Читать книгу Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes - Bettina Reiter - Страница 4
1. Kapitel
ОглавлениеMitte April 2016, 19 Jahre später
„Willst du dich ins Grab trinken, Dad? Dann mach nur so weiter!“ Annie stand zitternd vor ihrem Vater, der mit unbeteiligtem Blick in seinem Fernsehstuhl saß. Vor ihm auf dem Glastisch standen leere Bierflaschen und eine halbvolle Schnapsflasche. Zornig zog Annie ihre Jeansjacke mit den bunten Buttons am Revers aus, warf sie auf den ovalen Esstisch nahe der Küchentür und stellte sich demonstrativ vor ihn hin.
„Geh mir aus dem Bild“, lallte er und machte eine Bewegung, als würde er eine lästige Fliege verscheuchen wollen. „Und verschone mich mit deinen Vorwürfen.“
„Ist das der Dank dafür, dass ich deinetwegen meine Zukunftspläne aufgegeben habe?“, erboste sich Annie und machte keine Anstalten, seiner Aufforderung nachzukommen. „Hast du eigentlich irgendeine Ahnung, wie sehr ich darunter leide? Seitdem ich ein kleines Mädchen war, habe ich davon geträumt, Großvaters Geschäft weiterzuführen. Jetzt stehe ich vor dem Nichts und muss zusehen, wie ich unseren Lebensunterhalt bestreite.“
„Keiner hat gesagt, dass du das tun musst.“
„Ach ja? Wer von uns beiden hat denn horrende Schulden gemacht?“
„Du kannst jederzeit gehen, wenn es dir nicht passt.“
„Sicher“, erwiderte Annie höhnisch, „und kaum bin ich fort, rufst du mich wieder an und drohst damit, dich umzubringen.“
„Meine Art von Humor solltest du inzwischen kennen.“
„Das ist nicht witzig, Dad!“ Sein Anblick war kaum zu ertragen. Abgemagert saß er vor ihr und wirkte dem Tod näher als dem Leben. Die grauen Haare waren fettig und hatten schon lange keinen Friseur mehr gesehen. Ein ungepflegter Bart wucherte am Kinn und an den Wangen, die braunen Augen lagen in tiefen Höhlen, die Tränensäcke quollen hervor und tiefe Falten hatten sich in sein Gesicht gegraben. Noch dazu stank er meilenweit gegen den Wind nach billigem Schnaps. Als wäre seine Alkoholsucht nicht genug, rauchte er wie ein Schlot. Auch jetzt hätte man die Luft im Wohnzimmer schneiden können und wie üblich schwammen aufgeweichte Stumpen in der halbvollen Kaffeetasse vor sich hin. „Reiß dich endlich zusammen, Dad!“, herrschte Annie ihn an, weil sie dieses Dahinvegetieren nicht mehr aushielt. „Ich hätte auch jeden erdenklichen Grund zu trinken, aber mache ich es? Nein! Weil Alkohol nicht die Lösung ist, sondern ein weiteres Problem. Eins, das alles nur verschlimmert.“
„Die Menschen sind verschieden.“ Er neigte sich etwas zur Seite. „Außerdem ist dieses Scheißleben im Suff leichter zu ertragen. Und jetzt lass mich gefälligst in Ruhe. Ich will den Film schauen.“
Annie wandte sich zum Fernseher um und blickte auf die heile Welt, die über den Bildschirm flimmerte. Rosamunde Pilcher. Früher hatte der Vater nie verstanden, warum Annies Mutter so für diese Romanzen schwärmte. Seitdem sie nicht mehr da war, schien er anders zu denken und versäumte keinen einzigen Film.
„So kann es nicht weitergehen, Dad“, sagte Annie leise, als sie ihn wieder in Augenschein nahm. Wie üblich reagierte er nicht und sie war es leid, ihm ständig ins Gewissen reden zu müssen. Deshalb verzog sie sich in die Küche und bereitete das Abendessen vor. Spiegelei mit Spinat. Ein dürftiges Essen, doch leider mussten sie jeden Cent umdrehen. Zwar hatte sie zwei Putzjobs, aber der Verdienst war lediglich ein müdes Lächeln wert, weil kaum etwas übrigblieb. Immerhin musste sie die Wettschulden des Vaters abstottern, der zu allem Überfluss das Wenige versoff, das sie mühsam verdiente. Nicht, dass er Zugang zum Konto gehabt hätte oder hier in St. Agnes irgendwo etwas zu trinken bekam, trotzdem schaffte er es immer wieder, den Karren noch tiefer in den Dreck zu ziehen, denn wetten konnte man auch übers Internet. Deswegen versteckte sie das Modem neuerdings jeden Tag, sodass ihm der Zugang fehlte. Das Handy lag ohnehin seit Langem mit leerem Akku in einer Schublade, wobei es sogar aufgeladen keine Gefahr bedeutet hätte. Es handelte sich um ein prähistorisches Modell, das ausschließlich zum Telefonieren gebaut wurde. Wo er sich den Alkohol besorgte, blieb ihr jedoch ein Rätsel. Wenigstens war in letzter Zeit nichts mehr zu ihrem Schuldenberg hinzugekommen.
Missmutig schob Annie mit der Hüfte die Schublade zu und zerstampfte den Spinat im kleinen Topf, damit er schneller auftaute. Dann legte sie den Kochlöffel neben den Herd, holte das Haargummi aus ihrer Jeans und verknotete damit ihr langes Haar im Nacken. Ob sie nachher joggen gehen sollte? Obwohl ihr nach dem anstrengenden Arbeitstag die Lust dazu fehlte, musste sie sich auspowern, sonst würde sie allmählich verrückt werden. Davon abgesehen täte ihr etwas Sport gut, weil sie sich Kummerspeck zugelegt hatte. Leider war ihr innerer Schweinehund noch nie so stur gewesen. Ohnehin hatte sie kaum Zeit für irgendwelche Hobbys. Dabei hatte sie früher so gern fotografiert oder gelesen und zählte zu den Stammgästen in der örtlichen Bücherei. Mrs. Wilde würde im Dreieck springen vor Freude, dass sie freiwillig ein Buch in die Hand nahm. Tja, sobald man etwas nicht mehr tun musste, machte es eben Spaß.
„Es tut mir leid, Annie“, ertönte plötzlich die heisere Stimme des Vaters hinter ihr. „Aber du hast keine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn man alles verloren hat.“
„Oh doch, Dad, das kann ich bestens nachempfinden.“ Annies Groll wuchs wieder.
„Ach ja?“, begehrte er auf, „hat dich auch die Liebe deines Lebens verlassen?“ Ihr Vater hatte wohl Roger Sanders vergessen! „Deine Mutter war alles für mich. Nichts wollte ich mehr als mit ihr alt werden. In guten wie in schlechten Zeiten. Aber sie musste sich ja unbedingt als Malerin selbst verwirklichen.“
„Du hast ihre Kunst nie ernst genommen. Dabei ist Mom wirklich talentiert.“ Derzeit stellte sie in einer renommierten Galerie in New York aus. Das wusste Annie von ihrem Onkel Jeremy, der regelmäßig Kontakt zu ihrer Mutter hatte. Sie hingegen war froh, wenn sie nichts von ihr hörte, da sie sich im Stich gelassen fühlte. Deswegen nahm sie selten einen Anruf an, wenn sich ihre Mom meldete. Tat sie es doch, verliefen die Gespräche ziemlich einsilbig. Annie hatte ihr wenig zu sagen, denn die Mutter lebte ihren Traum, sie hingegen war in der Hölle gelandet. Mit diesen Vorwürfen endeten die Telefonate meistens, was sie mitunter traurig machte, da sie ihre Mutter andererseits vermisste. Aber sie als Schuldige zu sehen war im Augenblick einfach stärker.
„Ja, ja, hilf du nur zu Mary. Wie alle hier im Ort.“
„Bloß, weil ich ihr Talent sehe, heißt das noch lange nicht, dass ich mich auf Moms Seite stelle.“ Annie schob Pfanne nebst Topf von den heißen Herdplatten und schaltete sie aus, bevor sie sich umdrehte. Der Vater lehnte am abgewetterten Türrahmen und hatte sichtlich Mühe, das Gleichgewicht zu halten. „Auch im Ort stellt sich keiner auf Mutters Seite. Das bildest du dir ein“, sagte sie betont sanft. In diesem Zustand konnte man ohnehin kaum vernünftig mit ihm reden.
„Das bildest du dir ein“, äffte er Annie nach und lachte spöttisch auf. „Denselben Wortlaut hast du vor zwei Jahren benutzt.“
„Weil ich nicht einmal im Traum daran gedacht hätte …“ Annie hob hilflos die Arme und erinnerte sich daran zurück, als ihr Vater völlig aufgebracht von dem Gerücht erzählte, dass ihre Mom eine Affäre hätte. Mit Kurt, einem Aktmodell! Ausgerechnet sie, die völlig in ihrem Dasein als Mutter und Hausfrau aufgegangen war. Doch das war ein Trugschluss gewesen. In Wahrheit musste sie schon lange mit ihrem Leben gehadert haben. Wie sonst ließ sich diese Hals-über-Kopf-Liebe erklären? Kaum aufgeflogen, hatte ihre Mutter die Scheidung eingereicht und war mit ihrem halb so alten Lover nach Amerika geflogen, um dort ein neues Leben zu beginnen. „Mom hat sich die Entscheidung sicher nicht leicht gemacht“, versuchte Annie eine Erklärung, die selbst in ihren Ohren nach lapidarem Trost klang. Aber wenn es half, damit sich der Vater besser fühlte …
„Von wegen! Innerhalb von einer halben Stunde hat sie unser ganzes Leben auf den Kopf gestellt“, wurde er lauter. „Kurt, der dreißigjährige Muskelprotz. Kurt, der Frauenversteher und Kurt, der Kunstkenner. Noch dazu ist der Typ lediglich ein Jahr älter als du! Hätte ich ihr doch niemals den Gutschein für diesen Malkurs geschenkt. Dann wäre sie noch hier und unser Leben würde in geordneten Bahnen verlaufen.“
Annie seufzte. Ihre Mutter war damals regelrecht aufgeblüht, nachdem der Malkurs in der Nachbargemeinde begonnen hatte. Fälschlicherweise war sie der Meinung gewesen, dass ihr plötzlicher Enthusiasmus daher rühren würde, dass sich ihre Mom endlich vom Vater ernst genommen fühlte. Bis dahin hatte er ihre kleinen Ausstellungen im Ort oder in der Umgebung eher amüsiert zur Kenntnis genommen und ihre Kunst als lächerliches Hobby abgetan. „Mutter war schlichtweg unglücklich. Wir haben es bloß beide nicht gemerkt.“ Zum ersten Mal rief sich Annie bewusst vor Augen, dass nicht nur die Mutter Fehler gemacht hatte und dachte an ihre Kindheit zurück. An die vielen Situationen, in denen sie traurig wirkte, weil der Vater ihr keine Beachtung schenkte. In derselben Sekunde schob sie die Erinnerungen jedoch weit von sich. Fehlte noch, dass sie Mitleid mit ihr bekam oder Verständnis entwickelte. Immerhin ging es ihrer Mom im Gegensatz zu ihnen blendend.
„Deine Mutter war glücklich!“, beharrte der Vater. „Bis dieser schleimige Adonis kam und ihr schöne Augen machte.“
Annie lehnte sich an die Arbeitsfläche und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ihr seid nicht die Einzigen, die sich scheiden lassen, Dad.“
„Siehst du, und das ist mein nächstes Problem. Wozu die Eile? Soll sie sich meinetwegen austoben, so lange sie zu mir zurückkommt. Aber was, wenn sie diesen Kurt heiraten will?“ Er klang so verletzt, dass Annies Herz überfloss vor Mitleid. „Entschuldige, schon wieder belaste ich dich mit meinem Kram.“ Er wischte sich mit dem Handrücken über die hohe Stirn. „Du mühst dich ab und ich bemitleide mich selbst.“
„Schon gut, Dad.“
„Nein, nichts ist gut! Meine Tochter geht putzen, statt dass sie das Geschäft ihres Großvaters weiterführt.“ Er musterte sie. „Und wenn ich dir in die Augen sehe, Annie, erkenne ich dieselbe Traurigkeit wie bei deiner Mutter.“ Als könnte er ihrem Blick nicht länger standhalten, fixierte er seine Hauspantoffeln, die einige Brandflecke aufwiesen. „Es ist nicht einfach, eigene Fehler zuzugeben und in meinem Fall reden wir von vielen. Mein größter war, dass ich zu wenig auf deine Mutter eingegangen bin. Aber jetzt ist es zu spät. Andererseits kann sie froh sein, dass sie mich los ist. Ich bringe allen nur Unglück.“
Sämtliche Alarmglocken schrillten in Annie und nackte Angst erfasste sie. „Dad, du drohst jetzt nicht wieder damit, dass du dich …“
„Keine Sorge“, unterbrach er sie, „wenn ich mich erhängen will, sage ich dir vorher nicht mehr Bescheid.“
„Wie beruhigend.“ Annie schüttelte den Kopf.
„Du solltest endlich dein eigenes Leben führen“, sagte er plötzlich leise.
„Das mache ich doch.“
„Nichts tust du, Annie. Glaubst du, ich weiß nicht, welche Opfer du bringst? Ich könnte mich ohrfeigen, dass ich dir das antue. Aber ich kann nicht aus meiner Haut.“
Natürlich hätte sie gehen können, doch was dann? Sie war die Einzige, die ihm Halt geben konnte und fühlte sich für ihn verantwortlich.
„Jede Nacht wünsche ich mir, dass ich das Rad der Zeit zurückdrehen könnte“, gab der Vater zu. Diese Offenheit war neu für Annie. Damit schuf er eine Nähe, die sie lange nicht mehr hatten. „Jede verdammte Nacht, wenn ich allein in unserem Bett liege und auf die leere Seite starre.“ Er hatte Tränen in den Augen. „Mary hat mich oft zur Weißglut gebracht mit ihrem Schnarchen. Diesem ständigen Aufstehen mitten in der Nacht oder ihrer Schlaflosigkeit. Aber genau das vermisse ich am meisten.“
Annie trat zu ihm und legte ihm die Hand auf die knöchrige Schulter. „Du musst sie endlich loslassen, Dad, bevor es zu spät ist. Ich will dich nicht verlieren.“
„Keine Angst, das wirst du nicht“, versprach er und lächelte zaghaft.
„Doch, Dad.“ Sein leidvolles Gesicht verschwamm vor ihren Augen. „Jeden Tag verliere ich dich ein bisschen mehr. Darum bitte ich dich inständig, einen Entzug zu machen.“ Es war ausgesprochen, bevor Annie darüber nachdenken konnte. Im Nu verfinsterte sich seine Miene. Gleichzeitig schob er ihre Hand weg. Sie hätte es besser wissen müssen. Bei diesem Thema machte er stets dicht.
„Ich bin kein kleiner Junge mehr, sondern dein Vater. Davon abgesehen habe ich mein Trinkverhalten im Griff und könnte jederzeit damit aufhören. Ich will aber nicht. Jedenfalls nicht heute.“ Er machte kehrt und wankte ins Wohnzimmer zurück. Annie blickte ihm nach und gratulierte sich innerlich für ihre Feinfühligkeit. Da waren sie sich endlich seit Langem wieder nahe und sie tat nichts Besseres, als alles zu vermasseln!
♥
Jack hatte das Gefühl, auf dem Mars gelandet zu sein. Zumindest erinnerte ihn die Eintönigkeit dieses Landstrichs stark daran. Fehlten lediglich einige Krater, dann wäre es perfekt.
„Und? Wird das heute noch etwas, Michael?“, fragte er seinen Assistenten, der bei der offenen Motorhaube der Luxuslimousine stand, aus der bis vor kurzem Rauch gestiegen war.
„Sehe ich aus wie ein Mechaniker?“, kam es unmutig zurück. Michael hatte die Ärmel seines edlen Designerhemdes zurückgerollt. Grob wischte er sich über die Stirn und hinterließ Motorschmiere darauf – oder was immer das war. Jack hatte keine Ahnung. Für solche Dinge gab es reihenweise Laufburschen in ihrer Firma.
„Das ist nicht das, was ich hören wollte“, schimpfte Jack mit Blick auf seine zwölfjährige Tochter Leni, die lässig an der Limousine lehnte und auf das Handy starrte. Dabei sausten ihre Daumen so schnell über die Tasten, dass er kaum folgen konnte. „Mach endlich das Ding aus“, fuhr er seine Tochter an.
„Null Bock“, erwiderte sie ohne hochzublicken.
„Könntest du bitte in ganzen Sätzen mit mir sprechen?“ Wie er das hasste. Ihre Generation kürzte alles ab. Außerdem trafen sich die jungen Leute nur noch virtuell im Netz. Sport hieß für sie Surfen – und zwar im Internet – und Gefühle wurden über Emojis ausgedrückt.
„Scheiße, die Internetverbindung ist unterbrochen“, entfuhr es Leni, die kurz hochblickte. Vermutlich auf der Suche nach einem Sendemast.
„Wie wäre es, wenn du mir zur Abwechslung so viel Aufmerksamkeit schenken würdest wie deinem Handy?“ Jack fuhr sich unwirsch durch das Haar.
„Wozu?“ War das ihr Ernst? „Ich wollte ohnehin nicht mit nach England.“ Seine Tochter zog einen Schmollmund. „Wann gibt es eigentlich etwas zu essen?“
Jack war durch und durch ein hartgesottener Geschäftsmann. Allerdings musste er zugeben, dass ein Zwanzig-Stunden-Tag nicht halb so anstrengend war wie seine pubertierende Tochter. „Sieht es für dich irgendwie danach aus, als ob es ein Restaurant in der Nähe geben würde?“ Jack machte eine ausladende Handbewegung.
„Hinter dir ist doch ein Hotel, oder?“
Er wandte sich kurz um. „Diese Baracke nennst du Hotel?“ Das desolate vierstöckige Haus wirkte wie ein Überbleibsel aus irgendeinem Krieg. Lose Kabel hingen aus der Mauer, wo vermutlich irgendwann Freilampen angebracht gewesen waren. Über dem abgewetterten Eingang hing ein windschiefes Schild mit der Aufschrift: Last Inn. Letzte Einkehr, letztes Gasthaus – das glaubte Jack unbenommen, da es außer diesem Haus weit und breit nichts gab als kornische Natur, wohin das Auge reichte. „In einer Stunde sind wir im Fünf-Sterne-Hotel. Deshalb ist dieses vorsintflutliche Etwas keine Option für uns, Leni.“
„Ach Dad, mir knurrt der Magen und ich bin müde.“
„Ich glaube sowieso nicht, dass wir mit der Limousine heute noch irgendwohin kommen“, ließ Michael verlauten. Sie waren beide vierzig und hatten gemeinsam studiert. Ein schlauer Bursche mit dem Handicap, dass er klang, als wäre er von Geburt an mit Zigarren gefüttert und mit Whiskey ruhiggestellt worden. Dabei mochte Michael weder das eine noch das andere, sondern war bei einer Mandeloperation in jungen Jahren an den Stimmbändern verletzt worden. „Wir sitzen hier fest, da ist nichts mehr zu machen, denn um unser Problem zu lösen, fehlt mir das nötige Know-how.“
„Dann müssen wir eine Werkstatt anrufen.“ Jack nahm seine spiegelverglaste Brille ab und schob sie in die Innentasche seiner dunkelblauen Anzugjacke.
Michael blickte auf seine goldene Armbanduhr. „Das kannst du vergessen. Es ist schon fast sieben. Die sind bestimmt alle im Feierabend.“ Auch er ließ den Blick kurz durch die Gegend schweifen. „Es ist ohnehin fraglich, ob es in der Nähe eine Werkstatt gibt. Deshalb sollten wir im Hotel einchecken.“
„Das ist nicht dein Ernst“, regte sich Jack auf. „Außerdem bezahle ich dich dafür, dass du Lösungen findest und nicht beim ersten Widerstand einknickst.“
„Wir können gerne zu Fuß gehen, eine Bushaltestelle suchen oder uns ein Taxi rufen. Aber ich bin ehrlich gesagt ebenfalls zu müde, um hier dumm rumzustehen.“ Michael rollte die Ärmel hinunter. Er genoss eine gewisse Narrenfreiheit, da er auch Jacks bester Freund war. „Der Flug hat mich ziemlich geschlaucht. Also lass uns hierbleiben und das Beste daraus machen. Hauptsache, wir haben ein Dach über dem Kopf.“
„Mich kriegen auch keine zehn Pferde mehr von hier weg“, mischte sich zu allem Überfluss Leni ein, die ihrer Mutter mit den langen brünetten Zöpfen, der Stupsnase und ihrer Vorliebe für grelle Farben sehr ähnlich war. Sogar das kleine Muttermal über dem rechten Auge hatte sie mit Carol gemeinsam und nur wenige Zentimeter, dann würde Leni dieselbe Körpergröße haben. Innerhalb eines Jahres war seine Tochter extrem in die Höhe geschossen. „Außerdem hängt mein Magen schon durch.“
„Könntest du dich etwas gewählter ausdrücken?“, rügte Jack sie.
„DN.“ Sie rollte mit den Augen.
„Darf man fragen, was das heißen soll?“ Jack bemerkte, dass Michael grinste. „Gut, wenn es mir meine Tochter nicht sagen möchte, erkläre du es mir.“
„Du nervst.“
„Dir ist schon klar, dass du mit deinem Chef sprichst?“
„Wieso? Du wolltest, dass ich es übersetze.“ Michael warf die Motorhaube zu.
„Super, Michael“, erboste sich Leni, „musst du alles verraten?“
Michael grinste. „Dafür werde ich bezahlt. Was ist jetzt, Jack? Glaubst du, dass du eine Nacht in dem Hotel überstehen kannst?“
Sein Freund wusste, dass Jack viel von Ordnung und Sauberkeit hielt. Er war eben ein ästhetischer Mensch mit gewissen Prinzipien. Egal, in welcher Beziehung. „Meinetwegen“, stimmte er zu, da sie in der Tat auf die Schnelle keine andere Wahl hatten. Aber kaum im Last Inn, bereute Jack seine Entscheidung sofort. In der Lobby standen ausrangierte Armsessel herum, die sicher vom Flohmarkt stammten. Vor der Rezeption verstaubte ein Servierwagen mit dreckigem Geschirr. Wenigstens war die junge Dame freundlich, die ihnen drei Einzelzimmer zuwies, der sie nach oben folgten.
Im übrigen Hotel sah es leider nicht viel besser aus. In den langen Gängen mit dem Teppich in verschiedenen Rottönen – der früher vermutlich eine Steppdecke gewesen war – funktionierte nur jede dritte Lampe. Der Lift war außer Betrieb und allerorts standen verdorrte Blumen. Nachdem Leni und Michael in ihre Zimmer verschwunden waren, betrat Jack seins, das direkt neben dem seiner Tochter lag. Obwohl er auf alles gefasst war, traf ihn beinahe der Schlag. Der Raum war so klein, dass sich Jack kaum um die eigene Achse drehen konnte. Die ockerfarbenen Vorhänge waren eine Qual für seine sensiblen Augen, die rosafarbene Bettwäsche eine Zumutung für jeden Mann. Von den vielen Flecken ganz abgesehen, die sich auch im blauen Sofa in Miniaturgröße und dem aschgrauen Teppich zeigten.
Leider ging der Wahnsinn weiter, denn das winzige Bad hätte ohne weiteres als Dixi-Klo durchgehen können. Die weißen Standardfliesen waren ein Mekka für Schimmel und überall lagen Haare. Die Klospülung war ein Witz, denn die paar Tropfen beförderten höchstens eine tote Mücke in den Abfluss. Eine Klobürste gab es nicht, genauso wenig wie einen Duschvorhang. Das Waschbecken brach beinahe aus der Verankerung und der Spiegel war voller Schlieren.
Plötzlich hatte Jack das Gefühl zu ersticken, riss die Balkontür auf und trat hinaus. Mit skeptischem Blick auf den knarrenden Holzboden und in Gedanken bei seiner Arbeit, die unter keinem guten Stern begann. Dabei hatte er alles minuziös geplant und müsste sein erstes Geschäft bereits unter Dach und Fach haben. Hoffentlich sprang Hermes Winter nicht ab, dessen Villa er kaufen wollte, um sie anschließend abreißen zu lassen. Das Grundstück war ein optimaler Standort für ein Luxushotel. Danach waren Büro- und teure Wohnkomplexe an der Reihe, je höher desto besser. Dazu würde er in St. Agnes leerstehende Gebäude aufkaufen, wofür sie in Amerika bereits eine Liste erstellt hatten. Darunter auch das kleine Geschäft an der Küstenstraße, in dem ein Casino entstehen sollte. Auf dieses Projekt freute er sich besonders.
Jack spürte ein Kribbeln im Bauch. Wie immer, wenn er vor neuen Herausforderungen stand. Ja, so liefen lukrative Geschäfte ab. Man erwarb günstigen Besitz und stampfte ein Luxusgebäude nach dem anderen aus dem Boden. Ein paar VIPs, die sich den Urlaub teuer bezahlen ließen, einige Events und schon hatte man einen Hot Spot wie London, Cannes oder Kitzbühel. Dadurch schnellten die Grundstückspreise in die Höhe und letztendlich fuhr ihre Firma satte Gewinne ein, sobald sie die Liegenschaften wieder verkauften. Auch in Wales und Yorkshire hatten sie ähnliche Projekte ins Auge gefasst. Aber eins nach dem anderen. Zuerst war St. Agnes dran und es wäre doch gelacht, wenn man aus diesem popligen Dörfchen keine Goldgrube machen könnte!
♥
Annie starrte auf das keltische Grabkreuz und dachte an die zwei Menschen, die hier ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Ihr Grandpa und Sandy. Sie starb an einem Blinddarmdurchbruch – noch in derselben Nacht, als man sie ins Krankenhaus einlieferte. Ihr Grandpa hatte es ihr gesagt. Er war es auch gewesen, der sie fest in seinen Armen hielt, weil sie wild um sich geschlagen hatte. Zu unglaublich war es gewesen, dass ihre Schwester nie wieder kommen würde. Fort war. Für immer. In den Tagen danach hatte sie dennoch im Schuppen auf sie gewartet. Stundenlang, denn dort lehnte ihr Surfbrett. Auch in Sandys Zimmer schlich sie sich oft in der Nacht, zog ihren Lieblingspyjama an und legte sich in ihr Bett. Einmal hatte die Mutter sie dabei erwischt und einen hysterischen Anfall bekommen. Damals wusste Annie nicht, weshalb. Heute war ihr klar, dass es ein Schock für ihre Mom gewesen sein musste. Als wäre Sandy zurückgekehrt.
Es war schwierig gewesen, damit umzugehen. Für sie alle, denn die Mutter schaffte es anfangs nicht, Annie den nötigen Halt zu geben. Ihr Dad war ohnehin nie ein Mann vieler Worte gewesen. Irgendwann kehrte jedoch der Alltag wieder ein und mittlerweile erinnerte sich Annie an die schönen Dinge. An den Spaß, den sie bei den traditionellen Festen gehabt hatten. Ob beim Bolster Festival, dem St. Agnes Victorian Street Fayre oder dem Fest der Heiligen Agnes. Auch jedes einzelne Muschelglas war noch da. So wie in Sandys Kinderzimmer alles unverändert blieb, die immer ein Teil von ihr sein würde. Einer, der Annie gleichzeitig fehlte. Besonders an Tagen wie diesen vermisste sie ihre Schwester schrecklich. Ebenso wie ihren Grandpa, der vor neun Jahren an Krebs starb. Nun hatte Annie sein altes Geschäftshaus alleine geerbt. Leider war es in keinem guten Zustand und ziemlich renovierungsbedürftig. Aber ihr fehlten inzwischen die Mittel, um sich dem anzunehmen, obwohl sie seit Jahren jeden Cent beiseitegelegt und sogar an den Wochenenden gekellnert hatte. Leider war alles den Wettschulden zum Opfer gefallen und als hätte das Pech bei ihr angedockt, verlor sie vor kurzem sogar ihren Job bei einem Juwelier, da dieser Konkurs anmeldete. Weil der Arbeitsmarkt in St. Agnes derzeit nicht viel hergab, hatte sie in ihrer Not zwei Putzjobs angenommen. Nicht gerade ihr Traum, aber sie musste nehmen, was sie kriegen konnte, denn das Geschäft des Großvaters diente als Sicherheit für den Kredit, der sich derzeit auf über zwanzigtausend Pfund belief. Ihr Erspartes war nur ein Tropfen auf dem heißen Stein gewesen. Weit hatte sie es wirklich nicht gebracht und gab ein trauriges Bild ab. Eine neunundzwanzigjähre Schmuckdesignerin, die putzen ging, statt das Lebenswerk des Großvaters weiterzuführen.
Seufzend blickte Annie hoch. Von hier aus konnte sie die Trevaunance Bucht sehen. Auch ihr Elternhaus auf der Anhöhe und das Cottage ihres Grandpas, das mittlerweile andere Eigentümer hatte. Ihre Mom verkaufte es, um sich damit den Start in Amerika zu finanzieren. Jeremy war anfangs ziemlich sauer gewesen, da er sehr an seinem Elternhaus hing. Ihr Onkel konnte jedoch nichts dagegen tun, weil er bereits als junger Student sein Erbe ausbezahlt bekam. Und da er ein Diener Gottes war, hatte er sich mit der Mutter längst ausgesöhnt.
Einige Kinder spielten vor dem ehemaligen Cottage ihres Großvaters, das im Abendrot lag. Wie die wilden Klippen und das Meer. Der übliche Wind herrschte vor und gab Annie das Gefühl, wieder frei atmen zu können. Im Elternhaus hatte sie es nicht mehr ausgehalten, da ihr Vater nach dem Abendessen weitertrank. Als sie ihm das Bier wegnehmen wollte, beschimpfte er sie, weshalb sie die Flucht ergriff. Mit dem alten Damenrad ihrer Mutter war sie losgefahren und fand sich am Friedhof wieder. Ein Ort, an dem sie die Ruhe fand, die sie so dringend brauchte. Nie zuvor hatte sie sich jedoch mehr gewünscht, Sandy oder ihren Grandpa bei sich zu haben. Die Situation wuchs ihr allmählich über den Kopf. Nicht nur finanziell, vor allem die Eskapaden des Vaters setzten ihr zu. Zum ersten Mal sehnte sie sich weit weg von St. Agnes oder danach, auf einem der Schiffe zu sein, die weit draußen wie kleine Punkte im Wasser trieben.
Andererseits lebte sie gern hier an der Nordküste Cornwalls. Die Grafschaft konnte herrisch sein, mild und rau, still und voller Geheimnisse – aber vor allem war Cornwall malerisch. Besonders im Spätsommer. Diese Jahreszeit liebte Annie am meisten. Lebhafte bunte Farben beherrschten die Küste und das Hinterland. Das Meer wurde stürmischer, die Luft klarer. Das Licht schien anders. Der Himmel intensiver, das Meer tiefgründiger. Herrliche Heide- und Stechginsterteppiche färbten die Plateaus gelb-violett. Cornwall und vor allem St. Agnes waren unvergleichlich, trotzdem war sie unglücklich.
Mit Tränen in den Augen bückte sich Annie und ordnete die Tulpen in der Vase, die sie unterwegs vom Blumenladen mitgenommen hatte. Eine Weile starrte sie abwesend auf die blassrosa Blüten, bis sie sich erhob und zum Fahrrad ging, das sie vorhin an die Bank gelehnt hatte. Zwar hatte sie keine Lust nach Hause zu fahren, aber bald würde es dunkel werden und davor graute ihr. So beschaulich St. Agnes war, vor Übergriffen konnte man nirgends sicher sein. Allerdings schrieb Annie ihre Angst eher dem Umstand zu, dass sie sich ständig Medical Detectives im Fernsehen anschaute. Eine Serie über Morde und deren Aufklärung.
Mit Gänsehaut stieg Annie auf das beige Rad, dessen Lenker sie mit einigen Glitzersteinen verziert hatte, und schob es zur Straße hinauf. Nachdem sie aufgestiegen war, radelte sie los. Ein kurzer, steiler Anstieg, der sie heftig keuchen ließ. Wieder nahm sie sich vor, mehr Sport zu treiben. Als die Straße abschüssiger wurde, vergaß sie den Vorsatz sofort und fuhr an den kleinen Läden und Cafés vorbei. Einige Menschen standen auf den Gehsteigen, die ihr zuwinkten. Man kannte sich in diesem kleinen Küstendorf, das an die siebentausendsechshundert Einwohner hatte und an der Hauptstraße zwischen Perranporth und Redruth lag.
„Annie-Schätzchen, so spät noch unterwegs?“ Hermes winkte ihr zu, der gerade aus dem Melodys kam. Das Café war sein Stammlokal.
„Ich bin auf dem Nachhauseweg“, erklärte sie und bremste ab, als sie ihn erreicht hatte. „Und du? Hast du dich mit der Clique getroffen?“
„Erraten.“ Hermes lächelte.
„Und jetzt suchst du deine Rentiere, um heimzukommen, Santa Claus?“, zog sie ihn auf. Im Wissen, dass sich Hermes königlich darüber amüsierte. Mittlerweile war sein Rauschebart gänzlich weiß und er strahlte die Weisheit des Alters aus.
„Irrtum. Ich darf auf Minnies Besen heimfliegen“, konterte er lachend.
Annie schaute zum Fenster des Cafés. „Wenn sie das gehört hat, kannst du dich warm anziehen. Am Ende drückt sie dir ihre gefürchteten Stahlkekse aufs Auge.“
Erneut lachte er auf. „Keine Angst, heute hat die Gute ihre Ohren nicht überall. Minnie unterhält sich gerade mit Rose Grant. Die beiden sind neuerdings so.“ Er hob die Hand, wobei er Zeige- und Mittelfinger überkreuzte.
„Meinst du etwa Hokuspokus-Rose, die aus dem Kaffeesatz liest?“, fragte Annie lächelnd. Unter diesem Spitznamen war die Fünfzigjährige im ganzen Ort bekannt, die vor einem Jahr nach St. Agnes gezogen war. Annie kannte die Frau jedoch nur vom Sehen und allein das Erscheinungsbild genügte, um sich nachhaltig im Gedächtnis einzubrennen. Von ihrem Tick – sie sei eine weiße Hexe mit hellseherischen Fähigkeiten – ganz zu schweigen.
„Genau die. Allerdings ist Rose abgesehen von ihrem Spleen sehr nett und wenn Minnie sie akzeptiert, muss sie in Ordnung sein. Du kennst unsere neugierige Nase ja. Jedes neue Gesicht wird auf Herz und Nieren geprüft.“ Ernster werdend musterte er Annie. „Du siehst allerdings nicht aus, als würde dich das sonderlich interessieren. Gibt es Ärger mit deinem Dad?“ Nicht einmal Hermes hatte noch Kontakt zu ihm. Das galt ebenso für den Rest der Clique. Sie alle wollten ihrem Dad beistehen, der sie jedoch ersatzlos aus seinem Leben gestrichen hatte.
„Das Übliche“, wich Annie aus, denn sie wollte nicht jammern. Ohnehin gab es nichts Neues zu erzählen und ihre Sorgen musste sie nicht ständig vor allen breittreten. Egal, wie sehr auch sie die Clique mochte. Ihr einziger Ansprechpartner war Jeremy, der als Gemeindepfarrer sowieso für seine Schäfchen da sein musste. Noch dazu durfte er nichts ausplaudern. Allerdings war Jeremy weit mehr als ein Mann Gottes. Ihm vertraute sie am meisten. „Und bei dir? Fährst du wieder weg?“ Hermes reiste Ende April gerne irgendwohin, seitdem er Witwer war.
Gerade, als er antworten wollte, läutete sein Handy. Ungelenk holte er es aus der Seitentasche seiner braunen Cordhose. „Hallo?“, meldete er sich und wandte Annie den Rücken zu. „Ja, das ist kein Problem.“ Er horchte kurz zu. „Morgen Nachmittag? Meinetwegen. Aber ich habe noch nicht zugesagt. Ja, ja, jetzt hetzen Sie mich nicht, sonst können Sie es gleich vergessen.“ Erneut war er still. Dabei nickte er ein paar Mal. „Hören Sie, das können wir morgen besprechen. Ich bin gerade auf dem Weg in die Kirche. Bis dann.“ Mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht wandte er sich wieder Annie zu und steckte das Handy ein.
„Alles in Ordnung?“, forschte sie nach. „Soll ich vielleicht morgen nach meiner Arbeit zu dir kommen?“
„Warum? Du hast erst gestern bei mir geputzt.“
„Ich dachte nur. Immerhin bekommst du Besuch.“ Ihre zweite Putzstelle hatte sie bei Hermes, der sie vermutlich eher aus Mitleid eingestellt hatte, als dass er tatsächlich jemanden brauchte. „Ich könnte einen Kuchen backen oder dir anderweitig helfen.“
„Nein“, kam es hastig zurück. „Das schaffe ich schon.“ Plötzlich schien er nervös. „Annie, ich bin sehr zufrieden mit deiner Leistung. Nichts desto trotz hoffe ich, dass du über kurz oder lang eine angemessenere Stelle findest.“
„Willst du mir etwas Bestimmtes damit sagen?“, wurde ihr angst und bange.
„Ich denke nur an deine Zukunft, Kleines. Und jetzt muss ich los. Ein alter Mann wie ich braucht ein wenig Schlaf. Wir sehen uns übermorgen.“
„Natürlich. Ich werde pünktlich bei dir sein.“
Sein Grinsen nahm ihr die Furcht, dass sich etwas über ihrem Kopf zusammenbraute. „Ich weiß. Wie immer auf die letzte Sekunde.“ Hermes zwinkerte ihr zu, dann eilte er zum Parkplatz auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Annie blickte ihm kurz nach, bevor sie wieder emsig in die Pedale trat.
Zuhause angekommen stellte sie das Rad in den Schuppen und schaute auf das Surfbrett, das vor sich hin rottete, bevor sie hinausging und die Tür hinter sich schloss. Als sie zum Eingang eilte, warf sie einen schnellen Blick zur Bucht hinunter. Hinter den Fenstern des Breakers Beach Café brannte Licht, da es mittlerweile dämmrig war. Ob Roger die Frechheit besaß und mit seiner Trish sogar in ihrem Stammlokal verkehrte? Ihr Ex wusste, wie viel ihr dieser Ort bedeutete, der mit unzähligen wunderbaren Erinnerungen gespickt war. Häufig waren sie dort gewesen, obwohl Roger lieber auf seinem Fahrrad saß, als in einem Lokal. Oder er pumpte im Fitness-Studio seine Muskeln auf, die er auf dem Tennisplatz spielen ließ. Wer brauchte ein T-Shirt, wenn man mit nacktem Oberkörper auf dem Platz glänzen konnte? All das und vieles mehr tat er lieber, statt sich mit ihr einen malerischen Sonnenuntergang oder das Sternenzelt bei klarem Nachthimmel anzusehen. Ließ er sich dennoch dazu überreden, zerstörte er nicht selten die Stimmung, indem er die Sache mit dem Karussell aufwärmte.
Nein, romantisch war Roger nie gewesen. Zumindest nicht während ihrer Beziehung. Seitdem Trish und er ein Paar waren, hatte er sich scheinbar geändert und tat mit dieser dummen Pute alles, was er bis dahin verpönte. Das Schlimmste war jedoch, dass Annie nach wie vor an Liebeskummer litt. Immerhin war er der erste Mann gewesen, mit dem sie sich alles hätte vorstellen können. Leider entpuppte er sich als Mistkerl. Monatelang hatte er sie mit Trish betrogen. So einem trauerte man nicht nach, so einen wünschte man höchstens zum Mond. Dennoch tat es weh. Sehr sogar …
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Am nächsten Morgen fühlte sich Annie an einen Film erinnert: Und täglich grüßt das Murmeltier. Zum einen hatte sie sich wegen Roger die halbe Nacht um die Ohren geschlagen, zum anderen suchte sie gerade das Cottage nach Bier und Schnapsflaschen ab. Eine tägliche Routine, da sich ihr Dad immer wieder neue Verstecke einfallen ließ. Ob im Wohnzimmer-Kamin oder in diversen Schubladen, in leeren Aftershave-Flaschen oder hinter der Heizanlage, sie wurde meistens fündig. Auch vorhin hatte sie eine Flasche Schnaps in einem seiner Winterstiefel im Schuhschrank entdeckt. Vielleicht sollte sie sich das Suchen abgewöhnen, denn er würde trotzdem sturzbetrunken sein, wenn sie nach Dienstschluss heimkam.
Helfen konnte sie ihm ohnehin nicht, solange er es nicht zuließ oder von selbst einsah, was er sich damit antat. Ein Arzt hatte ihr sogar knallhart dazu geraten, ihn links liegen zu lassen. Erst wenn niemand mehr die Kastanien für ihn aus dem Feuer holte und er ganz unten angekommen wäre, würde er vielleicht zur Besinnung kommen. Ein nachvollziehbarer Ratschlag, der im Augenblick jedoch keine Option war.
Ein Blick auf die Wohnzimmeruhr zeigte Annie, dass sie sich sputen musste. Schnell eilte sie in die Diele, nahm die braune Korbtasche und den Schlüssel vom Haken, versperrte das Haus und lief zum Auto. Kurz darauf war sie unterwegs und ärgerte sich, dass sie ihre Jeansjacke vergessen hatte, denn die Morgentemperaturen waren ziemlich frisch. Deshalb stellte sie die Heizung bis zum Anschlag und freute sich bereits jetzt auf den Dienstschluss. Obwohl die Arbeit an sich in Ordnung war. Die Kollegen ebenfalls. Bis auf eine, die es mit dem Putzen nicht so genau nahm. Mit ihrem Chef wurde Annie auch nicht warm. Harry hatte einen lauten Kommandoton und ließ jeden deutlich spüren, dass er von ihm bezahlt wurde.
Das Last Inn war ein Drei-Sterne-Hotel und lag etwas außerhalb von St. Agnes. Gott sei Dank funktionierte die alte Rostlaube ihrer Eltern tadellos, was Annie eine gewisse Freiheit schenkte.
„Was soll das denn?“, entfuhr es ihr, als sie den Wagen zu den Parkplätzen hinter dem Hotel lenkte. Irgendein Vollidiot hatte eine weiße Luxuslimousine auf ihrem Platz abgestellt und besetzte sogar den zweiten dahinter. Dabei parkte hier ausschließlich das Personal. Typisch VIP. Die glaubten alle, ihnen würde die Welt gehören!
Verärgert manövrierte Annie ihren roten Alfa Romeo in die winzige Lücke zwischen die Limousine und Harrys Geländewagen, was ihr erst nach einigen Anläufen gelang. Als ihr Auto endlich stand, war sie völlig durchgeschwitzt. Nicht nur, weil sie Einparken hasste, sondern weil sie inzwischen vor Wut kochte wie ein Dampfkessel.
„Na warte“, zischte sie, „wenn mir dieser Heini unterkommt …“ Sie schnappte ihre Korbtasche vom Beifahrersitz und öffnete die Tür. Im selben Moment ertönte ein Knall, der sie zusammenfahren ließ. Entsetzt starrte sie auf die Limousine – die plötzlich näher war als in ihrer Erinnerung – und zwängte sich wie in Zeitlupe aus dem Auto. Die Kratzer und die tiefe Beule an der Limousinen-Tür schienen sie förmlich anzugrinsen. Dabei fragte sich Annie in Sekundenschnelle, wie viel eine Reparatur kosten würde. Die Versicherung hatte sie nämlich aus Geldnot vor kurzem gekündigt …
„Herrgott, kann man in dieser Pampa nicht einmal in Ruhe telefonieren?“, ertönte eine dunkle Stimme, ehe ein Mann auf der anderen Seite ausstieg und im Nu bei ihr war. Mit wichtiger Miene und einem goldenen Handy in der gepflegten Hand besah er sich den Schaden, der zu auffällig war, um ihn nicht auf den ersten Blick zu sehen. Dann richtete sich der Unbekannte zu seiner vollen Größe auf und überragte Annie um einen Kopf.
Zugegeben, ein äußerst attraktiver Mann, dessen markante Gesichtszüge und der Dreitagesbart an den Schauspieler Scott Eastwood erinnerten. Auch das volle schwarze Haar, die muskulöse Figur und die stahlblauen Augen waren nicht von schlechten Eltern. Allerdings hätte nicht einmal der beste Schauspieler Hollywoods ein so bitterböses Gesicht hinbekommen. „Können Sie nicht aufpassen?“, fuhr der Fremde sie an.
„Es tut mir leid“, sagte Annie den Tränen nahe. „Ich habe Ihre Limousine völlig übersehen.“
„Sicher“, kam es von oben herab, „der Wagen ist ja nur knappe fünf Meter lang.“
„Haben Sie das sarkastisch gemeint?“
Er zog die rechte Augenbraue hoch. „Wie kommen Sie denn darauf?“
„Hören Sie, das Ganze ist mir furchtbar peinlich“, blieb Annie freundlich, obwohl es erneut in ihr zu brodeln begann.
„Ist das alles, was Ihnen dazu einfällt?“, pflaumte er sie weiter an. „Das Wort peinlich steht bei mir nämlich ganz unten auf der Liste. Da liegen mir ganz andere Worte auf der Zunge.“
In dieser Hinsicht ging es Annie ähnlich wie ihm, denn dieser Mann war die pure Überheblichkeit in Person. Obendrein schien er sein Aftershave bis zum Abwinken zu benutzen. Der süße Geruch erinnerte sie stark an Roger, was sie ihrem Gegenüber ebenfalls negativ auslegte. Doch sie musste sich zusammenreißen. Es wäre wenig hilfreich, wenn sie sich diesen Mann zum Feind machte. „Vermutlich war ich in Gedanken woanders.“
„Wo denn? Bei Ihrer nächsten Maniküre?“
„Sehe ich so aus, als ob ich mir das leisten könnte?“, wurde Annie ebenfalls patzig und vergaß ihre guten Vorsätze. Alles musste sie sich von diesem Wichtigtuer nicht gefallen lassen. „Oder wirke ich auf Sie, als hätte ich genug Geld, um für den Schaden aufzukommen?“
„Wozu gibt es Versicherungen?“
„Um die Leute auszunehmen. Sehen Sie, die Haftplicht war extrem teuer. Deswegen habe ich sie gekündigt und suche gerade nach einem neuen Versicherungsunternehmen, das für kleine Leute wie mich ein Herz hat.“
„Was?“, brauste er auf und musterte sie wie eine Fata Morgana. „Sie sind nicht versichert?“
„Exakt.“
„Das ist eine Straftat! Sind in dieser Gegend alle so kriminell und naiv wie Sie?“
„Ich habe es nicht nötig, mich von Ihnen beleidigen zu lassen!“
„Das war keine Beleidigung, sondern eine Feststellung.“ Seine Augen funkelten zornig, während er das Handy auf das Limousinen-Dach legte und sich herrisch durch das dichte Haar fuhr, bevor er seine Hände in die Taschen der dunkelblauen Stoffhose schob, die sicher nicht von der Stange kam. Genauso wenig wie das weiße Hemd und die blaue Krawatte mit so vielen Punkten, dass einem regelrecht schwindlig werden konnte.
„Nur zu Ihrer Information: Mein Auto hat auch einiges abgekriegt.“ Annie versuchte möglichst selbstsicher zu klingen, was ihr aber nur bedingt gelang, weil die eventuellen Reparaturkosten wie ein Damoklesschwert über ihr hingen. Abgesehen von diesem Möchtegern-Eastwood, über den sie sich stundenlang hätte aufregen können.
„Das wird ja immer besser! Sonst noch was?“
Annie nickte. „Unter uns gesagt: So wie Sie parkt doch kein Mensch“, ging sie vollends in die Offensive und schmetterte ihre Autotür zu. Dann steckte sie den Schlüssel ins Schloss.
„Nicht einmal Zentralverriegelung hat Ihre Karre“, vernahm Annie ihren Gegner. „Aus welchem Jahrhundert stammt der Wagen denn?“
Sie wandte sich halb um, während sie gleichzeitig am Schlüssel nestelte. Das verdammte Ding klemmte! „Leider aus einem, wofür sich eine Versicherung ohnehin nicht mehr lohnt. Ganz so naiv wie Sie denken bin ich also nicht. Deswegen ist mir klar, dass wir ein fettes Problem haben.“
„Wir?“, platzte er nun vollends. „Sie haben ein fettes Problem und wollen sich bloß drücken. Nebenbei scheinen Sie den Ernst der Lage noch nicht begriffen zu haben. Also wenn ich es nicht eilig hätte, würde ich am liebsten die Polizei rufen. Aber um dem Ganzen ein Ende zu bereiten: Geben Sie mir Ihre Visitenkarte, damit ich weiß, an wen ich die Rechnung schicken muss.“
Annie wurde panisch und zerrte regelrecht am Schlüssel. „Auch Visitenkarten übersteigen mein Budget und ich will gar nicht wissen, wie viel meine Autotür kostet. Die ist völlig hinüber!“ Jetzt hieß es kämpfen, ansonsten konnte sie Privatinsolvenz anmelden.
„Ihr Auto sieht überall so aus“, verschaffte er sich weiter Luft. „Verdammt noch mal, könnten Sie sich gefälligst zu mir umdrehen, wenn ich mit Ihnen spreche? Oder ist Ihre Auffassung von Höflichkeit genauso überholt wie dieses Vehikel?“
Mit einem genervten Ausruf ließ Annie vom Schlüssel ab und drehte sich zu ihm um. Erneut stieg ihr sein Aftershave in die Nase. „Ausgerechnet Sie reden von Höflichkeit? Spielen sich auf wie ein Millionär, der glaubt, mit dem Fußvolk kann man es ja machen.“
„Ich bin Millionär“, stellte er mit Arroganz in der Miene fest und kniff die Augen zusammen. „Wie heißen Sie eigentlich, Miss …“ Er beugte sich etwas näher. Himmel, diese Augen … aber sie konnte er damit nicht beeindrucken. Sie nicht!
„Miss Butler“, log Annie.
„Und Ihr Vorname?“
Freiwillig würde sie ihren Namen bestimmt nicht herausrücken! „Vom Winde verweht. Meine Eltern haben eine Schwäche für alte Filme.“ Annie schulterte ihre Tasche und warf einen schnellen Blick auf die Armbanduhr ihres Großvaters, die sie seit seinem Tod trug. Ungeachtet dessen, dass es eine Herrenruhr war. Doch sie lief wie ein Rädchen und zeigte ihr, dass sie in fünf Minuten ihren Dienst antreten musste. Pünktlich. Harry war auch in dieser Beziehung unerbittlich.
„Vom Winde verweht also“, wiederholte der Unbekannte etwas ruhiger und plötzlich lag ein Schmunzeln um seinen Mund. „Sie sind nicht schlecht. Der Punkt geht an Sie.“ Wenigstens hatte er Sinn für Humor. Einen schlichten, aber immerhin. „Nun, wie wollen wir das jetzt handhaben?“ Kurz lächelte er, was ihn beinahe sympathisch machte.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Annie wahrheitsgemäß und zuckte mit den Schultern. Plötzlich schien die dicke Luft entwichen zu sein. Auf beiden Seiten.
„Das darf doch nicht wahr sein! Annie, was hast du schon wieder angestellt?“
Wie von der Tarantel gestochen wirbelte sie herum. Mit hochrotem Gesicht walzte Harry auf sie zu. Dabei verrutschte ihm die Hornbrille. Wie eh war er gekleidet wie ein Buchhalter aus früheren Tagen. Nadelstreifhose, weißes Hemd, Hosenträger und Ärmelhalter.
„Ich kann alles erklären“, stammelte Annie, obwohl sie sich keinen Reim darauf machen konnte, weshalb er so aufgebracht war. „Ähm, was genau …“
„Erspar mir die faulen Ausreden“, fuhr Harry ihr über den Mund, als er vor ihr stand. Dabei schnappte er nach Luft und stemmte die Hände in die breiten Hüften. „Ich habe alles von meinem Büro aus gesehen. Du hast Mister Flatleys Limousine beschädigt.“
„Das haben die Dame und ich bereits besprochen.“ Der Mann schaute Annie kurz an. „Wir müssen lediglich die Formalitäten klären.“
„Womit wir schon zwei wären“, stieß Harry in dieselbe Kerbe. „In fünf Minuten bei mir im Büro, Annie. Dann kannst du deine Papiere abholen. Den ausstehenden Lohn überweise ich dir selbstverständlich. Ich bin ja kein Unmensch.“
„Soll das heißen, dass du mich … feuerst?“ Annie hatte das Gefühl, als würde sich der Boden unter ihr wie ein breiter schwarzer Schlund öffnen.
„Richtig, und zwar hochkant. Mister Flatley ist nicht irgendwer und ein Verhalten wie dieses dulde ich nicht unter meinen Angestellten. Man hat dein Keifen bis in die Lobby gehört.“
„Ist ein Rauswurf nicht etwas übertrieben?“, sprang ausgerechnet Flatley für Annie in die Bresche, die ihn überrascht anschaute. Er indes konzentrierte sich voll und ganz auf Harry. „Die Sache ist kaum der Rede wert und ich war bestimmt nicht leiser als die junge Dame.“
„Aber Sie arbeiten im Gegensatz zu Annie nicht für mich“, wurde er von Harry belehrt. „Es bleibt bei der Kündigung. Außerdem muss ich ohnehin Personal einsparen und …“
„… da kommt dir das ganz gelegen, nicht wahr?“, unterbrach Annie ihn.
„Ich bin nicht bei der Wohlfahrt und muss selbst zusehen, wo ich bleibe. Also, Rapport in fünf Minuten“, wiederholte Harry und zog ab.
Ungläubig starrte Annie ihm nach und fühlte sich wie gelähmt. Dann zerrte sie neuerlich am Schlüssel. Zum Teufel mit den Papieren! Sie wollte einfach nur weg. Sollte Harry ihr den ganzen Kram schicken, da sie keine zehn Pferde in sein Büro bringen würden. Dieser Arsch hatte mit Sicherheit vor, ihre Situation bis zur letzten Sekunde auszukosten, um sich wieder einmal zu profilieren. Nein, erniedrigen lassen musste sie sich nicht. Das hatte er ohnehin schon genug getan!
„Sie finden sicher etwas Neues“, vernahm sie Flatley.
Annie warf ihm einen wütenden Blick zu. „Ersparen Sie mir diese dummen Floskeln!“
„Schon gut. Dann finden Sie eben nichts Neues.“
Sie kämpfte gegen die Tränen an. „Nur Ihretwegen bin ich in dieser beschissenen Lage! Vielen Dank auch.“ Es war ungerecht, das war ihr bewusst, aber sie konnte nicht anders. Weil dieser Mann alles zu haben schien, sie hingegen weniger als nichts. Diese Welt war einfach nicht gerecht. Außerdem hatte der Streit mit Flatley den Stein ins Rollen gebracht, den Harry ihr nun rücksichtslos an den Kopf geworfen hatte. Obwohl ihr klar war, dass ihr ehemaliger Chef nur auf einen passenden Moment gewartet hatte. Für so einen Mann wollte sie ohnehin nicht mehr arbeiten, obwohl der Lohn an allen Ecken und Enden fehlen würde. Zahlte sie die Raten nicht pünktlich, käme das Geschäft des Großvaters unter den Hammer. Allein der Gedanke daran trieb ihr neuerlich Tränen in die Augen. „Dieser verdammte Schlüssel!“, schimpfte sie mit weinerlicher Stimme. Zuerst ließ er sich nicht umdrehen, jetzt nicht mehr herausziehen.
„So wird das nichts“, stellte Flatley fest und berührte sie sanft am Arm. „Lassen Sie mich das machen.“ Annie zögerte, bevor sie einen Schritt zur Seite trat. Kurz darauf hatte er den Schlüssel herausgezogen und gab ihn ihr. Dabei berührten sich ihre Hände. „Ich bin übrigens Jack Flatley und den Schaden lasse ich auf meine Kosten regulieren.“
„Das … das ist sehr nett, Mister Flatley“, stotterte Annie völlig überrumpelt von seinem Entgegenkommen.
„Kein Problem. Ich spende dauernd an Bedürftige und kann die Summe abschreiben.“
Bedürftige? So wirkte sie also auf ihn? Ob er irgendeine Ahnung hatte, wie beschämend das für sie war? „Um ehrlich zu sein“, begann Annie mit frostiger Stimme, „hätte ich nicht gewusst, wie ich den Schaden bezahlen soll. Insofern bin ich Ihnen sehr dankbar, auch wenn ich nicht danach aussehe. Trotz allem habe ich meinen Stolz und arbeite hart, um mein Leben zu bestreiten. Davon haben Menschen wie Sie jedoch keine Ahnung, die Spende und steuerlich absetzen in einem Atemzug nennen. Und wenn ich mir einen kleinen Rat erlauben darf: Stecken Sie nicht jeden in eine Schublade, egal, welches Auto er fährt.“
„Tun Sie das nicht auch?“ Sein Lächeln verwirrte sie. „Alles Gute für Sie … Annie.“
Sie blickten sich an. Der Wind spielte mit seinem Haar, das ihm in die Stirn fiel. Er strich es zurück und als er nach dem Handy griff, straffte Annie die Schultern.
„Ihnen auch, Mister Flatley.“ Ein letzter Blickwechsel, dann stieg sie ins Auto und preschte Sekunden später mit Vollgas vom Parkplatz. Das hieß bei ihrem Alfa von 0 auf 20 und das erlaubte einen etwas längeren Blick in den Rückspiegel. Flatley stand unbeweglich da und schaute ihr nach, bis sie um die Kurve verschwunden war. So übel schien er gar nicht zu sein, obwohl er alles dafür tat, dass man es nicht bemerkte.
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Eine Stunde später saß Annie in der St. Materiana’s Kirche. Früher war sie mit ihren Eltern und Sandy oft zum Sonntagsgottesdienst gekommen. Doch nach ihrem Tod gehörte diese Tradition ebenfalls der Vergangenheit an. Trotzdem empfand sie Trost, weil der Weihrauch-Duft so viel Vertrautes hatte. Die Heiligenbilder mit den kitschigen goldenen Rahmen, die bunten Glasfenster, das große Kruzifix nahe dem Altar oder die Bank, auf der Sandy und sie mit einer Nagelfeile ihre Initialen eingeritzt hatten. „Was willst du mir noch antun, Gott?“, flüsterte Annie und hörte auf einmal Schritte hinter sich.
„Was für ein seltener Anblick. Du in meinem Gotteshaus?“, hallte es durch das Gemäuer, bevor Jeremy die Bank erreicht hatte. Obwohl Annie ihren Onkel liebte, fühlte sie sich von ihm gestört. Mürrisch rückte sie zur Seite.
Laut schnaufend nahm Jeremy neben ihr Platz. Dabei knarrte die Bank, weil er ein stattliches Gewicht hatte. „Du siehst erbärmlich aus. Geht es deinem Vater schlechter?“
Immer dieselben Fragen, als gäbe es keinen anderen Inhalt in ihrem Leben. Aber gab es den tatsächlich? „Ich habe soeben meinen Job verloren“, platzte sie mit der Neuigkeit heraus und weinte wieder, obwohl sie das nicht wollte. Erst recht nicht den Weinkrampf, der sich einstellte, da Jeremy sie in die Arme nahm und sanft wiegte. Eine väterliche Geste, die unheimlich guttat. So saßen sie eine Weile da, bis sich Annie von ihm löste.
„Es geht schon wieder“, behauptete sie. „Eigentlich sollte ich daran gewöhnt sein, dass mein Leben eine einzige Pechsträhne ist.“ Sie hörte sich nach Selbstmitleid an und ja, momentan tat sie sich verdammt leid!
„Daran sollte sich niemand gewöhnen müssen“, dementierte Jeremy, der in seiner Freizeitkleidung – den blauen Shorts und einem türkisen T-Shirt – eher wie ein Tourist wirkte. Aber heute war Mittwoch und da pflegte er fischen zu gehen. Deswegen umwehte ihn ein strenger Geruch, was Annie jedoch nicht störte. Zu wenig gab es inzwischen, das ihr noch vertraut war.
„Möchtest du mir alles erzählen?“, fragte er in mitfühlendem Ton und lächelte aufmunternd. Ihr Onkel hatte fülliges dunkelblondes Lockenhaar mit grauem Ansatz, grüne Augen wie Annie und ein wettergegerbtes Gesicht wie es ihr Grandpa hatte. An den Wangen zeigten sich viele rote Äderchen und die buschigen Augenbrauen waren zusammengewachsen. Obwohl er auf den ersten Blick nicht viel Ähnlichkeit mit der Mutter besaß, so war sie auf dem zweiten Blick doch erkennbar. Erst recht, wenn er lächelte. „Also?“ Jeremy schaute sie abwartend an.
Annie atmete tief ein, dann berichtete sie, was sich zugetragen hatte. Darüber zu reden tat zwar gut, es hielt ihr aber noch deutlicher vor Augen, in welcher Misere sie steckte.
Als sie geendet hatte, schwieg Jeremy eine Weile.
„Immerhin hat dich der Bursche davonkommen lassen. Demnach ist nicht alles schiefgelaufen. Für alles andere wird sich ebenfalls eine Lösung finden“, redete er Annie schließlich gut zu und tätschelte ihre Hand. „Weißt du, manchmal würde ich deinen Vater am liebsten mit dem Papamobil überrollen. Ein paar Mal hintereinander. Kreuz und quer, von links nach rechts und zum Schluss auf ihm parken.“ Entschuldigend blickte er zum Altar, auf dem einige Kerzen brannten. „Du musstest seinetwegen zu viel aufgeben. Dabei sehe ich immer noch das kleine Mädchen vor mir, das ihren Großvater ständig im Geschäft besuchte.“ Annies Herz zog sich zusammen. „Dad hielt große Stücke auf dich.“
„Umso größer wäre seine Enttäuschung, dass ich seinen Lebenstraum nicht weiterführe.“
„Die Ausbildung als Schmuckdesignerin hast du mit Bravour geschafft. Alles andere liegt leider nicht in deiner Macht, Annie.“ Er seufzte. „Wäre dein Vater nicht ein solcher Trunkenbold, müssten wir erst gar nicht darüber reden. Das Geschäft würde mit dir als Chefin bestimmt florieren, denn du hast eindeutig das Talent deines Großvaters geerbt. Im Gegensatz zu mir. Zwar bin ich ein As im Predigen, mit Kunst habe ich hingegen nichts am Hut. Dahingehend wurde meine Schwester reicher beschenkt als ich. Sie wartet übrigens förmlich darauf, dass du dich zur Abwechslung bei ihr meldest.“
„Warum sollte ich?“
„Weil sie deine Mutter ist?“
„Das hat sie nicht daran gehindert, mich zu verlassen.“
„Sie hat deinen Dad verlassen, nicht ihr Kind.“
„Augenauswischerei. Es kommt beides auf dasselbe heraus.“
„Mary hat sich bestimmt nicht mit Ruhm bekleckert“, räumte Jeremy ein. „Doch über mangelnde Liebe konntest du dich nie beklagen.“ Annie musste ihrem Onkel innerlich beipflichten. Wenngleich zähneknirschend, weil sich ihr schlechtes Gewissen meldete. „Jetzt wäre deine Mom an der Reihe. Statt jedes Gespräch abzublocken, solltest du dir anhören, was sie zu sagen hat.“ Er schwieg erneut, als ob er seine Worte wirken lassen wollte. „Sicher, ihr Handeln mag der Auslöser für eure Situation gewesen sein, doch das hat Mary bestimmt zuletzt gewollt. Gib ihr eine Chance. Deine Mutter leidet.“
„Du verteidigst Ehebruch?“, nagelte Annie ihn fest.
„Ich kenne die zehn Gebote, falls du darauf anspielen willst und natürlich missbillige ich als Pfarrer, was sie getan hat. Als Bruder weiß ich allerdings, wie unglücklich sie war. Es begann mit Sandys Tod. Dein Dad stürzte sich in seine Arbeit als Baumeister, deine Mom wandte sich der Kunst zu und du hast an der Schwelle des Erwachsenwerdens gestanden. Ein junger Mensch, dessen Leben weiterging im Gegensatz zu dem deiner Eltern. Sie schwiegen das Thema buchstäblich tot. Damit begann ihre Entfremdung, die schließlich in dieser Affäre endete.“
„Demnach kann sich jeder nach einem Schicksalsschlag in fremden Betten tummeln und ist über alle Zweifel erhaben? Bloß, weil er einen triftigen Grund dafür hat?“
Jeremy lächelte nachsichtig. „Ich sehe schon, du willst mich nicht verstehen. Trotzdem solltest du darüber nachdenken, ob du deine Mom genauso verurteilen würdest, wenn dein Vater nicht zu trinken angefangen hätte.“
„Hier geht es aber nicht um hypothetische Fragen, sondern um die Realität und die lässt sich nicht schönreden. Weder mit Verständnis für Mom noch mit ein paar guten Worten.“
„Du bedauerst deinen Vater, das leuchtet mir ein. Immerhin lebst du mit ihm zusammen und musst das Elend jeden Tag ertragen. Doch so leid mir Joseph tut, vergeude nicht deine Zeit und opfere dich für ihn auf, denn das würdest du eines Tages bereuen.“
„Das sagt sich so leicht.“
„Mag sein, allerdings sehe ich viel von deiner Mutter in dir. Sie heiratete deinen Vater, weil sie schwanger war. Ihren Traum von einem Kunststudium gab sie dafür auf. Aber wenn etwas so lange präsent war, rächt sich das eines Tages. Weil man irgendwann das Gefühl hat, etwas versäumt zu haben. Womöglich hätte sich deine Mom in ihrer Ehe verwirklicht, nur hat leider jede Miesmuschel mehr Feingefühl als dein Vater. Trotzdem hat sie ihn geliebt. Sehr sogar. Vielleicht liebt sie ihn noch immer.“
Abrupt wandte Annie den Kopf. „Wie kommst du darauf?“
Ihr Onkel räusperte sich. „Nun, sie spricht oft von Joseph und fragt nach ihm. Es ist offenkundig, dass sie sich große Sorgen um euch macht. Mary würde euch auch finanziell gern unter die Arme greifen. Jetzt kann sie es sich schließlich leisten. Ihre Bilder sind in aller Munde.“
„Schön für Mom. Aber wir schaffen es sicher ohne ihre Almosen.“
„Das sind keine Almosen. Sie will vor allem dir helfen.“
„Nein, Jeremy, sie möchte sich mit Geld meine Zuneigung zurückkaufen.“
„Du hast denselben Stolz wie dein Vater“, wurde Jeremy etwas forscher. „Tragischerweise scheint ihr beide zu vergessen, dass ihr ihn euch nicht leisten könnt. Ich an deiner Stelle würde Mary anrufen und sie bitten, euch beizustehen. Wie ich sie kenne, stünde sie bereits morgen vor der Tür. Wer weiß, womöglich würde sie es sogar schaffen, Joseph von der Flasche wegzubringen.“
„Dad würde Mutter sofort zurücknehmen, so sehr liebt er sie“, erinnerte sich Annie an ihr Gespräch in der Küche. „Wenn Mom ihn allerdings so sehen müsste … er würde sich in Grund und Boden schämen. Dad, ein Schatten seiner selbst und sie, die sich mitten im zweiten Frühling befindet. Der Schuss würde nur nach hinten losgehen.“ Annie richtete sich auf. „Beenden wir das unsinnige Gespräch. Die beiden lassen sich scheiden und damit basta.“
„Apropos Scheidung“, wurde Jeremy hektisch, „in einer Stunde erwarte ich ein junges Paar zum Traugespräch.“ Schwerfällig erhob er sich. „Melde dich, wenn du mich brauchst … oder Geld. Viel habe ich nicht, doch es reicht, um euch eine Weile über Wasser halten zu können. Vom Geschäft ganz zu schweigen. Mein Dad hat es dir vermacht und nicht der Bank. Also, wenn ich etwas tun kann, lass es mich wissen.“