Читать книгу Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes - Bettina Reiter - Страница 5
2. Kapitel
ОглавлениеDas fade Mittagessen lag Jack noch jetzt im Magen. Gebackene Makrele mit Stachelbeersauce gehörte angeblich zu den Spezialitäten Cornwalls und hatte sich vorzüglich angehört. Nur wusste der Koch scheinbar nicht, wie man die Speise schmackhaft zubereitete. Abgesehen davon war das Frühstück ebenfalls ein Hohn gewesen. Dünner Kaffee, harte Brötchen, ein Butterstückchen und Marmelade. Es würde dauern, bis seine Geschmacksknospen nicht mehr beleidigt waren, allerdings wunderte ihn in diesem Hotel gar nichts mehr.
Genervt starrte Jack auf seine Unterlagen. Es gelang ihm nicht, sich darauf zu konzentrieren. Dabei hatte er sich extra in den kleinen Saal gesetzt, weil dieser weniger frequentiert war als das von Küchengerüchen verpestete Restaurant. Vor zehn Minuten war jedoch eine Jugendgruppe eingetroffen. Nun lümmelten einige von ihnen in den unbequemen himmelblauen Stoffstühlen mit weißen Sternchen und unterhielten sich lautstark. Dazwischen hörte man ständig das Läuten von Handys oder schallendes Gelächter.
„Tut mir leid, ich wurde aufgehalten“, erklang Michaels krächzende Stimme, der seine gelbe Krawatte lockerte und sich aufatmend in den Stuhl gegenüber plumpsen ließ, als hätte er einen Marathon hinter sich.
„Ich hoffe, deine Verspätung hat einen guten Grund“, begrüßte Jack ihn nicht gerade freundlich und sah sich in Gedanken bereits in der klimatisierten Limousine sitzen, die geradewegs auf das gebuchte Fünf-Sterne-Hotel zufuhr.
„Wie man es nimmt.“ Michael schaute ihn an, als würde er abwägen, was er ihm zumuten konnte und was nicht. „Der Mechaniker hat von ein paar Tagen gesprochen“, ließ er schließlich die Katze aus dem Sack.
„Ein paar Tage?“, entfuhr es Jack. „So lange halte ich es in diesem Kaff nicht aus. Kannst du ihm keinen Druck machen?“
„Was denkst du, was ich getan habe? Mein Mund ist trocken wie die Sahara, so sehr habe ich auf den Mann eingeredet“, verteidigte sich Michael. „Bedauerlicherweise ist er Südländer, wenn du verstehst, was ich meine. Deshalb würde ich eher in Wochen denken als in Tagen.“ Michaels Stirn glänzte. Seit drei Jahren arbeitete er für Flatley & Son. Die Firma hatte ihren Sitz in New York. Jacks Vater hatte sie gegründet und zu einem der erfolgreichsten Unternehmen Amerikas aufgebaut. Selbstredend, dass sein Dad nach wie vor mitmischte, trotz seiner fünfundsechzig Jahre. Jack konnte es nur recht sein, da er noch viel von ihm lernen konnte. Zudem wurde sein Dad nicht müde, neue Ideen zu entwickeln. So auch die, ihren Radius zu erweitern und sich in Europa etwas aufzubauen. Kurz zuvor hatte er Jack zu seinem Teilhaber gemacht und vertraute ihm nun dieses riesige Projekt an.
„Dann sieh zu, dass wir eine andere Limousine bekommen“, forderte Jack. Er hasste nichts mehr als Dinge, die er nicht beeinflussen konnte. „In zwei Stunden soll ich bei Mister Winter sein. Wenn ich ihn wieder vertröste, springt er womöglich ab.“
„Vor morgen früh hat keine einzige Leihfirma in der Gegend ein Auto frei. Ich habe alle abgeklappert.“
„Was ist mit dem Ferrari, den wir vor einem halben Jahr in London bestellt haben?“
„Den kriegst du frühestens in zwei Wochen.“
„Und jetzt?“, fragte Jack ohne jegliches Verständnis. „Soll ich etwa mit dem Bus nach St. Agnes fahren?“
„Das wäre zumindest eine Idee.“ Michael grinste.
„Ich bin nicht in Stimmung für deine albernen Witze. Außerdem habe ich mein Leben lang noch nie einen Bus von innen gesehen und denke nicht daran, jetzt damit anzufangen.“
„Schon gut.“ Michael hob abwehrend die Hände. Sein goldener Ehering blitzte auf. „Mir gegenüber musst du nicht den hartgesottenen Geschäftsmann raushängen lassen.“
Jacks Laune stieg wieder. Er wusste, dass ihm sein Ruf vorauseilte und in geschäftlichen Angelegenheiten kannte er kein Pardon. Das Leben war zu kurz, um sich mit halben Sachen zu begnügen. Deswegen kämpfte er notfalls mit harten Bandagen. Insofern fühlte er sich von Michaels Aussage geschmeichelt. „Wie ich dich kenne, hast du bestimmt eine andere Lösung parat“, meinte er und schaute zu einem dunkelhaarigen Mädchen, das sich auf den Schoß eines pummeligen Jungen mit Pusteln im Gesicht setzte, der seine Hand besitzergreifend auf ihre Oberschenkel legte. Die Kleine war vermutlich im ähnlichen Alter wie seine Tochter, aber bis zu den Zähnen geschminkt. Ihr knapper schwarzer Minirock ließ wenig Spielraum für Fantasie und das bauchfreie rote Top musste früher ein BH gewesen sein, der nach dem Waschen aus dem Leim gegangen war. „Hast du eigentlich Leni gesehen?“
„Sie sitzt in der Lobby und spielt auf ihrem Handy.“
Beruhigt lehnte sich Jack zurück. „Also, was ist nun? Wie komme ich auf schnellstem Weg zu Mister Winter?“, verlagerte sich sein Interesse wieder auf das Geschäftliche.
Michael schälte sich aus seiner grauen Anzugjacke, die er auf den leeren Stuhl neben sich warf. „Der Hotelchef würde dir seinen Geländewagen leihen“, ließ er verlauten.
„Tatsächlich?“ Wenn das Fahrzeug im ähnlichen Zustand war wie das Hotel, würden sie es keine zehn Meter weit schaffen, obwohl es vermutlich die ärgste Schrottkiste nicht mit der Karre dieser Annie aufnehmen konnte.
„Worüber amüsierst du dich?“, erkundigte sich Michael.
Jack schaute ihn verwirrt an. „Über nichts. Warum?“
„Du schmunzelst.“
„Ich schmunzle nicht.“ Jack verdrängte den Gedanken an die Frau mit dem komischen Auto und der noch komischeren Uhr. „Vielmehr sondiere ich die Lage. Hast du dir den Wagen angesehen? Taugt er etwas?“
„In dieser Hinsicht lässt sich der Hotelchef nicht lumpen. Das Feinste vom Feinsten, sage ich dir. Deswegen ist der Wagen natürlich nicht umsonst“, druckste Michael auf einmal herum, beugte sich vor – wodurch der Tisch in leichte Schieflage geriet – und spielte mit dem Salzstreuer, in dem fast nur Reiskörner zu sehen waren. „Pro Tag verlangt er fünfhundert Pfund.“
„Das ist Wucher“, empörte sich Jack. „Du hast diesem Halsabschneider hoffentlich die Meinung gesagt.“
„Wir haben keine andere Wahl, und es ist ja nicht so, als könntest du dir die Summe nicht leisten. Die Hauptsache ist doch, dass du den Termin mit Mister Winter erfolgreich hinter dich bringst.“
„Das Geld ist nicht mein Problem. Ich mag es diesem Harry nur nicht in den gierigen Rachen werfen. Er ist nicht gerade ein Sympathieträger.“
Michael schob den Salzstreuer neben den Aschenbecher mit roter Werbeaufschrift und musterte Jack. „Sieh an. Du vermischst Persönliches mit Geschäftlichem.“
„Das mache ich nicht.“
„Doch, das tust du“, blieb Michael grinsend bei seiner Meinung.
„Und wenn schon. Ein geliehenes Fahrzeug ist kein Millionengeschäft. Deshalb darf ich mir etwas menschliche Regung durchaus leisten.“ Schwungvoll schlug Jack die Unterlagenmappe zu. „Der Vertrag ist in Ordnung. Jetzt fehlt lediglich die Unterschrift von Mister Winter.“ Im Geist sah Jack das Küstendorf bereits vor sich. Mit einer beeindruckenden Skyline, bunten Leuchtreklamen, einem Hafen für millionenschwere Yachten, Shopping-Malls und spiegelverglasten Hochhäusern.
„Ach ja, was ich noch fragen wollte“, grätschte sich Michael in seine verheißungsvollen Gedanken, „an der Limousine ist eine Beule. Hast du eine Ahnung, wieso?“
„Eine Frau ist mit ihrer Autotür dagegen gekracht.“ Eigentlich war diese Annie eine aparte Erscheinung. Langes dunkelblondes Haar, grüne Augen und vorwitzige Sommersprossen prägten ihr Gesicht mit der hübschen Sommerbräune. Trotz ihrer einfachen Jeans und dem T-Shirt mit V-Ausschnitt wirkte sie äußerst anziehend. Zumindest bis sie den Mund aufmachte. Diese Frau war ziemlich schlagfertig und kratzbürstig. Obendrein schien sie sein Reichtum nicht zu beeindrucken. Das war ihm bei Frauen noch nie passiert. „Den Schaden nehme ich auf meine Kappe.“
Michael stutzte. „Ich dachte, sie ist schuld.“
„Ist sie auch.“
Ein Schatten der Erkenntnis huschte über das Gesicht seines Freundes. „Ich verstehe. Sie erinnert dich an Carol.“
Jacks Laune sank sofort auf den Gefrierpunkt. „Kein Stück tut sie das“, dementierte er lauter als beabsichtigt, wodurch es im Raum wie aufs Stichwort still wurde. In der nächsten Sekunde hatten die Jugendlichen wieder ihr Interesse verloren und unterhielten sich lautstark wie zuvor. „Weder äußerlich noch charakterlich“, fügte Jack hinzu. „Deswegen lass die blöden Anspielungen. Außerdem haben wir Wichtigeres zu tun und ich für meinen Teil stelle mir lieber weiterhin vor, wie St. Agnes in einigen Jahren aussehen wird.“ Er hatte keine Lust, über Carol zu sprechen. Weil er niemandem zeigen wollte, wie es tatsächlich in ihm aussah. Nicht einmal Michael. „Ich sollte das Angebot des Hotelchefs annehmen, obwohl ich ihn runterhandeln werde, denn wie sagt Vater so schön: Mit Geld lässt sich zwar alles lösen, aber wenn es ums Bezahlen geht, muss man um jeden Dollar kämpfen.“
Konsterniert blickte Michael ihn an. „Es gab Zeiten, da hast du anders gesprochen.“
„Die sind vorbei“, sagte Jack bestimmt. „Ich habe mir den Platz in Vaters Firma hart erkämpft.“
„Worin ich dir durchaus zustimme. Trotzdem wirkst du allmählich wie sein Klon.“
Michael nahm sich selten ein Blatt vor den Mund, was Jack bisher nie gestört hatte. Diesmal war es anders. „Ich hatte meine rebellische Zeit und was hat sie mir gebracht? Meine Frau ist tot und ich kann von Glück sagen, dass mich Vater wieder eingestellt hat.“
„Der alte Jack gefiel mir besser, der sich gegen seinen Vater auflehnte und dessen Härte verurteilte. Insbesondere Carol trotz dessen Widerstand geheiratet hat. Du hast dich damals mit dem Handel von Antiquitäten selbstständig gemacht und bist völlig in deiner neuen Aufgabe aufgegangen. Nebenbei hast du …“
„Ich kenne mein Leben“, unterbrach Jack ihn zornig.
„Das mag sein“, blieb Michael hartnäckig. „Aber wo sind deine Ziele geblieben? Deine Werte? Natürlich war es hilfreich, dass du durch den Job aus dem Tief herausgekommen bist, dennoch wage ich zu behaupten, dass du es auch ohne die Hilfe deines Vaters geschafft hättest.“ Michael schüttelte den Kopf. „Sieh dich an, Jack. Seit über zehn Jahren musst du dich beweisen. Hart sein wie dein Vater. Erfolgreich. Ein Leben für die Firma. Privates bleibt völlig auf der Strecke.“ So hatte er Michael noch nie erlebt, der sich regelrecht Luft verschaffte, als würde er das alles schon eine Weile mit sich herumtragen.
„Was mich immerhin zum Teilhaber gemacht hat.“
„Dein Vater besitzt weiterhin die Mehrheit.“
„Reine Formsache“, regte sich Jack auf. „Im Übrigen würde ich dir raten, das Thema zu beenden und erinnere dich gerne daran, dass du ebenfalls für meinen Vater arbeitest.“
„Stimmt. Als dein Assistent und Berater. Allerdings bin ich in erster Linie dein Freund und kenne dich besser als du denkst. Auf Dauer wird dich das nicht glücklich machen. Weil nichts davon echt ist. Du überdeckst deine Trauer um Carol mit Geschäftigkeit. Alles ist geplant. Sogar deine Duschzeiten. Vermutlich, um den Erinnerungen keinen Raum zu lassen. Dabei wäre es so wichtig, die Sache mit Carol zu verarbeiten. Für Leni nicht minder. Oder hast du je mit ihr über ihre Mutter gesprochen?“
„Allmählich gehst du zu weit, Michael“, zischte Jack. „Was ich mit meiner Tochter bespreche, ist allein meine Sache. Außerdem ist sie nicht umsonst mitgekommen. Ich will Zeit mit ihr verbringen.“
„Um Versäumtes nachzuholen?“, traf er Jacks wundesten Punkt. „Du hast mit Leni dasselbe gemacht wie dein Vater mit dir. Bloß mit dem Unterschied, dass auf sie keine Mutter zuhause gewartet hat, die sich die Augen nach ihrem Kind ausheulte.“
„Mutter ist gut damit zurechtgekommen.“
„Dir zuliebe. Allerdings wart ihr euch nie so vertraut wie zu deiner Zeit mit Carol. Deine Mom hat Partei für dich ergriffen und nahm deine Frau mit offenen Armen auf. Seitdem du wieder für deinen Dad arbeitest, bist du derselbe Chauvinist geworden und deckst jede seiner Affären. Was du deiner Mom damit antust, scheint dich nicht zu interessieren. Oft genug hat sie sich bei meiner Mutter ausgeheult. Deshalb und aus anderen Gründen solltest du dein Leben gründlich überdenken, denn über kurz oder lang wird dich dein Vater in seine dunklen Machenschaften ziehen. Etwas, das dich damals aus der Firma trieb.“ Michaels Blick war zwingend, dennoch fuhr er bedachtsamer fort: „Du bist mir wichtig, Jack. Auch Leni und deine Mom, die ich von Kindesbeinen an kenne. Deshalb vergiss nie, dass du nicht wie dein Vater bist, egal wie sehr du ihm nacheifern willst. Einer wie er hat kein Gewissen. Du aber schon und irgendwann kommt man jedem auf die Schliche. Selbst einem Mann wie deinem Dad.“ Michael warf einen schnellen Blick auf die goldene Armbanduhr. „Du solltest langsam los.“
„Der erste vernünftige Satz in den letzten zehn Minuten.“ Abrupt sprang Jack hoch und nahm die Mappe an sich. Die Kanten drückten in die Innenflächen seiner Hände. „Ich melde mich, sobald die Sache unter Dach und Fach ist. Leni nehme ich übrigens mit.“ Beinahe fluchtartig verließ Jack den Saal und als er seine Tochter in der hellerleuchteten Lobby erblickte, blieb er neben der verstaubten Plastikpalme stehen, die den halben Lift verdeckte. Leni starrte hochkonzentriert auf das Handy und nagte an ihrer Unterlippe. Die neongelbe Latzhose und das neonpinke Shirt gehörten seit kurzem zu ihren Lieblingsoutfits. Unlängst hatte sie die Sachen in einem Karton am Dachboden gefunden. Eigentlich hatte Jack sie entsorgen wollen, aber er hatte es nicht übers Herz gebracht. Jetzt trug seine Tochter Carols Kleider auf, die ihr wie angegossen saßen.
Leni schaute plötzlich hoch, als hätte sie seinen Blick gespürt. Oder seine Gedanken gelesen. Den Schmerz gefühlt. Die Qual. Jack riss sich zusammen und ging zu ihr. Dabei lächelte er. „Ich fahre nach St. Agnes. Möchtest du mitkommen?“
„Wenn es sein muss“, kam die kaugummikauende Antwort. Große Lust schien sie ja nicht zu haben und wie die Jugendlichen im Saal lag auch sie eher auf dem Stuhl, als dass sie saß. Wieder einmal stellte Jack fest, wie schnell sie erwachsen wurde. „Alles ist besser als diese Langweile.“
„Schön“, meinte er. „Ich muss vorher etwas klären. Warte hier auf mich.“ Leni nickte und widmete sich wieder ihrem Zeitvertreib. Er indessen suchte Harry im Büro auf, und nachdem er ihn auf hundert Pfund heruntergehandelt hatte, wurden ihm feierlich die Schlüssel überreicht.
„Sie sind ein harter Geschäftspartner“, lobte Harry ihn, statt zu bedauern, den Kürzeren gezogen zu haben. Verwunderlich angesichts seiner augenscheinlichen Geldnot, die Jack ihm inzwischen unbenommen glaubte. Als Geschäftsmann übte er deshalb etwas Nachsicht mit ihm. Manchmal war das Einsparen von Personal eben nötig und wer wusste das besser als er selbst? Immerhin warf er ständig Leute raus …
♥
Annie bummelte durch den Ort. Begleitet vom Seewind, der durch die Straßen und Gassen fegte. Dann wiederum schien es, als würde er die Luft anhalten, weil sie keinen einzigen Hauch spürte. Wenigstens waren ihre Tränen getrocknet, obwohl Annie ahnte, dass sie beim geringsten Anlass wieder weinen würde.
Eigentlich hatte sie nach der Kirche auf direktem Weg nach Hause fahren wollen, aber der Anblick des Vaters würde sie noch mehr deprimieren als ohnehin. Deswegen hatte sie sich dazu entschlossen, einige Einkäufe zu erledigen und sich dafür Zeit zu lassen.
In der St. Agnes Bakery empfing sie der typische Geruch nach Backwaren. Ob Brötchen oder süßes Gebäck, auch Pasteten und anderes hatte die Bäckerei im Angebot. Annie lauschte dem Geplauder der Kunden, die über das Wetter oder das bevorstehende Bolster-Festival sprachen und sich mit Kuchen sowie Lamm-Minze-Wurstrollen eindeckten. Als sie an der Reihe war, kaufte sie einen Laib Brot, vier Butterbrötchen und nahm sich trotz gähnender Leere in ihrer Geldbörse ein Caramel-Shortbread mit. Etwas Nervennahrung konnte nicht schaden.
Als sie wieder ins Freie trat, schob sie die Einkäufe in ihre Tasche und biss vom Shortbread. Ohne irgendein Ziel ging sie weiter. St. Agnes war schon belebter gewesen, doch in spätestens einem Monat würden wieder Touristen über den Ort herfallen. Im Augenblick war es ihr nur recht, dass sie kaum jemandem begegnete – nicht einmal Einheimischen – weil sie weder Lust zum Grüßen noch zum Reden hatte.
Sehnsüchtig warf Annie einen Blick zum Beauty-Salon auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Noch nie hatte sie das Geschäft von innen gesehen und konnte sich lebhaft vorstellen, wie gut eine Auszeit im Salon tun würde. Auch das erlesene Antiquitäten-Geschäft vom alten Harold nahe dem Gemeindezentrum hatte sie bisher nur aufgesucht, weil er zur Clique gehörte, denn bei seinen Preisen vibrierten ihre Ohren.
Minnie war da um einiges günstiger mit ihrem Souvenirgeschäft. Ihr Mann Duncan war vor kurzem pensioniert worden und froh darüber, seinen langweiligen Job als Elektriker an den Nagel hängen zu können. Zeit seines Lebens hatte er ohnehin von einer Musikkarriere geträumt. Nun trat er manchmal mit seiner Gitarre in der Aloha-Bar auf. Früher war Annie mit Josie und später mit Roger oft dort gewesen wie auch im Taphouse, einer Après-Sea-Bar. Sie liebte die Atmosphäre und die Live-Bands, die dort spielten. Aber seitdem Josie weggezogen und es mit Roger aus war, hatte sie die Lokale nur sporadisch besucht. Es hingen zu viele Erinnerungen daran. Auch jetzt versetzte ihr der Gedanke an ihren Ex einen heftigen Stich.
Dabei hatte alles so romantisch begonnen. Im Chiverton-Park hatten sie sich zum ersten Mal geküsst, auf der Trevaunance-Road gestand er ihr seine Liebe, in der Trelawny-Road war er zuhause und … vor dem alten Schulhaus hatte sie ihn knutschend mit dieser Hexe Trish erwischt. Dort endete ihre Liebesgeschichte schließlich, weil Annie an Ort und Stelle mit ihm Schluss gemacht hatte. Seitdem begegnete sie ihm und Trish in der Pizzeria oder vor dem veganen Geschäft, in dem er stets einkaufte, da Roger äußerst gesundheitsbewusst lebte. Auch beim Driftwood war sie vor ihm und Trish nicht sicher gewesen, ebenso vor dem St. Agnes Hotel, beim Barber-Shop, dem Cuckoo Café, beim Blumenladen oder wie zuletzt bei Churchtown Arts … das war kurz vor Weihnachten gewesen. Sie hatte für ihren Vater nach einem Geschenk gesucht – Roger wollte eins für Trish kaufen, was er ihr natürlich brühwarm erzählen musste! Doch das Schlimmste war, dass Annie die beiden am Silvestertag im Chiverton-Park gesehen hatte. Hand in Hand waren sie völlig versunken an ihr vorbeispaziert. Der Schmerz war kaum auszuhalten gewesen.
„Annie, Kleines, huhu!“ Minnie stand plötzlich wie aus dem Nichts vor ihrem Souvenir-Geschäft und winkte ihr fröhlich zu. Wie üblich trug sie einen altmodischen Faltenrock mit Schottenmuster und einen ihrer legendären Rollkragenpullover, in die sie sich vermutlich täglich hineinschoss, so eng saßen die Teile. Das brachte ihre ohnehin große Oberweite noch mehr zur Geltung, von den üppigen Rundungen ganz zu schweigen. Abgesehen von ihrem etwas eigenartigen Modegeschmack und der Tatsache, dass sie sich bei jedem Verkauf verrechnete – natürlich zu ihrem Vorteil – war Minnie eine warmherzige und liebenswürdige Frau.
„Hallo, Minnie“, grüßte Annie über die Straße hinweg und beschleunigte ihre Schritte. So gern sie Minnie hatte, an ihrer Lustlosigkeit auf ein Gespräch hatte sich in den letzten Minuten nichts geändert.
„Willst du nicht rüberkommen?“
„Keine Zeit“, rief Annie zurück.
„Tatsächlich?“, schmetterte Minnies Stimme über die Straße herüber. „Ich dachte, du bist deinen Job los. Zumindest einen von zwei.“
Peinlich berührt schaute sich Annie um, bevor sie die Straße überquerte. Dabei wickelte sie ihr angebissenes Shortbread in das Papier. „Geht es noch lauter? Und woher verdammt weißt du davon?“, zischte sie, als sie vor Minnie stand.
„Die Wege des Herrn sind unergründlich.“
„Jeremy?“, entsetzte sich Annie und ein Blick in Minnies Gesicht genügte, um Gewissheit zu haben. „Er hat ein Beichtgeheimnis ausgeplaudert!“
„Warst du denn beichten?“, hakte Minnie spitz nach.
„Das nicht gerade … oh, diese alte Tratschtante!“
„Sei ihm nicht böse“, bat Minnie. „Als er mich vorhin anrief und eine neue Schlafmaske bestellte, habe ich sofort gemerkt, dass es ihm nicht gut geht. Du kennst ihn ja. Jeremy trägt das Herz auf der Zunge. Aber er meint es nur gut und macht sich Sorgen um dich, so wie wir alle.“ Prüfend taxierte sie Annie von oben nach unten. „Du solltest übrigens auf süße Leckereien verzichten.“
Genau das hatte Annie noch gebraucht. Vor allem nicht in Anbetracht dessen, dass Trish eine sportliche Frau war mit einer Figur, auf die jedes Mannequin neidisch gewesen wäre.
„Kein Grund, den Kopf hängen zu lassen, Mädchen. Du bist hübsch wie eh. Allerdings sieht man dir die Sorgen an. Geht es deinem Vater noch immer nicht besser?“
Mittlerweile hasste Annie diese Fragen. „Erkundige dich bei Jeremy. Der kann dir sicher eine Antwort darauf geben.“
„Ich möchte sie aber von dir hören.“ Minnie hob die Hände, wie es Annies Onkel beim Predigen oft tat. „Verflucht, habe ich zu Jeremy gesagt, Joseph braucht eine Aufgabe.“ Sie schüttelte den grau melierten Kopf und strich sich über die hochroten Wangen. Minnie hatte ein grobschlächtiges Gesicht und war in armen Verhältnissen aufgewachsen. Ihre Eltern hatten eine Farm im Hinterland betrieben, allerdings hatte Minnie seit ihrer Hochzeit mit Duncan weder zu ihnen noch zu den Geschwistern Kontakt gehabt. Inzwischen waren die Eltern verstorben, doch das hatte nichts am schlechten Verhältnis zu den Geschwistern geändert. „Duncan und Harold sind übrigens derselben Meinung.“
„Ich wüsste nicht, was Vater dazu bewegen könnte, sich gebraucht zu fühlen.“
„Deine Mutter vielleicht?“ In ihrem Blick lag ein seltsamer Ausdruck.
„Hat dich Jeremy angesteckt?“, machte Annie ihrem Unmut Luft.
„Ich lasse mich von niemand beeinflussen, so gut solltest du mich kennen. Da ich aber Marys beste Freundin bin, mache ich mir meine eigenen Gedanken. Insofern bitte ich dich inständig, nicht so hart mit ihr ins Gericht zu gehen. Wir machen alle Fehler.“
„Und schubsen andere damit in den Abgrund?“
„Dein Vater ist alt genug. Niemand hat ihn gezwungen, zur Flasche zu greifen.“
„Mag sein, dennoch war es egoistisch von ihr, ihn auf diese Weise zu verlassen. Noch dazu hat sie ihn betrogen!“, wurde Annie lauter, weil sie allmählich das Gefühl hatte, sich ständig verteidigen zu müssen. Davon abgesehen fand sie es ungerecht, dass sich offensichtlich jeder hinter die Mutter stellte. Ganz unrecht hatte ihr Dad demnach nicht gehabt. „Das ist unterste Schublade, gemein, hinterhältig und feige. Verlogen und niederträchtig!“
„Sprechen wir noch über deine Mutter oder bereits von Roger?“
Annie fühlte sich ertappt. „Der Typ kann mir gestohlen bleiben. Ebenso wie Mom.“
„Du musst endlich abschließen. Mit allem.“ Minnie trat einen Schritt näher und beugte sich verschwörerisch zu ihr, nachdem sie sich wie ein Cop umgesehen hatte, der einen Angriff aus dem Hinterhalt befürchtete. „Auch ich musste auf die harte Tour lernen, dass man gewisse Dinge im Leben nicht ändern kann. Rose hat mir sehr dabei geholfen. Geh zu ihr, sie könnte bestimmt dasselbe für dich tun.“
„Du meinst hoffentlich nicht Hokuspokus-Rose?“
Eifrig nickte Minnie. „Rose sieht Dinge, dass einem ganz anders wird und bisher ist alles eingetroffen. Probier es aus, danach kannst du immer noch lästern.“
Annie winkte ab und schaute zur Seitenstraße. Versteckt hinter einer Dattelpalme befand sich Roses kleines Geschäft, die Räucherkerzen, Duftseifen und andere überflüssige Dinge verkaufte. „Das ist nichts für mich, denn die Lösung meiner Probleme findet sich bestimmt nicht im Kaffeesatz.“
„Stimmt, eine Lösung kann sie dir nicht servieren, aber neue Perspektiven.“ Wie ein junges Mädchen eilte Minnie plötzlich zur Tür, zog die Silberkette mit dem Schlüssel unter ihrem Rollkragen hervor und verschloss das Geschäft, wozu sie sich etwas runterbeugen musste. Wie gewohnt hatte man bei solchen Gelegenheiten einen freien Blick auf den Ansatz ihres blanken Hinterteils, da sich der Pulli hochschob und der Rock in die entgegengesetzte Richtung abdriftete. Nicht zum ersten Mal stellte sich Annie die Frage, ob es Minnie mit der Unterwäsche hielt wie die Schotten … ein Gedanke, den sie jedoch sofort vergaß, weil sie energisch an die Hand genommen und in Richtung Seitenstraße gezogen wurde. „Manche Menschen muss man eben zu ihrem Glück zwingen.“
„Bist du verrückt?“ Annie riss sich von Minnie los. „Ich will nicht zu dieser Frau.“
„Und ob du willst!“ Minnie stemmte die Hände in die Hüften. „Es sei denn, du kannst allein damit fertig werden, dass dein feiner Roger am Tag des Bolster-Festivals heiratet.“
Annie starrte Minnie an. „Was … was sagst du da?“, stammelte sie den Tränen nahe. Die beiden waren erst seit einigen Monaten zusammen und nun wollte er diese Kuh sogar heiraten?
„Tut mir leid, dass ich mit der Tür ins Haus falle.“ Minnie wirkte nicht, als würde sie das schlechte Gewissen zerfressen. „Aber du kennst mich. Ich fackle nicht lange herum.“
„Nein, besonders sanft bist du tatsächlich nicht.“ Das durfte nicht wahr sein! Roger wollte tatsächlich heiraten? Etwas, das sich Annie immer für sich selbst gewünscht hatte. „Woher weißt du das? Von … von Jeremy?“ War er deswegen so hektisch geworden? Weil er Roger und Trish erwartet hatte?
„Der kleine Hosenscheißer hatte Angst davor, es dir zu erzählen. Allerdings wollten wir, dass du es von uns erfährst. Umso dringender brauchst du jetzt psychologischen Beistand. Wir können unmöglich dabei zusehen, wie du langsam vor die Hunde gehst. Und nun komm. Rose schließt gleich.“
„Diese Frau ist keine Psychologin, ganz im Gegenteil“, schnaubte Annie. „Wenn du mich fragst, hat Rose selbst eine nötig.“
„Dich fragt aber keiner! Hat der saubere Roger auch nicht getan, bevor er mit Trish ins Bett gehüpft ist.“ Minnie nahm ihr das Shortbread aus der Hand, bevor sie Annie wieder an die Kandare nahm, die sich diesmal widerstandslos mitziehen ließ, weil alles in ihr erlahmte. Nur ein Gedanke beherrschte sie und raubte ihr beinahe die Sinne: Roger wollte heiraten! Wie konnte er ihr das antun? Als hätte es die gemeinsame Zeit nie gegeben, legte er sie ab wie einen gebrauchten Mantel, den man möglichst schnell mit einem neuen austauschte. Bei Todesfällen nahm man doch auch nicht sofort den Nächstbesten, sondern ließ aus Anstand etwas Zeit verstreichen! Den schien ihr Ex jedoch nicht zu haben. Oder gab es einen triftigen Grund für die schnelle Hochzeit? War Trish womöglich … schwanger?
♥
Kaum hatte Jack vor der Villa geparkt, sprang Leni aus dem Auto und blickte sich um. Natürlich mit dem Handy in der Hand.
„Das ist der Hammer, Dad. Schau dir bloß die Aussicht an! Ein Traum, oder?“ Ihre großen Ohrringe klimperten wie die vielen Armbänder, die sie neuerdings trug.
Jack verschloss den Geländewagen, der tatsächlich über allerhand Technik verfügte. Sogar mit einem Navi war er ausgestattet. Leider auch mit einem dieser Duftbäumchen. Der künstliche Geruch hatte sich förmlich in seine Nase gebrannt. Sein armer Laptop auf dem Rücksitz würde vermutlich tagelang danach stinken.
„Es ist umwerfend“, schwärmte Leni munter weiter, während er an ihre Seite trat.
Sie hatten einen freien Blick auf St. Agnes und das aufgewühlte Meer. Selbst von hier oben konnte man die Gischt sehen, wenn die Wellen gegen Felsen brandeten. Unten an der Bucht spazierten einige Menschen am Strand entlang. Gelbe Kajaks reihten sich nahe dem Wasser auf, umringt von Leuten in Neoprenanzügen. Zwei von ihnen lösten sich aus der Gruppe und marschierten auf das Beach Café zu, dessen Name Jack entfallen war. Da dieses Grundstück jedoch nicht zum Verkauf stand, konnte er das durchaus verschmerzen. Anders verhielt es sich mit einem alten Zinnwerk und vor allem mit dem Geschäftshaus am Fuße der Küstenstraße, bei dem er kurz angehalten hatte. Wie sich bei der Recherche herausgestellt hatte, gehörte es beinahe der Bank und wirkte in Natura noch baufälliger als auf den Bildern. Ein großer Verlust würde dieser Schandfleck nicht sein. Insofern dürfte es ein Spaziergang werden, die Verantwortlichen auf seine Seite zu ziehen. Notfalls mit Schmiergeldern, die in jeder Branche ein gern gesehenes Zahlungsmittel waren … sogar in Banken. Danach erhöhte diese den Druck auf die Schuldner, denen irgendwann die Luft ausging. So zumindest hatte es ihm der Vater eingebläut.
Zufrieden atmete Jack tief ein und wischte sich über die feuchte Stirn. Für Ende April war es ziemlich warm. Bedingt durch den Golfstrom herrschte in Cornwall mildes Atlantikklima vor, wodurch die Gegend für britische Verhältnisse vergleichsweise sonnenverwöhnt war. Sogar Keulenlilien und kanarische Dattelpalmen hatte er bei der Herfahrt gesehen, die viele Gärten oder Parkanlagen schmückten. „Nicht übel“, ließ er verlauten und erspähte weiter unten an einer Kurve den Möbelwagen, der ihnen kurz vor der Villa untergekommen war.
„Nicht übel?“ Leni blickte ihn an, als wäre sie über seine Aussage enttäuscht, bevor sie sich zur Villa umdrehte. Jack tat es ihr nach und ließ den Bau auf sich wirken. Hier an der Küste schienen viele ein Faible für Weiß zu haben, doch da die Villa ohnehin in einigen Wochen nicht mehr stehen würde, tangierte ihn das nicht weiter. Um die verschnörkelten Säulen war es zwar schade, aber wo gehobelt wurde fielen Späne. So würde auch die großzügige Veranda mit der Rattan-Sitzecke weichen müssen, die Jack an einige Südstaaten-Filme erinnerte, die seine Großmutter früher gerne geschaut hatte.
„Kaufst du das Haus, Dad?“
„Das habe ich vor, ja.“
„Darf ich es mir ansehen?“
„Dazu sind wir hier. Also, lass uns Mister Winter suchen.“
Knapp vor der grün getünchten Tür eilte ihnen ein älterer Herr entgegen, der von der Rückseite der Villa kam. Er trug eine blaue Cordhose, ausgetretene Filzschuhe, ein kariertes Hemd und einen Strohhut. Nachdem er sich als Mister Winter vorgestellt hatte, vertieften sich er und Jack in das Verkaufsgespräch, wobei ihn der alte Herr mit Leni im Schlepptau durch die einzelnen Räume führte. Dabei tat Jack interessiert, da Mister Winter jede noch so unscheinbare Kleinigkeit in den Mittelpunkt rückte. Das war ein klares Indiz dafür, dass er sich mit dem Verkauf schwertat. Deshalb musste Jack Anerkennung heucheln, worin er einer der Besten war. Gelernt war eben gelernt.
„Über vierzig Jahre lang habe ich hier mit meiner Frau gelebt“, erzählte Mister Winter, als sie über die breite geschwungene Treppe zum Erdgeschoss hinuntergingen, das mit Schachbrettfliesen ausgelegt war. Möbeltechnisch war das Haus beinahe ausgeräumt. Nur die Küche war vollwertig ausgestattet, in zwei Schlafzimmern standen Betten und im Wohnzimmer ein rotes Sofa. „Aber nach ihrem Tod erinnert mich zu viel an sie.“ Jack fasste nach dem Geländer und dachte an Carol. „Wissen Sie, ich habe Beth sehr geliebt.“
„Ich bedauere Ihren Verlust, Mister Winter.“
Der alte Mann blieb unten am Treppenabsatz stehen. Auch Jack und Leni hielten ein.
„Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass Sie ehrlich sind“, sagte Mister Winter.
„Ich habe keine Ahnung, was Sie meinen.“ Jacks unangenehmes Gefühl verstärkte sich.
„Doch, die haben Sie.“
„Tut mir leid, Sie sprechen in Rätseln.“
„Dagegen sind Sie wie ein offenes Buch für mich. Meine alten Geschichten interessieren Sie nicht die Bohne, habe ich recht?“ Der alte Mann schien die Beobachtungsgabe eines Luchses zu haben. Dabei hatte Jack gedacht, dass er leichtes Spiel hätte. „Nun, junger Mann, soll ich Ihnen alles aus der Nase ziehen? Oder warten wir darauf, dass sie wie bei Pinocchio wächst?“ Als hätte er Jack gerade ein Lob ausgesprochen, legte er ihm die Hand auf die Schulter. Sein unter dem Hut hervorquellendes Haar glänzte silbern im hereinfallenden Tageslicht wie sein Bart. Altersflecken prägten sein Gesicht und die Hände, die etwas zitterten. Wie der Mund, wenn er sprach. Die blauen Augen wirkten trüb, als hätte sich ein Schleier darübergelegt. Die Haut war faltig und zeugte von einem bewegten Leben. „Was haben Sie wirklich mit meinem Zuhause vor? Wollen Sie es umbauen und so verändern, dass man es nicht mehr wiedererkennt?“
„Wo denken Sie hin?“, log Jack. „Ich möchte alles so belassen wie es ist. Meine Tochter und ich werden uns hier bestimmt sehr wohlfühlen, denn ehrlich gesagt habe ich schon lange nach einem Sommerhaus wie diesem gesucht.“ Herrgott, dieser Mann brachte ihn langsam aber sicher in die Bredouille.
„Wo ist Ihre Frau, wenn ich mir die Neugier erlauben darf?“ Mister Winter zog die Hand von Jacks Schulter, der zu seiner Tochter schaute, die mit gesenktem Kopf dastand.
„Carol starb bei Lenis Geburt“, antwortete er leise. Meinetwegen, hämmerte es in seinem Inneren und er versuchte die Bilder zu verdrängen. Bilder, die ihm jede Nacht den Schlaf raubten und ihn auch untertags häufig verfolgten.
„Dann versprechen Sie mir in Carols Namen, dass Sie diese Villa in Ehren halten werden.“
Jack war wie vom Donner gerührt. „Lassen Sie meine Frau aus dem Spiel.“
„Das geht nicht.“ Mister Winter sah ihm streng in die Augen. „In diesen Mauern steckt ein halbes Leben. Eines voller Liebe und Vertrauen. Auch ein erfülltes. Meine zwei Mädchen sind hier aufgewachsen und haben im Garten geheiratet. Jede Einzelne. Weil sie den Zauber dieses Hauses nie vergessen haben. Egal, wohin das Leben sie geführt hat. Deshalb war es auch ihr Wunsch, dass ich es nur an jemandem verkaufe, der diese Liebe spüren kann. Als Sie Ihre Frau erwähnten, tat ich es. Aber Sie haben dieses Gefühl mit ihr begraben.“ Nun wurde sein Blick beschwörend. „Holen Sie es sich zurück, bevor Sie ein unglücklicher alter Mann werden.“
Hatten sich denn alle gegen ihn verschworen?
„Damit sind Sie bei Dad an der falschen Adresse.“, mischte sich Leni ein, wofür sie Jacks zornigen Blick erntete. „Was denn?“, schob sie zu allem Überfluss nach. Das war es dann wohl mit dem Geschäft!
Mister Winter lachte jedoch, was Jack überrascht zur Kenntnis nahm. „Ihre Tochter gefällt mir“, stellte er schließlich fest, nachdem er sich wieder beruhigt hatte. „Sie erinnert mich an meine Frau. Die ließ sich auch nie etwas sagen und hat mich in die unmöglichsten Situationen gebracht.“
„Wem sagen Sie das.“ Jack lächelte. Noch schienen die Felle nicht endgültig davongeschwommen zu sein.
„Steht Ihnen übrigens gut.“
„Was?“
„Wenn Sie lächeln. Das sollten Sie öfter tun. Wie alt sind Sie? Ende dreißig?“
„Ich bin vor einem Monat vierzig geworden.“ Jacks persönliche Grenze war schon bei Weitem überschritten. Andererseits, was tat man nicht alles für ein gutes Geschäft?
„Dann haben Sie genügend Zeit, um das Glück wiederzufinden“, meinte Mister Winter mit einem gespannten Schmunzeln. „Ich verkaufe Ihnen die Villa.“
Nun war Jack perplex. „Sind Sie sicher?“
„Ja, das bin ich. Weil ich fest daran glaube, dass Sie hierherkommen mussten, damit Ihr Herz wieder auftaut. Und das wird es, Mister Flatley. Ein Sommer in St. Agnes kann vieles verändern. Ich weiß, wovon ich spreche. Allerdings möchte ich im Vertrag, den Sie mir vorab geschickt haben, eine Passage hinzufügen.“
„Die da wäre?“ Jack schwante Böses.
„Sie müssen meine Putzfrau übernehmen. Das Mädchen ist eine Perle und hat es nicht leicht.“
„Ich brauche keine Putzfrau.“
„Irrtum. Das tun Sie. Sonst ist der Deal gestorben.“
„Eine Putzfrau ist doch super, Dad“, stellte sich Leni auf die Seite von Mister Winter und tauschte einen Blick mit ihm, als hätten sie die absurde Forderung gemeinsam von langer Hand geplant.
„Nun? Sind wir im Geschäft?“
Jack nickte widerwillig. „Meinetwegen. Ich füge die mündliche Vereinbarung händisch im Vorvertrag hinzu. Alles weitere machen unsere Anwälte.“
„Schön.“ Mister Winter grinste und zeigte eine Reihe gelber Zähne. „Es wird Ihnen in St. Agnes gefallen, mein Junge.“ Die vertraute Anrede berührte Jack. Aber nur kurz. Hier ging es um ein Geschäft. Nicht mehr und nicht weniger.
„Davon gehe ich aus“, murmelte Jack und schlug ein, als ihm Mister Winter die Hand entgegenstreckte.
„Dann lassen Sie uns unterzeichnen.“ Er drückte Jacks Hand, bevor er sie losließ. „Ich muss nämlich dringend zum Flughafen, ehe ich es mir anders überlege.“
„Wohin fliegen Sie?“, fragte Leni, die beinahe traurig klang. Dabei kannten sich die beiden kaum. Jack indes hatte eine leise Ahnung. Mister Winter verkörperte einen Großvater, wie man ihn sich vermutlich in Lenis Alter vorstellte. Gemütlich, bedächtig, gütig – vom Äußeren her ähnelte er Carols Dad Robert, den Leni viel zu selten zu Gesicht bekam, obwohl sie sehr an ihm hing. Doch bisher hatte Jack den Kontakt eher unterbunden, als ihn zu fördern. Auch auf den Rat seines Vaters hin, der das genaue Gegenteil war. Sogar in der Freizeit trug er Anzüge, war penibel, ordentlich und achtete auf gute Umgangsformen.
„Nach Berlin“, gab Mister Winter bereitwillig Auskunft, während sich Leni das Handy in die ausgebeulte Hosentasche schob. „Dorthin, wo ich aufgewachsen bin. Sozusagen eine letzte Reise in die Vergangenheit und zu meinen Wurzeln. Ein Gedanke, mit dem ich schon lange spiele. Bisher schreckte ich jedoch davor zurück. Angst vor der eigenen Courage nennt man das wohl. Manchmal sollte man aber über den eigenen Schatten springen und neue Wege gehen.“ Beim letzten Satz hatte er Jack angesehen, der sich fragte, ob sich Michael und der alte Mann hinter seinem Rücken ausgetauscht hatten. Allerdings verwarf er den Gedanken gleich wieder, weil er völlig abwegig war. Ferner war es sein Leben und das ging keinen von beiden etwas an!
♥
Eine halbe Stunde später war Jack mit Leni alleine in der Villa und hatte sämtliche Anspielungen des alten Mannes wieder vergessen. Besser gesagt wurden sie von der Freude über das gelungene Geschäft verdrängt. Dem Wermutstropfen mit dem Passus maß Jack nicht allzu viel Bedeutung bei. Solche Schönheitsfehler konnte man ausmerzen, sein Dad fand immer Möglichkeiten. Das war bisher so gewesen und das würde auch in diesem Fall nicht anders sein. Außerdem war ein Abriss der beste Grund, um jemandem zu kündigen. Noch dazu hieß die Putzfrau Annie Murphy. Wenn es nicht zwei Frauen mit diesem Namen in St. Agnes gab, musste es sich um die Besitzerin des Geschäftshauses handeln, auf das er ein Auge geworfen hatte. Ohne diesen Job würde sie womöglich in finanzielle Schieflage geraten, was seinen Plänen mehr als entgegenkam. Tja, scheinbar hatten es Frauen namens Annie in Cornwall nicht leicht.
Ein Glas Champagner wäre jetzt genau das Richtige, denn das Schicksal meinte es gut mit ihm und während Jack einer Annie geholfen hatte, würde er der anderen den Gnadenstoß versetzen.
„Daddy?“ Leni zog ihn am Hemdärmel. Jack blieb vor der Küchentür stehen. „Hörst du mir eigentlich zu?“
„Natürlich“, schwindelte er.
„Dann bekomme ich wirklich eine YouTube-Ausstattung mit allem Drum und Dran?“ Ihre blauen Augen schimmerten feucht, als hätte er bereits zugesagt. Hatte er? „Oh, das wird klasse. Ich werde richtig durchstarten und zur einflussreichsten Influenza werden, die diese Welt je gesehen hat.“
„Noch ist das letzte Wort darüber nicht gesprochen“, wand sich Jack, der seiner Tochter kaum etwas abschlagen konnte. In diesem Fall lag die Sache jedoch etwas anders. Leni steckte mitten in der Pubertät und entwickelte sich langsam zur Frau. Auf der anderen Seite konnte sie ziemlich kindlich sein und war gesprächig wie eine Plaudertasche. Deswegen war abzusehen, dass sie alles über YouTube in die weite Welt hinausposaunen würde. Selbst ihre Auseinandersetzungen, die sich in der letzten Zeit häuften. Sogar dieses Geschäftsgespräch wäre nicht vor ihrem Plappermäulchen sicher. Von Bildern in Bikinis und Miniröcken ganz zu schweigen.
„Bitte!“ Leni zog ihren berühmt-berüchtigten Schmollmund. „Meine besten Freunde haben auch einen eigenen Kanal.“
„Welche Freunde meinst du? Die auf Facebook?“
„Ich habe schon über fünfhundert.“ Wie stolz sie aussah.
Jack ging in die Küche, die im Kolonialstil eingerichtet und mit den neuesten Geräten ausgestattet war. Sogar einen High-Tech-Induktionsherd gab es. Doch das war nichts gegen den antiken Holzherd, der den Mittelpunkt bildete. An der Wand darüber hingen ein paar Suppenkellen in verschiedenen Größen, ein Pfannenwender und ein Edelstahlsieb. Der abgewohnte Walnusstisch nahe den Fenstern bot Platz für mindestens zehn Personen. Die alten Dunkelholzstühle wiesen schöne Schnitzereien auf. Jacks Blick fiel auf jenen am oberen Ende, auf dem Mister Winter vorhin gesessen hatte. Ob das in den letzten vierzig Jahren sein Platz gewesen war?
„Die Lampen sind cool.“ Leni schaute zur Decke hinauf, während sie am Tisch vorbeiging. „Sie sehen aus wie Laternen.“
Auch Jack riskierte einen Blick. An einer Silberstange hingen drei Lampen herunter. Ganz hübsch, aber nicht sein Geschmack. Genauso wenig wie die Vorhänge mit dem Blumenmuster oder das violette Radio auf dem Fensterbrett. „Um darauf zurückzukommen: Facebook-Freunde sind keine richtigen Freunde, Leni.“
„Woher willst du das wissen, Dad? Du hast ja nicht einmal ein Profil.“
„Und trotzdem lebe ich noch“, blieb er bei seinem Standpunkt, denn diese Debatte hatten sie schon unzählige Male gehabt. „Als ich jung war, haben wir uns nicht in einer virtuellen Welt getroffen, sondern in der realen. Und wenn wir etwas gemocht haben, wurde es nicht geliked, sondern dem anderen gesagt. Ich wünschte, du könntest diese Zeit erleben, als es noch um echte Emotionen ging! Um wahre Freundschaften, die diese Bezeichnung auch verdient haben.“
„Echte Emotionen? Wahre Freundschaften? Ich sehe dich nur arbeiten, Dad.“
„Werd ja nicht frech!“
„Ich sag doch bloß“, mokierte sich Leni und setzte sich auf die marmorne Arbeitsfläche.
Jack blickte ermahnend zu seiner Tochter. „Außerdem hast du ständig dein Handy im Kopf. Das muss ein Ende haben, sonst werde ich es beschlagnahmen. Immerhin lassen deine schulischen Leistungen sehr zu wünschen übrig.“
Trotzig reckte sie das Kinn. „Steve Jobs hat es ohne Collegeabschluss geschafft. Mark Zuckerberg verließ angeblich Harvard und Präsident Lincoln soll die Schule kaum von innen gesehen haben. Dennoch haben alle Karriere gemacht.“
„Was sicherlich Respekt verdient. Allerdings ist das bestimmt nicht die Regel. Eine gute Ausbildung kann dir sämtliche Türen öffnen. Vor allem brauchst du sie jedoch, wenn du in meine Fußstapfen treten willst.“
„NB. Ich habe andere Zukunftspläne, Dad.“
„Du fängst jetzt nicht wieder mit der Schauspielschule an.“
„Und wenn?“ Herausfordernd blickte sie ihn an.
„Brotlose Kunst, mehr ist das nicht. Wovon willst du später einmal leben, wenn du keine Engagements hast? Von der Hand in den Mund?“
„Du könntest mich unterstützen, statt mir ständig alles madig zu reden.“
„Was meinst du konkret mit Unterstützung? Dass ich dir eine Wohnung bezahlen soll? Ein Auto, Essen und Kleidung? Hör mal, Leni, nur weil du einen reichen Vater hast, solltest du nicht davon ausgehen, dass du den goldenen Löffel bis ans Lebensende im Mund behalten wirst. Ich will Leistung sehen, dann können wir darüber sprechen, ob ich dir eventuell eine monatliche Finanzspritze zubillige.“ Jack hatte das Gefühl eines Déjà-vus. Ein ähnliches Gespräch hatte er selbst vor vielen Jahren mit dem Vater geführt. Nicht nur einmal. Allerdings war er älter gewesen als Leni, hatte aber wie sie plötzlich alles hinterfragt.
„Dein Geld brauche ich nicht, Dad. Ich schaffe es auch ohne dich.“
Ob sich sein Vater damals genau so hilflos gefühlt hatte? „Übrigens will Senta in ein paar Tagen nachkommen“, wechselte Jack das Thema, obwohl er im selben Moment wusste, dass er damit vom Regen in die Traufe sprang. Doch Senta gehörte nun mal zu ihrem Leben dazu.
Lenis Miene zog sich zusammen, als hätte sie in eine saure Zitrone gebissen. „Muss das sein? Ich dachte, dass nur wir beide Zeit in England verbringen.“
„Das tun wir ja, aber irgendwann solltest du den Unterricht wieder aufnehmen.“ Senta war Lenis Privatlehrerin. Eine attraktive Frau, die irgendwann zu seiner Lebensgefährtin wurde. „Obendrein weiß sie genau, was junge Mädchen mögen und ihr habt die Möglichkeit, euch auf andere Art und Weise kennenzulernen.“
„Ich mag Senta nicht.“ Eine Aussage, die er ständig von seiner Tochter hörte.
„Weil du ihr keine Chance gibst.“ Jack warf einen Blick aus dem Fenster. Am Horizont zogen Wolken heran. „Bei den vielen Kindermädchen, die ich für dich engagiert habe, hast du dich genauso bockig verhalten.“
„Die waren alle doof.“
„Natürlich sind wieder nur die anderen schuld.“ Warum gab es keine Gebrauchsanweisung für jedes Kind? „Wir sollten versuchen, uns irgendwie zu arrangieren“, verlegte er sich auf die sanftmütige Tour. „Immerhin werden Senta und ich bald heiraten.“ Jack klopfte an die Wand neben dem Fenster. Die Bausubstanz war gut. Kaum zu Ende gedacht, schüttelte er den Kopf. Und wenn in den Wänden riesige Löcher klaffen würden, konnte es ihm egal sein.
„Du beschließt zu heiraten und ich soll es stillschweigend akzeptieren. Wie ich mich dabei fühle, interessiert dich überhaupt nicht“, fauchte Leni.
„Du bist bald erwachsen und wirst deine eigenen Wege gehen. Senta ist eine wunderbare Frau. Gönnst du mir das Glück denn nicht?“
„Glück? Sie hat es nur auf dein Geld abgesehen!“
„Junge Dame, mäßige deinen Ton! Außerdem frage ich mich, wie du auf diese bösartige Unterstellung kommst.“
„Weil … weil …“ Leni hüpfte herunter und schaute ihn grimmig an. „Ach, vergiss es. Du würdest mir ohnehin nicht glauben. Wie immer.“
„So redest du nicht mit mir, verstanden? Schließlich bin ich dein Vater und kein kleiner Junge.“
„Du tust ja auch ständig so, als wäre ich noch ein kleines Kind.“
„Das bist du, wie man unschwer an deinem Verhalten erkennen kann.“
„Bestimmt nicht, denn einem Kind könntest du vielleicht weismachen, dass du dieses Haus behalten willst. Mir jedoch nicht. Wieso hast du den netten alten Mann angelogen? Du willst die Villa bestimmt abreißen, wie alle Häuser, die du kaufst.“
„Na und? Was spricht dagegen?“
„Die Geschichte, die Mister Winter erzählt hat. Und dass er dir wünscht, dass du wieder glücklich wirst. Er hat es nicht verdient, dass du ihn so hintergehst. So wie es viele nicht verdient haben, dass du ihnen etwas vormachst.“
„Du musst noch viel lernen, Leni. Vor allem, dass das Leben kein Märchen ist, sondern hart und schwierig sein kann. Wir müssen alle zusehen, wo wir bleiben.“
„Ich kann diesen Spruch nicht mehr hören und wenn ich mir überlege, wie du und Großvater Geschäfte macht, könnte ich kotzen.“ Kaum ausgesprochen lief sie aus der Küche.
„Du bist undankbar“, rief er ihr hinterher und ärgerte sich maßlos. Was glaubte seine Tochter denn, für wen er so hart schuftete? Immerhin führte sie ein gutes Leben und konnte sich vor Geschenken kaum retten, die schließlich nicht auf Bäumen wuchsen. Aber statt sich zu freuen, machte sie ihm das Leben schwer und verleidete ihm sogar die Beziehung mit Senta. Dabei bemühte sich seine Verlobte sehr um Leni, die ihr hingegen nur die kalte Schulter zeigte. Hoffentlich änderte sich das nach der Hochzeit. Immerhin waren sie dann eine Familie und würden zusammenleben. Allerdings wäre es vielleicht besser, wenn sie Leni nicht mehr unterrichtete, womit sie zumindest eine Konfliktsituation weniger am Hals hätten …
♥
„Du liebe Zeit, da ist aber einiges los in Ihrem Leben“, drang Roses Stimme zu Annie durch, in die langsam wieder Leben kam. Sie saß mit den Frauen an einem runden Tisch, auf dem ein geklöppeltes Set lag. Darauf stand eine Glaskugel, vor Rose eine Porzellantasse mit hellblauem Blumenmuster, in die sie mit geweiteten Augen hineinstarrte, als würde Frankenstein darin seine Runden laufen. Besser konnte man ein Klischee nicht bedienen.
Ohnehin wirkte das Geschäft, als hätte man es gemäß der Serie Buffy – im Bann der Dämonen eingerichtet. Ein Regal mit alten verstaubten Büchern nahm eine ganze Wandseite ein. Überall brannten rote Kerzen und es roch nach einem seltsamen Kraut. Bilder mit okkulten Zeichnungen lagen verstreut herum und auf einer großen Truhe Kapuzenumhänge sowie einige Hüte. Auf einer Biedermeierkommode wurde eine geöffnete Schatulle zur Schau gestellt, in der sich ein antiker Revolver befand. Daneben stand ein Glas mit Silberkugeln und nahe dem Eingang lehnte ein Holzpfahl. Dass die Wände und der Bodenbelag in grellem Pink gehalten waren, setzte dem Ganzen die Krone auf.
„Suchen Sie Dracula? Oder Barbie?“, konnte Annie nicht umhin zu fragen, die sich ärgerte, dass sie sich von Minnie zu dieser Frau schleifen ließ.
„Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als wir uns vorstellen können.“ Rose wollte ebenfalls nicht recht in das Bild des Geschäftes passen. Die Gute sah aus wie ein Marilyn Monroe-Verschnitt mit ihrem blonden kinnlangen Haar, das sich an den Spitzen lockte. Natürlich hatte sie das obligatorische Muttermal nahe den Lippen, das jedoch echt wirkte. Ihr Mund war rot wie das Kleid mit den weißen Längsstreifen, das vom Schnitt her an die Sixties erinnerte. Ohne Frage, sie hatte die Figur einer Zwanzigjährigen, die faltige Haut hingegen zeigte, dass diese Filmdiva längst in die Jahre gekommen war. „Sie sollten Ihren Horizont erweitern, junge Dame.“
So wurde Annie von Mrs. Wilde früher auch angesehen, wenn sie eine schlechte Note geschrieben hatte. „Nicht jeder kann mit solchen Dingen etwas anfangen.“
Minnie – die immer noch Annies Shortbread hielt – schaute Rose nachsichtig lächelnd an. „Die kleine Maus ist etwas neben der Spur.“
„Ich bin keine kleine Maus“, wehrte sich Annie.
„Gewiss, Schätzchen“, ließ Rose verlauten und schaute wieder in die Tasse. „Ich sehe tiefe Verletzungen.“
„Hat nicht jeder von uns Narben?“, zerstreute Annie diese Aussage postwendend.
„Natürlich. Aber Ihre sind frisch wie Fallobst.“
„Fallobst ist nicht frisch. Deshalb fällt es ja auch herunter.“ Sehnsüchtig blickte Annie zum Ausgang. Auf dem Glas prangte ein Schild. Geöffnet für alle Wunder dieser Welt. Für die Kehrseite fiel ihr spontan etwas ein: Geschlossen – weil es keine Wunder gibt.
„Hör ihr einfach zu“, bat Minnie, die das Shortbread auspackte und herzhaft hineinbiss.
„Das ist mein …“
„Schschsch!“ Rose legte sich den Zeigefinger an den schimmernden Mund. „Ich spüre eine fremde Energie im Raum.“ Plötzlich hob sie den Blick und musterte Annie, als würde sie sie zum ersten Mal sehen. „Ich kann ein Auto erkennen … es sieht lädiert aus.“
„Unser Alfa ist im Dorf bekannt wie ein bunter Hund“, gab Annie patzig von sich. „Und noch haben wir ihn nicht bestattet. Also kann er nicht im Jenseits sein.“
„Eine Energie zu spüren hat nichts mit den Welten zu tun, meine Teure. Außerdem meinte ich nicht Ihre Schrottkarre. Eher eine … Limousine. Eine weiße und da …“ Sie grinste auf einmal, als hätte sie soeben einen muskelbepackten Engel gesehen, während Annie an Flatley denken musste. Aber das konnte nur Zufall sein … „Was für ein Prachtbursche! Der erinnert mich an jemanden …“
„George Clooney?“, hakte Minnie kauend nach. Rose schüttelte den Kopf. „Kirk Douglas? John Wayne?“ Abermals schüttelte Rose den Kopf. „Dann fällt mir nur noch George Clarke ein, du weißt schon, der aus der Sendung Restauration-Man.“ Wie aufs Stichwort lehnten sich die Freundinnen aufseufzend zurück und erinnerten Annie stark an verliebte Teenager. „Von ihm würde ich mich gerne restaurieren lassen“, entschlüpfte es Minnie, die sich ordnend durch das dauergewellte Haar fuhr.
„Was du nicht nötig hast, meine Liebe.“ Wohlwollend wurde sie von Rose betrachtet, die ohnehin in höheren Sphären schwebte. Wie es aussah, trafen sich die beiden Mädels jedoch gerade auf derselben Ebene. Das wurde Annie allmählich zu bunt. Sie hatte andere Sorgen als sich dieses Gelaber anzuhören. Die gesamten Hiobsbotschaften des Tages mussten erst einmal verdaut werden. Allein – und nicht mit den Geistern, die sie nie gerufen hatte.
„Jedenfalls“, bemüßigte sich Rose weiterzureden, während sich Minnie den letzten Bissen in den Mund schob, „sehe ich Schnapsflaschen. Ihr Vater?“
„Was ebenfalls kein Geheimnis ist.“ Annie hätte am liebsten laut gelacht, wäre der Anlass nicht so traurig gewesen.
„Das wird sich alles fügen, junge Dame. Insbesondere werden Sie eine alte Liebe bald vergessen, denn ich sehe einen neuen Mann in ihrem Leben, wer immer dieser Adonis sein mag.“
„Von Männern habe ich die Schnauze voll.“
„Jetzt vielleicht. Dennoch wird er Ihr Herz im Sturm erobern.“
„Tatsächlich?“, flüsterte Minnie erstaunt. „Du weichst aber ziemlich von unserem Drehbuch ab … und bisher hast du kein Wort zu ihrer Mutter gesagt.“
„Was soll ich tun, wenn ich sie nicht sehen kann …“
Annie schaute von einer zur anderen. „Was wird das hier?“, rief sie aus, „ein abgekartetes Spiel? Habt ihr euch vorher überlegt, welche Geschichte ihr mir auftischt?“
„Du solltest dich mit deiner Mom aussöhnen“, wisperte Minnie und sank tiefer in den Stuhl.
„Sagt wer?“, erkundigte sich Annie mit säuerlichem Ton.
„Jeremy.“
„Steckt mein Onkel etwa mit euch unter einer Decke?“ Annie sprang vom Sessel auf und nahm ihre Tasche. „Sagt jetzt nicht, dass Jeremy diesen faulen Zauber unterstützt.“
„Ihr Onkel ist oft bei mir“, ergriff Rose das Wort, „sogar ein Mann Gottes braucht hin und wieder weltlichen Beistand.“
„Weltlichen Beistand, dass ich nicht lache! Aber schön. Nun weiß ich wenigstens, dass mein Onkel ein Geheimnisträger wie ein Nudelsieb ist. Das mit der weißen Limousine und diesem Typen habt ihr vermutlich ebenfalls von ihm.“
„Mit Jeremy habe ich nur über deine Mom gesprochen, wenn du es genau wissen willst“, erwiderte Minnie etwas verschnupft. „Was Rose vorhin meinte, ist mir schleierhaft.“ Es war grotesk, denn plötzlich grinste sie ihre okkulte Freundin an. „Du kannst tatsächlich im Kaffeesatz lesen. Scheinbar gibt es diesen Typen und die Limo.“
Rose verschränkte mit undefinierbarem Lächeln die Arme vor der Brust. „Und wie es den gibt. Jetzt weiß ich auch, an wen er mich erinnert. An einen Schauspieler. Scott …“ Sie blickte Annie in die Augen, die erstarrte. „Eastwood. Ein Sahneschnittchen, das Sie sich nicht entgehen lassen sollten, meine Liebe.“
„Diesen Unfug werde ich mir nicht länger anhören“, schimpfte Annie und eilte zum Ausgang. Nie wieder würde sie einen Fuß in dieses Geschäft setzen. Nie wieder!
Wie von Furien gehetzt öffnete sie die Tür, stürmte über die drei Steinstufen hinunter und wandte sich um, als sie plötzlich gegen ein junges Mädchen prallte.
„Aua! Können Sie nicht aufpassen?“, wurde Annie in der nächsten Sekunde angepflaumt.
„Entschuldige, ich habe dich nicht gesehen.“ Annie trat einen Schritt zurück und schaute dem Mädchen mit schlechtem Gewissen dabei zu, wie es sich an der Schulter rieb. „Habe ich dir wehgetan?“
„Nicht mehr als mein Dad.“ Auf einmal hatte die Kleine Tränen in den Augen.
„Hat er dich geschlagen?“, griff Annie zum Naheliegenden.
„Nein, so etwas würde Dad nie tun.“ Das Mädchen stopfte die Hände in die Hosentaschen. In ihren grellen Latzhosen war sie eine ziemlich auffällige Erscheinung. „Dazu müsste er mich erst wahrnehmen. Aber mein Vater kennt nur seine Arbeit.“
„Das tut mir leid.“ Wie es aussah, traf sich in St. Agnes derzeit das Schicksal jedweder Art. Als ob es alle dazu ermuntern würde, hierherzukommen, um sich seinen Teil abzuholen. Jedenfalls hatte sie das Mädchen nie zuvor gesehen. „Wie heißt du?“
„Leni.“
„Ein hübscher Name.“
Das Mädchen lächelte vage. „Danke. Und Sie?“
„Annie.“
„Auch ganz okay.“
Annie konnte sich nicht helfen, die Kleine kam ihr bekannt vor. „Bist du von zuhause weggelaufen?“
„Nein, ich mache nur einen Spaziergang.“
„Worüber deine Eltern informiert sind?“ Sie war bestimmt kaum älter als zwölf oder dreizehn Jahre.
Leni senkte den Blick. „Es wird nicht weiter auffallen, dass ich weg bin. Außerdem wollte ich in Ruhe telefonieren. Muss mein Dad nicht unbedingt mitkriegen.“
„Ein Junge?“ Annie dachte unweigerlich an Roger. Dieser Arsch!
„Nein“, entgegnete Leni und zog ein goldenes Handy aus der Hosentasche. Ein ähnliches hatte der Angeber von heute Morgen auch gehabt. „Ich schätze, der Mann ist bereits über siebzig oder so.“
„Du liebe Zeit, mit einem so alten Mann solltest du dich besser nicht einlassen.“
Jetzt grinste die Kleine. „Nicht, was Sie denken. Ich bin auf einer geheimen Mission. Und nun muss ich weiter, sonst fliegt er ab, ohne dass ich ihn warnen konnte.“ Schon lief Leni an ihr vorbei. Annie schaute ihr kopfschüttelnd nach, bis sie an der Ecke verschwunden war. Dann eilte sie ebenfalls weiter, denn sie wollte dorthin, wo sie einst so glücklich war.