Читать книгу Ein fast perfekter Winter in St. Agnes - Bettina Reiter - Страница 8
3. Kapitel
ОглавлениеEmma starrte auf das Lesezeichen vor sich auf dem Tisch und hatte keine Ahnung, wie sie zu Lindas Appartement gekommen war. Weil sie sich wie ferngesteuert fühlte und so viele Fragen hatte, die auf so vieles eine Antwort wären.
„Ich bin zuhause, Liebling“, flötete Linda lachend zur Wohnungstür herein. „Und ich habe jemand mitgebracht.“ Kaum war das letzte Wort verklungen, kam sie mit Grant im Schlepptau ins Wohnzimmer. Beide blieben jäh stehen. „Du liebe Zeit, ist etwas passiert?“
Wortlos schob Emma das Lesezeichen in Lindas Richtung. Mit dem Gefühl, als würde sie heißes Eisen anfassen.
„Was ist das?“, wunderte sich ihre Freundin, schlüpfte aus den beigen High Heels und trat zum Tisch. Grant folgte ihr und beäugte neugierig das Lesezeichen, das Linda in die Hände nahm, die in Angora-Handschuhen steckten. Ihre Freunde hatten gut durchblutete Wangen und dufteten nach frischer Winterluft. „Eine Telefonnummer?“ Auf einmal erhellte sich Lindas Gesicht. „Etwa von Mr. X?“
„Ich denke, sie ist von meinem Dad“, stellte Emma richtig. Unwissend, ob es tatsächlich so war, denn es klang seltsam. Immerhin hatte sie einen Vater. Seit einunddreißig Jahren. Dennoch ließ dieses Lesezeichen einen anderen Schluss zu.
„Und das wirft dich so aus der Bahn?“ Linda setzte sich, während Grant mit beiden Händen die Sessellehne umspannte und Emma mit einem ähnlich fragenden Blick bedachte wie ihre Freundin.
„Lies die Rückseite“, forderte Emma sie auf.
Linda drehte das Lesezeichen um. „Wir finden eine Lösung, Claire“, las sie laut vor. „Besonders für die Kleine. Bitte lass uns darüber reden. Ich werde bei der Wheal Coates Mine auf dich warten. Um zehn Uhr, an Silvester, unserem Tag. Dein R., Dezember 1986.“ Linda schaute vom Lesezeichen zu Emma und wieder zurück. Ihre Lippen bewegten sich, als sie sich erneut in die Zeilen vertiefte.
„Was bedeutet das?“, fasste sich Grant als Erster, der zwischen Emma und Linda Platz nahm. Umständlich wie ein alter Mann. Bei jeder Bewegung hörte man ein Knacken in seinen Knochen. „Woher hast du das Lesezeichen überhaupt?“ Er zog sich die graue Kappe vom Kopf und legte sie auf den Tisch. Die obligatorische Brille fehlte. Hin und wieder griff er zu Linsen, wenngleich ungern. Nicht selten zog er sich eine satte Augenentzündung zu. Da er aber blind wie ein Maulwurf war, konnte er weder auf das eine noch auf das andere verzichten.
„Aus der Tasche meiner Mutter“, erteilte Emma Auskunft.
Abrupt schaute Linda hoch, die allmählich zu begreifen schien, worauf Emma hinauswollte. „Du bist im selben Jahr geboren. Könnte es sein, dass du …“, sie räusperte sich, als hätte sie einen Frosch im Hals, „all die Jahre recht hattest und Ben in Wahrheit nicht dein leiblicher Vater ist?“
„Es würde vieles plausibler machen“, rief Emma aus, die sich völlig überfordert fühlte. „Die Tatsache, dass meine Geschwister mehr gelten als ich. Meine Gefühle, ein Fremdkörper zu sein und das Äußere. Tiff und Kim sind beide blond wie … Dad es früher war.“ Es fiel ihr plötzlich schwer, Ben so zu nennen. „Nur Mom hat schwarze Haare.“
„In der Tat wäre es möglich“, bestätigte Grant ihren Eindruck, der den Reißverschluss seines Parkas öffnete. Das Geräusch war für einen Augenblick das einzige im Raum. „Andererseits ist es schwer vorstellbar, dass sie das vor dir verheimlichen. So gemein kann kein Mensch sein.“
„Darauf würde ich keine Wette abschließen“, meinte Emma mit einem metallischen Geschmack auf der Zunge.
„Jetzt brauche ich ein Cola-Rum“, ließ Linda verlauten, legte das Lesezeichen auf den Tisch und erhob sich. Im Nu zog sie sich die Handschuhe aus und warf sie achtlos neben die Vase. „Wollt ihr auch eins?“ Grant und Emma nickten. Nur eine Minute darauf standen randvolle Gläser vor ihnen.
Wie die anderen sog Emma kräftig am gelben Strohhalm. Lindas Lieblingsgetränk war ziemlich stark. „Wenn das so weitergeht, werde ich über kurz oder lang an der Flasche hängen“, sagte sie mit Galgenhumor, nachdem sie sich zurückgelehnt hatte und deutlich die starre Sessellehne spürte. Als stünde sie mit dem Rücken zur Wand. Nicht anders war diese Situation zu beschreiben.
„Was mich nicht wundern würde.“ Grant schälte sich aus seinem Parka und hängte ihn über die Stuhllehne. Linda trug nach wie vor ihren beigen Kurzmantel und als würde sie sich erst jetzt darauf besinnen, zog sie sich die Baskenmütze vom Kopf. Schwungvoll landete sie neben dem Lesezeichen, das wie ein Brandmark vor Emma lag. „Wo ist dieses Wheal Coates eigentlich? In St. Agnes?“
Emma nickte. „Ich habe vorhin gegoogelt. Es gehört zu den Wahrzeichen des Ortes und sieht auf den Bildern ziemlich romantisch aus. Eine alte Zinn-Mine, sofern ich richtig gelesen habe.“
„Was willst du jetzt mit den Informationen anfangen?“, erkundigte sich Linda.
„Keine Ahnung.“ Emma schaute auf ihr Handy. Bis zu ihrem Besuch bei Camilla hatte sie es ausgeschaltet, da Tiff in Fünf-Minuten-Abständen anrief. Seitdem sie die Bücherei verlassen hatte, war es wieder in Betrieb. Irrwitzigerweise hoffte sie, dass sich ihre Mutter wegen dem fehlenden Lesezeichen melden würde. Inzwischen müsste sie die Tasche längst haben. Inklusive der Information, dass Emma das Lesezeichen bei ihrem überstürzten Aufbruch in der Hand hielt, was ihrer Tante sicher nicht entgangen war. Doch es war wiederholt Tiff, die anrief. „Es fühlt sich an, als wäre mein bisheriges Leben eine einzige Lüge gewesen“, stieß Emma aus. „Nicht genug, dass sie mir vermutlich den Vater vorenthalten haben, strafen sie mich sogar mit Gleichgültigkeit. Wer weiß, wie anders mein Leben verlaufen wäre, hätte ich ihn gehabt.“
„Das sind reine Spekulationen“, gab Linda sanft zu bedenken. „Vielleicht war er ein ganz mieser Kerl, vor dem sie dich beschützen wollten.“
„Denkst du das wirklich?“ Emma verließ den Tisch, weil sie es nicht mehr aushielt, und stellte sich zum Fenster. Sanft plätscherte die Themse vor sich hin. Über die Jubilee Bridge strömten viele Menschen mit ihren bunten Regenschirmen. Trist und grau zog der Abend heran, gegen den sich allmählich die Lichter der Stadt behaupten würden. Ob auf dem Riesenrad London Eye, hinter den Fenstern des Westminster Palace oder am Big Ben, den man ebenfalls von hier aus sehen konnte. Offiziell der Elisabeth Tower, da nur die schwerste der fünf Glocken Big Ben hieß, aber wie viele Londoner benutzte auch Emma die alte Bezeichnung für den Turm. Manches änderte sich eben nicht aufgrund eines Namens. Manches jedoch schon.
Wie dieser R. wohl aussah? Ob sie ihm ähnlich war? In der Art? Im Äußeren? War er gutmütig? Eigen? Besaß er Humor? Doch in der Tat waren es nur Hypothesen. Vielleicht hatte jemand ein Zitat aus irgendeinem Buch auf das Lesezeichen geschrieben. Mit dem Namen ihrer Mutter. Aus Jux oder Tollerei. Eine von vielen Erklärungen, die sich trotz aller Vernunft nicht richtig anfühlten. Weil Emma etwas Unbeschreibliches empfand. Ein Gefühl, als würde sie nach langem Herumirren in einem Labyrinth zum ersten Mal den Ausgang sehen. „Glaubt ihr, dass ich mich zu sehr hineinsteigere?“ Sie wandte sich zu ihren Freunden um und setzte sich auf die weiche mintgrüne Sitzauflage, die auf der breiten Fensterbank lag.
„Ich kann verstehen, dass dich das stutzig macht“, antwortete Grant, der einen erbsengrünen Pullunder mit V-Ausschnitt über dem weißen Hemd trug, eine graue Fliege und eine schwarze Bundfaltenhose. Sein altmodischer Kleidungsstil hatte schon die Aufmerksamkeit einiger Scouts auf sich gezogen, die Bilder von ihm auf Instagram veröffentlichten. „Wen würde es nicht zum Nachdenken bringen? Sicherheit wirst du jedoch erst haben, wenn du deine Eltern damit konfrontierst. Auch Gesten oder Reaktionen können eine Antwort sein, ohne dass jemand den Mund aufmacht. Verlass dich auf deinen Bauch, Emma. Womöglich hat er dir von Anfang an das Richtige gesagt.“
„Ich muss Grant beipflichten.“ Hastig sog Linda am Strohhalm, deren Glas beinahe leer war. „Du hattest einen Verdacht. Jetzt hat er sich erhärtet. Finde heraus, was es damit auf sich hat. Nur bitte verliebe dich nicht bereits jetzt in den Gedanken, dass du einen anderen Vater hast. Einen, der dich lieben wird. Bei dem du es gutgehabt hättest. Ich weiß, das hast du dir immer gewünscht. Allerdings ist das Leben kein Wunschkonzert und nicht jeder Mann ist automatisch ein guter Dad. Aber wem sage ich das.“
„Keine Sorge, ich mache mir keine Illusionen, denn mir ist bewusst, dass alles möglich sein kann“, versicherte Emma. „Obwohl ich das seltsame Gefühl nicht ignorieren kann.“
„Was ist eigentlich mit der Telefonnummer?“, warf Grant ein.
„Kein Anschluss unter dieser Nummer.“ Es wäre auch zu einfach gewesen.
Die Türglocke setzte ihrem Gespräch ein jähes Ende.
„Das wird der Pizzalieferant sein.“ Linda sprang vom Tisch hoch und knöpfte hastig den Mantel auf. „Ich habe mir am Nachmittag erlaubt, eine Kleinigkeit für uns zu bestellen. Wir haben ja deinen Geburtstag nicht gefeiert und unser Geschenk hast du ebenfalls nicht bekommen. Also lasst uns das Beste aus diesem Abend machen.“ Mit schwingenden Hüften und dem Mantel über dem Unterarm eilte Linda in den Korridor hinaus. „Was willst du denn hier?“, ertönte plötzlich ihre schrille Stimme.
„Ist meine Schwester bei dir?“
Tiff!
Wie von einer Tarantel gestochen stürzte Emma zum Tisch und schnappte sich das Lesezeichen, das sie sich in die Gesäßtasche ihrer Jeans schob. Gerade rechtzeitig, weil Tiff bereits im Türrahmen erschien und sie mit funkelnden Augen anstierte.
„Ich habe dich nicht hereingebeten“, schimpfte Linda, die sich drohend neben Tiff aufbaute.
„Reg dich ab. Ich bin gleich weg. Eigentlich wollte ich nur nach meiner ach so kranken Schwester sehen, die uns heute kläglich im Stich ließ.“
„Mir geht es wirklich nicht gut“, verteidigte sich Emma. Wie armselig. Kaum kreuzte Tiff auf, kuschte sie. Dabei war sie eine erwachsene Frau, keine Leibeigene oder ein kleines Kind.
„Das sehe ich.“ Tiff blickte zum Tisch. „Gibt es etwas zu feiern?“
„Mit Cola?“, machte sich Linda lustig über sie. „Ich bitte dich.“
„Deinem Atem nach ist es mit Rum gestreckt“, konnte sie Tiff nichts vormachen, die wieder umwerfend aussah in ihrem schwarzen Satinmantel mit dem Leopardenmuster auf der Schulter und den kniehohen Lack-Stiefeln, die schmutzige Abdrücke auf dem glänzenden hellbraunen Marmorboden hinterließen. „Warum starrst du mich so an, Emma?“, fragte Tiff schnippisch. „Neidisch, weil ich im Gegensatz zu dir vorzeigbar bin?“
Ihre Annahme war nicht weit hergeholt, denn Brandons Vorwurf hämmerte in Emmas Kopf. Es stimmte, dem Vergleich mit den Schwestern hielt sie niemals stand. Besonders was Tiff betraf.
„Falls du gekommen bist, um Emma zu beleidigen, kannst du gleich wieder gehen“, sprang Linda für sie in die Bresche. Eigentlich hätte Emma etwas in der Art sagen müssen. Um endlich klarzumachen, dass sie sich nichts mehr gefallen lassen wollte.
„Irrtum. Ich bin hier, um sie zur Vernunft zu bringen“, wurde Tiff unwirsch. „Die Belegschaft musste den Gästen laufend erklären, warum es keine frischen Eclairs gibt. Einige haben sogar mit schlechten Kritiken im Internet gedroht. Deshalb will ich wissen, ob ich morgen auf dich zählen kann, Emma.“
„Wir werden sehen“, rang sie sich zu einem halben Widerwort durch und tat nach außen hin cool. Leider wusste Tiff genau, welchen Schalter sie betätigen musste, um ihr ein schlechtes Gewissen zu machen. Zu sehr fühlte sich Emma für die Mitarbeiter verantwortlich.
„Schön“, äußerte sich ihre Schwester mit säuerlicher Miene. „Du musst selber wissen, was du tust. Aber ich könnte nie so egoistisch sein und meine Kollegen mitten im Weihnachtsgeschäft alleinlassen. Nun ja, nicht jeder ist verlässlich. Also amüsiere dich gut. Ich hoffe, du erstickst am Rum.“ Wütend stapfte sie hinaus. Als die Tür ins Schloss fiel, blickten sich Emma, Linda und Grant an.
„Eigentlich haben wir stimmungsmäßig neuerlich keinen Grund zum Feiern“, meldete sich Linda zu Wort, die sich schüttelte, als hätte sie den Leibhaftigen gesehen. Emma ging es ähnlich, nur dass sie das Lesezeichen wie ein Damoklesschwert über sich spürte. „Andererseits ist das der beste Grund, um es erst recht zu tun. Also, Leute, lasst uns heute Abend alles vergessen.“
Es war erst sechs Uhr morgens. Dennoch stand Emma in der Backstube. Ungeachtet der langen Nacht mit ihren Freunden, die ihr einen roten Sitz-Überzug für Reddy geschenkt hatten. Plüsch für die kalten Tage. Die beiden waren grandios.
Doch die Freude darüber konnte ihre innere Rastlosigkeit nicht auf Dauer verdrängen. Stundenlang hatte sie sich im Bett gewälzt und sich gefragt, wie sie die Sache angehen sollte. Denn dass sie dem nachgehen musste, stand fest. Sonst würde sie keine Ruhe finden. Deswegen war Emma unter anderem in die Konditorei gekommen. Beim Backen kamen ihr oft die besten Ideen. Außerdem half ihr diese Tätigkeit, um sich zu entspannen. Ein weiterer Grund waren die Angestellten. Das Weihnachtsgeschäft war tatsächlich jedes Jahr der reinste Horror und die Nerven aller lagen blank. Das musste sie nicht zusätzlich schüren, indem sie fehlte. Für Tiff hätte sie hingegen keinen Finger krummgemacht.
Das Wasser mit der Butter kochte auf. Emma hatte eine Prise Salz und etwas Zucker dazugegeben. Das Mehl stand neben dem Herd wie der kleine Messing-Streuer mit ihrer Geheimwaffe. Ein selbst kreiertes Gewürz, das den Eclairs den unnachahmlichen Geschmack verlieh. Unter anderem bestand es aus der Tonka-Bohne, echtem Süßholz, Kardamon, Chili, Koriander, Bourbon-Vanille und einem Hauch Kalu Namak. Im Winter erweiterte sie das Gewürz gerne mit Anis, Zimt, Pfefferminze oder Nelken. Im Frühjahr und Sommer griff sie zu Rosenblüten, rosa Pfeffer, getrockneten Blumen oder Kräutern. Der Fantasie waren keine Grenzen gesetzt. Allerdings musste man auf die korrekte Dosierung der Zutaten achten, damit sich das Aroma in den Eclairs perfekt entfalten konnte. Natürlich sollte auch die Füllung dazu passen, die eine Kunst für sich war. Diese Arbeit und das Dekorieren liebte sie am meisten.
Mittlerweile kochte es im Topf. Emma reduzierte die Hitze und fügte das Mehl hinzu. Danach rührte sie, bis der Teig glatt wurde und sich vom Boden löste. Als sie mit dem Ergebnis zufrieden war, zog sie den Topf vom Herd, damit die Masse abkühlen konnte.
Diese Zeit nutzte sie, um das übriggebliebene Schwarzgeschirr zu waschen. Vermutlich hatte ihr Vater ausgeholfen - oder zumindest der Mann, den sie bisher dafür hielt.
Emma riss sich sofort zusammen, mit Lindas Ermahnung im Hinterkopf. Es würde sich alles weisen. So oder so. Zuerst musste sie sich um die Arbeit kümmern, denn es sah fast so aus, als hätten gestern alle fluchtartig die Konditorei verlassen. Im Gastraum bot sich kein besseres Bild. Allerdings war sie vor zwei Tagen ebenfalls abgehauen. Deswegen war es nur gerecht, dass sie jetzt den Angestellten hinterher putzte.
Als zumindest die Küche wieder glänzte, widmete sich Emma der inzwischen warmen Masse und bestreute sie mit ihrem Geheimgewürz. Danach rührte sie ein Ei hinein. Nicht mit der Küchenmaschine oder dem Handmixer, wie es die meisten taten. Die Maschinen hatten kein Herz und keine Seele. Mit Liebe zu backen hieß, vieles von Hand zu machen. Auch wenn es anstrengender war. Emma glaubte jedenfalls fest daran, dass man den Unterschied schmecken konnte und arbeitete auf dieselbe Weise die restlichen Eier ein.
Als der Teig eine seidige Konsistenz hatte, füllte sie den Spritzsack damit und schob kurz danach die gefüllten Bleche ins Backrohr. Währenddessen bereitete sie eine weitere Masse vor, da sie auch herzhafte Eclairs anboten, süß-herbe oder anderes. Drei Stunden später stapelten sich die gefüllten Leckereien im Kühlraum. Nach einer Weile gesellten sich auch Cupcakes, zwei Torten und ein Apfelkuchen dazu, den sie nach einem alten Rezept buk, das sie vor Jahren in einer Zeitschrift gefunden hatte. Ohne Brimborium, was ihn gerade deshalb zu etwas Besonderem machte.
Um halb zwölf trudelten schließlich die Servicekräfte ein, denen Emma zur Hand ging, da sie wie jeden Tag um dreizehn Uhr aufsperrten. Früher war das anders gewesen. Der Vater hatte in aller Früh aufgemacht, doch Tiff führte neue Öffnungszeiten ein. Natürlich kam sie auch heute fast pünktlich mit den ersten Gästen zum Dienst und verzog sich sofort in ihr Büro neben dem Eingang.
Emma füllte laufend die Vitrinen mit Eclairs, Kuchen und Torten nach. Dann und wann half sie dem Servicepersonal hinter der Bar und wusch die Gläser ab. Am Nachmittag war die Konditorei brechend voll, trotzdem musste Tiff unbedingt zur Maniküre und blieb drei Stunden weg. Dabei hätten sie jede helfende Hand brauchen können.
„Geht es Ihnen wirklich besser?“, fragte Alice, mit der Emma die Gläser polierte. „Sie sehen etwas blass aus und hätten sich auskurieren sollen, statt zu arbeiten.“
„Es geht schon“, wich Emma aus. „Davon abgesehen kann ich euch nicht im Stich lassen.“ Zumindest das war nicht gelogen.
„So wie es Ihre Schwester laufend tut?“, erkundigte sich die Zwanzigjährige spitz. Alice studierte Psychologie und wohnte in einer WG. Ursprünglich kam sie aus Irland, wo ihre Eltern eine Farm besaßen. „Verzeihen Sie, das hätte ich nicht sagen sollen.“
„Stimmt. Du bist gefeuert, Alice!“, zischte Tiff, die plötzlich hinter ihnen stand.
„Bist du von allen guten Geistern verlassen?“, ergriff Emma Partei für das Mädchen, das leichenfahl wurde. Alle wussten, wie dringend sie den Job brauchte. London war ein teures Pflaster.
„Im Gegenteil.“ Tiff verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich sortiere aus und du bist die Nächste, wenn du noch einmal so mit mir sprichst, Emma. In der Konditorei bin ich deine Chefin, nicht deine Schwester, weshalb es keinerlei Narrenfreiheit für dich gibt.“
Emmas Herz raste und eine unbändige Wut erfasste sie. Es reichte! Das Fass war übergelaufen. Genau genommen war es das längst. „Narrenfreiheit? Mein Name ist Emma und nicht Tiffany!“ Zornig stellte Emma das Glas auf den Tresen und warf das Tuch daneben hin. Alice stand immer noch reglos da. „Du kommst und gehst, wann es dir passt. Kein Wunder, dass uns das ärgert. Alice hat nur ausgesprochen, was wir alle denken.“
„Du hast keine Ahnung, wie egal mir das ist.“ Allmählich wurden die Gespräche an den Tischen leiser. „Ihre Aussage war respektlos und ein Imperium wie unseres braucht eine harte Hand. Tanzt mir einer auf der Nase herum, tut es der Nächste ebenfalls und meine Arbeitsleistung steht ohnehin nicht zur Debatte. Davon abgesehen ließ Alices Einsatz in den letzten Wochen sehr zu wünschen übrig.“
„Sie ist eine der Fleißigsten!“ Emma bemerkte, dass das Mädchen gegen die Tränen ankämpfte.
„Du solltest jetzt besser den Mund halten“, warnte Tiff sie.
„Sonst was?“, zeigte sich Emma angriffslustig. Tiff hatte sie nicht nur auf dem falschen Fuß erwischt, sondern mit ihrem Verhalten Alice gegenüber eine Schleuse geöffnet. Nebenbei tat die Sache mit dem Lesezeichen ihr Übriges.
„Kannst du dir das nicht denken?“ Tiff zog die Augenbrauen zusammen. „Obwohl das zu viel verlangt wäre. Im Denken warst du nie eine Leuchte. Lieber hast du geheult über dein ach so schlimmes Dasein.“
„Woran du nicht unschuldig bist“, warf Emma ihr vor. „Du egoistische, berechnende und intrigante Schnepfe!“ Nie zuvor hatte sie so mit ihrer Schwester gesprochen oder sich vor den Angestellten mit ihr gestritten, die sie mit offenem Mund anstarrten. Sogar Tiff stand wie vom Donner gerührt da. „Von klein auf hast du ständig versucht, mir alles wegzunehmen, das mir wichtig war. Notfalls mit eiskalten Mitteln. Aber hast du ein schlechtes Gewissen? Nein, du beutest mich ohne mit der Wimper zu zucken aus und ich dämliches Schaf lasse das zu. Doch das hat ein Ende, weil ich nicht mehr für dich arbeiten will, du … du …“ Ihr fiel kein passendes Schimpfwort ein, und jene, die ihr in den Sinn kamen, wollte sie den Anwesenden nicht zumuten. „Ich kündige, und zwar fristlos.“ Tiff schnappte nach Luft. „Such dir eine andere Dumme, die für dich die Drecksarbeit macht. Ich bin raus.“ Emma zog an der Masche ihrer Schürze, zerrte sie sich förmlich vom Körper und schleuderte sie Tiff vor die Füße. Dann eilte sie in die Küche, um ihre Tasche zu holen und das Geheimgewürz einzustecken. Im Gastraum zurück, drängte sie sich an ihrer Schwester vorbei. Als Emmas Blick jedoch auf den roten Kapuzenmantel fiel, der am Haken der Bürotür hing, blieb sie wie gelähmt stehen.
„Gehört der Mantel dir?“ Bleiern wandte sie sich Tiff zu, die sie spöttisch von oben bis unten betrachtete.
„Eifersüchtig auf das Einzelstück?“ Ihr Lachen war widerwärtig.
„Du bist Brandons Affäre?“, flüstere Emma ungläubig. „Mein Mann hat mich mit der eigenen Schwester betrogen?“ Ein entsetztes Raunen ging durch den Raum. „Wie konntest du nur?“
„Du kennst seine Einstellung. Für ihn warst du nur das hässliche kleine Entlein. Welcher Mann gibt sich nicht lieber mit dem schönen Schwan ab? Tja, und Angie ist unser Codewort gewesen, wie meine ständigen Dates nur erfunden waren.“
Alle Blicke waren auf Tiff gerichtet. Entsetzte und angewiderte. Selbst das schien sie nicht zu merken, wie sie nichts mehr um sich herum merkte. Vielmehr fühlte sie sich scheinbar über alles und jeden erhaben. Im Recht. Sogar jetzt noch. „Du widerst mich an, Tiff.“
„Damit kann ich leben.“ Sie lachte gehässig. Doch niemand lachte mit. In der Konditorei blieb es mucksmäuschenstill. Bebend vor Zorn trat Emma vor ihre Schwester hin, die noch immer lachte - bis sie ihr eine schallende Ohrfeige verpasste. Das klatschende Geräusch erfüllte die Luft. Abrupt verstummte Tiff und fuhr sich mit geweiteten Augen an die linke Wange, auf der sich ein dunkler Fleck abzeichnete. „Das wirst du büßen“, zischte sie und schaute sich hastig um, als würde ihr erst in diesem Moment bewusst, dass sie nicht alleine waren.
„Zeig mich an, verklag mich oder mach sonst etwas. Es ist mir egal. Aber wenn du glaubst, dass du dich in meinem Haus breitmachen kannst, hast du dich geschnitten. Brandon kannst du hingegen behalten. Ich schenke ihn dir mit dem größten Vergnügen, weil ich schon lange nicht mehr glücklich bin. Insofern muss ich dir sogar dankbar sein, dass du mir die Augen geöffnet hast.“ Emma wusste, dass sie ihre Schwester damit am meisten traf. „Dein ursprünglicher Plan, mir eins reinzuwürgen, ist somit gescheitert. Aber irgendwann kommt alles zurück.“ Emma beugte sich näher zu Tiff. „So was nennt man Karma“, flüsterte sie. „Viel Glück. Du wirst es brauchen.“
„Die haben applaudiert, als du aus der Konditorei gerannt bist? Ernsthaft?“, vergewisserte sich Grant, mit dem sich Emma am nächsten Tag im Hyde Park verabredet hatte. Als IT-Manager konnte er sich die Zeit frei einteilen und arbeitete meistens im Homeoffice.
„Peinlich, was?“ Trotz ihres schlechten Gewissens, sich vor allen Leuten derart gehen zu lassen, freute sich Emma über den Zuspruch der Gäste und Angestellten, der sie bestärkt hatte. In einem Augenblick, als sie sich unendlich schwach fühlte und gleichzeitig nie stärker gewesen war. „Ich bin immer noch fassungslos“, stieß sie aus. „Brandon und meine Schwester! Wie konnte sie so tief sinken?“ Es war unbegreiflich. Dabei hatte sie gedacht, Tiff hätte sich schon alles geleistet.
„Wenn du mich fragst, passen die zwei ausgezeichnet zusammen.“
„Das ist wahr. Trotzdem finde ich keine Worte dafür.“ Eine Weile schwiegen sie. „Was für eine Wendung! Bis vor kurzem hatte ich einen Ehemann, einen Job und zumindest im Ansatz eine Familie. Jetzt habe ich gar nichts mehr.“ Hinzu kam Emmas Sorge wegen dem Personal. Durch ihre Kündigung hatte sie es ihnen nicht einfacher gemacht. Andererseits wollte sie keinen Tag länger für Tiff arbeiten und für Alice würde sich eine Lösung finden lassen. Linda hatte viele Kontakte. Womöglich konnte der Concierge weiterhelfen.
„Vielleicht musste es so kommen. Damit du das Neue siehst, sobald sich der aufgewirbelte Staub gelegt hat“, philosophierte Grant, dessen Leidenschaft die Oper und alte Literatur war. Deshalb hielt er sich oft stundenlang in Camillas Buchladen auf, die sogar eine Zeit lang geglaubt hatte, er würde auf sie stehen.
„Glaubst du?“ Ein kleiner Lichtblick in dieser Misere wäre zu schön, um wahr zu sein.
„Ich bin sogar felsenfest davon überzeugt, dass es ab heute bergauf gehen wird. Mit freier Fahrt voraus.“ Grant legte den Arm um ihre Schulter und zog sie liebevoll an sich. Wie ein Paar schlenderten sie weiter, obwohl er bestimmt lieber Linda im Arm gehalten hätte. Seit Jahren liebte er ihre Freundin und hatte Emma häufig sein Leid geklagt, die ihm riet, offen mit ihr darüber zu reden. Grants Selbstbewusstsein war leider ähnlich verkümmert wie Emmas. Er traute sich nicht. Aufgrund seiner Krankheit, seines Äußeren und anderen Dingen. Ebenso wenig fruchtete ihr Rat, Abstand zu halten, bis es nicht mehr so wehtat. Das schaffte ihr Freund erst recht nicht und so litt er still vor sich hin. Emma mochte sich kaum ausmalen, wie es ihm gehen würde, sofern sich Linda eines Tages neu verlieben sollte.
„Was hältst du davon, wenn wir morgen gemeinsam zum Arzt gehen?“, schlug Emma vor, da jeder Schritt eine Tortur für Grant war, wie sie seinem schmerzerfüllten Gesicht ablesen konnte. „Zeit genug hätte ich, um dich zu begleiten.“
„Themenwechsel“, zeigte er sich stur. „Ich hasse Ärzte.“
„Aber sie können dir helfen.“
„Meinst du so wie meiner Mom?“ Die Furcht war deutlich zu hören. Grant wuchs mit drei Geschwistern auf. Seine Mutter hatte hart gearbeitet, um die Familie durchzubringen, da sein Vater über Nacht verschwand. Nach drei Jahren heiratete sie erneut. Grant verstand sich blendend mit seinem Stiefvater, der sich rührend um die Mutter kümmerte, die ebenfalls einen weiten Bogen um jeden Arzt machte. Ungeachtet ihrer Schmerzen durch die Verformung der Wirbelsäule und dem Buckel, der sich im Laufe der Jahre entwickelte. Eines Tages hatte Grants Stiefvater sie bewusstlos aufgefunden und sofort ins Krankenhaus gebracht. Dort stellte man einen sehr schweren Krankheitsverlauf fest, der eine Operation unumgänglich machte. Bedauerlicherweise endete dieser Eingriff damit, dass sie seitdem im Rollstuhl saß. Grants größter Albtraum.
„Natürlich ist es schlimm, was deiner Mutter passiert ist. Doch sogar sie und dein Stiefvater raten dir eine gründliche Untersuchung an. Je eher du etwas dagegen unternimmst, desto besser.“
„Genauso gut könnte ich von dir fordern, sofort zu deinen Eltern zu fahren und die Sache mit dem Lesezeichen zu klären. Tust du es denn? Oder schiebst du es vor dich her?“
„Ich schiebe“, gab Emma zerknirscht zu. Ein gutes Vorbild war sie tatsächlich nicht, obwohl der Vergleich hinkte. Seine Krankheit war um einiges schlimmer. „Leider macht es der Zwischenfall mit Tiff nicht einfacher.“ Innerlich haderte Emma damit, dass der erhoffte Anruf ihrer Mutter ausblieb. Möglicherweise hatte das Lesezeichen keinerlei Bedeutung. „Definitiv muss ich mit ihnen reden. Zumindest mit Mom. Nur wie und wo, das steht in den Sternen. Außerdem läuft mir die Zeit davon. Sie fliegen bald in den Urlaub.“
„Das wird schon. Nur Mut. Immerhin hast du deiner Schwester endlich die Stirn geboten und Brandon darf sich mit dieser Anwältin herumschlagen. Du bist längst nicht mehr das Mäuschen von vor ein paar Tagen.“
„Keiner ändert sich von heute auf morgen und Gewalt ist keine Lösung.“ Die Ohrfeige lag ihr im Magen. Obwohl sie gutgetan hatte. Dennoch hätte sie sich nie dazu hinreißen lassen dürfen.
„Das behauptet niemand. Und Tiff wird es verkraften.“ Er lächelte. Dann genossen sie die Stille im Hyde-Park. Eine riesige Grünfläche im Herzen Londons, die weder Straßenlärm noch Hektik kannte. Nur das Rauschen des Windes war zu hören, Vogelgezwitscher oder übermütige Kinder, die herumtobten.
Emma war immer gern hier gewesen. Leider gehörte der Hyde-Park auch zu den Freizeitbeschäftigungen, die im Laufe der letzten Jahre auf der Strecke blieben. Dabei tat es gut, durch diese Oase zu schlendern. Die frische Luft auf der Haut zu spüren. Sich an der Umgebung zu erfreuen, die wie unter Zuckerguss lag.
Besonders schön war der Park im Frühjahr. Kirschbäume verzauberten die Alleen mit ihren zarten Blüten, die wie ein Dach die Wege beschatteten. Im Sommer blühte es ringsum. Am Serpentine Lake konnte man schwimmen oder rudern. Es gab die Gelegenheit zum Bowlen und den Park mit dem Rad zu erkunden. Vom Rosengarten bis zum Green Park, wo sie oft in der Nähe des Triumphbogens gesessen hatte, um ein Buch zu lesen.
„Wo treffen wir uns eigentlich mit Linda?“, wollte Emma wissen. Grant hatte ihre Freundin vorhin angerufen, während sie Reddy volltankte. Linda versprach nachzukommen. Ein oder zwei Stunden würde sie sich angeblich freischaufeln können. „Beim Café?“ Sie näherten sich dem Speakers Corner. Hier konnte jeder nach Lust und Laune eine öffentliche Rede halten. Egal, über welches Thema. Nur die königliche Familie durfte nicht erwähnt werden. Manchmal waren die Bänke des Cafés und auf dem Gelände bis zum Bersten besetzt. Jeder konnte zuhören oder gegebenenfalls mitdiskutieren. Nicht selten artete es in Streit aus.
Plötzlich stutzte Emma, weil ihr Blick auf eine Frau fiel, die unweit des Cafés unter einem Baum saß. „Das ist ja Mom“, murmelte sie. „Was für ein Zufall.“
„Es ist keiner. In Wahrheit habe ich sie angerufen. Nicht Linda.“ Grant blieb stehen.
„Was soll das?“, wurde Emma sauer.
Sanft umfing Grant sie an den Schultern. „Da ich ahnte, dass du nach der Sache mit Tiff erst recht zögern würdest, habe ich mich dazu entschlossen, dir auf die Sprünge zu helfen. Bis deine Eltern aus der Karibik zurückkommen, wärst du ein Nervenbündel.“
„Das ist nicht in Ordnung, Grant!“
„Mag sein. Nur musst du dich irgendwann sowieso stellen. Wieso nicht jetzt gleich?“ Er ließ sie los. „Ich warte in einiger Entfernung auf dich. Viel Glück.“
Emma blickte ihm grimmig hinterher, bevor sie sich zögernd in Bewegung setzte und ihre Mom in Augenschein nahm, die vor sich hinstarrte. Erst als sie sie beinahe erreicht hatte, hob die Mutter den Kopf. Mit einer Mischung aus Unnahbarkeit und Angst schaute sie ihr entgegen. Doch da lag noch etwas anderes in ihren grün-braunen Augen, das Emma nicht deuten konnte.
„Du wolltest mich sprechen?“, wurde sie kühl von ihrer Mom empfangen, die dennoch zur Seite rückte. Emma ließ sich neben ihr nieder und blickte zum menschenleeren Café. Über ihnen fing das dichte Zweigwerk die Schneeflocken auf. Hin und wieder stahl sich eine hindurch und schwebte wie eine Feder auf sie herunter.
„Grant hat das eingefädelt“, fühlte sich Emma in Erklärungsnot und spürte die kalte Bank trotz ihres warmen Mantels. „Er findet, dass wir reden sollten.“
„Bist du derselben Meinung? Wenn ja, mach es kurz. Dein Vater holt mich gleich ab.“ Der Wind strich über ihren weißen Pelzmantel, der ihre Blässe unterstrich wie die dazu passende Kappe. Im begehbaren Kleiderschrank ihrer Mom fanden sich viele solcher Mäntel und Hauben, die sie zu allem Überfluss mit Stolz trug. Sogar der Umstand, dass zwei Jahre zuvor eine Tierschutzaktivistin vor dem Royal Opera House auf sie losgegangen war, trübte ihre Kauffreude in keiner Weise. „Wir wollen in eine Fotoausstellung“, fuhr die Mutter fort, „Sie zeigen Bilder aus Cornwall und Schottland.
„Cornwall?“ Als wäre es ein Wink mit dem Zaunpfahl! „Ist St. Agnes auch dabei?“, platzte es aus Emma heraus, die ihre Mutter nicht aus den Augen ließ. Um keine Regung zu verpassen. Keine Geste.
„St. Agnes? Was soll das sein? Ein Krankenhaus?“ Sie wich Emmas Blick aus und strich sich fahrig über die Spitzen des dunklen schulterlangen Haares, das sie seit Jahren färbte. Dennoch zeigten sich graue Strähnen. Ihr letzter Friseurbesuch musste eine Weile her sein.
„Wir wissen beide, dass ich das Küstendorf gemeint habe, Mom.“ Unweit von ihnen hopste ein Spatz herum und machte keine Anstalten wegzufliegen. Die Vögel und Eichhörnchen fraßen den Parkbesuchern buchstäblich aus der Hand. Wider jede Natur, so süß der Anblick und diese Zutraulichkeit auch waren.
„Du sprichst in Rätseln“, wurde ihre Mutter unwirsch und kratzte sich an der schmalen Nase. „War’s das?“
„Verdammt, Mutter!“ Emma wurde von der plötzlichen Verzweiflung übermannt, dass sie womöglich nie die Wahrheit erfahren würde. Aber sie hatte ein Recht darauf! „Ist Ben mein leiblicher Vater?“
Ihr Lachen wirkte affektiert. „Wer sollte es sonst sein? Womit dieses lächerliche Gespräch beendet ist.“ Ehe Emma sie zurückhalten konnte, stand sie auf und eilte davon. „Es war ein Fehler herzukommen“, rief sie über die Schulter. „Aus deinem Mund ist nie etwas Sinnvolles gekommen.“
„Aber aus deinem oder was?“, wurde Emma ebenfalls laut und lief ihr nach. Als sie auf gleicher Höhe waren, hielt sie ihre Mutter am Arm zurück, in deren Augen Tränen schwammen. Sofort war Emmas Zorn wie weggewischt, die ihre Mom losließ, obwohl sie sich am liebsten an sie geklammert hätte. Wusste der Teufel wieso. „Ich bitte dich inständig“, verlegte sich Emma aufs Betteln, „gib mir eine Antwort. Bin ich das Kind eines anderen?“
„Ich wollte nie, dass du es erfährst“, gestand ihre Mutter plötzlich mit bebender Stimme. Schneeflocken vermischten sich mit ihren Tränen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie weitersprach: „Weil ich nicht stolz darauf bin, Ben betrogen zu haben. Doch ich kam nicht gegen meine Gefühle an. Er war meine erste große Liebe, bis sich unsere Wege trennten. Dann heiratete ich Ben. Wir bekamen Tiffany und als ich eine schlimme Lungenentzündung hatte, riet mir der Arzt dazu, ans Meer zu fahren. Ich entschied mich für St. Agnes und verbrachte einen Monat dort. Im Wissen, dass ich deinen … Vater vermutlich wiedertreffen würde, da er aus diesem Ort stammt.“ Ihre Miene wurde frostig. „Schließlich erfuhr ich, dass ich schwanger bin. Ben tobte natürlich.“
„Was man ihm nicht verübeln kann“, stellte sich Emma zum ersten Mal auf seine Seite. „Hast du meinen Dad bei der Zinn-Mine getroffen?“
„Das Lesezeichen hat mich zu spät erreicht“, presste sie hervor. „Wie das Buch.“
„Dornenvögel“, kombinierte Emma.
„So ist es. Im Buch wird eine aussichtslose Liebe beschrieben, wie es die unsere war. Aus vielerlei Gründen. Mitsamt der Tatsache, dass wir beide gebunden waren.“ Sie schaute gedankenverloren an Emma vorbei. „Nie wieder habe ich etwas von ihm gehört. Ich will es auch nicht, denn es würde alles an die Oberfläche zerren. Für Ben war es schwierig genug.“
„Nicht nur für ihn, Mom.“
Sie senkte den Blick. „Ich weiß, Emma. Es tut mir leid, dass du das ausbaden musstest. Aber jedes Mal, wenn ich dich ansehe, habe ich ihn vor Augen. Ben geht es vermutlich ähnlich, obwohl wir das Thema bis heute totgeschwiegen haben.“
„Wie heißt mein … Vater?“
Ein flehender Blick richtete sich auf sie. „Lass die Vergangenheit ruhen, Emma. Ich bitte dich von ganzem Herzen.“
„Wie kannst du das von mir verlangen?“, zürnte Emma ihr. „Ist dir eigentlich bewusst, was das für mich bedeutet? Ihr habt mich jahrelang angelogen und mir die Wahrheit vorenthalten. Nun sei wenigstens so fair und nenne mir den Namen meines Vaters!“
„Hast du nicht zugehört?“, geriet ihre Mom außer sich. „Ich möchte es nicht!“
„Was ist hier los?“ Mit zorniger Miene stapfte plötzlich Emmas Dad … Ben … auf sie zu. „Regst du deine Mutter schon wieder auf?“ Als er sich drohend vor Emma aufbaute, richtete er sich die obligatorische Melone, unter der sein dichtes rattengraues Haar hervorquoll. Der exklusive Mohair-Mantel wölbte sich über seinem stattlichen Bauch. Auf den edlen Schuhen glänzten Tropfen und einige abgebrochene Grashalme klebten daran. Unweigerlich musste Emma an die Eiche denken. An ihre Träume. An die vielen Entbehrungen. Sollte ihr erneut alles versagt werden? Etwas, das ihr zustand wie nichts auf der Welt? „Du scheinst in letzter Zeit nicht ganz bei dir zu sein“, ließ Ben seinen Unmut an Emma aus. „Tiffany hat mich angerufen. Hätte sie dich nicht gefeuert, würde ich es veranlassen. Du bist eine Schande für die ganze Familie! Von deiner Ehe mit Brandon will ich erst gar nicht anfangen. Ihm und Tiffany eine Affäre anzudichten ist die Höhe! Wie kann man nur so hinterhältig sein?“
„Frag das deine Tochter“, blieb Emma ruhig. Er konnte sie nicht mehr verletzen. Nie mehr. Weil er nicht ihr Vater war. Nur Ben. „Wie so oft ist die Wahrheit eine völlig andere. Du hinterfragst sie nicht. Das hast du nie getan. Deswegen bin ich heilfroh, dass ich nicht deine Tochter bin.“ Ihre Mom zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. Es lag auf der Hand, dass sie lieber weitergemacht hätte wie bisher. Den Gefallen konnte Emma ihr nicht tun. „Sonst wäre ich vermutlich so wie Tiff.“
„Sie weiß es?“, brüllte Ben mit puterrotem Gesicht. Emmas Mom nickte unter Tränen. „Was haben wir vereinbart, Claire? Ich akzeptiere deinen Bastard, aber …“
Bastard!
Emma konnte seinen Anblick nicht länger ertragen. Darum drehte sie sich um und ging. Sie merkten es nicht einmal, sondern stritten weiter. Den Sinn der Worte verstand sie nicht, hörte nur ihren feindseligen Ton. Zwei Menschen, die viel zu lange geschwiegen hatten. Die weiter schweigen würden. Deswegen musste sie sich eigenhändig auf die Suche nach ihrem Dad begeben und sie würde ihn finden. Koste es, was es wolle!
Emma schluckte ihre Tränen hinunter, doch als Grant ihr mit besorgter Miene entgegenkam, warf sie sich an seine Brust und weinte bitterlich. Bastard! Es stimmte nicht ganz. Ben konnte sie sehr wohl verletzen.
„Und wenn du mich noch zehnmal fragst, ich will nicht mit dir zur Bucht hinunter“, wimmelte Roger Doris ab und verkniff sich ein Lachen. Mit einem pinkfarbenen Neoprenanzug und einer Schwimmhaube in derselben Farbe stand sie vor ihm. Fehlte nur ein Surfbrett unter den Achseln.
„Wieso nicht?“ Sie blinzelte gegen die Sonne an, die über die Kälte hinwegtäuschte. Zwar fehlte wie üblich der Schnee, doch winterliche Temperaturen hatten sie auch hier, obwohl sie nie unter den Gefrierpunkt fielen. Die fünf, sechs Grad fühlten sich trotzdem so an. „Ganz St. Agnes trifft sich am Strand. Nur du glänzt erneut mit Abwesenheit.“
„Weil mir nichts an Weihnachten liegt. Schon vergessen?“
„Wie könnte ich?“, höhnte Doris und rollte mit den Augen. „Ich brauche nur rüber zu schauen auf das Elend, das du dein Zuhause nennst.“
„Hast du so viel Zeit, um dir ständig mein Cottage anzusehen? Ich dachte, du könntest dich vor Gästen kaum retten“, stellte er sie auf die Probe. „Komisch, dass nie ein Auto zu sehen ist.“
„Meistens kehren Rucksacktouristen bei mir ein“, behauptete sie und wirkte nicht anders als zuvor. Entweder war sie die beste Lügnerin aller Zeiten oder wurde dement und glaubte selbst daran. „Die haben keine großen Ansprüche und zahlen bar.“
„Aha.“ Mehr fiel Roger nicht mehr dazu ein.
„Tja, ich muss los“, wurde Doris hektisch. „Und was machst du heute am Heiligen Abend? Fährst du zu deinen Eltern?“
„Da war ich bereits. In aller Früh.“ Genauer gesagt um halb sieben. Da keiner aufmachte, hinterließ er einen Zettel. Im Wissen, dass seine Eltern zu den Langschläfern gehörten. Aber die gute Absicht zählte. Sein Soll hatte er somit erfüllt und war dem jährlichen Dilemma durch diese kleine List erfolgreich ausgewichen. „Gegen Abend brutzelt ein saftiges Hähnchen in meinem Backofen, das ich mir mit einem guten Glas Wein schmecken lassen werde.“
„Das ist alles?“, mokierte sie sich. „Keine Gäste? Oder ein Besuch in den Lokalen?“
„Ich bin müde und werde früh schlafen gehen.“
„Irgendjemand von der NASA muss dich vertauscht haben. Das ist kaum auszuhalten. Allmählich wirst du vereinsamen.“
„Die Gefahr besteht mit Sicherheit nicht. Ich möchte nur mein Leben ordnen und genüge mir momentan selbst.“ Diesen Satz hatte er gestern in einer Liebesschnulze aufgeschnappt.
„Jesus Maria, vom Casanova zum Papst! Wie ich sagte: Die NASA ist schuld. Die müssen irgendein schlimmes Experiment mit dir durchgeführt haben. Aber dem kann Abhilfe geschaffen werden. Wann soll ich zum Essen bei dir sein?“
Jetzt wurde Roger einiges klar! Doris hatte die ganze Zeit auf seine Einladung gewartet, weil sie ebenfalls niemanden hatte, mit dem sie feiern konnte. Außer den Hunderten von Verrückten, die in Neoprenanzügen oder hartgesotten mit Badekleidung in der Trevaunance Bucht in die Fluten sprangen. Roger hatte keine Ahnung, warum sie das taten, doch seit Jahrzehnten gehörte dieses gemeinsame Schwimmen am Morgen des Heiligen Abend zu St. Agnes wie das Meer. „Um sechs würde es mir passen.“
„Ich werde sehen, ob ich es einrichten kann“, meinte sie allen Ernstes, als hätte sie sich nicht gerade selbst eingeladen. „Bis dann, Kleiner.“ Mit der Langsamkeit einer alten Frau - die trotz Neopren nicht auf die hohen Schuhe verzichtete - zitterte sie sich zu ihrem Grundstück hinüber. Lächelnd blickte Roger ihr nach, bis sie kurz danach auf ihrem alten Mofa an ihm vorbeirauschte. Diese Frau war wirklich ein Unikum.
Noch immer lächelnd schloss er die Pforte und setzte sich ins Wohnzimmer. Ein Fußballspiel flimmerte über den Bildschirm. Es war eine Wiederholung. Das eigentliche Spiel interessierte ihn wenig, die isländische Mannschaft dafür umso mehr. Nun wusste er wenigstens, wer dieser Rúrik Gíslason war. Geschmack hatte Emma, das musste er ihr lassen. Außerdem schmeichelte es ihm, dass sie ihn mit diesem Mann verglichen hatte. Ohne zu ahnen, dass auch er tätowiert war. Die Muskeln waren zwar weniger geworden, seitdem er nicht mehr regelmäßig trainierte, doch das würde Emma nie feststellen können.
Abwesend schaute er zur Sektflasche auf dem Tisch. Mittlerweile diente sie als Deko-Objekt. Damit hatte er Emma jedoch ständig vor Augen und in den letzten Tagen fragte er sich des Öfteren, ob er nach ihr suchen sollte. Ganz unverbindlich. Nur um zu sehen, ob es ihr besser ging.
„Du Narr!“, schimpfte er sich selbst. Womöglich würde er vor ihr stehen und sich fragen, wieso er sie geküsst hatte. Der Zauber dieser Nacht war eine Sache, am Tag hätte vermutlich alles anders ausgesehen. Deshalb war es besser, Emma zu vergessen. Menschen idealisierten vieles, wenn sie einsam waren.
Entschlossen schaltete Roger den Fernseher aus, schnappte sich die Jeansjacke vom Garderobenhaken und verließ das Haus. Nicht, dass er tatsächlich zum Einsiedler mutierte. Darum wollte er ins Aloha, das über die Feiertage offen hatte.
Eine Stunde später bereute Roger seine Entscheidung zutiefst, weil das anfangs wohltuend verwaiste Aloha mit der Zeit aus allen Nähten platzte. Halb St. Agnes schien sich im Lokal aufzuwärmen. Unter ihnen Minnie und Duncan, die mit Joseph und Rose in Badetücher gehüllt an einem der Tische saßen. Alle sahen geflissentlich über ihn hinweg. Wie Josie, die mit Sally den Nebentisch besetzte. Zumindest Letztere hatte ihn beim Reinkommen gegrüßt. Immerhin gehörte er zu ihrer besten Kundschaft und tauchte regelmäßig in ihrem Tätowier-Studio auf.
Roger, der an der Bar saß, spürte förmlich die vielen bohrenden Blicke auf seinem Rücken. Natürlich hätte er gehen können. Allerdings war er vor allen anderen da gewesen!
„Möchtest du noch etwas trinken?“, fragte Amber und arrangierte die mit Engelshaar verzierten Tannenzweige in der veilchenblauen Vase schräg vor ihm neu. Auf den Tischen standen Weihnachtssterne, deren Blüten mit Glitzer bestreut waren. Von der Decke baumelten goldene Sterne und pausbäckige Engel mit Trompeten oder Harfen in den pummeligen Händen. Eine Weihnachtskrippe stand am Ende der Bar. Wieso liebte die halbe Welt dieses Fest? Das würde er nie verstehen.
„Noch einen Cappuccino, bitte.“
Amber lächelte. „Deine Bestellung kommt sofort.“ Sie huschte zur Kaffeemaschine. Wenigstens eine, die ihn nicht am liebsten erdolchen würde. Sicher auch, weil sie nie etwas miteinander gehabt hatten. Allerdings hätte sie sich wie die anderen solidarisch mit Annie zeigen können. Oder lag es an ihrer Professionalität, Geschäftliches von Privatem zu trennen? Wie auch immer, Roger versuchte sich zu entspannen und blickte vom Spiegel hinter der Bar zur Pinnwand, die sich daneben befand. Bunte Postkarten waren mit Stecknadeln darauf fixiert. Einige Karten stammten aus Mallorca. Vermutlich von Lance und seiner Frau. Andere zeigten die Skyline von New York. Die waren bestimmt von Annie.
Plötzlich erfasste Roger ein Luftzug. Er wandte den Kopf. Eine hübsche Frau im grauen Mantel, einem unförmigen Dutt auf dem Kopf und einem roten Rucksack über der rechten Schulter, schloss die Tür. Sofort schnellte sein Kopf nach vorne. Litt er an Halluzinationen oder hatte tatsächlich Emma gerade das Aloha betreten? Und wenn, was machte sie hier? Suchte sie ihn etwa?
Rogers Herz klopfte schneller, als er ihre Gestalt im Spiegel erfasste. Zweifellos. Sie war es!
„Frohe Weihnachten“, hörte er Emma mit dieser Stimme sagen, die ihm unter die Haut ging. Sie war wie Samt und hatte eine ganz eigene Klangfarbe.
Emmas Gruß wurde allgemein erwidert und Roger bemerkte, dass sie unschlüssig dastand. Beinahe hilflos und auf berührende Weise eingeschüchtert. Ob er sich zu erkennen geben sollte? Damit ihre verzweifelte Suche ein Ende hatte? Aber vor allen Leuten? Die wären imstande und würden auf sie einreden, bis sie St. Agnes postwendend verließ.
„Sie sehen so aus, als würden sie jemand suchen“, drang Minnies freundliche Stimme an sein Ohr, deren feines Näschen für die Wahrheit manchmal verblüffend war. Natürlich suchte Emma jemanden - nämlich ihn! „Können wir Ihnen helfen?“
„Vielleicht“, erwiderte Emma. Roger fragte sich, wie sie ihn beschreiben würde. Als gutaussehend? Männlich? Extrem attraktiv? Wahnsinnig nett? „Ich war vorhin beim Tourismus-Büro. Es ist geschlossen und man schickte mich hierher. Befindet sich eine gewisse Josie Mason unter Ihnen?“
„Ich bin Josie Mason. Worum geht es?“
Wie still es war. Fast so, als wäre Jesus soeben auf einen Kaffee hereingekommen.
Amber servierte Roger den Cappuccino und hätte ihn beinahe neben den Tresen auf Luft gestellt, weil sie die Fremde nicht aus den Augen ließ. Zugegeben, Emma hatte auch bei Tageslicht etwas, dem man sich nicht entziehen konnte. Obwohl ihre rehbraunen Augen trauriger wirkten als zuletzt. Hatte sich ihr Arsch von Mann etwa noch mehr geleistet als ohnehin?
„Ich suche eine Unterkunft“, ließ Emma verlauten.
„Für wie lange?“, erkundigte sich Josie.
Emma zuckte mit den Achseln. „Das kann ich nicht sagen.“ Richtig so! Nur nicht zu viel verraten. Wie hätte sie auch ahnen können, dass das Glück näher war, als sie dachte? Viel näher. Genau genommen saß es an der Bar. „Hätten Sie etwas für mich, Mrs. Mason?“
„Nenn mich Josie“, bot Annies Freundin an. „St. Agnes ist eine große Familie.“
Das wüsste er aber!
„Danke.“ Ein zaghaftes Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Ich bin Emma Sinclair.“
„Schön, Emma. Wie anspruchsvoll bist du?“
„Ich brauche nicht viel.“
„Kein Internet? Oder einen Fernseher im Zimmer?“ Emma schüttelte den Kopf. „Dass sich die Toilette und die Dusche auf dem Gang befinden, ist ebenfalls kein Problem?“ Das klang ganz nach Doris’ Pension. Josie hielt tatsächlich Wort. „Die Unterkunft ist nicht der letzte Schrei, die Lage jedoch traumhaft.“
„Wie man es nimmt“, mischte sich Minnie ein, die mit gerunzelter Stirn Rogers Blick im Spiegel suchte. „Sind Sie alleine gekommen, Emma? Oder gibt es jemand an Ihrer Seite, der ebenfalls ein Plätzchen bräuchte?“
„Ja, Reddy. Für ihn bräuchte ich auch eins.“
Zufrieden lächelnd zog sich Minnie das Handtuch mit Schottenmuster von der Schulter und zeigte sich im neonpinken Bikini. Schien die neueste Modefarbe zu sein. Allerdings interessierte das Roger im Augenblick am wenigsten. Wer verdammt war Reddy?
Enttäuschung erfasste ihn. Hatte er sich geirrt? War es bloß ein dummer Zufall, dass Emma hier war? Um mit ihrer neuen Flamme Urlaub zu machen? Vor seinen Augen?
Roger zog die Geldtasche aus seiner Jeans und legte ein paar Münzen neben die Tasse. Es war besser, wenn er verschwand.
„Setz dich zu uns, Emma. Dann zeichne ich euch den Weg zu Doris Mitchells Pension auf. Oder soll ich euch hin lotsen? Seid ihr mit dem Auto da?“
Emma wirkte leicht irritiert. „Ja, so ist es. Und danke für das Angebot. Aber Reddy und ich haben bisher überall hingefunden.“
Reddy und ich!
Emma setzte sich zu Josie. Roger starrte auf ihren Rücken. Was war er bloß für ein Idiot! Auch im wahren Leben war es manchmal wie im Internet. Man konnte lügen wie gedruckt oder nur die halbe Wahrheit erzählen. Vermutlich hatte sie ebenfalls einen Lover gehabt und dieser Brandon war der Leidtragende in der ganzen Sache. Von wegen unschuldig. Diese Frau hatte es faustdick hinter den Ohren!
Emma erhaschte gerade noch einen Blick auf den Mann, der beinahe fluchtartig das Lokal verließ. Dabei erfasste sie ein eigentümliches Gefühl, weil er dieselbe Frisur trug wie der Unbekannte in London. Klopfte ihr Herz deswegen so schnell? Oder lag es an der Aufregung und ihrer Angst vor der eigenen Courage? Es hatte sie immense Überwindung gekostet, alleine das Lokal zu betreten, in dem so viele fremde Menschen saßen. Gleichzeitig fragte sie sich, ob sich ihr Vater unter ihnen befand.
„Emma?“, rief sich Josie in ihr Gedächtnis zurück. „Roger Sanders mag zwar gut aussehen, aber der ist nichts für dich. Außerdem hast du ja deinen Reddy, nicht wahr?“
„Wer ist Roger Sanders?“ Emma löste ihren Blick von der Tür.
„Der Mann, dem du nachgestarrt hast wie einer Erscheinung. Sicher, er sieht gut aus, doch wenn Sanders eine Frau wäre, würde man ihn als Flittchen bezeichnen. Der Typ hat mehr Herzen gebrochen, als wir Einwohner haben. Sei also auf der Hut. Ob vergeben oder nicht, der brät jede an.“
„Ach so“, erwiderte Emma. „Keine Sorge, von Männern habe ich die Nase gründlich voll.“ Wieso hörte ihr Herz nicht damit auf, wie verrückt gegen die Brust zu hämmern? Bloß, weil dieser Sanders dem Unbekannten ähnlich sah? Dabei hatte sie andere Probleme.
„Oh je“, bedauerte Josie. „Habt ihr gestritten?“
„Wer?“ Emma erwiderte das Lächeln der älteren Frau, die sich in ihr Badetuch mit dem Schottenmuster hüllte. Sie wirkte sehr nett. Wie alle hier, die munter miteinander plauderten und gemeinsam lachten.
„Na, du und Reddy.“ Josie schien sich zu fragen, ob Emma eins und eins zusammenzählen konnte. „Du hast gesagt, dass du von Männern die Schnauze voll hast. Das kann nur bedeuten, dass ihr Streit habt. Also kein Doppelzimmer? Zumindest vorerst? Andererseits ist heute Weihnachten. Die Zeit der Versöhnung. Ihr solltet essen gehen. Wir haben tolle Lokale in St. Agnes. Ich könnte Reddy ein paar Tipps für einen romantischen Abend geben. Wo ist dein Freund eigentlich?“
Plötzlich musste Emma schmunzeln. Josie hatte sie gründlich missverstanden. „Reddy geht ungern in Lokale und ehrlich gesagt ist es mir ganz recht, wenn er draußen wartet. Würde ich ihn mitnehmen, wäre im Nu die Polizei da.“
Josie musterte sie wie eine Sphinx. Oder so, als säße sie vor einem spannenden Thriller. „Wird er per Haftbefehl gesucht?“ Verschwörerisch beugte sie sich näher. Genau wie ihre Freundin. „Taucht ihr in St. Agnes unter? Gut, wir sind ein ziemlich verschwiegener Haufen, aber ehrliche Leute. Könnte schwierig werden für euch. Auf der anderen Seite wärt ihr bei Doris gut aufgehoben. Zumindest für die nächsten Tage. Ihr Haus liegt ziemlich einsam.“
„Hat sie einen Parkplatz?“ Emma hatte Mühe, nicht laut loszulachen.
„Wegen dem Fluchtauto?“ Josie starrte sie mit großen Augen an.
„Nein, für Reddy“, konnte Emma nicht mehr länger die Unwissende spielen. „So heißt nämlich mein VW-Käfer.“
Mit verengten Augen starrte Josie sie an. Man sah förmlich, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete, bis sie auf einmal zu lachen begann. Schallend wie ihre Freundin. „Das ist ja …“, stammelte sie prustend und wischte sich die Tränen weg, „ein Käfer!“
Auch Emma lachte mit, bis ihr selbst die Tränen kamen. Es tat so gut, fröhlich zu sein. Etwas Positives zu erleben und plötzlich war sie mittendrin in dieser Gemeinschaft, weil Josie lautstark das Missverständnis vor allen wiederholte. Die Menschen bogen sich vor Lachen, während ihr eine heiße Schokolade gebracht wurde, die sie nicht bestellt hatte.
„Lass sie dir schmecken“, rief ihr die ältere Frau zu, als sich alle beruhigt hatten. „Ich bin übrigens Minnie und der Kauz neben mir ist mein Mann Duncan.“ Kurz himmelte sie den Genannten an und zeigte dann auf die zwei, die ihr gegenübersaßen und sich zu Emma umdrehten. „Das sind Rose und Joseph.“
„Hermes und Trijn“, stellte sich ein anderes Paar vor, das eng umschlungen dasaß.
„Ricardo“, rief der südländisch wirkende Mann schräg gegenüber im blauen Neoprenanzug. Emma musterte ihn. Wie jeden Mann, der sich nach ihm mit diesem Anfangsbuchstaben vorstellte.
„Sally“, meldete sich schließlich Josies Freundin zu Wort. Erneut wurde Emma ein Lächeln zuteil, die von der Offenheit dieser Menschen überwältigt war. Leider hielt die Freude nur kurz.
Nach wie vor hatte sie keine Ahnung, wie sie ihren Dad finden sollte. Natürlich könnte sie ihre Geschichte erzählen. Wie im Fernsehen, wenn Menschen nach Angehörigen suchten. Aber mit welchem Ergebnis? Ihre Mom hatte erwähnt, dass ihr Vater gebunden gewesen war. Gut möglich, dass sie mit ihrer Suche eine Ehe zerstörte. Den Kindern ihre bis dahin glückliche Familie nahm, die sie als Halbschwester vermutlich in die Wüste schicken würden. Nein, sie musste auf anderen Wegen seine Identität herausfinden und im besten Fall würde er trotz der vielen Jahre an Silvester bei der Mine sein. Aus sentimentalen Gründen. Oder weil er an sein Kind denken wollte, das ihm dort am nächsten war. Ein irrsinniger Gedanke, trotzdem ließ Emma ihn zu. Obwohl sie Angst vor der Begegnung hatte. Keiner konnte sagen, wie er zu ihr stand. Gut möglich, dass er nichts mit ihr zu tun haben wollte oder gar nicht mehr lebte. All das schob sie aber vorerst in den hintersten Winkel ihres Herzens. Zunächst musste sie seinen Namen herausfinden. Die berühmte Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Das würde schwierig genug werden.
„Hast du Lust mit uns zu essen?“, erkundigte sich Josie. „Oder wollt ihr alleine sein? Du und Reddy?“ Sie grinste. Eine sympathische Frau, bei der Emma sofort das Gefühl hatte, als würden sie sich schon ewig kennen. Möglicherweise, weil sie Linda in ihrer Art sehr ähnlich war.
„Reddy und ich sind seit unserer Abreise aus London zusammen. Ich denke, fünf Stunden reichen“, ging Emma auf den Spaß ein. „Wenn ich nicht störe, würde ich gern mit euch essen. Ich habe ohnehin Hunger.“ Das anschließende Mittagessen war herrlich. Emma gönnte sich Cornish Pasties. Dazu tranken sie einen leichten Apfelwein aus der Region und waren im Nu in ein Gespräch vertieft. Josie erzählte aus ihrem Leben in Penzance und auf humorvolle Weise von ihrem Mann George und den drei Kindern. Nebenbei sang sie fast eine Lobeshymne auf ihre Nanny und zeigte sich begeistert darüber, dass sie wieder in ihrem Heimatdorf St. Agnes wohnte. Auch der Name Annie fiel einige Male. Josies beste Freundin, der dieser Sanders übel mitgespielt hatte. Seltsam, wie viele Parallelen es zum Unbekannten in London gab.
Sally beteiligte sich ebenfalls an ihrer Unterhaltung, die etwas trockener war als Josie, trotzdem nicht weniger nett. Einzelheiten aus ihrem Leben ratterte sie herunter, als würde sie ein Telefonbuch vorlesen, doch als sie von ihrem Porzellan- und dem Tätowiergeschäft erzählte, begannen ihre Augen zu glänzen. „Wenn du Lust hast, komm vorbei“, bot sie an. „Was hat dich eigentlich nach St. Agnes verschlagen?“
Die Frage kam unvermittelt. Emma rutschte in ihrem Stuhl hin und her. „Ich … ähm … brauche dringend eine Auszeit, weil ich vor einigen Tagen meinen Job verloren habe“, zog sie sich aus der Affäre.
„Das tut mir leid.“ Josie schaute sie bedauernd an. „Vor allem die Tatsache, dass ich nach Hause muss. Ausgerechnet jetzt. Aber melde dich bei mir im Büro, dann ziehen wir Mädels um die Häuser.“
„Gerne“, erwiderte Emma.
„Ich muss ebenfalls los.“ Sally erhob sich. „Meine Eltern warten. Hoffentlich bis bald, Emma.“ Ein letztes Lächeln, bevor die Freundinnen das Lokal verließen, das sich allmählich leerte, bis Emma der einzige Gast war.
Das zarte Klirren von Gläsern ertönte beizeiten, während Amber zusammenräumte. Bald würde sie das Aloha schließen, um ebenfalls zu ihren Liebsten nach Hause zu gehen.
Emma spürte, wie Tränen in ihr aufstiegen und blickte aus der großen Glasfront. Über St. Agnes lag die Nachmittagssonne, die den Ort regelrecht mit ihrem Licht überflutete und die Weihnachtsdekoration funkeln ließ, die ihr sofort bei der Ankunft aufgefallen war. Nun ja, manchmal musste man Kompromisse in Kauf nehmen. Immerhin wurde sie vom imposanten Anblick der rauen Klippen entschädigt, in die das Dorf idyllisch eingebettet lag. Darüber spannte sich ein graublauer Himmel, wie Emma ihn nie zuvor gesehen hatte. Ohne Sonne hätte er düster gewirkt, so hatte er etwas Mystisches.
Blitzartig schrak Emma aus ihrer Betrachtung hoch, da sich die Tür öffnete. Ein Mann kam mit einem Kind in den Armen herein. Als er Amber erblickte, lächelte er glücklich. Erst recht, als sie ihn übermütig küsste, bevor sie das Kind an sich nahm und es liebevoll festhielt. Ein Bild, das Emma mitten ins Herz schnitt. Weil sie sich nie einsamer gefühlt hatte als in diesem Augenblick. Nie ungeliebter und verlassener.
Umso entschlossener stand sie auf. Sie sollte gehen, bevor sie zu weinen begann. Just in dem Moment stürmte die ältere Frau von vorhin atemlos und mit zerzaustem Haar herein. Minnie, sofern sich Emma richtig entsann.
Als die Ältere sie erblickte, zeigte sie eine erleichterte Miene und eilte auf sie zu. Jetzt trug sie einen Faltenrock mit Schottenmuster und hatte sich ein Tuch um die Schulter geschlungen, das wie eine Decke aussah. In der Hand hielt sie einen Teller. Eingewickelt in Silberfolie. „Gott sei Dank, Sie sind noch da, Emma“, ließ Minnie keuchend verlauten, als sie vor ihr stehen blieb. „Unser Auto springt nicht an. Dabei wollte ich zu Doris. Wissen Sie, ich verteile jedes Jahr Kekse an meine Freunde und bin in den letzten Tagen überall gewesen. Nur nicht bei ihr. Dabei wartet sie bestimmt auf mich. Könnten Sie mich mitnehmen?“
„Natürlich.“ Ein Notfall, der zur rechten Zeit kam. Obwohl Emma ahnte, dass die Einsamkeit zurückkehren würde. „Mein Wagen steht gleich in der Nähe. Soll ich Ihnen den Teller abnehmen?“ Emma schnappte sich den Rucksack, der am Tischbein lehnte.
„Nicht nötig.“ Minnie lächelte zufrieden, als sich Emma aufrichtete. „Danke für Ihre Hilfe. Duncan wird mich in einer Stunde bei Doris abholen.“
„Ich dachte, Ihr Auto streikt?“
„Äh, genau!“ Röte überzog Minnies grobschlächtiges Gesicht, das Emma an die Anwältin erinnerte. Allerdings stand in Minnies mehr Herzenswärme und der Schalk blitzte aus ihren Augen. „Duncan kriegt es sicher flott. Wie immer.“
Emma schmunzelte. „Es ist gar nicht kaputt, oder?“
Minnies Schultern sanken herab. „Stimmt. Als wir gingen … Sie haben so verloren ausgesehen an diesem viel zu großen Tisch. Deshalb dachte ich mir, dass Sie sich vielleicht über etwas Gesellschaft freuen würden. Wenn Sie mögen, können wir bei Doris einen gemütlichen Kaffee trinken und meine Kekse genießen.“
Minnie hatte bestimmt Besseres vor, als sich um sie zu kümmern. „Ein netter Vorschlag, aber heute ist Weihnachten.“
„Eben. Da sollte niemand alleine sein“, erwiderte Minnie voller Wärme. Emma traten Tränen in die Augen. „Erst recht kein Mädchen aus der Stadt, das verloren wie ein aus dem Nest gefallenes Vöglein wirkt.“