Читать книгу Norahib bikom heißt willkommen - Bettina Schuler - Страница 8

3
Deutscher als gedacht oder: Warum ein Smartphone beim Yoga durchaus Sinn macht

Оглавление

Ich habe wirklich schon viele Yogastunden unterrichtet, doch so aufgeregt wie ich vor meiner ersten Klasse im Flüchtlingsheim war, bin ich noch nicht einmal am Tag meiner Yogalehrer--Prüfung gewesen. Nicht etwa, weil ich Angst vor diesen unbekannten Menschen aus anderen Ländern verspürte, sondern weil ich nicht wusste, was für Erlebnisse und Schicksale sie mit in den Unterricht brachten. Denn dass Emotionen und auch schlechte Erfahrungen durch das Yoga an die Oberfläche kommen, das hatte ich schon zur Genüge in meinen Unterrichtsstunden erlebt. Doch was war schon eine Ehekrise im Vergleich zu einer traumatischen Kriegserfahrung, in die ich mich nicht ansatzweise hineinversetzen konnte?

Wäre es nicht doch besser gewesen, so ging es mir durch den Kopf, wenn ein ausgebildeter Psychologe oder noch besser ein Psychiater diese Aufgabe übernehmen würde, anstatt mir, einer Frau, die im Rucola-Bezirk Prenzlauer Berg Yoga für erfolgreiche Hipster gab?

Ich begann im Netz zum Thema Yoga und Trauma zu recherchieren und stieß dabei auf ein Buch des Yogalehrers David Emerson und der Psychiaterin Elizabeth Hopper, die in Amerika versuchen, mit einer Mischung aus Yoga und Gesprächstherapie traumatisierten Menschen zu helfen. Denn da sich laut Emerson und -Hopper jedes Trauma nicht nur im Kopf, sondern auch im Körper festsetzt, musste es auch auf beiden Ebenen, im Körper durch das Yoga und im Kopf durch die Psychotherapie, beseitigt werden. Ansonsten kann es durch Reize wie bestimmte Gerüche, Berührungen, Geräusche, die sogenannten Triggerpunkte, jederzeit wieder aktiviert werden.

Als ich meinem Mann beim Abendessen von diesem Ansatz erzählte, gab der sich jedoch recht skeptisch.

»Prinzipiell finde ich es super, wenn du im Flüchtlingsheim Yoga unterrichtest«, sagte er angestrengt auf einem Stück Pizza herumkauend. »Aber ich glaube, du darfst dir bei diesem Vorhaben die Ziele nicht zu hochstecken. Du bist keine Psychiaterin und wirst es innerhalb einer Woche auch nicht werden«, gab er zu bedenken.

»Das weiß ich doch«, gab ich zurück und stahl ihm sein letztes Stück Pizza vom Teller. »Aber das Buch zeigt, dass meine Idee in die richtige Richtung geht!«

»Was man von deinen Tischmanieren nicht gerade behaupten kann«, erwiderte mein Mann, während ich genüsslich kaute. »Ich glaube allerdings trotzdem, dass es besser ist, wenn du nicht mit allzu großen Erwartungen hingehst.«

Ich sollte also meine Erwartungen nicht zu hochstecken, nahm ich mir vor, als ich an meinem ersten Tag die Treppe zu dem kleinen Aufenthaltsraum hochstieg, in dem ich meinen Kurs abhalten sollte. In jenem Augenblick wäre ich jedoch schon froh gewesen, wenn ich die Matten und Klötze, die ich in einer Reisetasche nach oben schleppte, endlich hätte ablegen können.

Die Wände des Treppenhauses waren dreckig und mit Zeichnungen und Sprüchen in den unterschiedlichsten Sprachen beschmiert: »Free Syria«, »No War«, oder auch: »I love Germany.« Da waren die Bewohner des Heims anscheinend schon weiter als ich, denn -Achtzigerjahre-sozialisiert, wie ich es war, tat ich mich wie die meisten Deutschen meiner Generation mit der Identifikation mit meinem Land überaus schwer.

Oben angekommen ging ich zuerst zum Dienstzimmer des zuständigen Sozialarbeiters, das auf derselben Etage wie der Aufenthaltsraum lag. Doch anstatt Frau Stork saß dort ein freundlich dreinblickender Mittzwanziger, der gerade in ein Gespräch mit einem verzweifelt aussehenden Geflüchteten vertieft war.

Ich klopfte an, obwohl die Tür weit offen stand.

»Hallo«, sagte ich schüchtern, obwohl Schüchternheit sonst nicht zu meinen Eigenschaften zählt. Doch in dieser Situation war selbst ich zurückhaltend.

»Ach, du musst die Yogalehrerin sein«, erwiderte er sogleich.

»Frau Stork hat mir schon von dir erzählt.«

»Bettina«, stellte ich mich vor.

»Jens«, antwortete er. »Sozialarbeiter am Rande eines Nervenzusammenbruchs.«

»Verstehe«, sagte ich und nickte dem Mann zu, der an Jens’ Schreibtisch saß und mich aus traurigen Augen ansah.

»Wir überlegen gerade, wie wir seinem Sohn einen Platz an einer Schule verschaffen können«, erklärte mir Jens, »denn leider ist das nicht so einfach, wie man denkt.«

Ich nickte beflissen, als wüsste ich, wovon er sprach.

»Hammoud ist mit seinem Vater vor zwei Jahren aus Damaskus geflohen. Da war er 16 Jahre alt. Nun will er hier in Deutschland seinen Abschluss nachholen, was jedoch leider alles andere als leicht ist, weil …«, fuhr er fort, »… weil er mittlerweile schon volljährig ist.«

»Was heißt das?«, fragte ich nun doch interessiert.

»Das heißt, dass er nicht mehr schulpflichtig ist und dementsprechend auch kein Anrecht auf einen Schulplatz hat. Natürlich kann ihn eine Schule aufnehmen, wenn sie will. Doch die wenigsten haben Lust darauf, sich mit einem geflüchteten Jungen Extra-Arbeit ins Haus zu holen.«

Jens seufzte.

»Aber es gibt doch sicherlich ehrenamtliche Helfer, die den Geflüchteten hier zumindest schon einmal Deutsch beibringen?«

Jens nickte.

»Ja, aber der Unterricht findet meistens nur einmal in der Woche statt und ist dadurch natürlich nicht so effektiv, als wenn er gleich in eine deutsche Schule ginge. Abgesehen davon, dass er hier natürlich keinen Abschluss machen kann und dafür wieder eine Abendschule oder ähnliches besuchen müsste. Außerdem«, fügte er nach einer kurzen Pause leise hinzu, »und das ist eigentlich das Wichtigste, muss der Junge unter Gleichaltrige. Wie soll er sich denn sonst hier integrieren?«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Bisher hatte ich mir über solche Probleme keine Gedanken gemacht. Und obwohl ich für Integration und die Aufnahme von Geflüchteten war, hatte ich keine Ahnung von den Details des deutschen Asylgesetzes. Geschweige denn vom Recht der Asylbewerber auf Bildung.

»Komm«, sagte Jens da aber bereits und versuchte dem Mann vor ihm mit Händen und Füßen zu erklären, dass er gleich wiederkomme, »ich schließ dir den Raum auf.«

Ich nickte mechanisch. Noch immer in Gedanken vertieft. Vielleicht war das mit dem Yoga doch eine dämliche Idee gewesen. Hätte ich nicht besser einen Deutschkurs anbieten sollen, wenn es so viele Geflüchtete gab, die begierig darauf waren, hier einen Abschluss zu machen? War das nicht auch viel wichtiger als dreimal hintereinander tief ein- und auszuatmen? Meine Idee schien mir auf einmal lächerlich und naiv zu sein.

»Da sind wir schon«, unterbrach Jens meinen Gedankenfluss und öffnete die Tür zum Aufenthaltsraum. Er sah noch viel schlimmer aus als beim letzten Mal! Der Boden war übersät mit schokoverschmierten Papierservietten und Kuchenkrümeln.

»Da hat wohl jemand eine Party gefeiert«, kommentierte Jens gelassen das Chaos und grinste mich an.

»Sorry«, sagte er, »ich würde dir ja helfen, aber ich muss dringend zurück.«

Er klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter.

»Willkommen in meinem Leben«, bemerkte er – und schon war er weg und ließ mich mit dem Chaos allein.

Jetzt war ich es, die seufzte.

Doch dank meines Kindes, auch »Mini-Messie« genannt, war ich im Aufräumen sehr schnell und effektiv.

Ich war gerade dabei, die Servietten vom Boden aufzusammeln, als jemand zaghaft an die Tür klopfte.

»Immer herein mit euch«, sagte ich betont fröhlich, noch immer damit beschäftigt, den Dreck aufzulesen.

»Findet hier die Yogastunde statt?«, fragte mich da eine weibliche Stimme leise auf Englisch.

»Ganz genau!«, erwiderte ich und drehte mich zur Tür, wo mich eine arabisch aussehende Frau mit halblangen fast schwarzen Haaren und großen braunen Augen ansah.

Mein Herz pochte. Meine erste Schülerin. Was sollte ich sagen? Was sollte ich tun? Und überhaupt, gab es irgendwelche Gebräuche zu beachten, die ich nicht kannte? Durfte sie mir überhaupt die Hand geben?

Doch da hatte sie mir die ihre schon hingestreckt.

»Arwa«, stellte sie sich vor.

»Bettina«, erwiderte ich. »Du sprichst aber gut Englisch«, fügte ich nach einer Minute des Schweigens unbeholfen hinzu, um das Eis zu brechen.

Hatte ich das wirklich gerade gesagt? Hatte ich einer Frau, die ich seit dreißig Sekunden kannte, unterstellt, dass sie, nur weil sie aus dem Nahen Osten kam, schlechter Englisch sprechen müsste als wir Europäer? Dabei wusste ich noch nicht mal, aus welchem Land sie kam, geschweige denn, was sie dort gemacht hatte …

»Ich bin Englischlehrerin«, antwortete sie freundlich.

Ich lächelte. Eine von vielen Übersprungshandlungen, die ich noch an mir bemerken sollte. Und schwieg. Was sehr selten geschah. Aber ich wusste in diesem Moment tatsächlich nicht, was ich sagen sollte. Am liebsten wäre ich im Boden versunken.

Zum Glück jedoch traf in dem Augenblick schon eine weitere Schülerin ein.

»Hallo, ich bin Bettina«, stellte ich mich wieder auf Englisch vor.

Die asiatisch aussehende Mittvierzigerin lächelte und nickte mehrmals.

»Und du?«, versuchte ich es erneut.

»Vietnam«, war die Antwort.

Nun wusste ich immerhin schon, woher sie kam. Aber leider immer noch nicht, in welcher Sprache ich mit ihr kommunizieren konnte. Denn Vietnamesisch gehörte leider nicht zu meinem Repertoire.

»English?«, fragte ich hoffnungsvoll.

Sie schüttelte den Kopf.

»Deutsch?«, erkundigte ich mich wenig zuversichtlich.

Kopfschütteln.

Dann mussten wir uns eben, so gut es ging, mit Armen und Beinen verständigen!

Ich deutete ihr an, den Raum zu betreten, und zögernd folgte sie meiner Bitte.

»Wo sollen wir uns hinsetzen?«, fragte mich Arwa und schaute sich im Raum um.

Ich hatte völlig vergessen, meine Matten und die Hilfsmittel auszupacken. Und überhaupt, wo hatte ich eigentlich meine Reisetasche gelassen? Hektisch schaute ich herum, doch eine Tasche war nirgends zu sehen.

»Bin gleich wieder da«, erklärte ich Arwa und eilte in das Büro von Jens.

»Schon fertig?«, fragte er, als er mich in sein Zimmer stürmen sah.

»Hab nur die Hälfte vergessen«, erwiderte ich außer Atem, schnappte mir den Koffer und eilte zurück in den Aufenthaltsraum, wo die beiden Frauen unsicher herumstanden und nicht wussten, wohin mit sich.

»So, dann wollen wir mal«, sagte ich mehr zu mir selbst als zu den beiden Frauen und begann, die -Yogamatten auf dem Boden auszurollen.

»Keine Sorge«, versuchte ich den beiden die Hemmungen zu nehmen, »Yoga ist weniger gefährlich, als es aussieht!«

Die Vietnamesin schaute immer noch sehr skeptisch. Sie konnte mich eben nicht verstehen.

Ich deutete einige Yogaübungen an und versuchte mit »Daumen hoch« zu signalisieren, dass Yoga durchaus Spaß machte. Dabei kam ich mir unglaublich dämlich vor.

Doch immerhin folgten die beiden Frauen meinem Beispiel und setzten sich im Schneidersitz auf die Yogamatten.

Ich räusperte mich, nahm die Hände vors Herz und schloss die Augen. Die beiden taten es mir nach. Geräuschvoll begann ich ein- und auszuatmen. Die beiden Frauen versuchten es ebenfalls, aber es hörte sich bei ihnen eher wie eine Dampflok denn wie der yogische Ujjyāyī-Atem an. Da gab es noch einiges zu lernen!

Ich stand auf, um den beiden meine Hand auf den Rücken zu legen. Doch noch bevor ich einen Schritt auf sie zu machen konnte, waren die beiden ebenfalls aufgesprungen.

»Nein, sitzen bleiben!«, sagte ich und fuchtelte mit den Armen, woraufhin die Vietnamesin ebenfalls mit den Armen zu fuchteln begann.

Nervös kratzte ich mich an der Nase. Beide taten es mir nach. Dann setzte ich mich wieder in den Schneidersitz und atmete tief ein und aus in der Hoffnung, dass sie mir das auch nachmachen würden. Zum Glück war es so. Damit war klar, dass ich mir gut überlegen musste, was ich vormachte. Denn natürlich hatten die beiden keine Ahnung, welche meiner Bewegungen ein Teil der Yogaübung war und welche nicht. Und daher konnte, wie ich gesehen hatte, selbst ein Nasekratzen als Übung interpretiert werden.

Also alles noch einmal zurück auf Anfang, sagte ich mir, nahm die Hände vor dem Herzen zusammen und schloss meine Augen. Nicht zu viel erwarten, hallten die Worte meines Mannes in meinem Kopf nach.

Nach einer Weile hörte ich, wie die beiden Frauen ebenfalls tiefer zu atmen begannen.

Vielleicht reichte das ja schon. Denn war es nicht mein Ziel, diesen Frauen durch das Yoga ein wenig Ruhe im Kopf und Erholung im Körper zu verschaffen?

Ich öffnete die Augen. Die beiden hatten die ihren geschlossen. Ich bildete mir ein, dass sie schon ein wenig entspannter aussahen.

Leise bat ich sie dann, ihre Augen zu öffnen. Was auch Arwas Nachbarin tat, nachdem diese sie sanft angestupst hatte.

Im Anschluss machte ich einige leichte Atem- und Yogaübungen vor, die sich von selbst erklärten und nur weniger Worte bedurften. Meine beiden Schülerinnen machten sie brav nach. Mein Konzept – wenn ich denn eins hatte – schien irgendwie aufzugehen.

Bis wir zum Ende kamen.

»Savasana!«

Die beiden schauten mich an, als hätte ich etwas Ungehöriges gesagt, denn natürlich wussten sie nicht, was das bedeutete. Es musste ja auch nicht jeder so ein Yoga-freak sein wie ich.

»Im Yoga beschließt man jede Stunde mit Savasana, der Schlussentspannung«, erklärte ich ihnen. Dann legte ich mich, um zu demonstrieren, wie es ging, mit dem Rücken auf die Matte und schloss die Augen. Ich deutete den beiden an, es mir gleichzutun. Was sie auch ohne zu zögern machten. Schlafen fand eben jeder gut.

Leise ging ich zu der kleinen Anlage, die ich mitgebracht hatte, und verband mein Handy mit ihr, um etwas Musik zu spielen. Schon nachdem die ersten Töne er--klungen waren, sah ich, wie die Körper der beiden Frauen immer schwerer und schwerer wurden.

Ich setzte mich hinter Arwas Kopf und begann, sie mit der mitgebrachten Lavendel-Lotion zu massieren, ganz so, wie ich es auch in meinen regulären Yogastunden tat. Zunächst spürte ich ein sanftes Zucken, ausgelöst durch die unerwartete Berührung meinerseits. Hätte ich es beim ersten Mal vielleicht doch besser lassen sollen? Doch nach nur wenigen Massagegriffen begann Arwa sich zu entspannen, und ich spürte, dass sie die Massage genoss.

Ähnlich erging es mir bei der Vietnamesin, deren Nacken extrem verhärtet war. Kein Wunder, wenn man sich die ganze Zeit in Habachtstellung befindet und nicht weiß, wie es mit dem eigenen Leben weitergeht.

Als die Musik verklungen war, ging ich auf meine Matte zurück, setzte mich in den Schneidersitz und nahm ein letztes Mal die Hände vor dem Herzen zusammen. Die beiden Frauen begannen, sich langsam zu bewegen, und setzten sich verschlafen auf.

»Namasté«, sagte ich und verbeugte mich vor den beiden. Sie taten es mir nach, und Arwa flüsterte auf Deutsch:

»Danke. Vielen Dank!«

Beim Abendessen fragte mich mein Mann, wie meine erste Stunde im Flüchtlingsheim gewesen sei.

»Weißt du …«, antwortete ich, »ich glaube, ich habe erst jetzt verstanden, warum meine Yogalehrerin in der Ausbildung immer wieder gesagt hat, dass Yoga nicht das neue Aerobic sei.«

»Ach?«, erwiderte mein Mann und schaute mich dabei kampfeslustig an. »Wenn du jetzt erleuchtet bist, dann können wir uns ja auch das Geld für deinen nächsten Yoga-Workshop sparen!«

Männer sind manchmal unerträglich.

Genau eine Woche später stand ich, eine Viertelstunde zu früh, hoch motiviert wieder vor dem Aufenthaltsraum. Netterweise hatte Jens, wie ich beim Hineingehen sah, in meiner Abwesenheit überall Flyer in Deutsch, Arabisch und Englisch aufgehängt, die auf meine Yogastunde hinwiesen. Vielleicht würden dadurch diese Woche ja noch mehr Schülerinnen zu meiner Stunde kommen?

Doch als ich zwanzig Minuten später noch immer allein auf dem Flur stand, wurde ich langsam etwas ungeduldig.

Endlich sah ich, wie Arwa gemeinsam mit einer Frau den Flur entlanggeschlendert kam.

»Das ist meine Freundin Samira«, stellte Arwa mir die Mittzwanzigerin mit den wunderschönen dunkelbraunen Augen vor. Im Gegensatz zu Arwa trug sie einen schwarzen Hidschab, ein traditionelles islamisches Kopftuch, welches das Gesicht frei lässt und Haare, Ohren und Hals bedeckt. Ansonsten war sie mit Bluejeans und rotem Longsleeve genauso gekleidet wie die meisten deutschen Frauen ihres Alters.

»Hi, nice to meet you«, begrüßte sie mich in akzentfreiem Englisch.

Wenn die alle so gut Englisch sprachen, würde ich vor Scham kein Wort mehr herausbringen! Doch zum Glück hatte ich keine Zeit, mir weiter Gedanken über meine Sprachkenntnisse zu machen, da schon die nächsten beiden Frauen ankamen, die Arwa und Samira freudig und mit zahlreichen Küsschen begrüßten. Auch sie trugen wie Samira einen Hidschab.

»Zwei Freundinnen. Mona und Rasha. Ebenfalls aus Syrien«, stellte mir Arwa die beiden vor.

»Dürfen sie mitmachen?«

Aber natürlich, dafür war ich ja da. Doch die Zeit drängte, wie mir ein Blick auf die Uhr verriet, denn ich musste meine neunjährige Tochter pünktlich aus dem Schulhort abholen.

Da kam er schon wieder, der Zeitdruck, den jede Mutter eines Grundschulkindes kennt. Und sofort, als ich diesen Druck verspürte, stellte ich mir wieder die Frage, ob der Yogakurs im Heim wirklich eine gute Idee gewesen war. Sollte ich mich nicht besser um das Wohlergehen meines Kindes kümmern, es früher aus dem Hort abholen, als um die Bedürfnisse von wildfremden Menschen? Zweifel über Zweifel, weshalb ich mich sogleich erkundigte, ob wir nicht anfangen könnten. Langsam wurde ich etwas gereizt.

»Sicher«, antwortete Arwa, die meine Verärgerung spürte, und lotste ihre Freundinnen in den Raum, derweil sie weiter ununterbrochen redeten.

Endlich, dachte ich, als ich die Tür schloss, es konnte losgehen.

Nachdem ich die Yogamatte ausgerollt hatte, standen, abgesehen von Arwa, die es sich schon auf ihrer Matte bequem gemacht hatte, alle anderen Frauen noch immer unschlüssig im Raum herum.

Wieder sprach Arwa zu ihnen auf Arabisch. Samira gab leise etwas zurück. Dann fragte sie mich, ob wir nicht die Tür abschließen könnten.

Ich muss recht verdutzt ausgesehen haben, denn sie beeilte sich, mir zu erklären, dass sie ihre Kopfbedeckung ansonsten nur ungern abnehmen würden: »Es könnten ja jederzeit Männer den Raum betreten!«

Daran hatte ich natürlich nicht gedacht. Wie gut, dass ich die Gruppe nicht für Männer und Frauen angeboten hatte. Das wäre ja komplett nach hinten losgegangen …

Schnell besorgte ich mir also bei Jens den Schlüssel und verschloss die Tür dann von innen. Und nur wenige Sekunden später hatten alle Frauen ihren Hidschab abgenommen.

Bisher war ich in meinem Leben so gut wie nie mit Frauen, die Kopftuch trugen, in Berührung gekommen. Und ja, wenn ich eine Frau in einem schwarzen Ganzkörperschleier auf der Straße sah, dann berührte mich das komisch. Aber wie oft war das eigentlich gewesen? Ein- oder zweimal in meinen zehn Jahren in Berlin? Und hatten die restlichen muslimischen Frauen, die ich gesehen hatte, ihre Haare meist nicht nur mit einem Kopftuch bedeckt, das farblich perfekt zum Rest des Outfits passte?

Und störte mich das? Nein. Überhaupt nicht. Ich konnte diesen Frauen wie allen anderen auch ins Gesicht sehen. Nur, dass sie anstelle einer Mütze, wie sie viele -Berlin-Mitte-Hipster mittlerweile sogar im Sommer bei vierzig Grad im Schatten trugen, ihre Haare eben mit einem Hidschab bedeckten.

Doch wie war das eigentlich, wenn man bei sich zu Hause war?

»Tragt ihr dort auch die ganze Zeit euren Hidschab? Oder legt ihr ihn wie einen Hut direkt am Eingang ab?«, fragte ich Samira.

»Ja, klar«, antwortete sie und sah mich dabei an, als hätte ich sie gefragt, ob die Erde eine Scheibe sei. »Vor Männern aus der Familie müssen wir unsere Haare natürlich nicht bedecken.«

Und Arwa, warum trug sie eigentlich keinen Hidschab?

Sie zuckte mit den Schultern.

»Bei uns in der Familie war das nicht üblich«, gab sie zurück.

Störte das die anderen?

Arwas Freundinnen lachten.

»Wieso sollte es?«, erwiderte Mona. »Das kann jede Frau halten, wie sie will«, sagte sie und setzte sich erwartungsvoll auf die Yogamatte.

Ich war erstaunt über so viel Toleranz, denn bisher hatte ich immer gedacht, dass es für alle Frauen, die im Nahen Osten lebten, problematisch sei, sich dem Tragen des Kopftuches zu entziehen.

»Ja, aber«, fragte ich deshalb etwas irritiert, »muss man das denn in Syrien nicht?«

Die Frauen schauten verständnislos.

»Nein, natürlich nicht«, antwortete Mona sichtlich irritiert.

»Ich dachte, dass sei für Moslems Pflicht …«, nuschelte ich, peinlich berührt von meinem Unwissen.

»Aber in Syrien gibt es doch nicht nur Moslems, sondern auch Christen, Jesiden, Drusen …«, antwortete Arwa.

Mir schwirrte der Kopf. Ich wusste ja noch nicht mal sonderlich viel über meinen eigenen katholischen Glauben, dem ich zumindest noch auf dem Papier angehörte. Woher sollte ich dann wissen, was der Unterschied zwischen diesen ganzen anderen Glaubensrichtungen ist? Klar, der Islam sagte mir etwas …

»Wobei auch der Islam in verschiedene Glaubensgemeinschaften gespalten ist …«

Okay, ich hatte auch vom Islam keine Ahnung.

»… in Sunniten, Schiiten und Alawiten, wobei die Sunniten die größte Glaubensgemeinschaft ausmachen«, erklärte Arwa.

Ich nickte.

»Bis zu Beginn des Krieges haben wir alle friedlich nebeneinander in einem Land gelebt. Religion war kein Thema. Syrien war ein säkularer Staat. Doch dann …«, Arwa seufzte, »… dann hat sich alles geändert.«

Ich schluckte. Unwissend wie ich war, hatte ich gedacht, dass die Sitten und Gebräuche in Syrien ähnlich streng wären wie in vielen anderen Ländern des Nahen Ostens.

Aber wo wir schon einmal dabei waren, welcher Glaubensrichtung gehörte eigentlich Arwa an?

»Ich bin Sunnitin«, antwortete sie.

»Und ich Schiitin«, sagte Mona.

»Und ich ebenfalls Sunnitin«, fügte Rasha hinzu.

Und was war nun, bitte schön, schon wieder der genaue Unterschied zwischen diesen beiden Glaubensgemeinschaften?

Arwa zuckte mit den Schultern.

»Nichts«, antwortete sie, »außer, dass die einen Ali, den Schwiegersohn des Propheten Mohammed, als seinen rechtmäßigen Nachfolger ansehen und die anderen seinen Schwiegervater Abu Bakr.«

Hm. Also war der Unterschied eigentlich nicht viel größer als zwischen den Protestanten und Katholiken?

Arwa lachte und nickte.

»Aber auch für die war der Unterschied im Mittelalter groß genug, um sich gegenseitig umzubringen.«

Sofort schossen mir Bilder von den Kreuzzügen in den Kopf.

Da fragte Samira: »Sollen wir anfangen?«

Wie in der Woche zuvor begann ich mit einigen leichten Yoga- und Atemübungen. Doch als ich gerade dabei war, ihnen die Bedeutung des Atems im Yoga zu erklären, erklang aus einer der Taschen ein Handy. Ein absolutes No-Go in einer Yogastunde.

Samira sprang auf und ging an ihr Telefon. Ziemlich unhöflich, wie ich fand, aber ich wollte nicht gleich in der ersten Stunde streng erscheinen. Also atmete ich, professionelle Yogalehrerin, die ich bin, einmal tief ein und aus und fuhr fort.

Da piepste es wenig später aus einer anderen Ecke. Diesmal war es Arwas Smartphone. Auch sie eilte sofort zu ihrer Tasche.

Ich spürte, wie sich ein neuerlicher Anflug von Ärger in mir breitmachte. Immerhin war es ein Teil meiner Freizeit, den ich ihnen schenkte. Konnten sie da nicht zumindest eine Stunde lang ihr Telefon abstellen?

Aber da war Arwa auch schon wieder auf ihrer Matte zurück. Okay, sagte ich mir, übe dich in Nachsicht, schließlich geht es nicht um dein, sondern um ihr Wohlergehen.

Doch als nur fünf Minuten später schon wieder ein Telefon klingelte, konnte ich mich nicht länger zurückhalten.

»Könnt ihr nicht wenigstens für eine Stunde eure Handys ausmachen?«, fragte ich ungehalten. »Sonst bringt das hier nichts.«

Arwa schaute erschrocken und wechselte mit Samira einen vielsagenden Blick. Ich war wohl doch ein wenig zu harsch gewesen.

Die beiden Frauen flüsterten sich etwas auf Arabisch zu und schauten mich dabei an. Wahrscheinlich überlegten sie gerade, unter welchem Vorwand sie die Yogastunde abbrechen könnten. Warum hatte ich auch meinen Mund nicht halten können?

»Es wäre wirklich toll, wenn ihr beim nächsten Mal daran denken würdet«, versuchte ich einzulenken.

Arwa schaute mich traurig an.

Dann sagte sie: »Die Handys sind die einzige Verbindung zu unserer Familie …«

Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. Diese Frauen gingen nicht an ihr Telefon, um mit ihrer Freundin ein Treffen auszumachen oder sich über den neusten Klatsch auszutauschen, sondern weil sie hofften, eine Nachricht von ihrer Familie zu erhalten, die teilweise noch in Syrien lebte.

Ich war so gedankenlos. Oder nein. Ich war so an den Frieden in meinem Land gewöhnt, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie es war, wenn man in der ständigen Angst lebte, dass einem Familienmitglied etwas Schreckliches zustieß.

»Sorry«, gab ich zerknirscht zurück. »Daran habe ich überhaupt nicht gedacht.«

Samira nickte. Die anderen Frauen schauten betrübt.

»Sind denn noch viele aus eurer Familie in Syrien?«, erkundigte ich mich vorsichtig.

»Mein ältester Sohn ist eingezogen worden«, sprudelte es aus Samira hervor. »Wir haben versucht, ihn freizukaufen. Aber sein General lässt ihn nicht gehen.«

»Meine Mutter ist noch in Aleppo«, erzählte Rasha, »sie ist herzkrank und würde die Fahrt über das Meer nicht überstehen.«

Mir schossen Tränen in die Augen, und ich schämte mich. Für meine Gedankenlosigkeit und dafür, dass ich mir Sorgen um das Gelingen meiner Yogastunde machte, während diese Menschen um das Leben von Familienmitgliedern bangten.

»Wollen wir weitermachen?«, fragte Samira freundlich und lächelte mich an.

Ich schluckte und nickte. So klein und jämmerlich kam ich mir vor angesichts dieser starken Frauen.

Wir machten weiter mit einer Yogaübung, die gut für die Schultern war, und als ich herumging, um den Frauen bei der richtigen Stellung zu helfen, spürte ich, dass bei allen der Nacken und die Schultern verspannt waren. Rasha schloss die Augen und stöhnte leise, als ich ihr die Schultern etwas stärker zusammendrückte.

»Soll ich aufhören?«, fragte ich ängstlich.

»Nein, nein«, antwortete sie und schloss die Augen. »Bitte nicht.«

Auch dieses Mal beendete ich die Praxis mit der Schlussentspannung, Savasana. Arwa schien den anderen bereits davon erzählt zu haben, denn als ich andeutete, dass sie sich jetzt hinlegen könnten, fragte Samira freudig und erwartungsvoll: »Massage?«

Ich nickte. Und schon lagen alle auf ihren Matten. Die Massage am Ende der Stunde war auch für viele meiner regulären Schüler das Beste am Yoga. Warum sollte das bei den Geflüchteten anders sein?

Als Yogalehrer kann man durch die Massage, die man den Schülern am Ende der Stunde gibt, sehr viel über sein Gegenüber erfahren. Nicht nur, weil man durch die Berührungen spürt, wie stark und wo jemand verspannt ist, sondern auch, weil man merkt, wie sehr der andere dazu bereit ist, äußerlich und innerlich loszulassen. Vielen Yogaschülern, die wie ich gewohnt sind, den ganzen Tag über streng getaktet ihren Verpflichtungen nachzugehen, fällt die Schlussentspannung anfangs deshalb auch besonders schwer. Denn angesichts dessen, dass heutzutage Nichtstun mit Faulheit und nicht mit Kontemplation gleichgesetzt wird, haben wir es häufig verlernt, uns auf uns selbst zu besinnen und »bei uns zu bleiben«. Häufig verspürt man in den ersten Yogastunden den Drang, aus dieser inneren und äußeren Starre auszubrechen, weil man das Gefühl hat, diese Regungslosigkeit – im Grunde aber sich selbst – nicht aushalten zu können. Weshalb es auch immer wieder vorkam, dass Schüler während des Savasana, übermannt von ihren Gefühlen, die sie in dieser absoluten Ruhe überkamen, zu weinen anfingen.

Daher war ich mir von Anfang an bewusst, dass gerade bei diesen Frauen, die Unvorstellbares erlebt haben mussten, im Savasana etwas hochkommen könnte. Weshalb ich mir, wohl wissend, dass ich als Yogalehrerin, die keine psychotherapeutische Ausbildung besitzt und die Traumata der Teilnehmerinnen nicht sachgerecht auffangen könnte, auch vorgenommen hatte, die Schlussentspannung entsprechend kurz zu halten. Denn ich wollte keinen -Gefühlsausbruch provozieren.

Nachdem ich zwei Frauen massiert hatte, stellte ich jedoch positiv überrascht fest, dass die neuen Schülerinnen die Berührungen sehr genossen.

Zufrieden ging ich zu meiner Matte zurück. Die Musik klang langsam aus. Entspannte Gesichter schauten mich an. Konnte es eine schönere Belohnung geben?

Norahib bikom heißt willkommen

Подняться наверх