maggie zu und ihr gemeinsames Lachen erfüllte den Raum, bis sich Maggie an Alecs Brust schmiegte. Nirgends fühlte sie sich geborgener als bei ihm, denn er liebte sie, wie sie war. Mit all ihren Schwächen und Fehlern, wovon sie leider jede Menge hatte.
♥♥♥
Nach dem Mittagessen überlegten Maggie und Alec, was sie unternehmen sollten. Für die Wanderung zum Land’s End war es zu spät. Die Bäume warfen bereits lange Schatten und der Himmel bewölkte sich zusehends, obwohl es kaum merklich abkühlte. Im Herbst waren immer noch Temperaturen bis zu zwanzig Grad möglich, doch das kornische Wetter hatte seine eigenen Gesetze. Kurze und heftige Regenfälle gehörten zur Tagesordnung, aber sie versiegten so schnell wie sie kamen und kurz danach strahlte die Sonne vom Himmel, als wäre nichts gewesen.
Darauf setzten Maggie und Alec, die sich trotz des nahenden Regens zu einem Spaziergang entschlossen. Gerüstet mit Regenschutz und Stirnbändern verließen sie das Cottage und schlenderten Hand in Hand den schmalen Pfad hinunter. Ihre Jacken blähten sich durch den starken Wind zeitweilig auf, was sie lachend zur Kenntnis nahmen. Selbst als es tatsächlich zu regnen begann, tat es ihrem Übermut keinen Abbruch. Obwohl Alec sie fester an die Hand nahm und umsichtig über den steinigen und mittlerweile rutschigen Weg lotste, bis sie endlich unten ankamen.
Die Trevaunance Bucht lag völlig verlassen da. Im Sommer wimmelte es hier nur so vor Touristen und Einheimischen. Jetzt herrschte eine wohltuende Ruhe am Strand. Fast so, als wären sie völlig allein auf der Welt. Sogar das Breakers Beach Café, in dem sie früher gerne ein Eis gegessen hatten, war geschlossen.
„Was für ein Ausblick“, schwärmte Alec mit glänzenden Augen, als er auf das weite Meer schaute. Nur ein Frachtschiff war weit draußen auszumachen. „Dieser Ort ist wirklich magisch.“
„Ja“, stimmte Maggie ihm zu und genoss das Gefühl, als Alec seinen Arm um ihre Schultern legte und sie sanft an sich zog. „Wir haben hier einiges erlebt.“
„Und ich möchte keine Sekunde davon missen. Vor allem, was dich betrifft.“ Liebevoll küsste er sie ins Haar. „Du hast keine Ahnung, wie sehr ich dich liebe“, flüsterte er nahe ihrem Ohr.
Maggie blickte zu ihm auf. „Obwohl ich eine Klette bin?“
„Als edler Ritter habe ich wohl auf ganzer Linie versagt und geschwiegen, statt dich zu verteidigen“, wusste er sofort etwas mit ihrer Aussage anzufangen. „Aber so nett Minnie auch ist, keiner legt sich freiwillig mit ihr an. Da zieht jeder den Kürzeren.“ Alec grinste wie ein Lausbub. „Lass dich nicht von ihr verunsichern. Spätestens am Samstag wird sie merken, dass wir ohne einander nicht vollständig sind.“ Sanft ließ er sie los und zog ein weißes Kästchen mit einer dunkelblauen Schleife aus der Seitentasche seiner Jacke. Als er es mit gespannter Miene in ihre Richtung haltend öffnete, stieß Maggie einen spitzen Schrei aus.
Auf schwarzem Samt gebettet lag die Perlmutt-Herzmuschel von damals!
„Du hast sie … aber woher?“, stotterte Maggie und nahm sie vorsichtig heraus.
„Als du damals geschlafen hast, bin ich mit einer Taschenlampe bewaffnet an den Strand gegangen und habe sie gesucht. Stundenlang übrigens.“ Er schloss das leere Kästchen und steckte es wieder ein. „Du hast mir leidgetan und ich schämte mich dafür, dass ich dich ausgelacht habe.“
„Warum jetzt? Ich meine, wieso hast du sie mir nicht früher gegeben?“
„Weil ich auf den perfekten Moment warten wollte.“
Überwältigt von ihren Gefühlen blickte Maggie ihn an. „Ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll“, gestand sie unter Tränen, denen sie nun freien Lauf ließ.
Alec strich ihr das Haar aus der Stirn, dann nahm er sie behutsam in die Arme. So verharrten sie eine halbe Ewigkeit. Mitten in der Bucht. Mit dem endlosen Himmel über sich, der allmählich aufklarte. Zaghaft stahl sich ein Sonnenstrahl durch die Wolken, bis die Klippen und der Ozean plötzlich wie unter einer überirdischen Lichtflut vor ihnen lagen. Die Helligkeit schmerzte Maggie beinahe in den Augen. In diesem einen Moment schien die Welt stillzustehen und sie wusste, dass sie dieses Erlebnis niemals vergessen würde.
Selbst am Abend war Maggie noch erfüllt von dem Eindruck, als sie mit Alec in eine Decke gehüllt vor dem flackernden Kamin saß. Zuerst war sie von seinem Vorschlag wenig begeistert gewesen, doch Alec versicherte ihr, dass er weder das Haus noch ihre Haare in Brand setzen würde. Außerdem wäre es nicht das erste Mal, dass er ihn beheizte, was ihr neu war. Aber nicht immer war sie mit der Familie hier gewesen. Doch erst nachdem sie die Armsessel ins Gästezimmer am Ende des Flures gebracht und die Couch bis zur Wand zurückgeschoben hatten, fügte sich Maggie ihrem Schicksal.
Nun tranken sie einträchtig heiße Schokolade. Seit Kindheitstagen liebte Alec das Getränk. Maggie hätte indes nichts gegen einen kräftigen Kaffee gehabt, nur, was tat man nicht alles aus Liebe. Selbst diese Affenhitze ertrug sie. Eine Sauna war nichts dagegen, weshalb sie Alec irgendwann die ganze Decke überließ.
„Exakt fünf Scheite. Mehr dürfen es nicht sein. Genauso hat es mir Dad eingebläut und ich finde, dass ich es fürs erste Mal ausgezeichnet gemacht habe“, mutierte Alec zum Angeber.
„Fürs erste Mal?“ Mit Nachdruck stellte Maggie die fast volle Tasse auf den Tisch. Kakao schwappte über den Goldrand und zog dunkle Linien über das weiße Porzellan, zu dessen Fuß sich eine kleine Pfütze bildete. „Also doch! Ich habe mich schon gewundert, dass du das angeblich zigfach gemacht hast.“
„Irgendwas musste ich sagen, um dich umzustimmen.“ Er trank einen Schluck.
„Alec Campbell, ich bin schockiert!“, tat sie gespielt böse.
„Tja, manchmal greift sogar jemand wie ich zu Notlügen.“ Er zwinkerte ihr zu. Dennoch hinterließ seine Aussage einen bitteren Beigeschmack. „Mir ist übrigens verdammt kalt.“
„Das ist nicht dein Ernst.“ Maggie schob den Träger ihres kurzen Satinhemdes hoch, der über die rechte Schulter gerutscht war. Sogar der dünne Stoff klebte auf ihrer Haut. „Kann es sein, dass Hank Campbell dein Vater ist?“ Hoffentlich überhörte Alec den Totengräber-Ton. Zum Teufel, wie sie das hasste! Kaum sagte Alec etwas, das man zweideutig auffassen könnte, waren ihre guten Vorsätze dahin und dieses unangenehme Gefühl kehrte zurück.
Grinsend stellte er ebenfalls seine Tasse ab und befreite sich von der Decke, die er achtlos auf den Boden warf. „In Wahrheit geht es mir ähnlich wie dir. Auch wenn ich glaube, dass es heute noch heißer werden könnte.“
Ein bittersüßer Schmerz pochte in ihrem Unterleib, als sie Alec im Schein des Feuers betrachtete. Er trug nichts als Shorts. Bei jeder Bewegung zeigten sich seine Muskeln an Armen und Brust. Das Six-Pack kam nicht nur vom Sport, sondern war eher der harten Farmarbeit geschuldet. Keiner konnte so sexy Holzhacken wie er. Meist mit nacktem, verschwitztem Oberkörper und in seiner hautengen Arbeitsjeans, die wenig Raum für Fantasie ließ.
Behalte Christin und Alec im Auge, drängte sich ausgerechnet jetzt Lydias Aussage auf!
„Was ist mit dir?“, verscheuchte Alec das Bild dieser blutsaugenden Zecke.
„Nichts, ich … äh … musste gerade an Mutter denken.“ Sehr einfallsreich!
„Du denkst an Trudy? Jetzt?“, entsetzte sich Alec aus nachvollziehbaren Gründen. Der Abend glühte vor Romantik. Eltern waren da eher semi-optimal. Als würde man Eiswasser auf Feuer gießen oder mit nassen Fingern in eine Steckdose greifen, womit die schönste Stimmung dahin sein konnte.
„Wegen unserer Hochzeit“, ratterte Maggie eine weitere Notlüge herunter. Soviel dazu! „In der kurzen Zeit muss noch einiges organisiert werden. Aber ich stimme dir zu. Im Augenblick gibt es Wichtigeres.“ Zärtlich fuhr sie mit den Fingern von seiner Schulter abwärts. Als sie unter den Bund seiner Shorts glitt, beschleunigte sich Alecs Atem, der sie ungestüm auf seinen Schoß zog. Was danach folgte, war mit nichts zu vergleichen, denn nie war Alec fordernder gewesen, als in dieser Nacht. Ausdauernder, einfallsreicher und hingebungsvoller. Gerade deswegen spürte Maggie umso deutlicher, dass sie etwas trennte. Etwas, das nicht greifbar war, wie ein unsichtbarer Feind. Dennoch wusste sie, dass er da war. Irgendwo.
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Maggie glaubte den Geruch von Kaffee wahrzunehmen. Müde hob sie die Lider und blinzelte gegen das Tageslicht an. Dabei nahm sie hinter sich eine Bewegung wahr und rollte sich auf den Rücken. Alec stellte lächelnd das Tablett auf das Fußende des Bettes. Die schwarze Jeans musste neu sein und auch das grüne Holzfällerhemd hatte sie vorher nie an ihm gesehen. Lässig trug er es über den Hosenbund.
„Du bist bereits angezogen?“, stellte sie überflüssigerweise fest.
„Nur der frühe Vogel fängt den Wurm“, zitierte er den Lieblingssatz seines Vaters.
„Es ist noch mitten in der Nacht!“ Mit Mühe hielt sie die Augen offen.
„Irrtum. Bald ist es sieben Uhr.“
„Sag ich doch. Du bist ein Sadist!“
„Immerhin einer, der dir Frühstück ans Bett bringt.“
„Das macht die Sache auch nicht besser.“
„Wie du willst. Dann trinke ich den Kaffee eben selbst.“
Schwerfällig richtete sich Maggie auf. „Untersteh dich. Davon abgesehen verabscheust du Kaffee.“ Ihr Blick fiel auf das Tablett. Er musste frische Brötchen und Croissants geholt haben.
„Ich war bereits in der Bäckerei“, bestätigte er unbewusst ihre Vermutung. „Etwas Butter, deine geliebte Aronia-Marmelade, Ananasstücke und Blütenhonig. Ich hoffe, ich habe nichts vergessen.“
„Der Honig ist wohl für dich.“ Sie rümpfte die Nase. „Wie kann man dieses Zeug nur essen?“
Alec grinste nachsichtig, denn da war sie, eine von Maggies Schwächen: Sie gehörte zu den Morgenmuffeln, während er vor guter Laune nur so sprühte. „Tja, beim Honig hat sich wohl ein Fehler eingeschlichen.“ Seit sie ihn kannte, aß er mindestens ein Honigbrot zum Frühstück. „Übrigens habe ich uns Karten besorgt. Nächste Woche entführe ich dich nach Penzance in die Oper.“ Erwartungsvoll schaute er sie an.
„In die Oper?“ Das seltsame Gefühl in ihrer Magengegend verstärkte sich. „Was hast du vor kurzem darüber gesagt? Keine zehn Pferde würden dich je in eine Vorstellung bringen, da die Sänger in Wahrheit Tarzans Kinder wären und für die unverständlichen Texte bräuchte man Untertitel.“ Prüfend musterte sie Alec. „Warum tust du das alles?“, forschte sie nach und fragte sich gleichzeitig, ob sie es nicht einfach auf sich beruhen lassen sollte.
„Was meinst du?“
Maggie deutete auf das Tablett. „Na, das hier. Oder die Oper.“ Du liebe Güte, worin verstrickte sie sich bloß? Wenn man jemanden liebte, brachte man ihm beizeiten ein Frühstück ans Bett oder tat Dinge, die man ansonsten mied. Kein Grund, derart überspannt zu reagieren, was eher an den stressigen Hochzeitsvorbereitungen liegen musste, als an Alec. Zumal sich Polly und ihre Mom während ihrer Abwesenheit um den Rest kümmern wollten, was Maggie in ruhigen Momenten massiv beunruhigte. „Hast du ein schlechtes Gewissen und verheimlichst mir doch etwas?“, entschlüpfte es ihr trotz dieser Einsicht, was sie sofort bereute.
Bis sie Alecs Reaktion wahrnahm. Er wirkte wie vom Donner gerührt!
„Fängst du schon wieder damit an?“ Ein komischer Unterton schwang in seinen launigen Worten mit und als er ihr den Kaffee reichte, zitterte seine Hand. Maggie war nun definitiv in Alarmbereitschaft und hielt sich sämtliche Ungereimtheiten vor Augen, die sie wie ein lästiges Insekt abschütteln hatte wollen, um nicht komplett an Alec zu zweifeln. Aber das war leichter gedacht als getan. Zumal Ernie und Lydia alle Arbeit geleistet hatten. Die zweideutigen Anspielungen hätten sie sich jedenfalls sparen können, und da war Christin. Spielte sie tatsächlich eine Rolle in Alecs Leben? Hinzu kam der gestrige Vorfall. Alec hatte nach dem Einkauf völlig neben sich gestanden. Da half es wenig, sich ständig einzureden, dass sie ihn seit Ewigkeiten kannte und deswegen nicht an ihm zweifeln durfte. Oder tat sie es genau deshalb? Weil sie ihn seit Ewigkeiten kannte und darum mit jedem Tag mehr spürte, dass sich etwas über ihrem Kopf zusammenbraute.
♥♥♥
„Schön ist es hier“, stellte Maggie drei Stunden später fest, als sie über den Küstenpfad Richtung Land’s End wanderten. „Und wie gut, dass es keine Geschäfte gibt, nicht wahr?“ Eine weitere Schwäche, die sie ausgerechnet mit Lydia gemeinsam haben musste. Auch Maggie mutierte zeitweilig zu einer Zecke, die sich an einem Thema regelrecht festsaugte. Doch die Ahnung, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte, machte sie beinahe wahnsinnig.
„Was meinst du damit?“ Alec blieb stehen, wodurch Maggie ebenfalls einhielt.
„Deinen gestrigen Zustand. Selten hat dich ein Einkauf derartig geschafft.“
Alec wechselte die Farbe. „Im Normalfall besorge ich Dinge, von denen ich mehr verstehe.“
„Stimmt, zumal du sagtest, dass die Auswahl enorm gewesen ist. Traut man dem kleinen Küstendorf gar nicht zu. Das Geschäft musst du mir unbedingt zeigen.“
„Mache ich bei nächster Gelegenheit.“ Er ging weiter. Hastig folgte Maggie ihm.
„Super, ich brauche ohnehin einen zweiten Rucksack.“
„Wofür?“ Kurz schaute er zu ihr zurück, bevor er sich wieder auf das unwegsame Gelände konzentrierte. „Zuhause hast du mindestens drei.“
„Die sind ziemlich altmodisch.“
Alec wandte sich so abrupt zu ihr um, dass sie beinahe in ihn hineingelaufen wäre. „Was soll das jetzt schon wieder, Mag’?“, regte er sich auf. „Deine ständigen Zweifel machen mich fertig und belasten zunehmend unsere Beziehung. Merkst du das eigentlich?“
„Natürlich.“ Sie hörte den Widerhall ihrer Stimme in der schmalen Schlucht. „Und ich habe genauso große Angst um uns wie du. Weil ich deutlich spüre, dass du irgendetwas vor mir verbirgst“, flüchtete sie sich in Erklärungsnot. „Du hast dich verändert, Alec, das ist eine Tatsache.“
Stumm betrachtete er sie. „Auch wir Männer haben unsere Probleme. In meinem Fall hat es … ähm … mit Dad zu tun.“
„Du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst“, erwiderte Maggie leise. Das Verhältnis zu seinem Vater war nie einfach gewesen. Vielleicht hatte Alec ihm bereits mitgeteilt, dass sie Cornwall für eine Weile verlassen wollten. Hanks Reaktion konnte sie sich lebhaft vorstellen.
„Natürlich“, bestätigte Alec. „Aber ich löse die Dinge gerne alleine. Starkes Geschlecht und so.“ Sein Lächeln wirkte aufgesetzt. „Und ihr Frauen seid eine ziemlich komplizierte Spezies. Will man euch eine Freude machen, wittert ihr ein Geheimnis. Schenkt man euch zu wenig Aufmerksamkeit, zweifelt ihr an unserer Liebe. Recht machen kann man es euch wirklich nicht.“
„Wir sind so gemacht“, konterte sie und beschloss, die Sache einstweilen auf sich beruhen zu lassen. Diese ständigen Diskussionen laugten sie aus. Davon abgesehen kannte sie Alec gut genug um zu wissen, dass er nicht reden würde, wenn er nicht wollte. Und je mehr sie auf ihn einsprach, desto mehr entfernten sie sich voneinander. Vielleicht hing wirklich alles mit seinem Dad zusammen. Oder wenigstens der größte Brocken. Manchmal waren die Gründe einfacher als angenommen. Darauf baute sie, da sie sich fühlte, als würde sie in einem Sumpf feststecken und je mehr sie strampelte, desto tiefer wurde sie gezogen. „Schwaches Geschlecht und so.“
„Stimmt.“ Alec stupste mit dem Zeigefinger an ihre Nasenspitze. „Mrs. Neunmalklug.“ Die Bezeichnung aus ihrer unbeschwerten Kindheit lockerte die Situation ein wenig auf und Maggie begann die atemberaubende Kulisse zu genießen, obwohl der Pfad streckenweise ziemlich abschüssig war. Von der Enge und dem dichten Gestrüpp ganz zu schweigen. Gottlob hatten sie gutes Schuhwerk. Als sie schließlich Gwennap Head erreichten, spannte sich ein breiter Regenbogen von den zerklüfteten Granitfelsen bis weit in den Ozean hinaus. Wie ein Tor in eine andere Welt.
Aus einem plötzlichen Impuls heraus breitete Maggie die Arme aus und stellte sich lachend dem böigen Wind entgegen, der an ihr zerrte. „Fast wie im Film Titanic, nicht wahr?“ Über ihnen zogen Möwen mit heiseren Schreien ihre Kreise.
Im Gegensatz zu ihr lachte Alec nicht, sondern schaute sie unverwandt an. Beinahe so, als würde er sie zum ersten Mal sehen. „Weißt du eigentlich, was Mom oft über dich sagt?“, fand er endlich seine Sprache wieder. Maggie ließ die Arme sinken und schüttelte den Kopf. „Dass du das schönste Lächeln hast, das sie je gesehen hat.“
„Das hat Polly wirklich gesagt?“, freute sich Maggie.
Erneut blickte er sie auf diese eigentümliche Weise an. Fast war Maggie versucht, seinem Blick auszuweichen, weil sie verlegen wurde. „Lass uns weitergehen“, seine Stimme klang belegt, „sonst schaffen wir es nie bis zum Land’s End.“
Flüchtig ließ Maggie ihren Blick über den aufgescheuchten Atlantik schweifen, dessen hohe Wellen bei den Klippen wie Wasserfontänen in die Höhe peitschten. Dann folgte sie Alec, der bereits losgegangen war. Oben auf der Ebene schlenderten sie an den Navigationsmarkern vorbei. Die kegelförmigen Ungetüme wirkten wie Fremdkörper inmitten dieser Ursprünglichkeit, waren jedoch wichtig für die Schiffe, um insbesondere vor dem Runnel Stone oder anderen Felsen zu warnen. Dennoch gab es unzählige Wracks in dieser Gegend.
Wie auch beim Land’s End, das sie nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten. Auf einer über sechzig Meter hohen Klippe standen sie Seite an Seite am westlichsten Punkt Großbritanniens. Es war eindrucksvoll, da sie durch das mittlerweile klare Wetter bis zu den Scilly-Inseln sehen und sogar den Longship Leuchtturm in der Ferne ausmachen konnten.
„An diesem Punkt ist das Land zu Ende“, sprach Maggie beinahe feierlich aus. „Da wird einem die Endlichkeit des Lebens erst richtig bewusst.“
„Vor allem in Anbetracht dessen, wie viele Schiffe vor den Klippen auf Grund gelaufen sind.“ In Alecs Augen flackerte etwas auf. „Das berühmteste Wrack ist übrigens die RMS Mühlheim. Wir könnten zur Steilküste gehen und uns den gestrandeten Frachter ansehen. Ich habe vorhin ein Hinweisschild gesehen.“
„Ich gehe keinen Schritt mehr.“
Alec lachte. „Deine Kondition lässt zu wünschen übrig, Higgins. Aber mich interessieren ohnehin eher die Wracks unter Wasser.“
Maggie ahnte, worauf das hinauslief. „Willst du hier tauchen?“
„Ehrlich gesagt ja“, bekannte Alec.
Maggie konnte sich Schöneres vorstellen, als diesen Schiffsfriedhof. „Dann mach es“, spornte sie ihn trotzdem an. Ungeachtet ihrer eigenen Meinung und der Bedenken, die sie hatte. Tauchunfälle waren schließlich keine Seltenheit. Aber Autofahren war ebenfalls gefährlich. „Womöglich findest du sogar die versunkene Stadt.“
„Lyonesse?“, ging er grinsend auf ihre Aussage ein. „Die gibt es nicht, Higgins.“
„Das kann keiner mit Sicherheit sagen.“ Zugegeben, bis zu einem gewissen Teil war sie eine Träumerin und liebte Geschichten wie diese. Angeblich hatte sich die einstige Stadt zwischen Land’s End und den Scilly-Inseln befunden. „Hiesige Fischer behaupten, dass sich in ihren Netzen oft Mauerreste, Tonscherben oder Glasteile verfangen und wenn die See stürmisch ist, soll man sogar Kirchenglocken läuten hören.“
„Ja, ja, und morgen ist Weihnachten.“ Alec nahm ihre Hand und zog sie lachend mit sich zum Wegweiser, der in einem Betonsockel verankert war. „Bis New York sind es 3.147 Kilometer“, las er von einer der Tafeln ab, die vermutlich nach Amerika zeigte. Bei Himmelsrichtungen streikte Maggies Verstand. „Das ist wenigstens realistisch.“
Bis zum Seenotrettungskreuzer diskutierten sie über den Wahrheitsgehalt von Mythen und schlossen sich einer Gruppe Einheimischer an, die den Kreuzer ebenfalls besichtigten. Danach machten sie es sich auf einem Felsen gemütlich und verspeisten ihre mitgebrachte Jause.
„Von mir aus könnte es ewig so weitergehen“, sagte Alec, schraubte die Wasserflasche zu und stellte sie neben sich auf die Erde.
Besorgt schaute Maggie zu ihm. „Du klingst resigniert.“
„Das bin ich auch“, gab Alec offen zu. „Die Sache mit der Farm macht mir zu schaffen. Dads Erwartung in mich. Derzeit bin ich nicht einmal sicher, ob ich mein Erbe überhaupt antreten will.“ Sollte sie recht gehabt haben? Lag es tatsächlich daran? War die Farm dieser unsichtbare Feind? Wie auch immer, offensichtlich überforderten ihn die Fußstapfen, in denen Hank ihn sehen wollte.
„Du musst nicht heute entscheiden, was du in einigen Jahren tun möchtest. Also lass dir Zeit und vor allem überstürze nichts.“ Maggie legte das halbgegessene Brot in die grüne Tupper-Dose zurück.
„Um es mir nicht mit Dad zu verscherzen?“ Sein Blick verlor sich in den Weiten des Atlantiks. „Du hast gut reden und steckst nicht in meiner Haut. Dad wäre imstande und würde mich von der Farm werfen. Sofern er es nicht ohnehin tut, sobald er von unseren Plänen erfährt.“
„Auch dahingehend müssen wir keineswegs sofort Nägel mit Köpfen machen.“
„Ich will nicht länger warten, Mag’. Immerhin musste ich bereits einen Traum begraben.“
„Du kannst immer noch Tierarzt werden.“
„Das musste ja jetzt kommen“, beklagte er sich. „Deswegen habe ich die Sache bis vor kurzem für mich behalten. Mit Ausnahme von Mom, die schon lange die Wahrheit kennt. Vor allem kennt sie Dad, und hat mich deshalb nie ermuntert, meinen Traum zu verwirklichen. Du dagegen hättest es getan, Mag’, was kein Vorwurf sein soll.“ Nach wie vor war sein Gesicht dem Atlantik zugewandt. „Weil du immer daran geglaubt hast, dass Träume wahr werden können. Aber so ist es leider nicht, denn manchmal muss man sie fliegen lassen.“ Alec deutete zur Landspitze. „Alles hat irgendwann ein Ende, sobald einen das Leben einholt.“ Maggie suchte nach Worten, doch ihr fielen keine passenden ein. Deswegen fasste sie nach seiner Hand, die eiskalt war. Schwerfällig wandte er sich ihr zu. Alecs offenkundige Traurigkeit schnitt ihr ins Herz und seine Augen waren glasig, was sie erschreckte.
„Du hast recht, ich hätte dich ermuntert“, bestätigte Maggie. „Auch jetzt bin ich nahe daran. Trotzdem werde ich es nicht tun. Allerdings bin ich an deiner Seite, egal, was die Zukunft bringt. Denn eines weiß ich genau: Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere.“
„Du bist eine unverbesserliche Optimistin, Higgins.“ Alec zog sie an sich. „Aber genau dafür liebe ich dich.“
♥♥♥
Alec knipste die Nachttischlampe an. Eine schmucklose Glühbirne. Den fehlenden grünen Schirm hatte er auf dem Gewissen. Als kleiner Junge wollte er ein Segelschiff bauen, wofür er den Stoff brauchte. Das übriggebliebene Gestänge hatte er hinter dem Haus vergraben.
Leider war die kleine Nussschale nicht weit gekommen. Von der ersten Welle mitgerissen, sank sie wie ein Stein. Ein weiteres – wenngleich kleineres – Wrack am Meeresgrund, von denen es angeblich an die achthundert vor den Scilly-Inseln geben sollte. Deswegen zog das Gebiet Wracktaucher förmlich an.
Das Licht flackerte.
Abwesend warf Alec einen Blick auf seine silberne Armbanduhr. Erst kurz nach vier! Trotzdem konnte er nicht schlafen, weil die Sorgen wie ein Bleimantel auf ihm lasteten, der ihn schier erdrückte. Mitsamt diesem hässlichen Gefühl, nichts an der Situation ändern zu können.
Vorsichtig drehte er sich auf die Seite, stützte seinen Kopf auf die flache Hand und betrachtete Maggie, die tief und fest schlief. Ihre Lippen waren halb geöffnet und die Lider zuckten, als würde sie träumen. Stand sie wieder auf Land’s End und stellte sich dem Wind entgegen? Nie hatte sie schöner ausgesehen als in diesem Moment. Ihre kastanienbraunen Augen hatten vor Übermut gefunkelt, in denen so vieles stand. Lebenslust, Freude und die Liebe zu ihm. Dieser Faszination hatte er sich nicht entziehen können und war wie hypnotisiert gewesen.
Unvermittelt huschte ein Lächeln über ihr zartes Gesicht. Mona Lisas Lächeln. Alec hätte Maggie am liebsten an sich gezogen. Ganz fest, um sie nie mehr loszulassen. Aber das würde er tun müssen, ob er wollte oder nicht … nein, eigentlich hatte er keine Wahl.
Die Wut kam zurück. Mit geballter Kraft. Dennoch schlug er bedachtsam die Decke zurück und glitt mit Blick auf Maggie aus dem Bett. Der Holzboden knarrte, als er zur halboffenen Tür tapste. Im Flur tastete er sich an der Wand entlang zur Treppe und ging ins Erdgeschoss hinunter. Erst in der Küche schaltete er das Licht ein und beschloss, sich einen Kakao zu machen. Als er den Kühlschrank öffnete und die Milch herausnahm, dachte er daran, wie viele alltägliche Handlungen selbstverständlich waren. Man tat sie einfach, ohne darüber nachzudenken.
Ermattet goss er die Milch in den kleinen Topf auf dem Herd. Maggie stellte ihn stets vor dem Schlafengehen bereit, um morgens Zeit zu sparen. Ahnungslos darüber, was für ein Geschenk es war, Zeit zu haben. Ihm zerrann sie zwischen den Fingern, denn seit gestern wusste er, dass er unheilbaren Blutkrebs hatte. Christin hatte ihn am frühen Morgen angerufen, als er gerade auf den Laden für Rucksäcke zugegangen war.
Kaum hatte er Christins Namen auf dem Display gesehen, durchlief es ihn heiß und kalt. Sie wollte sich nur melden, sofern es sich nicht vermeiden ließe. Alec hatte sofort geahnt, dass nach diesem Anruf nichts mehr so sein würde wie zuvor.
„Hi, Alec.“ Jede Silbe hatte er sich gemerkt. Ihr Zögern und die Art, wie sie hörbar einatmete. „Ich störe dich nur ungern im Urlaub, aber dein Befund ist da. Könntest du gleich heute kommen?“
„Wie schlimm ist es?“, hatte er sie trotz seiner Befürchtung gefragt.
„Das kann ich dir am Telefon nicht sagen, aber Doktor McGarret wird dir alles erklären.“
„Ich brauche keine Erklärung, nur Gewissheit!“, wurde er unwirsch. Mit dem Gefühl, dass seine Beine nachzugeben drohten, war er geschwächt an den Baum hinter sich gesunken. „Habe ich eine Chance oder nicht?“ Dumpf, wie in einem luftleeren Raum, hatte er die eigene Stimme gehört.
In der Leitung war es eine Weile still gewesen. „Der Krebs hat gestreut. Es sieht schlimm aus. Zudem leidest du an einer äußerst aggressiven Form.“
„Was ist mit einer Chemo?“
„Doktor McGarret hat sich mit deinen behandelnden Ärzten beraten. Alle denken, dass sie angesichts deiner Werte wenig Aussicht auf Erfolg hätte. Aber du kennst unseren Doktor. Damit wollte er sich nicht zufriedengeben. Stundenlang hat er sich mit deinem Fall befasst und sogar seinen Sohn Finley zu Rate gezogen. Er ist einer der führenden Krebsspezialisten in Deutschland. Bedauerlicherweise schloss sich dieser der Meinung seiner Kollegen an. Seitdem ist Doktor McGarret ziemlich durch den Wind.“
Er hatte zu zittern begonnen. „Wie lange noch?“
„Bitte, Alec, besprich wenigstens das mit Doktor McGarret.“
„Verflucht, Christin, wie lange?“ Einige Passanten hatten sich verwundert zu ihm umgedreht. Andere warfen ihm verstohlene Blicke zu. Aber das war ihm egal gewesen.
„Ein halbes Jahr vielleicht. Doktor McGarret möchte mit dir über eine eventuelle Medikation …“
Im selben Augenblick war ihm das Handy entglitten und ins Gras gefallen. Die Kirche vor ihm verschwand hinter einem Tränenschleier, wie alles um ihn herum. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren, bis ihn jemand an der Schulter berührte.
„Kann ich Ihnen helfen?“, hatte ein beleibter Mann in Soutane gefragt.
„Mir kann keiner mehr helfen.“ Plötzlich hatte ihn diese ohnmächtige Wut erfasst, die ihn seitdem wie ein unheilvoller Schatten verfolgte. „Und wagen Sie es nicht, Ihren scheinheiligen Gott zu erwähnen!“
„Das hatte ich nicht vor.“ Der Pater zeigte nach oben. „Außerdem ist er zu weit weg. Aber ich bin da und höre Ihnen gerne zu. Übrigens: Ich bin Pater Jeremy.“
„Und wenn Sie der Papst persönlich wären, es ist mir scheißegal! Also kümmern Sie sich lieber um die Schäfchen, die an diesen Humbug glauben.“
Damit hatte er sein Handy aufgehoben und den Pater stehenlassen, der es sicher gut meinte. Doch Alec hatte nicht mehr klar denken können. Selbst jetzt fiel es ihm schwer, diese Nachricht einzuordnen. Eine, die surreal war. So unglaublich, dass er sich in einem schlechten Film wähnte. Bisher hatte diese schlimme Krankheit immer andere betroffen. Jetzt auf einmal sollte er selbst an Krebs leiden?
Dabei hatte alles mit harmlosem Nasenbluten angefangen. Zuerst dachte er sich nichts dabei, bis es ständig von neuem begann. Doktor McGarret überwies ihn schließlich ins Krankenhaus, wo man die Stelle verödete. Eigentlich wollte ihn der Oberarzt, der einen Blutschwamm in seiner Nase diagnostiziert hatte, nach Hause entlassen. Doch eine Ärztin veranlasste zur Vorsicht eine Biopsie. Schon zwei Tage später meldete sie sich mit der Nachricht, dass es Krebs wäre.
Alec war völlig vom Glauben abgefallen und brauchte eine Weile, um das zu verdauen. Auch um Kraft zu sammeln, denn nach Tagen der völligen Taubheit entschloss er sich, den Kampf gegen diese tückische Krankheit aufzunehmen. Immerhin war er jung und stark.
Was danach folgte, war ein Wechselbad der Gefühle. Mal hieß es, dass er eine verkürzte Lebenszeit habe und ihm nur noch zehn bis fünfzehn Jahre bleiben würden. Dann wiederum behandelten sie ihn so, als wäre er bereits dem Tod geweiht. Fest stand nur, dass er eine seltene Art von Blutkrebs hatte. Zu wenig erforscht, um konkrete Aussagen treffen zu können.
Nach der Knochenmarkuntersuchung wurden ihm eine mögliche Bestrahlung oder Chemotherapie erläutert. Beides hatten die Ärzte zu diesem Zeitpunkt noch in Betracht gezogen. Je nachdem, wie die weiteren Untersuchungen ausfallen würden. Zur völligen Abklärung musste er sich einer Szintigraphie unterziehen. Das war vor einigen Tagen gewesen. Nun hatte Doktor McGarret die nuklearmedizinischen Befunde mit den niederschmetternden Ergebnissen bekommen.
Ein halbes Jahr! Das war im Grunde nichts. Wahrscheinlich hatte Christin sogar bewusst eine längere Zeitspanne genannt, um ihn auf ihre Art zu trösten. Ahnungslos darüber, wie man sich im Körper eines Schwerkranken fühlte. Was einem durch den Kopf ging und wie entsetzt man dem Ganzen gegenüberstand. Ob ein Monat oder ein halbes Jahr, beides war eindeutig zu kurz, wenn man erst am Anfang seines Lebens stand.
Die Milch kochte inzwischen und lief beinahe über. Hastig zog Alec den Topf von der Platte und machte den Herd aus. Plötzlich hatte er das Gefühl zu ersticken und eilte zur Eingangstür. Der Schlüssel klemmte. Roh zerrte Alec daran, wurde immer panischer. Bis sich die Tür endlich aufsperren ließ. Keuchend stolperte er auf die Veranda hinaus und stützte sich mit beiden Händen auf der Brüstung ab. Nur langsam normalisierte sich sein Puls und der Ausblick tat ein Übriges, um ihn zu beruhigen.
Hoch stand der Vollmond am samtenen Nachthimmel und tauchte die Klippenlandschaft in milchiges Licht. Darüber spannte sich ein Meer aus Sternen. Manche schienen näher als andere. Heller und glühender. Untermalt wurde das beeindruckende Szenario vom Rauschen des Ozeans und dem leisen Ächzen des Windes, der den Korbsessel leicht schaukeln ließ. Auch Maggies liegengelassene Handelszeitung auf dem Tisch raschelte.
Was sie wohl sagen würde? Alec mochte gar nicht daran denken. Erst recht nicht an die Hochzeit. Bis dass der Tod euch scheidet. Wie könnte er ihr das zumuten? Im Gegensatz zu ihm hatte sie noch das ganze Leben vor sich und würde irgendwann eine neue Liebe finden. Obwohl es ihm beim Gedanken daran das Herz zerriss. Dennoch würde er sie unter diesen Umständen nicht heiraten. Er musste sie gehen lassen. Gerade, weil er sie liebte.
„Alec?“
Erschrocken wandte er sich um. Maggie stand im Türrahmen. Das Flurlicht umhüllte sie wie eine Lichtgestalt. Das war sie auch. Sein Licht, sein Atem und sein Leben.
„Habe ich dich geweckt?“, fragte Alec und lehnte sich mit dem Gesäß an die Brüstung.
„Na ja, die Nachttischlampe brannte.“
„Mist. Ich habe vergessen, sie auszuschalten. Entschuldige bitte.“
„Schon gut. Eigentlich riss mich ein schlechter Traum aus dem Schlaf. Ich konnte dich nicht mehr finden und als ich aufwachte, warst du tatsächlich weg.“ Wie ängstlich sie klang. Als würde sie ahnen, dass er in absehbarer Zeit wirklich fort sein würde. Für immer. Aber vielleicht war das die ausgleichende Gerechtigkeit oder die Strafe für sein … nein, damit konnte und wollte er sich jetzt nicht beschäftigen! „Warum bist du aufgestanden?“ Sie zog den Gürtel ihres roten Satin-Morgenmantels enger.
„Mich hat ein ähnlich schlechter Traum aus dem Schlaf gerissen“, erstickte er Maggies Wissbegierde im Keim und wandte ihr den Rücken zu. So zu tun, als wäre nichts, fiel ihm zunehmend schwerer und die ständigen Notlügen raubten ihm viel Energie. Doch er wollte diese wenigen Tage genießen. Mochte es egoistisch sein. Er brauchte das. Eine gewisse Normalität und vor allem Maggie. Nach dem Urlaub würde er weitersehen. „Schau mal“, Alec zeigte zum Meer. Ein heller Streifen am Horizont kündigte den kommenden Tag an. „Ist das nicht wundervoll?“ Er spürte, dass sie hinter ihn trat.
„Du bist wundervoll“, hauchte sie und umschlang ihn. Alec griff nach ihren Händen und hielt sie mit Tränen in den Augen fest an seine Brust gedrückt. Wie viele Erinnerungen nahm man mit in den Tod? Was erwartete ihn in dieser unbekannten Welt? Und vor allem: Würde er leiden müssen? Schmerzen haben? Zum Teufel! Er wollte nicht gehen. Nicht jetzt, da er und Maggie heiraten wollten. Eine Familie gründen. Warum musste das Schicksal so grausam sein?