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1. Kapitel

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Maggie blickte aus dem Fenster der Pension in der Castleforbes Road. Wie ein Fächer breitete sich Dublin vor ihr aus. Die Dämmerung zog bereits durch die Straßen, wanderte über die zahlreichen Brücken und verdunkelte die Liffey. Der Fluss zog eine natürliche Grenze zwischen dem Nord- und dem Südteil der Stadt, wobei letzterer als die vornehmere Gegend galt.

Dort wollte Maggie hin. Eines Tages. Aber noch war das Zukunftsmusik. Zumal sie sich nicht gänzlich vom Kulturschock erholt hatte, trotz ihres Aufenthaltes in London. Sie schien schlichtweg vergessen zu haben, wie eng eine Stadt sein konnte. Unübersichtlich, laut und hektisch. Nichts als Häuser, unzählige Autos und Menschen. Ob sie auf längere Sicht damit zurechtkommen würde?

„Na toll! Kaum ein paar Tage hier und schon plagen dich Zweifel“, sprach sie zu sich selbst, zog die gelben Vorhänge zu und kroch müde unter den Quilt, den sie mit der kratzigen Bettdecke ausgetauscht hatte. Auf dem Nachttisch stand ein Foto ihrer Eltern im antiken Bilderrahmen des alten McGarret. „Ihr seht so glücklich aus“, flüsterte Maggie und ihr war, als würden ihre Mom und ihr Dad sie anlächeln. Liebevoll und aufmunternd. Ganz so, als wäre ihnen bereits damals klargewesen, dass sie irgendwann genau diese Liebe und Aufmunterung bitter nötig haben würde. Vor allem, da das Ultraschallbild ihres Sohnes an der Nachttischlampe lehnte. Auch Alecs Foto schnitt Maggie ins Herz, das sie in der Oper gemacht hatte.

Der Rest ihrer persönlichen Sachen passte locker in die erbsengrüne Kommode neben dem Fenster. An zwei Schubladen fehlte der Knauf und die Farbe blätterte ab. Dasselbe galt für den Schrank, das Bett und den Nachttisch. Die Möbel waren uralt, aber für das wenige Geld konnte man keine großen Ansprüche stellen. Immerhin hatte sie ein Dach über dem Kopf.

Seufzend wanderte Maggies Blick erneut zur Kommode. Wie wenig Platz so viele gelebte Jahre benötigten! Lediglich mit einem Koffer war Sie nach Dublin aufgebrochen, was sie nahe daran brachte, bitter aufzulachen, stattdessen presste sie die Lippen zusammen und knipste die Lampe aus. Kaum, dass sie die Augen schloss, sah sie Alec vor sich. Im Cottage, vor dem prasselnden Kamin. Voller Begehren musterte er ihr Gesicht, zog sie im nächsten Moment an sich und streifte die Träger des Nachthemdes über ihre Schultern. Unendlich sanft glitt sein Mund über ihre Haut, hinterließ ein Prickeln darauf … doch als sie zu ihm hochblickte, schaute sie geradewegs in Finleys Gesicht.

Erfüllt von Sehnsucht hob Maggie die nassen Lider. Sogar bis Dublin verfolgte sie dieser Mann und wie so oft in den letzten Nächten plagten sie erhebliche Zweifel, ob sie richtig entschieden hatte. Finley klang so ehrlich, als er von Liebe gesprochen hatte, und noch jetzt glaubte sie seine fordernden Lippen auf ihren zu spüren. Aber sie selbst hatte dem ein Ende bereitet. Aus guten Gründen, und je länger sie ihn nicht sehen würde, desto schneller konnte sie ihn vergessen, bis er irgendwann nur noch zu einer vagen Erinnerung gehörte.

Mit diesem Gedanken fiel Maggie in einen unruhigen Schlaf und wachte am nächsten Morgen wie gerädert auf. Es dauerte eine Weile, bis ihr bewusstwurde, wo sie war und neuerlich zerpflückte sie das Für und Wider ihrer Entscheidung. Um dem keine weitere Nahrung zu geben, verließ sie kurz darauf in ihrem braunen Sommerkleid die Pension. Dank ihrer Mom, die sie finanziell unterstützte, konnte sie sich das Zimmer eine Weile leisten. Trotzdem stand die Wohnungssuche ganz oben auf Maggies Prioritätenliste. Die dafür erforderlichen Papiere sowie jene für die Jobsuche trug sie in der braunen City-Bag stets griffbereit bei sich, um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein.

Bald befand sich Maggie in der belebten Innenstadt. Menschen eilten an ihr vorbei und beachteten sie nicht weiter. Zu beschäftigt mit sich selbst, drängten sie in Bürokomplexe, riefen nach einem Taxi, erledigten morgendliche Einkäufe, schimpften mit ihren Kindern oder mit dem Obdachlosen vorne an der Ecke, für den auch Maggie nur einen schnellen Blick übrighatte. Zu fasziniert war sie von den Möglichkeiten, die sich hier boten. An manchen Schaufenstern drückte sie sich schier die Nase platt. Überwältigt von den feinen Kleidern, den exquisiten Uhren oder Antiquitäten, die sie sich in hundert Jahren nicht würde leisten können. Dennoch, hieß es nicht: Sag niemals nie?

Schnurstracks, und mit jeder Menge Hoffnung im Bauch, ging sie zum Kiosk. Dort kaufte sie die Tageszeitung und studierte im gemütlichen Bistro neben der gotischen Kirche die Stellenanzeigen, wie sie es schon in den vergangenen Tagen getan hatte. Sofern sie einen Job als Schulsekretärin, Putzfrau oder Verkäuferin gesucht hätte, wäre sie bereits fündig geworden. Doch wozu hatte sie ihre Ausbildung gemacht und sich all die Jahre am Laufenden gehalten? Sie wollte unbedingt ins Finanzwesen und Dublin war das Mekka schlechthin.

Seufzend blätterte Maggie um, als ihr Blick auf eine Anzeige der Citizen-Privatbank fiel. Sofort machte ihr Herz einen Sprung. Fügung? Schicksal? Jedenfalls suchte man eine Direktions-Assistentin und nach zwei Tassen Kaffee sowie einem Croissant hatte Maggie sogar drei Wohnungen herausgepickt, die sie besichtigen wollte. Zuerst brauchte sie allerdings einen Job. Auch, um ihrer Mom das Geld zurückzuzahlen, die zwar nichts davon wissen wollte, doch Maggie war es wichtig. Ihre Mutter hatte zu hart für die Ersparnisse gearbeitet.

Nachdem sie bezahlt hatte, fuhr Maggie mit dem Taxi zur Citizen-Bank nahe der O’Connell Street. Ihr rutschte beinahe das Herz in die Hose, als der Fahrer vor dem kolossalen Gebäude hielt. Natürlich hatte sie es auf vielen Bildern gesehen, doch die waren mit der Wirklichkeit nicht zu vergleichen. Das Bankinstitut strahlte Erhabenheit aus, als hätte es jedes Recht, genau hier zu stehen. Gradlinig, ohne jeden Prunk, verströmte es den Duft der oberen Zehntausend. Dagegen fühlte sich Maggie wie ein winziges Staubkorn. Dementsprechend nervös beglich sie die Fahrtkosten, stieg aus und schaute dem Taxi nach, das sich in den Verkehr einfädelte. Dann starrte sie zu den goldenen Lettern über dem Eingang und atmete tief durch, ehe sie mit weichen Knien auf die Glastüren zusteuerte.

Im Bankhaus wurde jeder Schritt vom edlen Teppich mit den Goldfäden geschluckt. Viele Menschen bevölkerten die Halle unter dem Glaskuppeldach, das den wolkenlosen Himmel ins Innere holte. Ergriffen blieb Maggie nahe einer Säule stehen. Wie schick die Leute angezogen waren, die sich vornehm leise unterhielten, als hätten sie Angst vor dem Widerhall der eigenen Stimme.

„Kann ich Ihnen helfen, Miss?“ Eine ältere Frau in einem geschmackvollen grünen Kostüm im typischen Chanel-Stil trat lächelnd auf Maggie zu. Ihr silbernes Haar glänzte im hereinfallenden Licht wie das viele Chrom und der Stahl, womit man die Eingangshalle reichlich ausgestattet hatte.

„Ich komme wegen der Stellenanzeige als Assistentin der Geschäftsführung.“ Hoffentlich merkte die Frau ihre Nervosität nicht.

Ein konsternierter Blick scannte Maggie in Sekundenschnelle von oben nach unten. „Haben Sie einen Termin?“, erkundigte sich die Frau spitz, deren festgefrorenes Lächeln bröckelte.

„Nein. Ich dachte, ich komme direkt vorbei und stelle mich vor.“

„Hören Sie, Miss, es mag auf dem Land en vogue sein, mit der Tür ins Haus zu fallen, wir sind jedoch in Dublin. Hier laufen die Uhren anders. Vor allem in einem renommierten Bankhaus wie dem unseren. Ohne Termin kommen Sie nicht einmal bis zum Lift.“

„Okay“, zog sich Maggie in ihr Schneckenhaus zurück. Woher wusste die Frau, dass sie vom Land kam? Lag es an ihrer Kleidung? Prüfend schaute Maggie an sich herunter. Sicher, die schwarzen Ballerinas sahen mitgenommen aus, aber sonst … „Könnten Sie einen Termin für mich vereinbaren?“ Hinter der Frau ging ein Mann im schwarzen Nadelstreifenanzug vorbei, der Maggie einen abschätzigen Blick zuwarf.

„Die Stelle ist bereits vergeben, soweit ich weiß.“ Die Frau log und wollte sie abwimmeln! Das war offensichtlich. „Versuchen Sie woanders Ihr Glück, Miss.“

Im Nu stand Maggie alleine da und blickte der Frau nach, die vor dem Nadelstreifen-Mann stoppte und sich mit ihm unterhielt. In seiner Gegenwart schien sie ihr Lächeln wiederzufinden, obwohl es eher hämisch als freundlich wirkte. Von den verstohlenen Blicken ganz zu schweigen, die beide in Maggies Richtung warfen. Nichts wie raus hier!

♥♥♥

Eine halbe Stunde später saß Maggie weinend auf einer Parkbank im St. Stephen’s Green. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht, für eine Stadt gewappnet zu sein. Ferner für eine Stelle, deren Ansprüche mit der Schreinerei nicht zu vergleichen waren. Entweder war man dafür gemacht oder nicht. Gegen Redruth war Dublin das reinste Haifischbecken.

„Diese Heul-Arie kann sich ja kein Mensch länger mitansehen.“ Begleitet von den Worten schob sich eine gepflegte Hand mitsamt Taschentuch vor Maggies Augen. „Trocknen Sie Ihre Tränen, junge Dame. Und zwar pronto!“

Mechanisch griff Maggie nach dem Taschentuch und blickte zur Frau, die sich wie selbstverständlich neben sie setzte und die langen Beine übereinanderschlug. Ihre braunen Lederstiefel glänzten wie schimmernde Kastanien, waren bestimmt teuer und keine zwei Tage alt. Zum beigen Tweed-Rock trug sie eine cremefarbene Seidenbluse und auch das streng wirkende Gesicht schien sie sich einiges kosten zu lassen, denn es war unnatürlich straff. Im Gegensatz zu den Händen und dem Hals.

„Danke.“ Maggie wischte sich mit dem Taschentuch über die Augen und schnäuzte sich dann ausgiebig die Nase. Ein aufdringlicher Moschusduft entströmte dem Stoffstück, in das hellblaue Initialen eingestickt waren. GR.

„Bevor Sie auf dumme Gedanken kommen: Behalten Sie den Fetzen.“

Maggie brachte nur ein Nicken zustande und verstaute das Tuch in den Tiefen ihrer Handtasche. Als ihr Blick auf die Papiere fiel, sammelten sich erneut Tränen in ihren Augen.

„Was bringt Sie derart aus der Fassung?“ Erwartungsvoll schaute die Unbekannte sie an. Maggie fühlte sich überrumpelt. Sie konnte doch keiner Wildfremden ihr Leid klagen. Andererseits würden sie sich nie wiedersehen und im Augenblick war niemand anders da. „Ich sehe schon“, fuhr die Frau fort und deutete ein Lächeln an. Mehr war bei der Spannkraft ihrer Haut vermutlich nicht drin. „Sie vertrauen mir nicht.“

„Wundert Sie das? Immerhin sind wir uns erst vor einer Minute begegnet.“

„Trotzdem heulen Sie mir die Ohren voll, als wären wir miteinander aufgewachsen. Glauben Sie mir, ich hätte weitaus Besseres zu tun, statt mich mit Ihnen zu unterhalten.“ Sie schaute sich auf die rotlackierten Fingernägel, als müsse sie ihre herablassende Aussage unterstreichen, was überflüssig war. Mochte Maggie vom Land sein, dämlich war sie deswegen längst nicht!

„Haben Sie sich deshalb zu mir gesetzt?“, erkundigte sich Maggie pampig.

„Eigentlich saß ich ein paar Bänke weiter“, gab die Frau bereitwillig Auskunft. Der Dutt unterstrich ihr unterkühltes Äußeres. „Unter uns gesagt ging mir Ihr Heulen extrem auf die Nerven. Irgendwie musste ich Sie stoppen. Doch seien Sie froh, dass ich nur Taschentücher dabeihabe und kein Messer.“

„Wenigstens haben Sie Humor.“ Das mit dem Messer war sicher als Witz gemeint.

Eine Kinderschar, gefolgt von zwei Collies, sauste lachend zum Brunnen, den drei Frauen-Skulpturen schmückten. Sehnsüchtig blickte Maggie den Kindern hinterher.

„Die Nächsten, die einem jeglichen Nerv töten“, regte sich die Unbekannte auf. „Mit kleinen Menschen kann ich am wenigsten anfangen. Sie sind unreif und frech. Ich könnte Psychothriller über mein Mutterdasein schreiben.“

„Sie sollten dankbar sein, dass Sie überhaupt Kinder haben“, sagte Maggie bitter. Sie selbst trauerte um ihren Sohn und neben ihr saß eine Frau, die scheinbar ihre Kinder verwünschte. Diese Welt strotzte wirklich vor Ungerechtigkeit.

„Ich habe nur einen Sohn und der reicht für drei Leben.“ Sie machte das Kreuzzeichen. Die unterschiedlich großen Steine auf ihren zahlreichen Ringen blitzten auf. Wenn der Schmuck echt war, musste die Frau nicht reich, sondern schwerreich sein. „Humphreys Zeugung erfolgte in einer schwachen Minute, die sogar eine Frau wie ich ab und zu hat. Gegen die paar Sekunden Freude war Humpies Geburt jedoch wie stundenlange Folter.“ Humpie? War das ein Kosename oder eine Beleidigung? „Ihn aufzuziehen war ebenfalls kein Vergnügen. Tja, mittlerweile hat er eine eigene Wohnung und ich bin die Wanze los.“

„Sind Sie immer so offen?“

Ein konsternierter Blick streifte Maggie. „Sie haben sich ja auch bei mir ausgeheult.“

„Eigentlich habe ich kaum etwas gesagt.“

Die Frau stöhnte unwillig. „Okay, dann schießen Sie los.“

„Lassen Sie es gut sein. Offensichtlich haben Sie Ihre eigenen Sorgen.“

„In der Tat, aber mein Chauffeur holt mich erst in einer Stunde ab. Bis dahin kann ich mir genauso gut Ihr Gefasel anhören.“

„Ein eigener Chauffeur …“ Maggie hörte selbst, wie sarkastisch sie klang. „Scheint so, als wären hier alle dem äußeren Schein verfallen.“

„Nur die, die es sich leisten können. So, wie ich.“

Schweigen entstand. Kein peinliches und keines, bei dem man fieberhaft überlegte, was man als Nächstes sagen könnte. Vielmehr atmete Maggie durch. Spürte die kalte Luft auf ihrer Haut. Den Wind, der durch ihre Kleiderschichten drang, und plötzlich sprudelte alles aus ihr heraus. Die ganze verdammte Flugzeugladung an Kummer, Problemen, Sorgen und Nöten, die sie aus Cornwall mitgenommen hatte. Nichts sparte sie aus. Weder das Aufwachsen mit Alec, dessen Tod, den schmerzvollen Verlust ihres Sohnes, noch die Sache mit Finley und sogar die Pleite mit der Bank schilderte sie in allen Einzelheiten.

„Nun“, meinte die Unbekannte, nachdem Maggie geendet hatte, „über die Liebe, kleine Monster und den ganzen Kram kann ich nichts sagen, das haben Sie ja mitgekriegt. Darum sollten Sie in dieser Hinsicht kein Mitleid von mir erwarten. Bei der Sache mit der Bank ebenfalls nicht. Statt zu desertieren, müssen Sie Hartnäckigkeit beweisen. Wenn ich beim geringsten Widerstand aufgegeben hätte, wäre ich nicht eine der reichsten Frauen Dublins. Etwas, das ich alleine geschafft habe. Ohne, dass ich ein paar millionenschwere Ehemänner erfolgreich in die Kiste verfrachtet habe. Die Zauberworte heißen Disziplin und Härte. Nehmen Sie Ihren Mut zusammen und gehen Sie noch einmal in die Bank.“

„Haben Sie mir nicht zugehört? Die Frau lässt mich hochkant hinauswerfen.“

„Dasselbe würde ich ebenfalls tun. Sie machen nicht gerade den Eindruck, als wäre Ihr Platz in der obersten Etage. Darum rate ich Ihnen, sich einige schicke Kostüme zu kaufen und zum Friseur zu gehen. Das wird Ihnen das nötige Selbstbewusstsein geben. Wer etwas erreichen will, muss zuerst investieren. Vor allem in sich selbst. So lautet ein eisernes Gesetz. Und oberflächlich oder nicht, in dieser Welt besteht nur der, der sie in seine Richtung zu drehen weiß.“ Ein wohlwollender Blick ruhte auf Maggie. „Eine Schönheit wie Sie sollte ihr Äußeres unterstreichen, allerdings ist das Erscheinungsbild nicht alles. Man muss sich seiner Fähigkeiten bewusst sein. Eine Schreinerei ist nicht die Citizen-Bank, die im Übrigen Dublins heimliches Wahrzeichen ist. Demzufolge haben Sie sich ganz schön was vorgenommen. Erschwerend kommt hinzu, dass Sie keine Universität besucht geschweige denn ein Examen in der Tasche haben. Alles, was Sie vorweisen können, ist das Lesen von Wirtschaftsblättern. Fühlen Sie sich den Anforderungen wirklich gewachsen?“

„Jeder fängt klein an. Ich brauche nur eine Chance.“

„Dann tun Sie, was ich Ihnen geraten habe. Sehen Sie es als Mutprobe an, und jedes Scheitern als den Motor, der Sie antreibt.“ Auf einmal schmunzelte die Frau, was die harten Züge milderte. „Sie erinnern mich sehr an mich selbst. Meine Karriere begann ähnlich. Ich ging auch zweimal in die Höhle des Löwen und war zäh wie Harz. Heute nennt man mich die Eiserne Lady. Übrigens, mein Name ist Grace. Ich weiß, klingt ziemlich sanftmütig, aber davon bin ich weit entfernt. Vielmehr habe ich einen immensen Appetit auf Macht und besitze keine Empathie, sondern schlicht und ergreifend ein Organ namens Herz, dessen einzige Aufgabe darin besteht, jeden Tag die Lache Blut durch meinen verwelkenden Körper zu pumpen. Nur die Harten kommen in den Garten. Die bösen Mädchen kommen überall hin, und ich bin eins davon. Auch mir hat das Leben übel mitgespielt, doch irgendwann schlug ich zurück und nehme mir seitdem, was ich will und wann ich es will.“

„Wo bleiben die Gefühle, Grace?“

„Gefühle!“, stieß sie aus und rümpfte die Nase. „Die haben mir nichts gebracht, außer Tränen. Darum wurde ich zur Eisernen Lady, an der alles abprallt.“

„Klingt nach einem ziemlich leeren Leben.“

„Ist das Ihre denn erfüllt, meine Liebe?“, monierte Grace.

„Nein“, musste Maggie eingestehen. „Es ist ebenso leer.“ Unwillkürlich dachte sie an die beiden Männer, die einen großen Einfluss auf ihr Leben gehabt hatten. Insbesondere Finley, dessen Worte sie einfach nicht vergessen konnte …

♥♥♥

Finley legte das Handy auf den Wohnzimmertisch und stellte sich ans riesige Fenster. Er bewohnte eine Villa am Stölpchensee. Nach seinem Umzug aus Amerika hatte er in Berlin Mitte eine Maisonette-Wohnung bezogen, bis er diese Siedlung entdeckte. Eigentlich war er nur wegen eines Außentermins in der Gegend gewesen. Zwei Monate später verlegte er seinen Wohnort hierher. Vielleicht waren es die schönen Häuser, die ihn anzogen. Die Lage am Wasser. Der Wald oder die Idylle. Er lebte gerne zurückgezogen und wenn er Abwechslung wollte, war er nach einer kurzen Autofahrt in Berlin. Aber das interessierte ihn momentan am allerwenigsten.

Statt durch die Bars zu streifen, hatte er mit dem Joggen angefangen. Am See entlang, der von Pflasterstraßen begrenzt wurde. Vorbei an den alten und historischen Höfen oder an den Neubauten, die wie Pilze aus dem Boden schossen.

Er selbst besaß ein älteres Domizil. Mit einem privaten Bootshaus, einem parkähnlichen Garten inklusive Springbrunnen und lebensgroßen griechischen Figuren, die im Kaufpreis inbegriffen gewesen waren. Nach seinem Einzug wollte er die potthässlichen Skulpturen entsorgen lassen, was er bis dato nicht geschafft hatte. Ebenso wenig wie den Umbau des Wintergartens oder der Saunalandschaft. Sogar ein Festnetztelefon gab es noch. Womöglich scheiterten all diese Pläne an der Frage, für wen er etwas ändern sollte.

Ihn störte die geschmacklose Einrichtung ohnehin mit jedem Tag weniger. Selbst mit den Skulpturen arrangierte er sich mittlerweile, da er den Garten bislang lediglich vom Fenster aus erkundet hatte. Im Gegensatz zu seiner Haushälterin Sam, die sich mit Hingabe darum kümmerte. Die Hecken waren akkurat gestutzt, sie hatte Beete angelegt und Blumen angepflanzt. Nebenbei sorgte sie für ausgewogene Mahlzeiten, machte seine Wäsche und putzte die Villa. Trotz ihrer erst sechsundzwanzig Jahre eine verlässliche Haushälterin, mit der er anfangs hin und wieder im Bett gelandet war. Da Sam jedoch keine romantischen Ziele verfolgte, hatte das nie Einfluss auf ihr Arbeitsverhältnis gehabt und ihr letztes Mal lag sowieso lange zurück.

„Bald verschmilzt du mit dem Glas“, schreckte ihn Sams Stimme auf.

„Ich denke nach“, gab Finley unwillig von sich und starrte weiterhin zur uralten Linde, vor der die Zeus-Statue stand. Nackt, wie der Künstler ihn geschaffen hatte, und extrem gut ausgestattet. So gut, dass Sam manchmal die Gartenhandschuhe auf dem besten Stück des griechischen Gottes ablegte. Auch ein Regenschirm baumelte dann und wann herab, oder Sam hielt sich daran fest, wenn sie sich zu den Blumen beugte. „Ist noch was? Ich wäre ansonsten gern allein.“

„Meine Güte, hast du eine miese Laune, seitdem du wieder aus Cornwall zurück bist“, beschwerte sich Sam und trat neben ihn. Ihr Parfüm stieg ihm in die Nase. Der herbe Geruch passte zu einer Frau wie ihr. Sam – die neuerdings einen Bubikopf trug – ging regelmäßig ins Fitness-Studio oder zum Wrestling, war handwerklich geschickt und lachte wie ein Mann. Wiederum fragte sich Finley, wie er je mit ihr hatte schlafen können, schließlich aß das Auge mit. Aber vermutlich lag es daran, dass er den Sex früher genommen hatte, wie er sich ihm bot. „Willst du darüber reden?“

Belehrend schaute Finley sie an. „Habe ich das je getan?“

Es begann wieder zu regnen. Schon seit Tagen schüttete es wie aus Eimern.

„Nicht wirklich.“

„Warum dann die Frage?“

„Weil ich glaube, dass sie schon wieder angerufen hat.“

„Lydia?“ Verdammt, wurde er diese Klette denn nie los? Zumal er wegen dieser Intrigantin Sam ins Vertrauen ziehen musste, wobei er nur das Allernötigste erzählt hatte. Also im Grunde nichts, außer, dass Lydia ihn stalkte. „Hast du sie abgewimmelt?“

„Mittlerweile sagt die Tussi kein Wort mehr.“ Sam rieb sich die Arme. „Diese Frau ist mir unheimlich. Irgendwann steht sie vor der Tür.“

„Dann überleg dir etwas!“

„Was denn?“, regte sich Sam auf. „Soll ich ihr einen Kinnhaken durchs Handy verpassen?“ Mit einem genervten Atemzug wandte sie sich zum Tisch und schob den roten Blumentopf exakt in die Mitte. „Ehrlich, Fin, du bist der Letzte, der sich beklagen darf. Irgendwann musste es ja so weit kommen, dass du dir eine Durchgeknallte anlachst. Das ist dir hoffentlich eine Lehre.“

„Spar dir die Bevormundung.“ Verärgert schaute Finley zu ihr und verabscheute Lydia dafür, dass sie weiterhin Einfluss auf sein Leben hatte. Zumal er sich ihretwegen ein neues Handy samt Geheimnummer zulegen musste. Das alte lag im Flur. Natürlich könnte er es verschrotten, doch diese Frau würde erst Ruhe geben, wenn man sie mit den eigenen Waffen schlug und für so was war Sam die beste Adresse. „Schaff sie mir lieber vom Hals. Wofür bezahle ich dich denn?“

„Ich bin nicht dein Bodyguard!“, stellte sie klar. Sofort hatte Finley die Musik zum gleichnamigen Film im Ohr. Run To You … „Nebenbei gefragt: War ich mit der Verrückten im Bett oder du?“, fauchte Sam weiter und wandte sich wieder zu ihm.

„Wer sagt, dass wir Sex hatten?“

Sie lächelte spöttisch. „Ich bitte dich, warum sollte sie dir sonst nachlaufen? Du wirst ihr schöne Augen gemacht haben. Wie jeder, mit der du ins Bett steigen willst. Mich hast du ja auch mit Marylin Monroe verglichen.“ Er zog es vor zu schweigen. „Wieso konntest du nicht auf Dex hören?“

Finley erstarrte. „Wie kommst du ausgerechnet auf Dex?“ Die beiden kannten sich nicht und Dex’ Warnung vor Lydia hatte er Sam selbstverständlich ebenfalls vorenthalten.

„Wir haben miteinander telefoniert“, gab seine Haushaltshilfe Auskunft und bekam rote Backen, als hätte sie jemand stundenlang gekniffen. „Nur zwei Stündchen oder so.“

„Wie bitte? Wann soll das gewesen sein?“

„Gestern. Du warst joggen.“

„Ach, und da habt ihr zwei nichts Besseres zu tun gehabt, als über mich und Lydia zu reden?“

Nun errötete sie bis zu den Haarwurzeln. „Im Gegenteil“, säuselte Sam, „über dich ging uns bald der Gesprächsstoff aus und wir kamen ziemlich ins Plaudern. Dann musste Dex leider zu einem Patienten. Deswegen haben wir uns für übermorgen verabredet, damit wir in Ruhe weiterquatschen können. Wir wollen essen gehen.“

„Dir ist schon klar, dass Dex in Cornwall lebt?“

Strahlend lächelte Sam ihn an. „Stell dir vor, er will dich besuchen. Eigentlich rief er ja nur an, um zu fragen, ob er kommen darf. Da du nicht hier warst, habe ich alles für dich klargemacht.“

„Für mich?“ Als wäre ihm Sam mit ihren ständigen Ratschlägen nicht lästig genug. „Du hast ihn wohl für dich klargemacht. Meine Güte, Sam, mir ist nicht nach Gesellschaft. Selbst wenn es Dex ist. Du hattest kein Recht, das über meinen Kopf hinweg zu entscheiden.“

Wie seine Tante Minnie es gerne tat, stemmte Sam die Hände in die Hüften. „Hör endlich damit auf, jeden so scheiße zu behandeln. Wir können am allerwenigsten etwas für die Pleite mit Maggie und wenn du derart leidest, solltest du zu ihr nach Dublin fliegen.“ Finleys Fassungslosigkeit wich dem Schock. Sam schien sogar über Maggie im Bilde zu sein! „Alles ist besser als deine Leidensmiene. Das erträgt ja kein Mensch!“ Sie zog die Stirn in Falten. „Wenn du dich wenigstens besaufen würdest. Sogar einem deiner Betthäschen würde ich derzeit den roten Teppich ausrollen, damit du abgelenkt wärst. Aber nein, unser kleiner Casanova muss ausgerechnet jetzt beschließen, wie ein Mönch zu leben.“

„Woher weißt du von Maggie?“ Bevor sie antworten konnte, tat er es selbst. „Dex, dieser Verräter.“ Aber selbst der war nicht über alles informiert.

„Dex macht sich bloß Sorgen um dich. Genau wie dein Vater.“

Der wusste ja noch weniger! „Was hat Dad damit zu tun?“ Ihm schwante Schlimmes. Waren ihm etwa die Gerüchte zu Ohren gekommen, die Christin in Lydias Auftrag gestreut hatte?

„Na ja, Donald hat alle Einzelheiten von Trudy erfahren.“ Wer verdammt nochmal war … du liebe Güte, sprach sie von … „Trudy Higgins. Sie ist Maggies Mutter“, bestätigte Sam seine Ahnung und sorgte für einen weiteren Schock. Was hatte ausgerechnet Maggies Mom mit seinem Dad zu schaffen? Andererseits …

„Äh, hat Maggies Mom etwas über mich gesagt?“ Er schlenderte zur Couch und setzte sich wie die Ruhe selbst, obwohl alles in ihm angespannt war. Dagegen glichen seine Gefühle vor wenigen Sekunden einem lauen Lüftchen. „Nicht, dass es wichtig wäre.“ Er griff zur Zeitung neben sich und blätterte darin. Zitterten die Blätter von selbst oder verursachte er das?

„Du bist ein lausiger Schauspieler, Finley McGarret“, unterstellte Sam ihm prompt und baute sich wie ein Holzfäller vor ihm auf. Mit einem Gesichtsausdruck, als würde sie in jeder Hand eine Motorsäge halten. „Hier die Kurzfassung: Du hast Maggie anscheinend deine Liebe gestanden, doch sie will nichts von dir wissen, weil sie dich für einen Playboy hält, was durchaus nicht aus der Luft gegriffen ist, wie wir alle wissen.“

„Bist du fertig?“, feindete Finley sie an, obwohl es ungerecht war. Sam war nur der Bote, obwohl sie im Augenblick eher einem Henker glich. Doch worauf hatte er gehofft? Dass Maggie ihre Entscheidung bereute? Dass sie sich ebenso nach ihm verzehrte, wie er sich nach ihr? Nur Gott wusste, wie sehr er sich das wünschte, denn die Sehnsucht nach dieser Frau machte ihn beinahe wahnsinnig. „Ich gehe joggen“, informierte er Sam, legte die Zeitung weg und erhob sich, als seine Haushaltshilfe gnädiger Weise beiseitegetreten war.

„Ja, ja, lauf nur davon“, motzte Sam, „darin hast du ohnehin Übung.“

Wie angewurzelt blieb Finley am Türrahmen stehen. „Was soll ich tun? Maggie wie ein Hund folgen? Ich habe auch meinen Stolz und sie ist es, die davongelaufen ist. Außerdem hast du mir nichts gesagt, was ich nicht schon weiß. Also, Sam, wofür soll ich kämpfen?“

Mitleidig musterte sie ihn. „Wow, dich hat’s echt erwischt. Bisher konnte es nicht einmal dein Spiegelbild mit dir aufnehmen, so überzeugt warst du von dir selber, und jetzt schau dich an.“

Finley schluckte hart. „Ich würde alles ändern, hätte ich damit nur den Hauch einer Chance bei Maggie.“

Sam trat vor ihn. Sie war so groß wie er, allerdings um einiges kräftiger gebaut. „Auch wenn ich nicht den Tag vor dem Abend loben möchte, du hast dich bereits geändert, Fin.“

Traurig erwiderte er ihren aufmunternden Blick. „Und was nützt mir das?“

„Geh joggen“, forderte sie ihn auf. Auch ihr schien nichts mehr einzufallen. „Das hilft, um Frust abzubauen. Ich kümmere mich um diese verrückte Lydia, sobald sie das nächste Mal anruft. Mir fällt schon etwas ein, um diese Schwachsinnige loszuwerden, und dann sehen wir weiter. Jedenfalls musst du nicht alleine ans Ufer rudern. Dex und ich helfen dir dabei.“ Na wunderbar! Dann konnte ja nichts mehr schiefgehen.

Zehn Minuten später joggte Finley in seinem neuen Trainingsoutfit durch den Wald. Die dichten Zweige und Blätter hielten den Regen nur teilweise ab. Als er nach einer halben Stunde keuchend und durchnässt zu einer Lichtung kam, blickte er wie üblich zum alten Gutshof mit dem Reetdach. Ein kleiner Junge tapste gerade aus der Haustür. Schon öfter hatte er ihn vor dem Haus spielen gesehen. Meistens versetzte ihm das einen Stich, diesmal geriet Finley jedoch ins Straucheln. Nur mit Mühe gelang es ihm, das Gleichgewicht zu halten, während der Kleine geradewegs auf einen großgewachsenen Mann zulief, der sich mit einer Aktentasche in der Hand beim weißen Gartentor bückte. Mit ausgebreiteten Armen, um den Jungen darin aufzufangen. Dieses Bild sprach von so viel Liebe, dass die Wehmut Finleys Herz in tausend Teile zersplitterte.

Mit Tränen in den Augen sank er auf die nasse Bank hinter sich, ohne die beiden aus dem Blick zu lassen. So saß er eine Weile in sich versunken da, bis die Dämmerung hereinbrach. Vater und Sohn waren längst in den Gutshof gegangen, hinter dessen Fenster Lichter brannten. Finley erhob sich schwerfällig und eilte nach Hause.

Dorthin, wo die Stille noch erdrückender war.

Sam hatte ihm einen Zettel auf den Küchentisch gelegt. Mit dem Hinweis, dass das Abendessen in der Mikrowelle sei. Ohne großen Hunger machte er es sich warm und aß kurz darauf im Esszimmer das würzige Gulasch. Dabei starrte er auf den großen Tisch, die vielen Stühle und überhaupt fühlte er sich verloren wie niemals zuvor in diesem Haus. Doch irgendwo auf dieser Welt gab es mit Sicherheit eine Frau, die für ihn bestimmt war. Er wollte jedenfalls alles daransetzen, um sie zu finden – und Maggie zu vergessen. Dieses Kapitel musste er dringend schließen, zumal sie bestimmt keinen einzigen Gedanken an ihn verschwendete.

Mit dieser bitteren Erkenntnis holte Finley das Fotoalbum von Tommy aus dem Regal und blätterte mit brennenden Augen darin. Eins der Bilder zeigte auch dessen Grab in Amerika, doch um an seinen Sohn zu denken, brauchte er keine Ruhestätte.

♥♥♥

Noch zwei Häuser, dann würde sie erneut vor der Citizen-Bank stehen. Prüfend fuhr sich Maggie über das Haar, das einen flotten Stufenschnitt bekommen hatte. Es glänzte und wirkte sehr feminin, wie ihr dezent geschminktes Gesicht. Nur Wimperntusche und glänzender Lipgloss kamen zum Einsatz. Die Visagistin meinte, dass das genügen würde und Maggie vertraute ihrem Rat. Musste sie wohl auch, denn der Laden Hair & Face gehörte zu den teuersten in der Stadt. Termine waren schwer zu bekommen, doch Grace hatte kurzerhand dort angerufen und einen für Maggie reserviert. Selbstredend, dass es kein Problem war. Tja, abgesehen von der Bezahlung. Dass es teuer werden würde, war sonnenklar. Die Eiserne Lady ließ sich bestimmt nicht bei einem Drogeriemarkt die edle Haarpracht machen. Aber Maggie hätte nicht im Traum daran gedacht, dass sie mit einem Schlag die Hälfte ihres Wochenbudgets los wäre!

Ein paar Schritte noch!

Maggie nestelte an ihrem blaugrauen Hosenanzug herum, zu dem sie silberne High-Heels trug. Ein weißes Top, eine silberne Handtasche und die Kette mit dem Bootsanhänger rundeten ihr Outfit ab. Das, und einige andere Business-Kostüme, hatten ein weiteres Loch in ihrem Geldbeutel hinterlassen. Umso dringender brauchte sie diesen Job!

Diesmal blieb Maggie nicht vor dem Gebäude stehen, sondern ging schnurstracks hinein. Selbstbewusster als am Vortag. Dahingehend hatte Grace recht gehabt: Kleider machen Leute. So fühlte sie sich auch. Bis die Frau von gestern auf sie zukam, deren drakonische Miene stark an einen T-Rex erinnerte.

„Kann ich Ihnen helfen, Miss?“ Diesmal trug die Frau ein rotes Kostüm und ihr unverbindliches Lächeln musste sie stundenlang vor dem Spiegel geübt haben.

„Sind Sie die Empfangsdame?“, bemühte sich Maggie um einen fehlerfreien Satz.

Ihr Gegenüber kniff die Augen zusammen. Man sah ihr förmlich an, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. Lange würde es nicht dauern, bis sie dahinterkam, wer vor ihr stand. „So ist es, Miss …?“

„Higgins.“ Maggie lächelte. „Und ja, Sie können mir helfen. Ich möchte jemanden aus der Chefetage sprechen.“

Das Lächeln gefror wie Wasser, das man bei minus vierzig Grad in die Luft schleuderte. „Sie sind das! Glauben Sie etwa, dass Sie mich mit diesem aufgemotzten Äußeren täuschen können?“

„Das lag nicht in meiner Absicht. Ich möchte nur so behandelt werden wie jeder andere.“

„Wie Sie wünschen. Dann werde ich den Sicherheitsdienst kommen lassen und …“

„Was ist los mit dir, Iris? Schlecht geschlafen?“, wurde sie auf einmal launig unterbrochen. Maggie starrte verblüfft zu Grace, die mit einem Rudel Männer in schwarzen Anzügen auf sie zukam. Brauchte sie für ihre Bankgeschäfte so viele Leibwächter? Wohl eher nicht.

„Grace? Was machen Sie denn hier?“, fragte Maggie.

Dieser Iris klappte fast die Kinnlade herunter. „Grace?“, wiederholte sie konsterniert, als hätte sie in rohes Fleisch gebissen. „Für Sie immer noch Mrs. Lynch!“

Maggie durchlief es heiß und kalt. Was hatte sie gerade gesagt? Mrs. Lynch? Etwa die Mrs. Lynch? Ihr Idol? Das Phantom? Die knallharte Geschäftsfrau?

„Halt die Klappe, Iris!“, fuhr Grace dem T-Rex über den Mund und wirkte selbst alles andere als ein Schmusekätzchen, während sie vor ihnen stoppte. Ihre Begleiter taten dasselbe. Wie abgerichtete Hunde, schoss es Maggie durch den Kopf, in dem sich alles drehte. Ausgerechnet die Eiserne Lady war Mrs. Lynch. Das durfte nicht wahr sein! „Und sollten Sie jemals wieder für mich sprechen, können Sie sich sofort Ihre Papiere im Personalbüro abholen.“

Die Gerügte schaute betreten zu Boden. „Selbstverständlich, Mrs. Lynch.“

Wie eingeschüchtert der T-Rex plötzlich war! Maggie indes hatte weder die Zeit noch die Nerven für Schadenfreude. Vielmehr überlegte sie fieberhaft, was sie Grace alles erzählt hatte. Nichtsahnend, dass sie die Direktorin der Privatbank war. Das konnte auch nur ihr passieren!

„Schön, dass Sie meinen Rat befolgt haben“, lobte Grace sie im nächsten Moment und taxierte Maggie von Kopf bis Fuß. „Trotz Ihres verkümmerten Daseins sehen Sie ganz passabel aus und von der Schneise Ihrer Tränenflut ist auch nichts mehr zu sehen.“

„Danke … äh … tja … dann werde ich mal wieder“, murmelte Maggie.

„Warum?“ Grace verengte die Augen. „Ich dachte, Sie hätten ein Ziel. Oder sollte ich mich in Ihnen getäuscht haben? Schließlich beschrieben Sie sich in beruflicher Hinsicht als zielgerichtet und nicht als zarte Blume, die beim geringsten Widerstand einknickt, was Ihrer privaten Natur entsprechen mag. Aber Mimosen kann ich nicht brauchen. Wäre mir das bereits gestern klargewesen, hätte ich mir tatsächlich ein Messer geholt, um Ihren schrecklichen Monolog zu beenden.“ Maggies Gesicht brannte mittlerweile wie Feuer. „Sie wollten eine Chance, Sie kriegen eine. Möchten Sie sie oder nicht?“

„Natürlich, Mrs. Lynch … mehr als alles andere.“ Maggie strich sich hastig einige Strähnen hinter das Ohr.

„Dann straffen Sie die Schultern“, kommandierte Grace wie ein Offizier, „und sprechen Sie verdammt noch mal in ganzen Sätzen. Gestern ist Ihnen das ja auch gelungen.“ Alle gafften sie an und Maggie überlegte, ob sie türmen sollte, solange Mrs. Lynch Luft holte. „Mein Name ist übrigens Grace Ricarda Lynch und eigentlich sollte ich für meine Ratschläge allmählich Geld von Ihnen verlangen, aber diesen bekommen Sie noch gratis: Das oberste Prinzip jeder Bewerbung ist es, schneller als andere zu sein. Das hatten Ihnen einige voraus, weshalb ich die Assistenz-Stelle soeben besetzt habe. Nur der frühe Vogel fängt den Wurm.“ Hanks Lieblingsspruch! Er würde jetzt sicher schallend über sie lachen. „Sie hätten eher kommen müssen, Maggie.“

Gerade hatte diese Frau noch von einer Chance gesprochen! „Aber Sie wussten, dass ich …“ Nicht gut. Gar nicht gut! Grace schaute sie an wie eine Kannibalin, die beim Anblick ihres Gegenübers jeglichen Appetit verlor. „Ich würde Ihnen gerne meine Kontaktdaten hierlassen“, riss sich Maggie zusammen. „Sollte eine ähnliche Stelle frei werden, käme ich dafür sogar mitten in der Nacht vorbei.“

„Ja, ja, ersparen Sie mir das Gesülze“, stoppte Grace ihren Eifer. „Wären Sie für den Anfang mit einem anderen Job zufrieden?“

Maggies Herz machte einen Sprung. „Ja, Mrs. Lynch, natürlich.“

„Iris, hol Humpie!“ Die Angesprochene eilte davon. Zeitgleich hob Grace die rechte Hand. Ihre goldenen Armreifen klimperten. In schneller Abfolge schnippte sie mit den manikürten Fingern. Sofort schwirrte ihr Gefolge in alle Richtungen aus. Wie Erdhörnchen, die eine drohende Gefahr witterten. „Wenn es um Geschäftliches geht, brauche ich keine Zuhörer“, erklärte Grace und bedachte Maggie mit einem strengen Blick. „Sie fangen ganz unten an. Und mit ganz unten meine ich ganz weit unten.“ So schnell konnte ein Hoch verfliegen.

„Was heißt das?“ Toilettenkraft?

„Poststelle.“ Gut, das war um Längen besser, auch wenn der Job ebenfalls meilenweit von Maggies Vorstellungen entfernt war. „Nur wer ein Unternehmen in- und auswendig kennt, jede Abteilung und jeden Mitarbeiter, weiß, wovon er spricht. In der Schreinerei haben Sie vielleicht mit sechsstelligen Beträgen zu tun gehabt, bei uns werden täglich Milliarden umgewälzt, demnach sind Sie ein absolutes Greenhorn. Nun, Sie bekommen diese eine Chance. Mit mir als Mentorin. Ich werde Sie unter meine Fittiche nehmen und wenn Sie ausgebacken sind, wird sich der Markt förmlich um Sie reißen. Jetzt liegt es an Ihnen, ob Sie mein Angebot annehmen oder nicht.“ Iris kam zurück. Ausgerechnet mit Mister Nadelstreifen im Schlepptau, der vermutlich Humpie sein musste. Die Wanze. „Ich warne Sie allerdings vor“, flüsterte Grace ihr zu, „in den nächsten Jahren werden Sie so gut wie kein Privatleben haben und sollten sich ein dickes Fell zulegen.“ Kurz vor Grace machte Iris kehrt und ließ Humpie die letzten Schritte alleine gehen. Die Situation entbehrte nicht einer gewissen Komik. „Mein Sohn wird Sie in alles einweisen“, erklärte Grace lauter. „Und notfalls feuern, wenn Sie nicht die gewünschte Leistung bringen.“

„Immer diese Alleingänge, Mutter.“ Sein genervter Blick streifte Maggie.

„Dir bin ich zuletzt Rechenschaft schuldig.“

„Wo hast du sie aufgegabelt?“ Erneut nahm er Maggie in Augenschein.

„Auf einer Parkbank, wo sonst?“ Das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn schien schwieriger zu sein, als Maggie angenommen hatte, und sie befand sich mitten in der Schusslinie. Wobei sich ihr Mitleid für Humpie in Grenzen hielt.

„Schön, Mutter, dann hast du ja endlich jemanden, den du herumkommandieren kannst.“

„Oder jemanden, der bessere Arbeit leistet als du“, erwiderte Grace süffisant.

Humpies Kieferknochen mahlten aufeinander. „Diese junge Dame ist keine Konkurrenz für mich.“ Sein Blick glich einer Kampfansage. Sie stand schon jetzt auf seiner Abschussliste. „Montag früh, pünktlich um sechs Uhr in meinem Büro“, ordnete er knapp an. „Bringen Sie die erforderlichen Papiere mit. Alles Weitere besprechen wir dann.“ Er eilte davon.

Maggie fing Graces Blick auf. „Sind Sie bereit für die Höhle des Löwen?“

„Ja, und ich werde Ihnen beweisen, dass ich ein guter Dompteur bin.“

Mrs. Lynch hob die rechte Augenbraue. „Sie gefallen mir immer besser. Aber wenn Sie in diesem Zirkus mithalten wollen, müssen Sie knallhart sein. Ich wiederhole das nur, damit Ihnen klar ist, worauf Sie sich einlassen. Das hier ist nämlich nicht das beschauliche Cornwall, wo sich Fuchs und Henne gute Nacht sagen. In diesem Unternehmen müssen Sie ständig hinter sich blicken, damit Sie keinen Feind übersehen. Unter ihren Stuhl schauen, der laufend angesägt werden wird und vor allem sollten Sie nach einer Devise leben: In der Citizen-Welt regiert ausschließlich Geld, nicht das Herz.“

Eine harte Aussage, die Maggie noch beschäftigte, nachdem sie sich längst in ihrem Pensionszimmer befand. War sie tatsächlich dazu gemacht, die Ellenbogen zu benutzen? Sich gegen alle Widerstände zu behaupten und Gefühle außen vor zu lassen?

Zweifel, die sich verstärkten, als sie einen Anruf von Minnie erhielt. Finleys Tante setzte sie über Randalls Tod in Kenntnis. Maggie sank weinend auf das Bett, nachdem sie aufgelegt hatten, und dachte an das letzte Gespräch mit ihm. Dieser Mann war ein außergewöhnlicher Mensch gewesen, dessen Tod sie tief traf. Dabei hatte sie ihn kaum gekannt, trotzdem fühlte es sich anders an. Und wie schlimm musste sein Tod für Annie sein. Es wäre schön gewesen, sie zu kennen. Ob sie ihr schreiben sollte?

Maggie blickte aus dem Fenster und hatte plötzlich St. Agnes vor ihrem geistigen Auge. Die Bank vor Randalls Geschäft. Alecs und Harrys Grab. Die Klippen, den rauschenden Ozean und Kraniche, die ihre Kreise am Himmel zogen …

♥♥♥

Dublins Brücken spiegelten sich in der ruhig dahinfließenden Liffey, die auch die gepflegten Häuserreihen auf ihrer Oberfläche tanzen ließ. Besonders im Merrion Square fanden sich viele entzückende Gebäude im Georgianischen Stil mit ihren weiß verputzten Ornamenten und den Backsteinen. Über teils feudale Eingangsportale spannten sich Ziergiebel und viele verfügten über romantische Freitreppen.

Gedankenvoll schlenderte Maggie an der Nationalgalerie vorbei, stand ehrfürchtig vor der Börse Irish Stock Exchange und fuhr mit der Stadtbahn in die Nähe von Temple Bar. Das kulturelle Viertel am Südufer der Liffey platzte beinahe aus allen Nähten, denn die ganze Welt schien an diesem Wochenende dasselbe Ziel zu haben, oder es ging allen ähnlich wie ihr: Sie mussten sich beschäftigen, um auf andere Gedanken zu kommen. Wobei Dublin durchaus sehenswert war.

Am besten gefielen Maggie die engen Gassen mit den Kopfsteinpflastern, die den Straßenzügen ein mittelalterliches Flair einhauchten. Hochmodern wirkte dagegen der Spire, eine über hundertzwanzig Meter lange Edelstahl-Säule, die nach oben hin schmaler wurde und von vielen scherzhalber als der größte Zahnstocher der Welt bezeichnet wurde.

In der Nähe einiger Kaufhäuser spielten Musiker irische Folkmusik, als Maggie in den Doppeldeckerbus stieg, den sie auch am Sonntag als Verkehrsmittel nutzte. Bis zum Abend hatte sie die legendäre Half Penny Bridge gesehen, das imposante Dublin Castle in der Altstadt, das klassizistische Costume House in den Dublin Docklands, die Molly Malone Statue und das Famine Monument. Berührende Bronzestatuen, die verhärmt und ausgemergelt an Irlands große Hungersnot erinnern sollten.

Nach all den Eindrücken wollte Maggie das erlebnisreiche Wochenende mit einem Spaziergang am Hafen ausklingen lassen. Hier herrschte wohltuende Ruhe, obwohl sie einen ähnlichen Trubel wie in den Straßen erwartet hatte. Aber sie stand beinahe alleine am Quay und schlenderte an der Uferpromenade entlang. Begleitet vom Meer, das mit dem blassrosa Horizont verschmolz. Der Geruch der salzigen See umfing sie wie eine zärtliche Umarmung aus der Heimat. Kein Haus, nichts versperrte die Sicht auf diese unendliche Weite, die ihr Herz erfüllte. Die es durchatmen ließ und an den Ketten rüttelte, die ihre Brust umschlossen. Aber noch war Maggie nicht bereit, sich von der Vergangenheit zu lösen. Ihr Gesicht dem Neuen zuzuwenden. Die Zukunft machte ihr mehr Angst, als das Altvertraute. Trotz der Qualen. Dennoch, sie musste eine Entscheidung treffen.

Kurzerhand setzte sich Maggie auf die Steinmauer und zwang sich, an die Citizen-Bank zu denken. An Grace und ihre Warnung. Nach wie vor fühlte sie sich hin und her gerissen. Im Grunde hatte diese Iris vielleicht das richtige Gespür gehabt, indem sie ihr unmissverständlich zu verstehen gab, nicht in diese Welt zu passen. In eine Welt, die düster vor Maggie lag, und als teile die Natur ihre Gedanken, verdunkelte sich auch der Horizont allmählich. Mit ihm der Ozean, als wäre schwarze Tinte ausgelaufen. Sehnsüchtig schaute Maggie in den Himmel. Einige Sterne funkelten bereits und unaufhaltsam verwandelte sich die Stadt in ein Lichtermeer, das die See glitzern ließ wie schillernden Tüllstoff.

Ob der Spiegel von Lyonesse bis hierher leuchten konnte? Nein, den Sagen und Legenden war sie entwachsen, diese Schuhe passten ihr nicht mehr. Es gab keine Wunder. Nur die harte Realität und bittere Gründe, welche sie aus Redruth fortgetrieben hatten. Unter anderem Hanks Vorwürfe. Er und Polly waren sicher froh, dass sie Cornwall den Rücken kehrte. Auch wenn sie die Heimat mit jeder Stunde mehr vermisste.

Wäre alles anders gekommen, wenn sie Alec nicht gekannt hätte?

Maggie erschrak über diesen Gedanken, der plötzlich in ihr war. Doch niemand hörte ihn, um sie zu verurteilen, und da diese Tür geöffnet war, ließ sie sich nicht mehr schließen. Darum fragte sie sich im nächsten Moment, ob sie sich unter diesen Voraussetzungen auf Finley eingelassen hätte. Ihr Blick schweifte zu den Lichtern ab, mit denen die Strömung spielte. „Ja, das hätte ich“, wisperte sie und träumte sich zum Cottage zurück. In Finleys Arme, und plötzlich wusste sie, was sie tun wollte. Was stärker wog, als alles andere. Schon einmal hatte sie eine große Liebe verloren, das sollte ihr kein weiteres Mal passieren. Alec würde es verstehen. Nein, das hatte er längst getan. Darum durfte sie nicht den Fehler begehen und sich selbst um dieses Glück bringen. Ein Glück, dem sie aufgrund ihres Kummers, den vielen Anfeindungen und Intrigen nicht getraut hatte. Insbesondere hatte die Angst überwogen, erneut alleine zurückzubleiben.

Doch in diesen Minuten vor dem Cottage hatte Finley ihr sein Herz zu Füßen gelegt. Aufrichtigkeit hatte in seinen Augen gestanden. Sogar Verzweiflung. Mit derselben war er schließlich gegangen. Weil sie verlernt hatte, anderen zu vertrauen. Mitunter hilft uns nur die Betrachtung aus großer Distanz, um wieder klar sehen zu können und Ängste zu überwinden.

„Danke, Randall“, sagte Maggie in die Stille hinein und atmete tief durch. Mit dem Gefühl, als wären die Ketten endlich gerissen, und erfüllt von der Erkenntnis, dass sie keine Chance in der Citizen-Bank wollte, sondern eine von Finley. Weil sie wusste, dass sie es irgendwann zutiefst bereuen würde.

Aufgeregt holte Maggie das Handy aus der Innentasche ihrer Jeansjacke und schaltete es ein. Es dauerte, bis sich dank der mobilen Daten die Google-Maske geöffnet hatte. Ungeduldig tippte sie Finleys Namen sowie den Zusatz Berlin ein. Da! Ehe sie es sich anders überlegen konnte, aktivierte sie die Festnetznummer. Ein Handy war nicht eingetragen.

Als es läutete, klopfte Maggies Herz wie verrückt. Bis sie eine dunkle Frauenstimme vernahm, wohingegen ihre eigene versagte. Wer war die Unbekannte?

Hallo? Wer ist denn da?“, wiederholte die Frau, diesmal auf Englisch.

Maggie brachte weiterhin kein Wort heraus. Andererseits war nicht gesagt, dass es sich tatsächlich um Finleys Anschluss handelte, obwohl sie Zweifel hegte, dass es mehrere Finley McGarrets in Berlin gab. Dennoch nahm sie all ihren Mut zusammen. „Entschuldigung, ich bin auf der Suche nach Doktor Finley McGarret.“

Wie bitte?“ Auf einmal kicherte die Frau. „Jetzt lass das doch, Fin, dafür haben wir später genug Zeit.“ Kurz war es still. Dann hörte man ein Geräusch, das nach einem Kuss klang. Längst schlug Maggies Herz nicht mehr fiebrig, sondern dumpf gegen die Brust. „Hör auf, Liebling. Ich kann die Frau kaum verstehen. Also, Miss, was haben Sie gefragt?“

Das Handy fühlte sich wie glühendes Eisen an. „Nichts, ich habe mich vermutlich verwählt.“

Die Frau am Ende der Leitung machte einen tiefen Atemzug, als müsse sie sich zur Ruhe zwingen. Scheinbar ging es ihnen ähnlich. „Ich glaube, Sie wissen genau, dass Sie richtig sind“, wurde die Unbekannte plötzlich feindselig, „Fin und ich sind bereits vor seiner Reise nach Cornwall ein Paar gewesen. Aber ich weiß, dass etwas zwischen ihnen war. Für ihn ist das bedeutungslos, somit auch für mich. Also lassen Sie ihn gefälligst in Ruhe, Sie hatten Ihre Chance, Miss. Jetzt ist er mit mir verlobt und wir werden im Sommer heiraten. Darum wagen Sie es nie wieder, bei uns anzu…“

Maggie unterbrach die Verbindung und starrte tränenblind auf das erleuchtete Display, bis es ausging. Er war verlobt und wollte sogar heiraten! Dabei lag ihre letzte Begegnung nicht einmal einen Monat zurück. Zumal er da bereits mit dieser Frau zusammen gewesen war.

Sie hatten Ihre Chance. Welche denn? Im Grunde hatte es nie eine gegeben, weil sich seine Worte als schreckliche Lüge herausstellten. Von wegen, er hätte sich nie zuvor geöffnet oder einer Frau seine Liebe gestanden. Jedes Wort, jedes verdammte Wort war gelogen gewesen!

Oh ja, Finley McGarret war scheinbar ein Meister darin, anderen etwas vorzugaukeln und beherrschte das Lügen bis in den letzten Wesenszug. Beinahe wäre sie darauf hereingefallen. Wie naiv konnte man eigentlich sein? Sie hatte doch von Anfang an gewusst, welche Sorte Mann dieser Mistkerl war. Dazu brauchte sie sich bloß sein Gespräch mit Dex vor Augen führen, das die beiden damals vor dem Dessous-Laden geführt hatten. Einer wie Finley wusste immer, wie er an sein Ziel kam. Gottlob handelte sie dennoch instinktiv richtig, indem sie ihn beim Cottage abblitzen lassen hatte.

Entschlossen sprang Maggie von der Mauer und wischte sich die Zornestränen aus dem Gesicht. Morgen war ihr erster Arbeitstag. Ab jetzt würde sie nur noch für ihre Karriere leben. Grace hatte recht. Gefühle taten nur weh. Darum durfte sie nie wieder welche zulassen, und wenn jemand andere verletzte, würde sie das ab jetzt tun! Sie hatte keine Lust mehr, ein Opfer zu sein, das vom Leben oder von Menschen wie Finley gebrandmarkt wurde.

Maggie

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