Читать книгу Ein fast perfekter Winter in St. Agnes - Bettina Reiter - Страница 5

19. Dezember 1995, London

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Emma konnte die alte Eiche vor ihrem Elternhaus bereits von weitem sehen, als sie die verschneite Straße in Greenwich entlangschritt. Fahles Sonnenlicht fiel auf die knorrig verzweigten Äste und ließ die Schneekristalle schimmern, als hätte jemand einen Eimer voller Glitzer über den Baum gestreut. In Emmas Fantasie hatte die Eiche ohnehin Zauberkräfte und oft stellte sie sich vor, dass Elfen darin wohnten, die jeden Wunsch erfüllen konnten.

Je näher Emma der Eiche kam, desto mehr kribbelte es in ihr. Zu sehr hoffte sie, dass heuer alles anders werden würde. Deshalb nahm sie den Polizeiwagen nur am Rande wahr, der vom Grundstück ihres Elternhauses fuhr.

Viel wichtiger war ihr neunter Geburtstag und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als ein Geschenk von ihren Eltern. So, wie es bei ihren Schwestern Tiffany und Kim der Fall war, deren Geburtstage gefeiert wurden. Sie bekam bisher stets nur den doofen Spruch zu hören: In einigen Tagen ist Weihnachten, da gibt es ohnehin Geschenke.

Aber Emma wollte nicht auf Weihnachten warten, sondern zu ihrem Geburtstag etwas bekommen. Ein Tag, dem sie förmlich entgegenfieberte. Außerdem könnte sie endlich in der Klasse erzählen, was sich ihre Eltern für sie einfallen lassen hatten. So wie es die Schulkameraden oder ihre besten Freunde Linda und Grant taten.

„Du bist spät dran!“, begrüßte die Mutter sie, kaum dass Emma die Küche betrat. „Außerdem hast du noch deine Stiefel an. Zieh sie sofort aus. Ich habe gerade alles durchgewischt.“ Emma zögerte und schaute ihrer Mom dabei zu, wie sie im Topf rührte. Es gab Kartoffelsuppe. Ob die Torte im Kühlschrank war? Für Kim und Tiff gab es immer eine. „Wird’s bald, Emma. Ich habe nicht ewig Zeit und muss in einer Stunde in der Innenstadt sein. Deine Tante Camilla veranstaltet eine Lesung und kann jeden Zuhörer brauchen. Tiff und Kim kommen später mit Dad heim. Bis dahin bist du allein. Also kümmere dich in der Zwischenzeit um die Hausaufgaben und mach niemandem die Tür auf, verstanden?“ Ihre Stimme duldete keinen Widerspruch. „Es schleicht sich allerhand Gesindel in Greenwich herum.“

„War die Polizei deshalb da?“

„Du hast sie gesehen?“ Ihre Mutter wirkte plötzlich hektisch. „Nein“, dementierte sie sogleich. „Das hatte einen anderen Grund. Und jetzt mach was ich dir gesagt habe.“

Emma stand weiterhin wie angenagelt vor ihrer Mutter. Gleich würde sie lachen und sie in die Arme nehmen, um ihr zu gratulieren. Sie konnte unmöglich vergessen haben, wie schlecht es ihr beim letzten Geburtstag gegangen war. Immerhin hatte sie wie ein Schlosshund geweint. Oder war das Geschenk in ihrem Zimmer versteckt?

Flugs eilte Emma zur Schuhanrichte im Gang und schlüpfte aus den Stiefeln. Wenige Sekunden darauf landete der pinke Schulranzen daneben. „Ich gehe auf mein Zimmer“, rief sie der Mutter durch die halboffene Tür zu und war bereits bei der Treppe.

„In fünf Minuten wird gegessen“, kam es zurück. „Ach ja: Happy Birthday.“

Ihre Mom hatte es nicht vergessen!

Übermütig hopste Emma die Treppen hoch und kaum in ihrem kleinen Zimmer angelangt, ließ sie den Blick durch den Raum schweifen. Die weißen Stores vor dem gekippten Fenster blähten sich. Der Quilt auf dem Bett zeigte keine einzige Falte, die darauf schließen ließ, dass etwas darunter versteckt war. Vielleicht würde sie in den Schubladen fündig? Emma öffnete eine nach der anderen und verdrängte die aufkommende Enttäuschung. Noch hatte sie nicht alles abgesucht!

Aber weder im Kleiderschrank noch unter dem Bett oder hinter ihrem schneeweißen Lieblingsbären fand sie ein Geschenk. Als die Mutter zum Essen rief, trottete Emma hinunter und setzte sich an den großzügigen Tisch in Stein-Optik, der sich neben der offenen Küche befand.

Die Mutter stellte den dampfenden Teller vor Emma hin. „Ich muss mich umziehen. Kann ich mich auf dich verlassen?“

„Ja, Mom.“ Missmutig griff Emma zum Löffel. „Bekomme ich … ähm … nachher mein Geschenk?“ Sie dachte an die Eiche. An die Elfen.

„Ach, Emma, bald ist Weihnachten. Da gibt es genug Geschenke.“

„Ich habe aber heute Geburtstag!“, begehrte Emma auf und ließ den Löffel los, der dumpf auf dem Tisch aufschlug. „Kim und Tiff kriegen jedes Jahr etwas. Warum ich nicht?“

„Du und deine dumme Eifersucht“, fuhr die Mutter auf. „Was ist schon ein Geburtstag? Außerdem gibt es nichts, worüber du dich beklagen könntest. Wir tun alles für euch, also hör auf so undankbar zu sein und nimm dir ein Beispiel an deinen Schwestern. Die dramatisieren nicht laufend jede Kleinigkeit. Vielleicht solltest du deine Nase nicht ständig in Bücher stecken. Das Leben ist nämlich keine deiner Fantasiewelten. Davon abgesehen ist dein Dad ohnehin sauer, dass du mir ständig das Leben schwer machst. Also reiß dich gefälligst zusammen. Es gibt Menschen, die wirkliche Probleme haben.“

Damit ließ die Mutter sie allein. Emma starrte auf die Suppe, in die hin und wieder eine Träne platschte. Sie hasste Kartoffelsuppe. Vor allem hasste sie Weihnachten, weil dieses blöde Fest an allem schuld war. Aber Hauptsache, dieser Jesus wurde von allen gefeiert. Da kamen sogar drei Könige mit Geschenken vorbei. Blöder Geburtstag!

Missmutig trug Emma den vollen Teller in die Küche und sah die Mutter wegfahren. Das Funkeln der Eiche war erloschen. Schiefergrau hing der Himmel über dem Baum. Unzählige Schneeflocken wirbelten herab. Emma wünschte sich eine von ihnen zu sein. Irgendwann tauten sie und verschwanden für immer. Als wären sie nie da gewesen. Genauso fühlte sie sich. Als wäre sie nicht vorhanden. Deshalb würde es keinen interessieren, wenn sie die Hausaufgaben nicht machte. Wieso sollte sie? Trotz guter Noten lobte der Vater ständig ihre Schwestern. Sogar Tiff, die in Mathe eine Niete und in Deutsch eine Doppelniete war. Trotzdem bekam sie vorne und hinten alles hineingestopft. Da musste sogar Kim manchmal zurückstecken, was Emma jedoch nicht leidtat. Wenn es darauf ankam, stand die jüngste der Familie stets auf Tiffs Seite.

„Hast du deine Hausaufgaben gemacht?“, war das erste, das Emma auch heute von ihrem Dad hörte, als er mit ihren Schwestern zur Tür hereinkam. Tiffs und Kims Wangen waren gerötet. Sie rochen nach frischer Luft und etwas Süßem. Kandierte Äpfel? „Sag schon.“ Er zog sich die Jacke aus und hängte sie an die Garderobe.

„Ja, habe ich“, schwindelte Emma. Die waren garantiert eislaufen gewesen!

„Hol die Schlittschuhe aus dem Auto“, bat der Vater Kim, als hätte er Emmas Gegenwart bereits vergessen, die sich bestätigt fühlte. Verletzt und traurig. Ständig unternahmen sie etwas ohne sie. Nur wenn ihre Mutter dabei war, fuhren sie manchmal mit der ganzen Familie aus.

„Alles Gute zum Geburtstag“, wisperte Kim im Vorbeigehen. So leise, als hätte sie Angst, dass es irgendjemand mitbekommen könnte. Lächelnd schaute Emma ihr nach, bis ihr Blick auf Tiff fiel, die Kim erst aus den Augen ließ, nachdem die Haustür hinter ihr zugefallen war.

„Was hat sie zu dir gesagt?“, wollte Tiff prompt wissen, die einen nagelneuen Wintermantel trug. Himmelblau, mit abgesteppten Nähten und Goldknöpfen. Den hatte Emma vor einiger Zeit auf dem Weg zur Schule in einem Schaufenster gesehen. Leider hatte sie sich förmlich die Nase am Glas plattgedrückt, was Tiff nicht entgangen war. Jetzt lief sie damit herum, während Emma wie üblich in die Röhre schaute.

„Das geht dich nichts an“, antwortete Emma.

„Sag mal, wie redest du mit deiner Schwester?“ Ihr Vater hob drohend den Zeigefinger. „Sie hat dir eine einfache Frage gestellt. Statt höflich zu antworten, fährst du sie an. Du hast eine Woche Hausarrest.“ Triumphierend stand Tiff da, die sich den Mantel aufknöpfte. Emma hätte ihr die Goldknöpfe am liebsten einzeln ausgerissen. Mitsamt ihrem blonden Engelshaar. „Nicht schon wieder!“, schimpfte ihr Dad erneut. Unterschwellig war Musik zu hören. Wie jeden Tag um diese Zeit. Ihre alte Nachbarin Mrs. Bing hörte eine Stunde lang dasselbe Lied. Bei weit geöffnetem Fenster. Sommer wie Winter. „Irgendwann flippe ich aus! Ich kann dieses My Way nicht mehr hören.“ Er ging ins Wohnzimmer.

„Was hast du eigentlich zum Geburtstag bekommen?“ Tiff schälte sich aus ihrem Mantel und grinste. „Oh je, ich habe völlig vergessen, dass du jedes Jahr leer ausgehst.“

Ihr Spott tat weh, obwohl Emma längst daran gewöhnt sein müsste. „Lass mich in Ruhe.“

„Gern. Du bist sowieso eine blöde Kuh. Keiner mag dich. An deiner Stelle würde ich abhauen. Mom und Dad wären bestimmt froh darüber.“

Emma ließ den Kopf hängen. Es war immer dasselbe. Tiff schaffte es, sie zum Weinen zu bringen. Oder so weit, dass sie kein Wort mehr herausbrachte. Im Grunde hatte sie ja recht. Niemandem würde sie fehlen.

Ein Gedanke, der Emma durch ihre gesamte Kindheit begleitete. Sie blieb ein Fremdkörper in dieser Familie und fragte sich mit zunehmendem Alter, ob sie adoptiert worden war. Wer wusste es schon? Doch den Mumm, direkt nachzufragen, hatte sie nicht. Sonst würde es erneut heißen, dass sie aus allem ein Problem machte. Außerdem war ihr Vater mit den Jahren zunehmend weniger zuhause, wodurch sie nicht ständig seiner Nörgelei ausgesetzt war.

Mit einer kleinen Konditorei in London hatte seine kometenhafte Karriere begonnen. Als Emma zwölf war, besaß er bereits zig Filialen in ganz Großbritannien. Wenn er müde heimkam, zog er sich meistens in sein Büro unter dem Dach zurück und wollte nichts von den Problemen hören, mit denen sich die Mutter herumschlagen musste. Selbstredend, dass meistens Emma der Stein des Anstoßes war. Tiff ließ sich nämlich immer wildere Geschichten einfallen, um ihr den schwarzen Peter zuzuschieben. Nicht selten erfand sie sogar Sachen, um sie vor den Eltern in Ungnade fallen zu lassen. Wie unter anderem die dreiste Lüge, dass Emma Drogen nehmen würde. Ihr Vater war außer sich gewesen, der um seinen guten Ruf fürchtete. Nichts hasste er mehr als negative Publicity. Natürlich hatte Emma die haltlose Beschuldigung dementiert. Mit dem Ergebnis, dass ihr Vater sie das schwarze Schaf der Familie nannte. Sie war es wohl auch und wurde allmählich schweigsamer, bis sie sich überhaupt nicht mehr zur Wehr setzte.

Als Jugendliche flüchtete sie sich deshalb oft zu ihrer Tante Camilla, die eine Bücherei besaß. Die Schwester ihres Dads war nett, weshalb Emma mit sechzehn bei ihr im Laden jobbte. Manchmal kam ihre Mutter vorbei, um sich ein Buch zu kaufen. Bei dieser Gelegenheit erteilte sie der Tante oft Ratschläge. Insbesondere, wie sie sich endlich den Mann fürs Leben angeln oder das Geschäft modernisieren könnte. Dabei war es gerade das altwürdige Ambiente der Bücherei, das Emma über alles liebte. Ihrer Tante ging es scheinbar ähnlich, die nichts Wesentliches änderte und mit einer Engelsgeduld darüber hinweg sah, wenn sich Emmas Mom besonders an Weihnachten über zu viel Dekoration im Buchladen mokierte.

In dieser Angelegenheit waren sich Emma und ihre Mom ausnahmsweise einig. Wer brauchte Weihnachten? Kein Mensch! Selbstredend, dass die Geschichte Wie der Grinch Weihnachten gestohlen hat von Kindesbeinen an zu ihren Lieblingsbüchern gehörte. Oft las sie ihrem Bären namens Grinch daraus vor. Diese Zeiten waren zwar vorbei, die Abneigung blieb. Insbesondere, da es im Buchladen überall glitzerte und funkelte. Wo war eine Müllhalde, wenn man sie brauchte? Und dann dieses Gedudel. Ob beim Einkaufen oder in den Straßen, überall wurde Weihnachten besungen. Kitschiger ging es nicht mehr! Dennoch war ihre Tante mittendrin statt nur dabei. Sie, die ansonsten lieber Bücher für sich sprechen ließ und unter dem Jahr auf jeglichen Ramsch verzichtete.

Gelinde gesagt zeigte sich ihre Tante entsetzt, als sie hinter Emmas Anti-Weihnachts-Haltung kam. Vermutlich drängte sie ihr deswegen eine rote Kugel mit einer Masche auf. Angeblich die erste, die sie sich von ihrem selbstverdienten Geld gekauft hatte. Mit den Worten: „Es kommt der Tag, an dem du den Zauber von Weihnachten fühlen wirst“, überreichte sie Emma das geschmacklose Ding. Nur mit Mühe widerstand diese dem Drang, die Kugel augenblicklich fallen zu lassen. Ob es an Camillas feierlicher Miene lag? Am sentimentalen Ausdruck in ihren Augen? Oder an der Liebe zur Tante? Jedenfalls wäre die Kugel ohne diese Gründe im Nirwana gelandet. So hortete Emma sie jedoch, verabscheute Weihnachten weiterhin mit großer Leidenschaft und zählte mit zunehmendem Alter den Film Der Grinch zu ihren Favoriten. Zumindest die erste Hälfte davon. Dann schaltete sie um. Das Buch hatte sie an ähnlicher Stelle ebenfalls stets weggelegt. Leider ließ sich der sympathische Weihnachtsmuffel in weiterer Folge bekehren. Das würde ihr in diesem Leben sicher nicht passieren!

Abgesehen von solchen Tiefpunkten gab es auch Höhen. Wenigstens durfte Emma den Beruf ergreifen, den sie erlernen wollte und ließ sich zur Konditorin ausbilden. Ein Wunsch, den sie bereits in jungen Jahren gehegt hatte, da der Vater manchmal die ganze Familie mit in den Laden nahm. Während Kim und Tiff im Gastraum herumtobten, verzog sich Emma meistens in die Küche und schaute den Angestellten über die Schulter. Was sie aus einem Klumpen Teig herstellten, faszinierte sie so sehr, dass sie ihnen nacheifern wollte. Vielleicht spielte die Hoffnung mit, dass ihr Vater stolz sein würde auf sie. Immerhin trat sie als Einzige in seine Fußstapfen. Doch vor anderen Leuten hob er stets Kim hervor, die Ärztin werden wollte. Oder Tiff, die sich für Modedesign interessierte. Emma blieb weiterhin unsichtbar. Ganz so, als wäre sie nie geboren worden. Eine Schneeflocke eben …

Ein fast perfekter Winter in St. Agnes

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