Читать книгу Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes - Bettina Reiter - Страница 6
3. Kapitel
ОглавлениеDas Geschäft des Großvaters lag verwaist da, als Annie langsam über den kiesbestreuten Parkplatz heranfuhr und schließlich das Auto abstellte. Mit Tränen in den Augen legte sie die Hände auf das Lenkrad und betrachtete das Haus, in dem sie so viel Geborgenheit und Liebe gefunden hatte. In den Fenstern spiegelten sich die Klippen und das Meer. Es verlieh dem Geschäft etwas Lebendigkeit, denn die Fassade war ansonsten trostlos grau. Da half auch der Apfelbaum wenig, denn er würde nie wieder blühen – noch Blätter oder Früchte haben. Seltsamerweise war er nur ein Jahr nach dem Tod des Großvaters abgestorben, was sich niemand erklären konnte. Eigentlich hätte er längst entfernt werden müssen, aber Annie hätte es das Herz gebrochen, weil auch die Bank damit fort wäre, die inzwischen ziemlich verwittert war.
Von Erinnerungen übermannt stieg Annie aus und ging auf den Eingang zu. Kurz kramte sie in ihrer Tasche nach dem Schlüssel und sperrte wenige Sekunden später auf. Als sie das Geschäft betrat, war es, als wäre die Zeit stehengeblieben. Wie das kleine Mädchen von damals blickte sie sich ehrfürchtig um und glaubte, trotz des abgestandenen Geruchs den vertrauten Duft von Äpfeln wahrzunehmen.
Wehmütig ging sie am Verkaufstresen mit den leeren Glasvitrinen vorbei, blieb vor dem Werktisch unter dem dreieckigen Fenster stehen und blickte auf die Küste. Eine Weile vertiefte sie sich in den Anblick, bevor sie sich bückte und das lose Dielenbrett anhob. Mit zitternder Hand nahm Annie das Kästchen und stellte es vor sich auf den Boden. Dann holte sie den Brief aus dem Geheimversteck, den ihr Grandpa kurz vor seinem Tod dazugelegt haben musste. Liebe Annie, stand in seiner kaum leserlichen Schrift da, Wenn du diese Zeilen liest, werde ich nicht mehr bei dir sein, denn mein Weg ist bald zu Ende. Ich spüre es deutlich. Mit jedem Tag ein bisschen mehr. Nichts fällt mir schwerer, als dich zu verlassen und doch ist es der Lauf des Lebens. Aber ein Teil von mir wird bei dir bleiben, so wie ein Teil von mir damals mit Olivia starb. Was wir dir jedoch beide hinterlassen ist der Glaube an die wahre Liebe. An Magie und an Wunder. Ja, Annie, ich glaube fest daran. All das befindet sich vielleicht in diesem Kästchen. Doch öffne es erst an deinem dreißigsten Geburtstag. Ich habe das Gefühl, dass es so sein soll. So, und nicht anders. Und vergiss nicht: Alles kommt zur rechten Zeit. Auch die Liebe, die ebenfalls ein Wunder ist. Dein Grandpa Randall.
Mit Tränen in den Augen glitt Annie zärtlich über das Herzschloss, das sie in Gedanken schon oft aufgesperrt hatte, aber das Geheimnis musste warten. Nicht nur, weil es der letzte Wille ihres Grandpas war – sondern weil seine Worte weise klangen, als müsste es tatsächlich genauso sein. Dennoch war sie natürlich neugierig. Um nicht in Versuchung zu kommen, das Kästchen vor Ablauf der Zeit zu öffnen, bewahrte sie den Schlüssel zuhause auf.
Annie wischte die Tränen fort, legte den Brief und das Kästchen zurück, schob das Dielenbrett darüber und erhob sich. Gedankenverloren blickte sie auf den Werktisch. Ein paar Wachsmodelle lagen darauf, die als Vorlage für Schmuckstücke gedient hatten. Der Stuhl stand schief da, als hätte ihn ihr Grandpa gerade erst verlassen. Meistens hatte er hier gesessen und ziseliert, gelötet, gegossen, geschmolzen, geätzt oder gefräst. In den kleinen Samtschatullen am oberen Tischrand befanden sich Holz, kleine Metallstücke, Perlen, Glas und Zirkonia-Steine, die längst nicht mehr glänzten, weil sie von einer Staubschicht bedeckt waren. Wie die Maschinen zum Kratzen oder Walzen, das Poliergerät oder der Brennofen, die auf dem Beistelltisch standen. Daneben lagen Sägen, Pinsel, Schablonen, Bohrer, kleine Hämmerchen, Zangen, Winkelmesser, Gravurstifte, Metallscheren und anderes in der üblichen Unordnung. Ihr Grandpa hatte das Chaos gebraucht wie die meisten Künstler und nirgends spürte Annie seine Nähe mehr als hier. Seine Liebe sowie das Wissen, dass er bei ihr war. Er hätte bestimmt gewusst, wie sie mit allem umgehen sollte. Oder zumindest Worte gefunden, um sie aufzumuntern, denn allmählich war ihr Stolz ziemlich angekratzt. Zuerst wurde sie eine Arbeit nach der anderen los, nun heiratete Roger diese Trish und über kurz oder lang würde sie womöglich das Geschäft verlieren. Konnte es noch schlimmer kommen?
Ein Geräusch schreckte sie hoch. Annie wandte sich um und blickte zum Fenster neben der Eingangstür. Als sie Harrys Wagen erkannte, kam Wut in ihr hoch. Brachte er ihr die Papiere höchstpersönlich vorbei, um sich an ihrem Elend zu weiden?
Zu allem entschlossen eilte sie aus dem Geschäft. Als Mister Flatley aus dem Auto stieg, blieb sie abrupt am Eingang stehen. Was wollte der denn hier? Hatte er es sich anders überlegt und sie musste die Rechnung doch bezahlen? Kurz schossen ihr auch Roses Worte durch den Kopf, die sie jedoch sofort beiseite wischte. Humbug, nichts weiter
„Sieh an, so klein ist die Welt“, meinte er nicht weniger überrascht, als sie sich fühlte, während er die Autotür zuschlug und auf sie zukam. „Ich habe mir schon gedacht, dass ich das Vehikel von irgendwoher kenne.“
„Was tun Sie mit Harrys Wagen?“, ging sie nicht auf seine Beleidigung ein.
„Er hat ihn mir geliehen. Meine Limousine ist hinüber.“ Mister Flatley stand dicht vor Annie und sein Roger-After-Shave hatte diesmal eine noch verheerendere Wirkung auf sie, denn sie hörte förmlich Hochzeitsglocken läuten. Durchdringend und laut.
„Harry leiht niemandem sein teures Spielzeug.“
„Mir schon“, meinte Flatley selbstherrlich. „Ich schätze, dass ich sein Vertrauen genieße.“
„Oder er lässt sich gut dafür bezahlen. Sie nehmen sich ja gern Bedürftigen an.“
„Wieso wetzen Sie die Nägel? Sind Sie immer noch nicht über die Kündigung hinweg?“
„Die habe ich bereits vergessen“, wetterte Annie, „immerhin ist sie einige Stunden her.“
„Eben. Deswegen sollten Sie fleißig neue Bewerbungen schreiben. Von nichts kommt nichts.“ Seine stoische Ruhe schürte ihren Zorn, als würde jemand auf schwelende Glut blasen. Noch dazu wanderte Flatleys Blick ständig zum Geschäft, statt dass er ihr in die Augen schaute.
„Sie haben ja keine Ahnung“, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Nebenbei erwähnt: Heute nannten Sie mich unhöflich, weil ich Sie beim Reden nicht angesehen habe. Wie nennen Sie das, was Sie im Augenblick tun?“
„Ausgleichende Gerechtigkeit“, blies auch er zum Angriff, konzentrierte sich jedoch unvermittelt auf sie. Die Intensität seiner blauen Augen verunsicherte Annie plötzlich und nun wäre es ihr doch lieber gewesen, wenn er überall hingesehen hätte, nur nicht in ihr Gesicht.
„Warum betrachten Sie ständig das Geschäft meines Großvaters?“, wollte sie wissen, um irgendwas zu sagen.
In seinen Augen flackerte etwas auf. „Das Haus gehört Ihrem Großvater?“
„Es gehörte ihm. Grandpa ist gestorben und hat es mir hinterlassen.“
„Dann sind Sie also tatsächlich Annie … Murphy?“
„Woher kennen Sie meinen Nachnamen?“
„Keine Ahnung.“ Es war eindeutig, dass er ihrer Frage auswich. „Ich habe ihn vermutlich irgendwo aufgeschnappt.“ Er blickte sich um. „Eine wirklich schöne Lage.“
Annie hatte das Gefühl, dass es doch schlimmer werden konnte. Obwohl sie keine Ahnung hatte, aus welcher Ecke der nächste Angriff erfolgen würde. „Sonst noch etwas, Mister Flatley?“
„Ja: Haben Sie zufällig meine Tochter gesehen? Braune Zöpfe, grelle Latzhosen und ziemlich frech?“
„Wenn Sie Leni meinen, die habe ich getroffen“, kombinierte Annie und wusste nun, warum ihr das Mädchen bekannt vorkam. „Allerdings fand ich sie äußerst reizend.“
„Wo haben Sie meine Tochter gesehen?“, überging er ihre Aussage und wirkte auf einmal schlicht und ergreifend wie ein besorgter Vater. Also war er verheiratet. Die arme Frau!
„Am Town Hill.“ Annie deutete in die entsprechende Richtung. „Ich bezweifle jedoch, dass Sie Leni dort finden werden. Vermutlich ist sie längst wieder zuhause. Aber sie hatte ihr Handy dabei. Sie könnten Ihre Tochter anrufen.“
„Das habe ich schon versucht. Sie hebt nicht ab. Könnten Sie vielleicht …?“
„Hören Sie mal, ich bin eine völlig Fremde und nicht ihre Mutter.“
Ein schmerzvoller Schatten huschte über sein Gesicht. „Ich würde Sie nicht darum bitten, wenn es sich vermeiden ließe. Außerdem schulden Sie mir etwas.“
„Also gut“, zischte Annie und zog das Handy aus ihrer Tasche. Dann tippte sie die Nummer ein, die Mister Flatley ihr nannte und schaltete auf laut, damit er mithören konnte. Nach zwei Freizeichen wurde abgehoben. „Hallo, Leni“, begann sie etwas hilflos, „ich bin es, Annie. Die Frau, die dich vorhin angerempelt hat.“
„Woher haben Sie meine Nummer“, kreischte das Mädchen.
Annie hielt den Hörer weiter weg. „Von …“
„Stalken Sie mich etwa?“
„Natürlich nicht. Ich wollte nur wissen, wo du gerade bist.“
„Sie halten mich wohl für ganz doof. Glauben Sie im Ernst, dass ich Ihnen sage, dass ich zuhause bin?“ Im selben Augenblick legte sie auf.
„Das haben Sie ja toll hingekriegt“, beschwerte sich der Wichtigtuer allen Ernstes, statt dass er ihr die Füße küsste. „Jetzt hat meine Tochter eine Heidenangst.“
„Sie wollten doch, dass ich sie anrufe.“ Annie schob das Handy in die Gesäßtasche ihrer Jeans.
„Natürlich. Allerdings hoffte ich, dass Sie etwas mehr Feingefühl hätten.“
„Das sagen ausgerechnet Sie? Haben Sie sich Ihre Tochter mal genauer angesehen?“
„Was wollen Sie damit andeuten?“, zürnte er und lockerte die Pünktchen-Krawatte.
„Genug, um zu sehen, dass Ihre Kleine ziemlich traurig ist.“
„Ach, sind Sie plötzlich Fachfrau in Erziehungsfragen? Ich dachte, Sie wären eine Expertin darin, hinausgeworfen zu werden.“
Sein Pfeil hatte mitten in die Wunde getroffen. „Das war das erste Mal in meinem Leben!“
„Und es wird nicht das letzte Mal gewesen sein, so viel steht fest.“ Erneut huschte sein Blick über das Geschäft ihres Großvaters, bevor er sich umdrehte, in den Wagen stieg und davonbrauste. So ein Arschloch!
Darüber beklagte sich Annie am frühen Abend bei Josie. Via Facebook, denn das kostete nichts. Schon seit einer Stunde schickten sie sich Nachrichten hin und her, es gab ja sonst nichts zu tun. Der Vater schlief auf der Couch seinen Rausch aus, nachdem er ihre Kündigung nur am Rande wahrgenommen hatte. Dass sich bei ihrem Heimkommen dasselbe Bild wie immer bot, ließ Annie restlos resignieren.
Leider wohnte ihre Freundin in Penzance. Die Stadt lag über eine Stunde von hier entfernt. Früher war Annie manchmal mit dem Bus zu Josie gefahren und sie hatten die Nacht zum Tag gemacht. Ihre Freundin kannte Gott und die Welt, war mit einem Piloten verheiratet und inzwischen Mutter von fünfjährigen Zwillingen.
Ein Ton erklang. Annie schaute auf das kleine Nachrichtenfenster.
Also was ist nun?, schrieb Josie zurück, hast du heute Zeit für mich? Ich muss dringend raus. Bud und Terence bringen mich an den Rand des Wahnsinns.
„Super“, murmelte Annie, „da erzähle ich dir lang und breit von meiner Kündigung und der Sache mit Roger, aber du weißt nichts Besseres, als mich zu fragen, ob wir ausgehen.“ Ich habe kein Geld, tippte Annie ein und drückte auf die Enter-Taste.
Ich schon, kam umgehend die Antwort. George hat eine fette Provision bekommen, die ich auf den Kopf hauen darf. Du bist eingeladen.
Annie starrte auf die Zeilen. Wie peinlich war das denn? Das ist mir unangenehm, stellte sie klar und musste wieder an Flatley denken.
Josies Rückäußerung ließ neuerlich nicht lange auf sich warten: Im Grunde zahlt George, was mir im Gegensatz zu dir nicht unangenehm ist. Schließlich bin ich bald reif für die Klapse und ich brauche ein Gespräch mit meiner besten Freundin. Bitte, bitte, lass mich jetzt nicht im Stich :-(
Na gut, um sechs bei mir, erklärte sich Annie einverstanden, obwohl das schlechte Gefühl blieb. Andererseits war Josie immer für sie da und es schien ihr tatsächlich nicht gut zu gehen.
Super, ich bin pünktlich da. Mach dich hübsch … Küsschen, Josie.
Annie stieg aus dem Programm aus, schloss den Laptop und saß zehn Minuten später in der Badewanne, nachdem sie kurz nach ihrem Vater geschaut hatte. Er schnarchte vor sich hin. Mit der Fernbedienung in der einen und einer brennenden Zigarette in der anderen Hand, die sie im Aschenbecher ausgedämpft hatte. Irgendwann würde er alles niederbrennen. Doch daran wollte sie jetzt nicht denken, sondern alles Schlechte ausblenden. Außerdem freute sie sich darauf, Josie endlich wiederzusehen und verdrängte auch die Sache mit dem Geld. Heute war ihr Abend und den würde sie sich nicht wieder von irgendwelchen Gedanken vermiesen lassen. Schließlich war ihr Leben längst nicht vorbei, auch wenn es sich derzeit so anfühlte. Und nach diesem Tag hatte sie sich ohnehin eine kleine Auszeit verdient.
♥
„Du ahnst gar nicht, wie froh ich bin, wieder hier zu sein“, erklärte Josie kurz nach sechs, als sie im Aloha saßen. Die Cocktailbar mit hawaiianischem Flair war mit viel Holz eingerichtet, verstaubten Plastikpalmen und künstliche Orchideen an der Decke. Das einzig echte waren die Bedienung und der Blütenkranz, der jedem Gast umgehängt wurde.
„Ist George bei den Kindern?“, erkundigte sich Annie und blickte zu Duncan, der mit flinken Fingern die Saiten zupfte. Laut eigenen Aussagen spielte er im typisch hawaiianischen Stil und nannte sich selbst Slack-key-guitar-Maestro. Sein grauer Haarkranz war wie immer soldatenmäßig geschnitten, er hatte eine fleischige Nase und ein Grübchen am Doppelkinn. Wie seine Frau Minnie hatte auch der waschechte Engländer ein Faible für Schottenröcke und trug sie, wann immer er konnte. Er fand die Kleidung schlichtweg schön, die jedoch in ziemlichem Kontrast zur Musik stand, die er spielte. Duncan wirkte wie ein auf Hawaii gestrandeter Schotte.
„Ja, George hütet die Kids.“ Josie hatte nie betrübter gewirkt. Scheinbar nahm sie die Mutterrolle mehr mit als Annie bisher geglaubt hatte. „Er wird alle Hände voll zu tun haben.“ Sie spielte mit dem gelben Strohhalm, der neben ihrer halbvollen Piña Colada lag.
„Das klingt beinahe schadenfroh.“ Annie warf einen kurzen Blick nach draußen. Das Lokal hatte eine große Glasfront, hinter der sich St. Agnes wie ein Gemälde ausbreitete.
„Und wenn?“, wurde Josie schnippisch. „George ist der Ansicht, dass Kindererziehung wie Sonderurlaub ist. Mal sehen, ob er bei seiner Meinung bleibt.“ Einige Gäste betraten das Lokal und setzten sich in die Nähe der Bar.
„Habt ihr Schwierigkeiten?“
„Sieht man mir das an?“ Josie seufzte, als würde die gesamte Last dieser Welt auf ihre Schultern drücken. Wie üblich duftete sie nach Cerruti, ihrem Lieblingsparfüm. Seit dem sechzehnten Lebensjahr benutzte sie es. Das einzig Dauerhafte in ihrem Leben, abgesehen von ihrer Ehe und den Kindern. Ansonsten war Josie wie ein Chamäleon. Ziemlich frühreif, hatte sie ihre Freunde wie die Hemden gewechselt. Auch beruflich orientierte sie sich vor ihrer Hochzeit immer wieder neu, was ebenso für Religionen galt oder ihren Modestil. Derzeit schien der Ethno-Look stark angesagt zu sein. Sie trug eine Jeans und ein knielanges braungemustertes Kleid mit Bündchen an den Ärmeln. Große goldene Kreolen zogen ihre Ohrläppchen bedenklich nach unten und ihr braunes langes Haar war unter einem roten Turban versteckt. Die Lippen waren grellrot, ansonsten hatte sie auf jegliches Make-up verzichtet.
„Du siehst übrigens gut aus“, sagte Annie.
Josie lächelte geschmeichelt. „Dein Kompliment geht runter wie Öl.“
„George macht dir bestimmt laufend welche.“ Annie dachte neidvoll daran, wie Josie regelrecht von ihm hofiert wurde. Er half ihr stets aus oder in den Mantel, rückte ihr den Stuhl zurecht, fragte nach ihren Wünschen oder hing wie Tarzan an ihren Lippen. Roger war in dieser Hinsicht ganz anders gewesen. „Wie konnte er mir das antun?“, entfuhr es Annie.
Josie legte über den Tisch hinweg ihre Hand auf Annies. „Das wird schon wieder, Kleines. Zur Not kommst du eben nach Penzance. Dort findest du bestimmt einen Mann und ganz nebenbei auch einen Job.“
„Ich möchte aber nicht wegziehen. Meine ganzen Träume sind hier.“
„Schon mal daran gedacht, dass es Träume bleiben könnten?“, hakte ihre Freundin nach.
„Danke für den Zuspruch.“
„Mensch, Annie, ich will dir doch nichts Böses“, verteidigte sich Josie und zog ihre Hand zurück. „Aber manchmal muss man seine Träume fliegen lassen, weil sie zerplatzen wie Seifenblasen, sobald wir sie berühren.“
„Das sagst ausgerechnet du? Diejenige von uns, die immer nach den Sternen gegriffen hat?“
„Umso tiefer kann der Fall sein, glaub mir.“
Toll! Und auf diesen Abend hatte sie sich gefreut. „Bist du gekommen, um schlechte Laune zu verbreiten? In dem Fall kannst du dir die Mühe sparen. Die habe ich nämlich schon.“
Josie wirkte noch bekümmerter als ohnehin und lehnte sich zurück. „Sorry. Momentan bin ich wahrscheinlich die Letzte, die für irgendein Problem die passende Lösung hat. Immerhin bekomme ich mein eigenes Leben nicht mehr auf die Reihe.“
„So schlimm?“ Annies Mitleid kam wieder zurück. „Eigentlich habe ich dich bisher beneidet.“
„Das würde dir sofort vergehen, sobald du in meiner Haut stecken würdest“, stieß Josie aus, bevor sie sich verschwörerisch näherbeugte. „In Wahrheit habe ich mir eine Auszeit genommen. Offiziell bin ich auf Kur, damit die Kinder nicht beunruhigt sind. Nur George weiß, dass ich ein paar Tage bei meinen Eltern bleibe, um meine Gedanken zu ordnen.“
„Was soll das heißen?“ Annie nippte am Strohhalm, wobei sie Josie nicht aus den Augen ließ.
„Dass ich über eine Scheidung nachdenke.“
„Wie bitte?“ Der süße Cocktail schmeckte plötzlich bitter auf Annies Zunge. „Ich dachte, dass ihr glücklich seid.“
„George nimmt mich schon lange nicht mehr als Frau wahr. Im Grunde könnte ich seine Hausangestellte sein. Genauso fühle ich mich. Alles muss ich ihm und den Jungs hinterherräumen. Kein Danke und kein Bitte, jeder Handstrich ist selbstverständlich.“ Wie verzweifelt sie aussah. „Versteh mich nicht falsch, ich liebe meine Kinder. Auch George. Doch in letzter Zeit frage ich mich immer öfter, ob es das gewesen ist. Ich lebe für meine Familie und achte auf ihre Bedürfnisse, nur achtet niemand auf meine. Dabei bin ich erst neunundzwanzig und fühle mich älter als meine Mutter.“
Unwillkürlich musste Annie an ihre eigene denken. „Wieso hast du nicht früher etwas gesagt?“
„Weil du selber Probleme hast.“
Annie betrachtete ihre Freundin, die dasaß wie ein Häuflein Elend. Dabei war sie bisher wie ein Wirbelwind durch das Leben gerauscht. Jetzt wirkte Josie jedoch verletzlich, als würde sie der geringste Lufthauch umhauen. „Deswegen bin ich trotzdem für dich da.“
„Ich weiß.“ Josie drückte kurz ihre Hand. „Lass uns lieber ein anderes Mal darüber sprechen. Heute möchte ich feiern und abschalten.“ Kaum ausgesprochen, winkte sie Lance zu, dem die Bar gehörte. Ihr ehemaliger Schulkollege war Josies erster Freund gewesen. Es hatte lange gedauert, bis er über sie hinweg war und wieder normal mit ihr umgehen konnte. Obwohl Annie manchmal das Gefühl hatte, dass seine Gefühle nie zur Gänze verschwunden waren. Ob es an der Art lag, wie er sie ansah oder mit ihr sprach, sie konnte es nicht sagen.
„Was darf ich euch bringen?“, erkundigte sich Lance, der früher wegen seinen feuerroten Haaren oft zum Gespött der Mitschüler geworden war. Dass er unter heftiger Akne litt, hatte seinen Außenseiterstatus verstärkt. Doch Josie und sie hielten immer zu ihm, denn Lance war eine Seele von einem Menschen, der inzwischen mit Mai-Tao verheiratet war, die gerade die neuen Gäste begrüßte. Einige Surfer, mit denen frische Seeluft in das Lokal hereinwehte.
„Bring uns bitte noch zwei“, bat Josie und erwiderte Lances Lächeln, bevor er zur Bar eilte. Wieder öffnete sich die Tür und eine Männerhorde stürmte das Lokal. Mai-Tao eilte mit den obligatorischen Blütenkränzen auf sie zu und musste die üblichen anzüglichen Witze Betrunkener über sich ergehen lassen. „Fünf von uns wären noch frei“, grölte einer, „der Bräutigam wäre bestimmt auch nicht abgeneigt.“ Im selben Moment teilte sich die Runde und Annie starrte Roger direkt in die Augen, auf dessen T-Shirt das Wort Bräutigam prangte.
„Ausgerechnet der muss uns über den Weg laufen“, regte sich Josie auf, die ihn scheinbar ebenfalls erspäht hatte.
„Lass uns zahlen und verschwinden“, bat Annie stotternd. Gleichzeitig klopfte ihr Herz bis zum Hals, weil Roger so unverschämt gut aussah und ihr nun lässig zunickte.
„Wir bleiben“, beharrte Josie, „oder willst du ihm zeigen, dass du immer noch leidest?“
„Ich muss es ihm nicht zeigen. Das kann er mir auf zehn Meter ansehen.“
„Dann reiß dich zusammen. Oder gönnst du diesem Brad-Pitt-für-Arme den Triumph?“
Annie konzentrierte sich auf ihre Freundin, wobei sie jedoch das Gefühl hatte, Rogers Blick auf sich zu spüren, was ihren Körper kribbeln ließ. Jede verdammte Stelle … „Was soll ich denn sonst tun außer abhauen?“, flüsterte sie ihrer Freundin zu, zog sich den Blütenkranz über den Kopf und legte ihn neben sich auf die Bank. „Ihn den ganzen Abend anschmachten?“
„Du sollst ihn ignorieren.“ Josie schob das leere Glas an den Tischrand. „Willst du gelten, mach dich selten. Hat schon meine Oma gesagt.“
„Woran du dich vor deiner Hochzeit super gehalten hast.“
„Damals war ich jung. Jetzt bin ich um einiges reifer. Also heb den Kopf und sei selbstbewusst. Du bist eine tolle Frau.“
„Mit zehn Kilo mehr auf den Rippen.“
„Na und? Trotzdem siehst du spitzenmäßig aus. Das schwarze Glitzertop steht dir super, die Jeans bringt deine Kurven richtig gut zur Geltung. Um deinen Bronzeton habe ich dich ohnehin seit jeher beneidet, denn du siehst immer aus, als würdest du frisch aus dem Urlaub kommen. Der Idiot wird sich eines Tages in den Arsch beißen, dass er dich gehen ließ.“
Annie tippte sich an die Stirn. „Roger feiert Junggesellenabschied. Der denkt keine Sekunde an mich.“
„Da wäre ich mir nicht so sicher. Hast du nicht bemerkt, wie er dich angesehen hat?“
„Du bist gut! Seit Monaten versuchst du ihn mir auszureden und jetzt weckst du neue Hoffnungen in mir.“
„Das mache ich ganz und gar nicht, sondern möble nur deinen Selbstwert auf. Oder tut es deinem Stolz nicht gut, dass er dich mit den Augen beinahe auszieht?“
„Ach ja? Tut er das?“ Annies Gesicht brannte wie Feuer und als Lance endlich mit den Getränken kam, langte sie tüchtig zu. Normalerweise trank sie nicht viel, heute war sie allerdings in einer Ausnahmesituation. Gott sei Dank saßen die Männer weit genug entfernt. Roger sogar mit dem Rücken zu ihr, wie Annie nach einer Weile feststellte, als sie sich endlich traute, in seine Richtung zu blicken. Eine Tatsache, die ihr zusetzte. Wieder einmal kehrte er ihr buchstäblich den Rücken zu.
Umso energischer hielt sie sich an ihrem Glas fest und trank mit Josie Runde um Runde. Dabei hörte sie ihrer Freundin nur mit halbem Ohr zu und nickte, sobald sie das Gefühl hatte, es wäre angebracht. Im Inneren war sie jedoch bei Roger, dem sportlichen und selbstbewussten Blondschopf mit zahlreichen Tätowierungen, den sie nach der Schule aus den Augen verloren hatte. Sie hatte ihre Ausbildung in London gemacht, er bei der hiesigen Bank eine Lehre absolviert. Als sie nach St. Agnes zurückkehrte, kam er irgendwann in Begleitung eines Freundes ins Taphouse und sie hatte sofort Feuer gefangen. Natürlich rechnete sie sich keinerlei Chancen aus. Schließlich wurde Roger wie in der Schulzeit vom weiblichen Geschlecht umschwärmt wie das Licht von den Motten.
Aber es sollte anders kommen.
Am Anfang konnte sie ihr Glück kaum fassen, dass er sie zur festen Freundin auserkoren hatte. Ausgerechnet sie! Die Welt fühlte sich plötzlich so leicht an. Trotzdem blieben Zweifel. Weil sie sich ständig fragte, was ein attraktiver Mann wie er an einem durchschnittlichen Mädchen wie ihr fand.
„Denkst du schon wieder an den Kerl?“, lallte Josie, die inzwischen hackendicht war.
„Ich kann nichts dagegen tun“, antwortete Annie und riskierte einen neuerlichen Blick. Jetzt saß Roger seitlich zu ihr und strich sich mit einer vertrauten Geste über das Kinn. Das blonde Haar trug er länger als früher, ansonsten war alles beim Alten geblieben. Er war muskulös wie eh, strahlte diese ganz eigene Lebensart aus, war blank rasiert und trug nach wie vor die Hemden halb zugeknöpft, damit man seine breite behaarte Brust sehen konnte.
„Hast du vergessen, wie er dich behandelt hat?“, regte sich Josie auf. „Du hast ständig an dir gezweifelt und Roger in den Himmel gehoben, womit du dich selbst immer klein gemacht hast. Das ging so weit, dass du alles mitgemacht hast, was er wollte. Nur, um ihm zu gefallen.“ Auf einmal lachte sie, als hätte sie einen Witz gemacht. „Beim Radfahren hat er dich derart gefordert, dass du dich übergeben hast, erinnerst du dich?“
Annie nickte panisch. „Leise! Es muss ja nicht jeder mitkriegen.“ Ihr Blick fing Duncans auf, der ihr aufmunternd zuzwinkerte. Wie alle aus der Clique wusste auch er über das unselige Ende ihrer großen Liebe Bescheid. Seitdem war Roger Luft für ihn, den ohnehin keiner aus der Clique so richtig mochte.
„Beim Squash ging es dir ähnlich“, fischte Josie in Annies Erinnerungen, obwohl das unnötig war. „Bis zur völligen Erschöpfung hast du gespielt und den Betriebsausflug scheinst du ebenfalls vergessen zu haben.“ Roger hatte Annie auf ein Schiwochenende mitgenommen, das die Bank organisiert hatte. Mit romantischen Bildern im Kopf war sie gestartet und völlig abgekämpft nach Hause gekommen, denn Roger ließ sie von Anfang bis Ende allein auf der Piste. Im Gegensatz zu ihr konnte er perfekt fahren und wedelte in einem Höllentempo ins Tal hinunter. Sie hingegen fuhr die Piste von einem Ende zum anderen aus und bekam Panik, sobald sie schneller wurde als ein Fußgänger. Beim Aprés-Ski hatte er sie ebenfalls links liegenlassen.
„Es gab durchaus schöne Zeiten, sonst wäre ich nie so lange mit ihm zusammengeblieben“, ergriff Annie Partei für diese Beziehung, weil sie das Gefühl hatte, sich rechtfertigen zu müssen. „Romantische Nachtspaziergänge, die Ausflüge, seine Liebesbriefe … wenn wir alleine waren, ist er völlig anders gewesen.“ Sie seufzte. „Roger war meine große Liebe, daran lässt sich nicht rütteln.“
„Das weiß ich, Schätzchen.“ Josie trank ein paar Schlucke und stellte das Glas ab, das sie in ihren Händen drehte. „Aber dieser Typ war schon als Junge ein Arsch. Immerhin hat er die Sache mit dem Karussell überall herumerzählt und sich oft genug darüber lustig gemacht. Im Grunde hätte dich das warnen sollen. Leider hast du ihn zu sehr idealisiert. In Wahrheit ist er ein Egoist, der deine Liebe nicht verdient hat, von seiner Affäre ganz zu schweigen.“
Annie glaubte wieder bei Roger zuhause zu sein. Fast auf den Tag genau, vor einem halben Jahr. In seinem Zimmer hatte sie auf ihn gewartet. Rogers Mutter brachte ihr etwas Knabberzeug und legte seine Post auf das Bett. Eine Karte lag obenauf. Irgendwann hatte sich Annie nicht mehr beherrschen können und las sie. Die Schmachtzeilen waren von Trish gewesen, die sich für den schönen Abend in der Vorwoche bedankte, den sie unbedingt wiederholen müssten. All das hatte sie auf eine Karte geschrieben! Für alle Welt zu lesen. Etwas Dreisteres war Annie nie zuvor untergekommen und natürlich hatte sie Roger zur Rede gestellt. Doch er verharmloste das Ganze und sie hatte ihm nur zu gerne geglaubt. Bis sie ihn schließlich mit Trish gemeinsam gesehen hatte. Der Schmerz dieses Verrats war kaum zu beschreiben. Wochenlang hatte sie sich die Augen ausgeheult und als ob es nicht genug gewesen wäre, hatte sich Trish bei jeder sich bietenden Gelegenheit über sie lustig gemacht. Dabei lag sie ohnehin schon auf dem Boden.
„Karma, Mäuschen. Alles kommt irgendwann im Leben wie ein Bumerang zurück“, ließ Josie verlauten, als hätte sie ihr in den Kopf geschaut.
„Ja, Karma.“ Annie trank ihr Glas in einem Zug leer. Allmählich spürte sie die Wirkung des ungewohnten Alkohols, obwohl ihr Josie drei Gläser voraushatte.
„Noch eine Runde?“ Lance nahm Josies leeres Glas.
„Etwas zum Essen wäre schön“, erwiderte Annies Freundin. „Frühlingsrollen oder so.“
„Eigentlich hat die Küche bereits geschlossen, aber für euch mache ich eine Ausnahme.“ Lance legte kurz seine Hand auf Annies Schulter. „Sei froh, dass du Roger los bist. Ein gemeinsamer Freund erzählte mir neulich, dass er dich nicht nur mit Trish betrogen hat, sondern auch mit einigen Touristinnen. Er brüstet sich gerne damit, dass du nichts mitbekommen hast.“
„Das ist nicht wahr“, flüsterte Annie mit krächzender Stimme.
„Leider schon.“ Lance betrachtete sie mitleidig, bevor er davoneilte.
„Siehst du“, triumphierte Josie. „Der ist keine einzige Träne wert.“
„Stimmt. Verlogene Menschen wie Roger haben keinen Platz in meinem Leben.“ Warum fühlte Annie nicht, was sie sagte? Wieso konnte ihr niemand das Herz herausreißen und wieso schaute Roger ständig zu ihr? Außerdem hatte Duncan zu spielen aufgehört und nun lief romantische Musik vom Band. Is this love, that I’m feeling …
Annie schoss in die Höhe und eilte zur Treppe, die zu den Toiletten hinunterführte. Sie schien steiler zu sein als sonst, außerdem drehte sich alles in ihrem Kopf. Als sie endlich unten war, lehnte sie sich an die Wand und kämpfte gegen die Tränen an. Warum hatte Roger ihr das angetan?
„Annie?“
Erschrocken wandte sie den Kopf. „Was willst du, Roger?“, fuhr sie ihren Ex an und hörte gleichzeitig das Lied im Hintergrund. Ihr gemeinsames Lied von Whitesnake.
„Es tut gut, dich zu sehen.“
Annie war nicht darauf gefasst, dass er ihre Hand nahm und sie an sich zog. Nicht darauf vorbereitet, wie vertraut es sich anfühlte. Andererseits wollte sie weglaufen, ihn von sich stoßen, aber sie hatte keine Kraft. Das Lied weckte so viele Emotionen wie sein Körper, der sich an ihren drängte, während er Annies Hand so fest umspannte, als ob er sie für immer festhalten wollte.
„Ich habe dich vermisst“, raunte er ihr leise zu.
„Ach, deswegen heiratest du also.“
„Trish ist schwanger.“
Annie fühlte sich, als hätte ihr jemand einen Fausthieb verpasst. „Glückwunsch.“
„Wie man es nimmt.“ Seine Lippen waren nur wenige Zentimeter von ihren entfernt. Kurz stellte sie sich vor, wie er sie geküsst hatte, voller Verlangen. Aber alles, was blieb, war ein schaler Geschmack im Mund. „Darf ich dich anrufen, Baby?“
„Du hast dich für eine andere entschieden.“
„Und wenn es die falsche Entscheidung war?“
Ihr Atem beschleunigte sich. Gleichzeitig befreite sie sich aus seinen Armen. „Lass mich in Ruhe, Roger. Keine Anrufe und keine Annäherungsversuche. Auch ich will ein neues Leben beginnen.“
„Weswegen verletzt du mich so?“
Annie musterte ihn ungläubig. „Ich dich?“ Josie hatte recht. Es ging nur um ihn und seine Bedürfnisse. Das musste doch endlich ihr Herz erreichen!
„Mein Gott, Annie, ich kann dich nicht vergessen. Du hast irgendetwas mit mir gemacht, das mir keine andere Frau geben kann.“
„Hör auf mit dem Süßholzraspeln, das zieht nicht mehr bei mir.“
„Es ist aber die Wahrheit.“
„Wahrheit“, stieß sie verächtlich aus. „Und das aus dem Mund eines Lügenbarons.“
„Du willst mich doch auch, nicht wahr?“ Er versuchte sie wieder an sich zu ziehen, doch Annie wich ihm geschickt aus. Auf einmal grinste er höhnisch. „Du müsstest eigentlich froh sein, dass dich ein Mann begehrenswert findet. Immerhin hast du ziemlich zugelegt. Aber im Bett warst du eine Granate, deshalb könnte ich über deine unsportliche Figur hinwegsehen.“
Annie fühlte sich zutiefst gedemütigt … als sie plötzlich Schritte hörte. Zuerst sah sie nur Designerschuhe auf den Stufen, dann eine dunkelblaue Hose und schließlich Flatley in voller Lebensgröße. Na bravo! Der hatte ihr gerade noch gefehlt.
„Hallo, Annie“, begrüßte Flatley sie.
„Kennst du den Typen?“, erkundigte sich Roger mit beißendem Ton.
„Und wenn?“, gewann Annie wieder Oberwasser, weil sie merkte, dass es Roger nicht passte.
„Zieh ab, Mann. Das ist meine Braut.“ Ihr Ex lächelte selbstgefällig in Flatleys Richtung.
„Irrtum. Wir zwei sind fertig miteinander“, kanzelte Annie Roger ab.
„Das hoffe ich doch“, meinte Flatley lächelnd. „Können wir dann, Liebling? Ich bin müde und möchte ins Bett.“
Annie schaute zuerst Roger an – den er wohl kaum meinen konnte – dann hinter sich. Da war niemand. Also drehte sie sich wieder um. Entweder war sie besoffener als gedacht oder Jack Flatley meinte tatsächlich sie. Als er wie selbstverständlich den Arm um ihre Schulter legte, waren die letzten Zweifel fort. Aber wieso zum Teufel tat er, als wären sie zusammen?
„Man kann dich keine Sekunde aus den Augen lassen, Annielein“, äußerte sich Flatley lachend, „und schon versucht ein anderer sein Glück bei dir.“
Roger kniff die Augen zusammen. „Wer ist noch mal der Typ?“
„Obwohl es Sie nichts angeht“, erwiderte Flatley eisig, „Ich bin Annies Verlobter.“
Mit offenem Mund starrte sie zu Flatley. Im nächsten Moment Roger hinterher, der wütend die Treppe hinaufstapfte. Als er verschwunden war, zog Flatley den Arm von ihrer Schulter, als hätte sie eine ansteckende Krankheit.
„Was sollte das?“, stammelte Annie, die sich schlagartig nüchtern fühlte. „Davon abgesehen: Nennen Sie mich nie wieder Annielein!“
„So viel dazu, dass ich Sie vor diesem Mann gerettet habe.“
„Niemand braucht mich vor Roger zu retten. Das schaffe ich schon allein.“
„Was man deutlich gesehen hat“, höhnte er. „Nicht lange und Sie hätten sich die Klamotten vom Leib gerissen!“
„Na und? Auch das wäre meine Sache gewesen.“
„Stimmt. Ich Trottel habe mich ohnehin nur auf dieses Schauspiel eingelassen, weil mich eine Verrückte um Hilfe gebeten hat. Angeblich, weil ihre Freundin von einem Mann belästigt wird. Damit sie Ruhe gibt, ließ ich mich breitschlagen. Wer konnte ahnen, dass es ausgerechnet Sie sind? Doch dann habe ich die Worte dieses Rogers gehört. Für einen kurzen Augenblick hatte ich tatsächlich das Gefühl, dass ich eingreifen sollte. Eine Fehleinschätzung, wie sich nun herausstellt.“
Annie schaute ihn herausfordernd an, obwohl sie sich gedanklich in den Boden sinken sah. Es war ihr peinlich, dass er Rogers verletzende Worte mitbekommen hatte. „Wieso? Weil mein Ex betont hat, dass ich eine Granate im Bett bin?“, nahm sie das Vorteilhafteste von dessen Aussage als Schutzschild, um nicht ganz blöd dazustehen.
„Nein, vielmehr war es seine Anspielung auf Ihre … ist ja egal.“ Flatley klang, als wäre er plötzlich zu müde, um sich länger zu streiten.
„Houston, wir haben kein Problem mehr.“ Auf einmal stakste Josie mehr oder minder elegant über die Treppe herunter, wobei sie sich krampfhaft am Geländer festhielt. „Die Gefahr ist gebannt!“, säuselte sie. „Roger hat das Weite gesucht und das Lokal verlassen. Das müssen wir begießen. Ah, da ist ja der Retter in goldener Rüstung.“
„Ist Ihre Freundin immer so schräg drauf?“, flüsterte Flatley Annie zu, die glaubte, ein Schmunzeln zu erkennen. Andeutungsweise zumindest.
„Nur, wenn sie getrunken hat.“
„Kommen Sie, junger Mann, lassen Sie uns einen heben. Selbstverständlich auf meine Kosten, Geld spielt keine Rolle. Vielleicht gebe ich Ihnen noch etwas mit, damit Sie sich morgen eine andere Krawatte zulegen können. Bei den vielen Punkten wird einem extrem übel.“ Josie war tatsächlich kalkweiß.
„Leider muss ich passen, in beiderlei Hinsicht“, wies Flatley ihre Angebote mit Blick auf seine goldene Rolex zurück. „Ich werde nach Hause fahren.“
„Sie sind doch gerade erst gekommen“, stellte Josie verwundert fest.
„Ich habe eine Viertelstunde für einen Drink eingeplant. Die ist nun vorbei. Meine Damen.“ Er beugte leicht den Kopf. „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.“ Leichtfüßig eilte er über die Treppe hinauf. Josie starrte ihm unverhohlen nach.
„Was für ein knackiger Zeitgenosse“, bewertete sie Flatley und lehnte sich wie ein nasser Sack an die Wand. „Der ist bestimmt auf der Durchreise. Schade.“
„Für wen? Für dich oder für ihn?“
„Für dich, du Dummerchen. Der stellt Roger gnadenlos in den Schatten und ein Abenteuer hilft am besten über eine alte Liebe hinweg.“
„Ich bin keine für einen One-Night-Stand, so gut solltest du mich kennen.“ Annie war durcheinander. Ob wegen Roger oder Flatleys Eingreifen konnte sie jedoch nicht sagen. „Das war übrigens Jack Flatley.“
„Der Limo-Mann?“ Josie wurde um einige Nuancen blasser und hätte mittlerweile getrost eine Leiche in einem Film mimen können. Leider vertrug ihr Magen im seltensten Fall Alkohol. Morgen würde sie den ganzen Tag über dem Klo hängen.
„Richtig. Der Limo-Mann.“
„Wow, du hast gar nicht erwähnt, dass er so attraktiv ist.“
„Weil es nicht wichtig ist. Und bevor du weitersprichst: Er hat Familie.“
♥
Jack verließ mit Leni die St. Agnes Bakery. Da er sich gestern dazu entschlossen hatte, bis zum Abriss in der Villa zu bleiben, musste er Lebensmittel besorgen. In das Hotel zog es ihn ohnehin nicht zurück, allerdings war es eine neue Erfahrung, für sich selbst sorgen zu müssen. Bisher hatte sich stets seine Haushälterin Greta um alles gekümmert. So gesehen wäre er dumm, würde er Annie schon heute entlassen, wie er es eigentlich vorgehabt hatte. Immerhin konnte sie etwaige Botengänge übernehmen, für einen gutgefüllten Kühlschrank sorgen und die Mahlzeiten zubereiten. Zu putzen gab es in dem leeren Haus ohnehin kaum etwas. Allerdings würde er sich für die Übergangszeit einige Möbel besorgen müssen.
„Mein Dad geht zu Fuß!“, freute sich Leni, die ihm eine Einkaufstasche abnahm. Ihr Haar war zerzaust, als wäre sie gerade aus dem Bett gestiegen und ausnahmsweise war sie heute ganz in Schwarz gekleidet. Hoffentlich wurde sie nicht zum Grufti, aber er durfte nicht hinter jeder neuen Moderichtung irgendeine Bedrohung sehen. Das hatte er zumindest gestern auf Google gelesen, als er nach Erziehungstipps suchte.
„Ein Fußmarsch, zu dem mich meine Tochter förmlich gezwungen hat.“ Jack lächelte.
„Um dir zu zeigen, wie schön es hier ist. Nie zuvor habe ich einen idyllischeren Ort gesehen. In New York ist alles so hektisch, als müsste jeder mithalten und sich deswegen doppelt anstrengen. Ein Gedränge wie auf der Überholspur. In St. Agnes kann man hingegen die Seele baumeln lassen. Der Ort fühlt sich an wie eine Hängematte. Ich sage nur: Hinlegen und entspannen. Kein Hupen, kein Trubel, nur Meeresrauschen.“
Jacks Schritte waren mit jedem Wort langsamer geworden, bis er schließlich stehenblieb. Es dauerte, bis es Leni bemerkte, die umkehrte und mit fragender Miene vor ihm stoppte. „Sag mal, aus welchem Film hast du das denn?“
„Aus keinem. Sind meine eigenen Worte.“ Sie blinzelte. Das tat sie meistens, wenn sie flunkerte. „Ich beobachte eben genau und werde langsam erwachsen.“
„Und das soll ich dir glauben?“
„Ach Dad, ich will nur, dass du es dir mit der Villa noch einmal überlegst.“
Jack ging weiter. Leni folgte ihm. „Wieso ist dir das so wichtig?“
„Weil ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl habe, dass es ein Zuhause werden könnte“, erwiderte sie leise. „Kein Loft mit Designermöbeln und einer Aussicht über Hunderte von Wolkenkratzern. Hier grüßen einen die Menschen sogar. In New York tun das nur die Leute, die wissen, dass ich deine Tochter bin.“
„Dein Großvater und ich haben andere Pläne, das musst du respektieren. Doch wenn es dich tröstet, könnte ich mich nach einem Sommerhaus auf Hawaii oder Teneriffa umsehen.“
„Du verstehst es einfach nicht.“ Leni presste die Lippen zusammen, während sie die Straße überquerten. Bisher war erst ein Auto an ihnen vorbeigefahren. Eins! Mochte Leni von St. Agnes schwärmen wie sie wollte, irgendwann würde es ihr zu langweilig werden. Ferner war Cornwall keine Option für ein Sommerhaus. Die Grafschaft war nicht repräsentativ genug. Zumindest noch nicht.
„Schau mal, da vorne ist Harolds Antiquitätenladen.“ Leni deutete auf ein kleines Geschäft nahe einer Seitenstraße.
„Wer ist Harold?“, fragte Jack verdutzt, der nach einem Bekleidungsgeschäft Ausschau hielt. Zwar hatte er heute Morgen seine und Lenis Koffer vom Hotel geholt, ständig konnte er jedoch nicht in seinen Anzügen herumlaufen. Außerdem benötigte er einige Toilettenartikel.
„Ich habe ihn gestern kennengelernt.“
„Bei welcher Gelegenheit? Mir hast du erzählt, dass du einen Spaziergang gemacht hast.“
„Das stimmt ja auch.“ Erneut blinzelte Leni. „Aber weil du mir erzählt hast, dass du früher Antiquitätenhändler werden wolltest, habe ich bei ihm reingeschaut.“
Je näher sie dem Geschäft kamen, desto dumpfer schlug Jacks Herz. Alte Möbel waren früher für ihn eine Kostbarkeit gewesen. Sie zu restaurieren eine Offenbarung. In grauer Vorzeit hatte er im Keller seines Elternhauses sogar eine Werkstatt gehabt und dort viele Möbel mühsam aufbereitet. Altes erhalten war nach wie vor seine Devise – zumindest was diesen Bereich betraf, der allerdings längst zur Vergangenheit gehörte.
„Wow, Harold hat wirklich tolle Sachen in der Auslage“, schwärmte Leni, die sich bisher nie dafür interessiert hatte. Unwillig blieb Jack neben ihr stehen. Sie spiegelten sich im Schaufenster wider. Über dem Geschäft hing eine antike grüne Reklametafel, die viele Roststellen aufwies: Harolds Schätze stand darauf. In der Tat verfügte der Inhaber über erlesene Kostbarkeiten, wie Jack feststellen musste. Ein alter barocker Stuhl mit rotem Samtbezug stand in der Auslage. Dahinter zeigte sich eine exquisite Chippendale-Kommode mit einer Schnitzerei, die einen Löwenkopf mit einer Krone zeigte. Das Möbelstück glänzte, als hätte man es gerade aufpoliert. Jack ergriff eine Begeisterung, wie er sie lange nicht mehr gespürt hatte, obwohl er am liebsten das Weite gesucht hätte!
Dennoch folgte er Leni wie in Trance ins Geschäft. Ein Glöckchen bimmelte. Sofort erfasste ihn ein Gefühl, als hätte er soeben die Schwelle in eine andere Zeit betreten. Kommoden mit goldenen Scharnieren, ein Biedermeier-Schreibtisch aus Nussbaum, ein reich verzierter wuchtiger Danziger-Barock-Schrank, gotische Truhen, zwei edle Sofas mit Brokatbezug, Kristall-Tischlampen im Jugendstil – Jack konnte sich kaum sattsehen.
„Habe ich dir zu viel versprochen?“, flüsterte Leni, als wäre auch sie in Gottesfurcht erstarrt. Er lächelte sie an, obwohl es ihn gleichzeitig innerlich zerriss. Seine Tochter hatte ja keine Ahnung …
Erneut ließ Jack seinen Blick über die Möbel schweifen, als er aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung wahrnahm. Er wandte den Kopf und entdeckte einen alten Mann, der den grünen Vorhang zurückschob und aus dem Nebenraum trat.
„Leni, wie schön, dass du mich wieder besuchst“, eröffnete der Fremde das Gespräch und deutete eine Verbeugung an, was Jacks Tochter grinsen ließ. Einer von der ganz alten Schule, wie es aussah. „Darf ich annehmen, dass das dein Vater ist?“ Er kam schleppend näher. Scheinbar hatte er Mühe mit dem Gehen.
„Stimmt. Ich bin Lenis Dad.“ Jack reichte ihm die Hand, die beherzt gedrückt wurde.
„Mein Name ist Harold Swappy“, stellte sich der Mann vor, nachdem sich ihre Hände voneinander gelöst hatten. „Ich führe dieses Geschäft schon seit beinahe fünfzig Jahren.“
„Tatsächlich?“ Das hatte Jacks Respekt verdient. „Dann läuft Ihr Geschäft gut?“
„Ich kann mich nicht beklagen. Einheimische und sogar Touristen kaufen gleichermaßen bei mir“, gab er bereitwillig Auskunft. „Manches verschiffe ich ins Ausland, da ich Kunden aus der ganzen Welt habe. Dank Internet ist das heutzutage ja möglich.“
„Restaurieren Sie selbst?“ Jack trat vor den Danziger-Schrank. Ein vergleichbares Stück war ihm nie zuvor untergekommen.
„In meiner Werkstatt hinten.“ Harold deutete zum grünen Vorhang. „Ich belasse die Stücke, wie sie sind und zaubere nur den alten Glanz wieder hervor. Altes erhalten ist meine Lebensphilosophie.“
Überrascht schaute Jack ihn an. „Da haben wir etwas gemeinsam. Mir läuft es kalt über den Rücken, dass manche Menschen solche Stücke mit billigem Lack überstreichen.“
Harold schüttelte sich. „Eine schreckliche Vorstellung.“
Der Mann war Jack sympathisch. Noch dazu passte er wie die Faust aufs Auge in das Geschäft, weil er wie ein Aristokrat wirkte. Seine Kleidung unterstrich diesen Eindruck. Graue Anzughose, ein weißes Hemd mit Rüschen an der Knopfleiste, eine nachtblaue Samtfliege und eine Samtjacke in der gleichen Farbe. Dazu passte die graumelierte Schiebermütze im Gatsby-Stil, die schräg auf seinem Kopf saß. Haare schien er keine zu haben. Dafür waren die schwarzen Augenbrauen umso buschiger. Die Nase wirkte energisch und der geschwungene dünne Oberlippenbart erinnerte Jack an seinen Helden aus Kindertagen: D’Artagnan, einer der vier Musketiere. Seltsam, seit Urzeiten hatte er nicht mehr daran gedacht.
„Wenn Sie Lust haben, könnten Sie mir beim Restaurieren helfen“, lud Harold ihn ein, als würden sie sich schon ewig kennen. „Ich muss eine ähnliche Kommode wie diese aufbereiten“, er deutete zum Danziger-Schrank, „aber in meinem Alter wird die Arbeit immer anstrengender. Hinzu kommt die Gicht, unter der ich leide. Von meiner Bandscheibe ganz abgesehen und auch meine Kraft lässt zu wünschen übrig.“
„Wir sind nur ein paar Tage hier“, erklärte Jack schroffer als gewollt und spürte den kalten Schweiß in seinem Rücken. Nie wieder würde er etwas restaurieren! „Und nun entschuldigen Sie uns.“ Er riss sich zusammen. Der alte Herr konnte nichts für seine Erinnerungen. „Leni und ich haben noch nicht gefrühstückt.“
„Dann wünsche ich Ihnen einen angenehmen Tag.“ Neuerlich verbeugte sich Harold und als er wie ein Soldat wieder halbwegs strammstand, lächelte er Leni an. „David hat übrigens gefragt, ob du später mit ihm zum Strand gehen möchtest.“ Im Nu röteten sich Lenis Wangen und ihre Augen glänzten verdächtig. Wer verdammt war David? „Er ist mein fünfzehnjähriger Enkel“, erklärte Harold, als ob er Jacks Zwiespalt gespürt hätte. „Die beiden sind sich gestern in meinem Geschäft begegnet.“
„Und haben sofort Freundschaft geschlossen?“, echauffierte sich Jack.
„So ist die Jugend eben heutzutage“, blieb Harold unbeeindruckt. „Sie nehmen alles mit, was das Leben hergibt. Hätten wir früher auch machen sollen, statt uns nach den Wünschen unserer Eltern zu richten. Also, Leni, soll ich David etwas ausrichten?“
„Nein, danke“, entgegnete Jacks Tochter, die ziemlich zappelig war, „ich schreibe ihn später über Facebook an. Er hat mir ja gestern eine Freundschaftsanfrage geschickt.“
„Oh, das ist nett“, freute sich Harold. „Chattest du auch so gerne wie ich?“
„Sie haben ein Facebook-Profil?“, wandte Jack ein.
„Sicher.“ Harold grinste. „Sonst könnte ich nirgends mitreden. Man muss mit der Zeit gehen, so sehr ich die Vergangenheit auch schätze.“
„Natürlich.“ Jack kam sich zum ersten Mal in seinem Leben etwas unterlegen vor. Harold war bestimmt über siebzig und wirkte lebendiger als er. Andererseits hatte er sicher nicht so viel um die Ohren, beruhigte sich Jack beim Verlassen des Geschäfts. Sein Tag hätte dreißig Stunden haben können und das wäre zu wenig gewesen. Insofern war es kein Wunder, dass vieles auf der Strecke blieb. „Ich muss zur Bank“, wandte sich Jack an Leni, als sie draußen standen. Lieber hätte er seine Tochter jedoch wegen diesem David ausgequetscht. War er womöglich der Grund für ihren Wunsch, in dieser Einöde Wurzeln zu schlagen?
Fragen, die bis später warten mussten, denn zu Jacks Leidwesen hatte er im Nebengeschäft zwei Frauen entdeckt, die sich die Nasen am Schaufenster platt drückten. Minnies Allerlei las er kurz und konzentrierte sich wieder auf Leni. Schon jetzt war er froh, wenn er St. Agnes wieder verlassen konnte. „Möchtest du mich begleiten oder willst du lieber nach Hause gehen?“
„Nach Hause“, entschied sich Leni, „das klingt übrigens schön.“ Sie nahm ihm die Einkaufstüte ab. „Ich mache inzwischen Frühstück.“
Jack warf einen schnellen Blick auf die Uhr. „Die Putzfrau müsste um zehn eintrudeln. Zumindest hat Mister Winter gesagt, dass das ihr Dienstbeginn ist. Falls ich noch nicht da bin, soll sie sich um das Mittagessen kümmern.“
„Sag ich ihr.“ Schon sauste seine Tochter übermütig davon. Dabei summte sie sogar ein Lied und erst jetzt fiel ihm auf, dass sie ihr Handy nicht dabeigehabt hatte. Das wiederum schenkte dem kleinen Ort ein paar Sympathiepunkte, obwohl sie von den zwei Frauen im Nu ausradiert wurden. Nach wie vor klebten sie an derselben Stelle. Das Fenster beschlug sich ständig vor den plappernden Mündern. Scheinbar sprachen beide gleichzeitig.
Jack drehte sich demonstrativ um, eilte mit ausladenden Schritten davon und nur zehn Minuten später saß er im Büro von Mister Sullivan. Er war der hiesige Bankchef und sicher zehn Jahre jünger als er. Das könnte schwierig werden, da man in diesem Alter noch Ideale hatte. Doch Sullivan wollte höher hinaus, das konnte Jack mit einem Blick feststellen. Sein rostbrauner Anzug war heillos zerknittert, das Hemd ebenso und die goldene Halskette hätte eher in die 80er Jahre gepasst. Vermutlich ein Erbstück, das er als Prestigeobjekt benutzte, um mehr darzustellen, als er war. Insofern lag der Verdacht nahe, dass er aus einfachen Verhältnissen stammte. Jack hätte sogar seinen Arsch darauf verwettet, dass der Bursche einen Sportwagen fuhr. Vermutlich geleast. Gesetzt den Fall wäre es jedoch besser, wenn Sullivan das Geld in ein Bügeleisen investieren würde.
„Sie sagen also, dass Sie Interesse am Zinnwerk 409 haben?“ Der Bankchef bot ihm einen Platz vor dem einfachen Schreibtisch an und setzte sich Jack gegenüber hin.
„So ist es.“ Jack nahm Platz und überkreuzte die Beine. „Ich interessiere mich schon länger für das leerstehende Gebäude.“
„Darf man fragen, was Sie damit vorhaben?“
„Nicht zum jetzigen Zeitpunkt.“ Informationen müssen gut dosiert werden, rief sich Jack einen von vielen Tipps seines Vaters ins Gedächtnis.
„Nun ja, dies ist ein freies Land und wir können gern darüber verhandeln. Wie Sie bestimmt wissen, gehört das Anwesen der Bank.“
„Und somit Ihnen“, schmeichelte Jack ihm. Sullivan bekam rote Ohren. „Einem verantwortungsbewussten jungen Mann, der es noch weit bringen wird, sofern er sich mit den richtigen Leuten einlässt. Haben Sie ein Haus, Mister Sullivan?“
„Noch lebe ich bei meinen Eltern. Ziemlich beengt“, ließ sich der Bankchef unwissentlich auf Jacks Spiel ein. „Allerdings spare ich auf ein Eigenheim und suche gerade ein passendes Grundstück.“
Jack beugte sich vertraulich vor. „Dann sollten Sie sich beeilen, so lange die Preise erschwinglich sind. Das wird sich nämlich bald ändern.“
Sullivan stützte sich mit den Ellenbogen auf dem Schreibpult auf und faltete die Hände, als würde er beten. Andächtig genug sah er zumindest aus. „Dann haben Sie also vor, was ich vermute? Wollen Sie sich in St. Agnes einkaufen?“
„Sie sind ein schlauer Mann, Mister Sullivan, und das Zinnwerk ist erst der Anfang. Ich möchte auch das Geschäftshaus an der Küstenstraße erwerben.“ Jack verdrängte Annies Bild, das jedoch hartnäckig blieb, wo es war. Diese Frau war wirklich eine Zumutung und nahm vermutlich nur das Schlechteste von ihm an. Deswegen würde er ihr genau das liefern, was sie von ihm erwartete. Wäre sie etwas netter gewesen, hätte es zwar auch nichts genützt, allerdings wäre er ein wenig sanfter vorgegangen.
„Annies Geschäft?“, forschte Sullivan nach, der hektische Flecken im Gesicht bekam.
„Oder Ihres, wie man es nimmt. Ich hörte, dass Miss Murphy nur mit Ach und Krach die Raten bezahlen kann. Etwas mehr Druck von Ihrer Seite und bald kann sie gar nicht mehr zahlen. Sie hingegen könnten nach Ablauf der Frist über hunderttausend Dollar verfügen.“ Die Schwelle war überschritten. Zum ersten Mal bediente sich Jack dieser Mittel und hatte Michaels Ermahnung im Ohr. Ob er sich deswegen unwohl fühlte in seiner Haut?
„So viel?“ Sullivan wirkte überfordert, kratzte sich hinter dem Ohr und drehte sich im Bürostuhl halb zum großen abstrakten Bild um, das hinter ihm hing, als könnte er darauf eine Antwort finden. „Das Ölbild hat Annies Mutter gemalt“, sagte Sullivan mit nachdenklicher Stimme, „ich mag Mary. Annie ebenso. Das kann ich der Familie unmöglich antun.“ Er wandte sich wieder Jack zu, der dessen inneren Kampf förmlich fühlen konnte.
„Sie wissen, worauf Sie verzichten?“
„Meine Eltern haben mich zu einem anständigen Mann erzogen“, holte Sullivan aus, was Jack ärgerte. Er wollte keinen Small-Talk führen oder Familiengeschichten hören. Weil es sein schlechtes Gefühl verstärkte. Außerdem hatte er eine Viertelstunde für das Gespräch eingeplant, die bald um war. „Nicht nur ich, auch Mom und Dad sollen in meinem Haus wohnen“, weihte Sullivan ihn weiter ein. „Damit sie keine Miete mehr zahlen müssen und die Jahre, die ihnen noch bleiben, in vollen Zügen genießen können.“
„Umso schneller sollten Sie handeln. Ihre Eltern werden es Ihnen danken.“ Diese Worte waren Jack schwer über die Lippen gekommen, weil der Junge scheinbar an seinen Eltern hing. Aber jeder ist sich selbst der nächste, pflegte Jacks Vater stets zu sagen und dieser wäre ziemlich enttäuscht, wenn er die Sache vermasseln würde. „Sie werden es nicht bereuen, Mister Sullivan und ich gebe Ihnen mein Wort darauf, dass niemand von unserem kleinen … nennen wir es Tauschgeschäft … erfahren wird. Davon abgesehen werde ich Sie über jeden Neubau unterrichten und Sie können in Ruhe entscheiden, ob Sie eventuell mit einsteigen möchten. Der Kuchen ist groß genug, um auch aus Ihnen einen Millionär zu machen.“ Sullivan würde lange in dem Stuhl sitzen, sofern er die Füße stillhielt. Jack musste ihn sich also warmhalten, denn es war gut möglich, dass er ihn für weitere Geschäfte brauchte. „Fünfzigtausend können Sie schon binnen der nächsten Tage auf Ihrem Konto haben. Den Rest bekommen Sie, sobald ich der neue Besitzer von Murphys Geschäftshaus bin.“ Ein viel zu hoher Betrag, doch sein Vater bestand darauf. Er würde seine Gründe haben.
„Na gut“, gab sich Sullivan geschlagen, obwohl er aussah, als würde er am liebsten weinen. „Ich mache es für meine Eltern.“ Sie standen auf und besiegelten ihr Geschäft mit einem Handschlag. Dann gab Sullivan ihm seine Kontonummer.
Als Jack aus der Bank ging, war er in Gedanken bereits bei einem gemütlichen Frühstück auf der Veranda, wodurch er beinahe den Mann übersehen hätte, der Annie so beleidigt hatte. Roger, sofern sich Jack richtig erinnerte, bediente gerade eine brünette Frau und sein Blick hätte töten können, wäre er eine Waffe gewesen. Der Typ war extrem eifersüchtig wie es aussah …