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Ehrenamt: Von der Idee zur Tat

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Es gab allerdings noch ein kleines Problem bei meinem Wunsch nach Engagement – denn ich wusste nicht, auf welche Weise ich, vierzigjährige Berliner Mittelstands-Mutti, die Teilzeit als Journalistin und Yogalehrerin arbeitet, mich eigentlich für die in mein Land Geflüchteten einsetzen sollte. Geld, um ein anständiges Flüchtlingsheim zu bauen, hatte ich leider nicht, und Frau Merkel würde sich meine Gedanken zur Verbesserung der deutschen Flüchtlingspolitik sicherlich auch nicht anhören. Natürlich hätte ich meine Koffer packen, mir ein kleines Schiff kaufen und nach Italien fahren können, um die Geflüchteten eigenhändig aus dem Meer zu retten, wie manch andere das taten. Doch auch das schien mir zu ambitioniert. Und wir alle wissen ja, was geschieht, wenn man sich als Sportmuffel überengagiert im Fitnessstudio anmeldet: Man geht ein Mal hin – und dann nie wieder. Ebenso würde es mir wahrscheinlich mit der ehrenamtlichen Arbeit ergehen, wenn ich mir meine Ziele von Anfang an zu hochsteckte. Deshalb wollte ich lieber mit etwas Simplem und Überschaubarem beginnen. Einsatzbereiche gab es dabei viele: von Suppe ausschenken über Deutschunterricht geben bis zu Kleider sortieren.

Wobei es mir im ersten Moment am wichtigsten erschien, den Menschen, die in unser Land kamen, unsere Sprache beizubringen, damit sie sich integrieren könnten.

Meine Mutter, mit der ich mich noch am selben Abend am Telefon über mein Vorhaben unterhielt, hatte diesbezüglich jedoch einige Bedenken. Insbesondere, was meine Kompetenzen anging.

»Du willst doch nicht wirklich unterrichten?«, fragte sie, ehemals selbst Lehrerin, skeptisch. »So ungeduldig, wie du bist, verlieren die doch schon in der ersten Stunde den Glauben an sich …«

Das fand ich jetzt zwar etwas übertrieben, lenkte aber ein und schlug meiner Mutter die diversen anderen Hilfsmöglichkeiten vor. Dann würde ich eben Essen austeilen oder mich in der Kleiderkammer engagieren.

»Hm«, sagte meine Mutter daraufhin, noch immer nicht so recht von meinem Vorhaben überzeugt, »irgendwie habe ich die Befürchtung, dass du denen nur im Weg stehen wirst.«

Was sollte das nun schon wieder? Meine Mutter tat manchmal wirklich so, als wäre ich sozial komplett inkompetent.

»Das habe ich nicht gesagt«, verteidigte sie sich, »aber, sagen wir es mal so, dir fällt es etwas schwer, dich in Gruppen und deren Hierarchien zu integrieren.«

»Dann lass ich es eben ganz bleiben!«, motzte ich beleidigt zurück.

»Aber Bettina, darum geht es doch gar nicht!«, lenkte meine Mutter ein. »Du solltest dir einfach vorher ganz genau überlegen, wie du dich sinnvoll einbringen kannst. Sonst bist du nach dem dritten Mal Suppe ausschenken komplett desillusioniert. Und genau das …«, erklärte sie mir in ihrer fürsorglichen Art, »… sollte nicht geschehen. Denn wenn du dich entschließt zu helfen, dann übernimmst du auch ein Stück weit Verantwortung für die Menschen, die dort hinkommen und mit dir und deinem Einsatz rechnen.«

Huch, das gefiel mir jetzt aber gar nicht. Ich begann, kalte Füße zu bekommen, gehörte ich doch zur Generation »Sich immer schön alle Möglichkeiten offenhalten«, die, wann immer es ging, vermied, Verantwortung zu übernehmen.

Nachdenklich beendete ich das Telefongespräch und fragte mich, ob vielleicht die Aussicht, in die Pflicht genommen zu werden, mich so lange davon abgehalten hatte, mich ehrenamtlich zu engagieren. Denn mit meinen Jobs als Yogalehrerin und Autorin war ich eigentlich schon ziemlich ausgelastet. Zudem hatte ich noch einen Dritt-Job als Waldorf-Mutti – alle Eltern, die ihr Kind ebenfalls auf einer Waldorfschule haben, wissen, wovon ich spreche: Kuchen backen, einmal im Monat Elternabend und alle Nase lang irgendein Fest, bei dem man helfen muss. Alles gut und schön. Nur blieb mir dabei kaum noch Zeit für meinen Mann, geschweige denn für meine eigenen Hobbys. Und wann hatte ich eigentlich das letzte Mal ein Buch gelesen?

Also doch lieber Geld spenden und sich wieder in den Sessel zurücklehnen?

Nein, befahl mir mein politisches Gewissen, so schnell darfst du nicht aufgeben!

Aber wächst dir dein Leben nicht jetzt schon über den Kopf, warf da das große Zaudern ein. Willst du dir wirklich noch zusätzlichen Stress einhandeln?

Ich lag mit mir selbst im Clinch. Wie schon seit Jahren.

Doch dann kam mir die rettende Idee: Yoga … ich könnte doch Yoga unterrichten! Das war ein zeitlich begrenzter und überschaubarer Rahmen, in dem ich niemandem groß Rechenschaft schuldig war. Zudem konnte jeder mitmachen, ganz gleich, aus welchem Land er stammte oder wie alt er war.

Perfekt! Mein Plan stand. Nun musste ich ihn nur noch in die Tat umsetzen. Doch das sollte ja wohl kein Problem sein. Dachte ich. Und weil ich gerade einmal so gut in Fahrt war, begann ich sofort zu recherchieren, ob und wo es Flüchtlingsheime in meiner Nähe gab. Allerdings war es gar nicht so leicht, herauszufinden, wo man anrufen konnte, wenn man sich ehrenamtlich engagieren wollte. Also schrieb ich mir kurzerhand die Nummern der zwei erstbesten Heime auf, in der Hoffnung, dort an den Richtigen zu geraten. Was, wie ich sehr schnell herausfand, schwieriger war als gedacht.

Denn statt eines Sozialarbeiters, der sich ordentlich mit Namen und Funktion vorstellt, so wie man es in Deutschland gewohnt ist, hauchte mir wenig später eine verrauchte Stimme am anderen Ende der Leitung nur ein belangloses »Hallo?« entgegen.

»Hi«, sagte ich ganz aufgeregt, »ich würde gern mit jemandem sprechen, der für die ehrenamtliche Arbeit bei Ihnen zuständig ist …«

»Also ich kümmere mich um die Toiletten«, erwiderte die unbekannte Dame mit der Nina-Hagen-Stimme. »Vielleicht rufen’s beim Empfang an?«, riet sie mir noch kurz angebunden … und ehe ich mich’s versah, hörte ich auch schon ein Tuten in der Leitung. Aufgelegt!

Verwirrt klickte ich mich durch das Internet auf der Suche nach einer weiteren Nummer besagter Institution, doch vergeblich.

Entweder war ich zu blöd oder die wollten nicht erreicht werden.

Also rief ich, um nicht schon wieder bei der Dame von der Sanitäranlagen-Reinigung zu landen, direkt die zweite Adresse auf meiner Liste an.

»Hallo?«, dröhnte mir diesmal eine tiefe Männerstimme entgegen.

Ich wiederholte mein Anliegen und wurde dann auch tatsächlich weiterverbunden. So unkompliziert konnte das also gehen – und schon hatte ich einen verantwortlichen Mitarbeiter der Unterkunft am Apparat. Der sich, wie es sich gehört, mit Namen und Funktion – Herr Kaldeira, -Heimleiter – vorstellte.

»Einen Yogakurs?«, fragte er etwas irritiert.

»Ja, ich dachte, bevor sich die Geflüchteten den ganzen Tag langweilen und an die Decke starren …«

»Ich glaube, Sie machen sich da komplett falsche Vorstellungen«, unterbrach mich Herr Kaldeira am anderen Ende der Leitung. »Sie glauben gar nicht, was die alles an Formalitäten zu erledigen haben.«

»Ach so … ich dachte …« Ja, was dachte ich eigentlich? Dass die den ganzen Tag Däumchen drehten?

»Was halten Sie davon, wenn wir für die nächste Woche einen Termin vereinbaren, um uns erst einmal kennenzulernen?«, schlug er da vor, während ich noch meinen Gedanken nachhing.

Ich nickte. Obwohl es keiner sah.

Mein Projekt begann ganz langsam Konturen anzunehmen.

Noch völlig beseelt von der Vorstellung, bald schon offiziell zu den guten Menschen dieser Welt zu gehören, eilte ich in mein Yogastudio, um dort meine wöchentliche Unterrichtsstunde zu geben. Dort angekommen konnte ich nicht anders, als der erstbesten Schülerin, die mir über den Weg lief, von meinem Vorhaben zu erzählen. Doch sie fiel mir weder um den Hals, noch lobte sie mich für mein selbstloses Vorhaben. Stattdessen sah sie mich irritiert, ja, fast schon angewidert an.

»Hast du denn gar keine Angst, dir dort etwas zu holen?«, fragte sie mich nach einer Weile.

Ich stutzte. Was meinte sie damit? Dass ich mir mit dieser Aufgabe zu viel Verantwortung, zu viel Arbeit oder zu viel sozialen Stress aufhalste?

»Ich meinte Krankheiten, Läuse oder so ’n Zeug«, konkretisierte sie ihr Anliegen.

Einer Comicfigur wären in diesem Moment vor Erstaunen die Augen aus dem Gesicht geschossen. Mir verschlug es nur die Sprache. Hatte ich gerade richtig gehört? Hatte diese moderne junge Frau, von der ich bis vor drei Sekunden dachte, dass sie super aufgeschlossen wäre, mich wirklich gerade gefragt, ob ich nicht befürchtete, mich bei diesen armen, hilflosen und heimatlosen Menschen mit irgendwelchen Krankheiten anzustecken? War das wirklich dieselbe Frau, die mir jeden Freitagabend beim Yoga gegenübersaß und mit mir gemeinsam Mantras für den Weltfrieden und die Freiheit aller Menschen und Tiere sang?

Ich muss etwas geschockt ausgesehen haben. Nur leider bekam sie diese Gefühlsregung meinerseits in den falschen Hals.

»Mach dir keine Sorgen! Wird schon nix passieren.« Dann schaute sie mich besorgt an: »Oder bist du etwa nicht geimpft?«

Eine Woche später saß ich dem freundlichen Mitarbeiter des Flüchtlingsheims gegenüber. Mit roten Backen und einer Tasse Kaffee in der Hand.

Allein schon der Weg zu seinem Büro war abenteuerlich gewesen. Denn das Heim lag nicht etwa in einem stinknormalen Wohngebiet, sondern fernab aller anderen menschlichen Behausungen im industriellen Niemandsland, einen zehnminütigen Fußmarsch von der nächsten U-Bahn-Station entfernt. Um das Gelände war ein Stacheldrahtzaun gezogen, als wenn es sich um ein Gefängnis handelte. Am Eingang saßen zwei Sicherheitsmenschen in einem Wärterhäuschen und kontrollierten, wer ein- und ausging.

Angesichts dieser gefängnisartig anmutenden Atmosphäre stieg in mir automatisch das beklemmende Gefühl hoch, in Gefahr zu sein, obwohl alle Bewohner mich mehr als freundlich behandelten.

Verschüchtert näherte ich mich dem Wärterhäuschen, an dem gerade zwei arabisch aussehende Männer ihre Ausweise vorzeigten, indes ich, mitteleuropäische Frau mit langen blonden Haaren und blauen Augen, die Security gar nicht zu interessieren schien. Ob das auch so gewesen wäre, wenn ich sichtbar einen Migrationshintergrund hätte? Wahrscheinlich nicht. So hätte ich völlig unbehelligt eine Bombe mit in das Heim schmuggeln können. Aber zum Glück wollte ich mich ja nur ehrenamtlich engagieren.

Im Hof des Heims spielten Kinder mit einem Fußball oder besser dem, was davon noch übrig war, während die Männer auf den wenigen Bänken saßen, rauchten und mit leerem Blick in die Luft starrten. Was sie wohl in ihrem Land und auf der Flucht alles gesehen hatten? Ich konnte und wollte es mir nicht vorstellen. Mir reichte schon, was ich im Fernsehen mitbekommen hatte, damit mir ein Schauder den Rücken hinunterlief. Und auch der Anblick der heruntergekommenen Gebäude, die mit Graffitis besprüht waren, gab mir kein besonders gutes Gefühl.

Nach langem Suchen und Fragen fand ich endlich das Gebäude, in dem der Heimleiter sein Büro hatte. Der graue eingeschossige Kasten erinnerte an die Aufenthaltscontainer auf Baustellen. Und auch im Inneren sah es nicht viel freundlicher aus. Auch wenn die Sekretärin, die am Eingang saß, versuchte hatte, den Raum mit bunten Plakaten und roten Geranien etwas wohnlich zu gestalten.

Nachdem ich mein Anliegen vorgetragen hatte, rief sie beim Heimleiter an, der mich nur wenige Minuten später am Eingang in Empfang nahm.

»Sie wollen hier also Yogaunterricht anbieten?«, kam er ohne große Umschweife direkt zum Thema.

Ich streckte ihm die Hand entgegen.

»Bettina Schuler, freut mich!«

»Entschuldigung«, antwortete er lachend. »Wir stehen hier alle unter einem solchen Zeitdruck, dass wir die Umgangsformen völlig vergessen haben.«

Er gab mir die Hand.

»Kaldeira, verantwortlicher Heimleiter.«

Er drehte sich um und fragte mich, während er auf einen kleinen Raum im hinteren Teil des Gebäudes wies: »Wollen wir vielleicht dort in Ruhe über alles reden?«

»Gern!«, erwiderte ich in der Hoffnung, einen Kaffee zu bekommen. Ein Wunsch, der sich, wie mir der Anblick einer Thermoskanne plus Milch, Keksen und Tassen auf dem Tisch signalisierte, sogar erfüllen könnte.

Wir setzten uns, und Herr Kaldeira schenkte uns beiden ungefragt einen Kaffee ein. Er schob mir den größeren der beiden Becher hin, und ich goss mir noch einen Schluck Milch hinein, indes er gleich loslegte.

»Sie wollen also hier wirklich Ihr Glück versuchen und einen Yogakurs anbieten?«, fragte er mich und zog skeptisch seine buschigen Augenbrauen zusammen.

Ich nickte bescheiden. »Oder ist das eine alberne Idee?«

»Das passt perfekt!«, nahm er mir sogleich meine Bedenken, »die Frauen wollen schon lange etwas für ihren Körper tun. Aber …«, fuhr er fort und zuckte resigniert mit den Schultern, »… wir sind froh, wenn wir unsere tagtägliche Arbeit erledigt bekommen. Sie sehen ja selbst, was hier los ist.«

Oh ja, das hatte ich beim Überqueren des Hofes und beim Betreten des Gebäudes durchaus gesehen: Frauen, die in der Schlange vor den Waschmaschinen warteten oder versuchten, auf ihren kleinen improvisierten Kochstationen in den Zimmern etwas zu essen für sich und ihre Familien zuzubereiten; Kinder, die in durchgelaufenen Schuhen Fußball spielten; und Sozialarbeiter, die von einer Traube von Menschen umringt waren, nicht wissend, um wen sie sich zuerst kümmern sollten.

»Glauben Sie denn«, fragte ich ihn zurückhaltend, »dass die Frauen irgendwelche Vorbehalte gegenüber Yoga haben?«

Schweigen.

»Ich meine, so religiös gesehen …«

»Ach«, sagte der freundliche Heimleiter und machte eine wegwerfende Handbewegung, »da würde ich mir keinen Kopf machen. Hauptsache, die Frauen kommen mal wieder dazu, sich zu bewegen und …«

Da wurden wir auch schon von einer gut aussehenden Endvierzigerin mit mittellangen blonden Haaren unterbrochen, die mit lautem Gepolter das Zimmer betrat. In der rechten Hand hielt sie ein Handy, in der linken eine Kaffeetasse und unter ihren Arm hatte sie eine Aktenmappe geklemmt.

»Eigentlich habe ich überhaupt gar keine Zeit«, war das Erste, was sie sagte. »Es gibt noch mindestens zwanzig Neuankömmlinge, die auf mich warten.«

»Das ist unsere überaus engagierte Sozialarbeiterin Frau Stork«, erklärte mir Herr Kaldeira ungerührt, »sie wird sich um Ihr Anliegen kümmern.«

»Wann soll ich das denn machen?«, lautete die patzige Antwort.

So viel zum Thema »Freude über Hilfsbereitschaft«, dachte ich und sank in mich zusammen.

»Ich kann auch ein anderes Mal wiederkommen«, versuchte ich, die Lage zu entspannen.

»Sie bleiben schön hier!«, bestimmte der sympathische Herr Kaldeira und tätschelte mir beruhigend den Arm.

»Jetzt muss ich mich also auch noch um Menschen mit Helfersyndrom kümmern«, grummelte Frau Stork verärgert vor sich hin.

Hallo? Um mich musste man sich nicht kümmern! Und überhaupt … Helfersyndrom … was bildete die sich eigentlich ein?

Aber Frau Stork war jetzt erst so richtig in Fahrt gekommen: »Wir sind hier doch kein Zoo, in den man geht, um sich Geflüchtete in ihrer natürlichen Umgebung anzusehen!«

»Das wollte ich doch auch gar nicht!«, versuchte ich mich empört zu verteidigen.

»Sondern? Ihr schlechtes Gewissen beruhigen?«, fragte sie und blickte mir dabei forsch in die Augen.

»Ja also … ich … ich …« Ja, was wollte ich eigentlich? Denn natürlich ging es auch darum, mein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Aber zugleich auch um mehr. Denn ich wollte meine Zeit, die wahrlich knapp bemessen war, wirklich für etwas Gutes einsetzen. Für mich, eine Frau mit klassischer Doppelbelastung – Familie und Job – durchaus ein Opfer, wenn ich ehrlich sein sollte, das ich aber bereit war, für den guten Zweck zu bringen.

Und was hatte ich als Gegenleistung für dieses Opfer erwartet? Dass sie mir den roten Teppich ausrollten und eine Medaille für besonders gute Menschen umhängten? Oder ging es eventuell letztlich doch nur darum, dass ich mich demnächst, wenn ich beim Essen mit Freunden über die Flüchtlingskrise sprach, besser fühlen konnte, nur weil ich ein kleines bisschen half und nicht mehr nur zuschaute? War das nicht auch wieder eine Form von Egoismus und Selbst-Optimierung? Wollte ich vielleicht nicht nur eine erfolgreiche Frau mit Mann und Kind, sondern auch noch ein Ach-so-guter-Mensch sein? Fünfzehn Punkte mit Sternchen, setzen!

»Frau Stork meint das natürlich nicht so«, unterbrach der Heimleiter meine wilden Gedankengänge.

Der Blick, den mir die taffe Frau zuwarf, sprach eine andere Sprache.

»Kommen Sie«, sagte er und stand auf, »ich zeige Ihnen die Räume.«

Ich erhob mich und streckte der Sozialarbeiterin meine Hand entgegen.

»Hat mich trotzdem gefreut, Sie kennenzulernen.«

Sie murmelte irgendetwas zurück und schrieb dabei eine SMS. Ich konnte ihr noch nicht einmal böse sein angesichts dieser Unhöflichkeit, denn wie viele Gutmenschen wie mich musste sie wohl schon ertragen haben?

Wenig später fand ich mich in einem stickigen kleinen Raum wieder, der mich rein äußerlich an das Innere eines Dixi-Klos erinnerte.

»Hier«, erklärte mir der Heimmensch, »das ist unser Aufenthaltsraum!«

Aufenthaltsraum? Sollte das nicht ein Ort sein, an dem man sich wohlfühlte und gern aufhielt, und keiner, den man innerhalb von zwei Sekunden sofort wieder -fluchtartig verlassen wollte?

»Ich weiß«, sagte er, als könnte er meine Gedanken lesen. »Wir würden uns auch wünschen, dass es hier etwas wohnlicher aussieht. Aber Sie haben ja bemerkt«, fuhr er fort, »wie viel wir hier zu tun haben. Da bleibt kaum Zeit, sich auch noch um solche Dinge zu kümmern, auch wenn es wichtig ist.«

Ich verfolgte aus dem Augenwinkel heraus, wie Frau Stork mit dem Handy am Ohr über den Flur eilte und dabei hektisch in ein Brötchen biss. Ja, nicht einmal zum Essen schienen die Verantwortlichen hier Zeit zu haben.

Nachdem ich mich verabschiedet hatte, schlenderte ich nachdenklich über den Hof des Geländes. Sofort versammelte sich eine Schar Kinder um mich, die alle versuchten, meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Im Vergleich zu meiner Tochter, die einem Fremden niemals die Hand geben würde, wirkten diese Kinder seltsam zutraulich. War das nicht ein gutes Zeichen? Dass sie trotz Flucht und Kriegserfahrung fröhlich waren? Und sich gegenüber völlig fremden Menschen aufgeschlossen zeigten?

»Im Gegenteil«, erklärte mir später eine Freundin, die Psychologin ist. »Diese Distanzlosigkeit ist Zeichen eines gestörten Bindungsverhaltens. Sprich, die Kinder machen zwischen fremden und vertrauten Menschen keinen Unterschied, weil sie das in der entscheidenden Entwicklungsphase durch Umbrüche oder fehlende Bezugspersonen nicht lernen konnten …«

Und was vermochte man dagegen zu tun?

»Das Wichtigste für diese Kinder ist ein stabiles Umfeld und Verlässlichkeit. Das Gleiche gilt übrigens auch für traumatisierte Erwachsene.«

Doch wie sollten sie in den Genuss dessen kommen, wenn sie von einem Lager ins nächste verlegt wurden und jeden Tag darum bangen mussten, ob sie in Deutschland Asyl erhalten würden?

Ich begann immer besser zu verstehen, warum die Sozialarbeiterin so skeptisch auf mein Angebot reagiert hatte. Wahrscheinlich hatten schon zahlreiche Menschen vor mir ihre Hilfe angeboten, waren drei- bis viermal gekommen, um ihr Gewissen zu beruhigen, und dann, als die Bewohner sich an sie gewöhnt hatten, weggeblieben, weil es eben doch anstrengender war als gedacht. Oder der Termin schlicht und ergreifend nicht mehr in ihren übervollen Kalender passte. Doch wer konnte es ihnen übel nehmen?

Kind, Ehe, Karriere – wir alle waren durch unsere alltäglichen Aufgaben stark eingebunden. Wenn wir uns überfordert fühlten, strichen wir natürlich als Erstes jene Termine, die weder die Familie noch den Beruf betrafen.

War ich also wirklich dazu bereit, selbst in anstrengenden Zeiten ins Heim zu gehen? Und auch dann, wenn ich mich dazu viel zu erschöpft fühlte?

Ich wurde einmal mehr unsicher, zweifelte – und entschied mich dann doch dafür.

Nicht, weil ich ein besonders selbstloser Mensch bin. Sondern weil es schlicht und ergreifend meine Pflicht war als gut situierte Mitteleuropäerin …

Norahib bikom heißt willkommen

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