Читать книгу Die Seele des Zauberlehrlings - Betty Kay - Страница 5
1. Kapitel
ОглавлениеIch ducke mich tiefer hinter dem Baumstamm und unterdrücke ein Lachen. Um besser hören zu können, halte ich die Luft an. Elevander soll mich nicht überrumpeln. Ich will ihn an der Nase herumführen.
Der Geruch von nassem Moos dringt mir in die Nase. Sonnenstrahlen schummeln sich immer wieder durch das Blätterdach über mir. In einiger Entfernung höre ich das Tschilpen der Flugechsen. Sie untermalen die leisere Musik des Waldes. Ich mag diese Komposition, die meinem Herzen Frieden schenkt. Das kann ich im Moment gut gebrauchen.
Das Schlagen von Flügeln erklingt. Weit über mir schießt eine Flugechse über die Baumkronen. Leider sind diese wunderschönen Tiere nicht stark genug, um einen Menschen zu tragen. Ich wünschte, ich könnte mit ihnen davonfliegen. Könnte ich nur genauso frei und ungebunden sein. Angeblich soll früher eine Rasse Flugechsen existiert haben, deren Flügelspannweite mehr als fünf Armlängen betragen hat. Die Menschen versuchten, diese Wesen als Transportmittel zu nutzen, waren allerdings nicht in der Lage, sie zu zähmen. Wohin die Echsen jemanden brachten, konnte nicht gesteuert werden, weshalb die Flugversuche schließlich gestoppt wurden. Danach verschwanden die Riesen aus den Landen der Maëlle.
Blätter rascheln in der Nähe. Holz wird zur Seite gebogen. Elevander hat meine Spur aufgenommen. Ich lege den Kopf schief und lausche reglos in meinem Versteck. Nicht weit von mir knackt ein Ast. Wie lange es dauern wird, bis er mich entdeckt?
In meinem Nacken beginnt es unangenehm zu kribbeln. Irgendetwas stimmt nicht. Der Klang von weichen Ledersohlen, die den moosigen Waldboden berühren, wischt das Lächeln aus meinem Gesicht. Ich mache mich noch kleiner. Jetzt halte ich die Luft vor Anspannung in meinen Lungen. So teures Schuhwerk tragen nur Bewohner des Schlosses. Niemand im Dorf kann sich den Luxus leisten. Wieso hat sich jemand von den hohen Herren in diesen Wald verirrt?
Ich murmle ein paar Worte, die mich unsichtbar machen. Ein kalter Schauer durchläuft mich, bis ich mich schwerelos und frei fühle. Dann hebe ich langsam den Kopf aus meinem Versteck.
Ein Mann schreitet zwischen den Bäumen hindurch. Auch über die Entfernung kann ich sein plattes, nichtssagendes Gesicht erkennen, er hat unser Dorf noch niemals besucht. Der Stoff seiner schwarzen Toga, die er über einem dunkelgrauen Hemd trägt, folgt jeder seiner Bewegungen. Es handelt sich um ein weiches, fließendes Material. So einen kostbaren Stoff habe ich noch nie gesehen. Nein, diesen Mann kenne ich mit Sicherheit nicht.
Ein festes Ziel scheint der Fremde nicht im Sinn zu haben. Suchend sieht er sich nach allen Seiten um. Was er in dieser Abgeschiedenheit zu finden hofft? Wen er in diesem Teil des Waldes verloren hat, der von den meisten Menschen niemals betreten wird?
Plötzlich blickt er genau in meine Richtung. Nur ungefähr zehn Armlängen trennen uns. Der Zauber verhindert, dass er mich wahrnehmen kann. Trotzdem läuft mir ein Schauer über den Rücken, als es scheint, als würde er mir direkt in die Augen schauen.
»Habe ich dich endlich gefunden«, sagt er und kommt näher. »Warum lernst du nicht in deinem Studierzimmer, wie es dir dein Großvater befohlen hat?«
Mein Herz bleibt vor lauter Überraschung beinahe stehen. Er kann mich sehen? Ist er tatsächlich hier, um mich wegen meines mangelnden Lerneifers zu tadeln?
Ich mache einen Schritt zur Seite. Er ist so nahe, dass er den Kopf drehen muss, wenn er mein Gesicht weiterhin beobachten will. Tatsächlich folgt er meiner Bewegung.
»Du wunderst dich, warum dein Zauber nicht funktioniert hat, Lesithder?«, fragt er.
Langsam nicke ich. Unruhe setzt sich wie ein klauenbesetztes Monster in meinem Nacken fest. Wenn er kein Zauberer ist, hat ihm jemand dabei geholfen, meine Magie zu überwinden.
»Oremazz hat mich geschickt, um dich zu suchen. Er hat mich mit einem Gegenzauber ausgestattet. Mir scheint, dein Großvater kennt dich ausgesprochen gut.«
Das alles ergibt noch immer keinen Sinn. Oremazz arbeitet als Großer Zaubermeister für unseren Fürsten. Dadurch nimmt er in unserer Gemeinschaft eine wichtige Position ein. Aufträge an hohe Herren, wie der Fremde einer zu sein scheint, erteilt er dennoch nicht. Ist meinem Großvater etwas zugestoßen?
»Geht es Oremazz gut?«
»Der Große Zaubermeister ist wohlauf. Unser Fürst hat ihn zu einer Audienz gebeten. Deine Anwesenheit ist dabei erforderlich.«
Dieses Gespräch verwirrt mich immer mehr. »Meine Anwesenheit?«
Die unbewegte Haltung des Mannes gerät ins Schwanken. Seine Schultern spannen sich an. »Frag nicht so viel, mach den Zauber rückgängig, und folge mir zum Schloss.«
»Zum Schloss? Zum Fürsten?«
»Bist du tatsächlich Lesithder, oder bin ich über den falschen Zauberlehrling gestolpert?«, fragt der Fremde. »Oremazz hat ein ganz anderes Bild von dir gemalt.«
»Es tut mir leid, wenn ich Euren Vorstellungen nicht entspreche. Euer Auftauchen hat mich überrascht. Ich habe keine Ahnung, warum man mich ins Schloss berufen sollte. Ich bin niemand, an den der Fürst auch nur einen zweiten Gedanken verschwenden würde.«
An der Wange des Mannes, der sich mir immer noch nicht vorgestellt hat, zuckt ein Muskel. »Die Zeiten verändern sich. Jeder muss seinen Anteil zu den Herausforderungen beitragen, die auf uns zukommen. Niemand kann für immer der bleiben, der er bis jetzt war. Man wird dir erklären, was du wissen musst. Im Schloss. Also tu, was von dir verlangt wird.«
In seinen Worten ist keine Bitte enthalten gewesen. Dennoch löse ich den Zauber auf und komme hinter dem Baumstamm hervor. Was könnte ich falsch gemacht haben? Mein letzter Zauber, den ich ohne die Genehmigung von Oremazz durchgeführt habe, ist schiefgelaufen, sodass ich einen Busch in Brand gesetzt habe. Es sollte aber niemand wissen, dass ich dahinterstecke. Beunruhigt trete ich näher. Vor den Fürsten wird man nicht zitiert, um für seine Leistungen gelobt zu werden. »Ihr wisst, wer ich bin. Werde ich erfahren, mit wem ich zu tun habe?«, frage ich.
»Mein Name lautet Sikiwer. Ich bin der Zeremonienmeister des Fürsten. Zumindest war ich das, bis man mich zum Botenjungen degradiert hat.« Seine letzten Worte triefen vor Sarkasmus. »Los jetzt. Das hier dauert bereits viel zu lange.« Er wendet sich ab und geht den Weg zurück, den er gekommen ist.
»Noch bin ich mir nicht sicher, ob ich Euch vertrauen kann.«
Seufzend bleibt Sikiwer stehen und sieht zu mir zurück. »Wenn du die Nerven des Großen Zaubermeisters genauso strapazierst wie meine, besitzt er mehr Geduld als ich. Oder er erkennt etwas in dir, das mir verborgen bleibt.«
Das hilft mir nicht bei meiner Entscheidung, ob ich ihm tatsächlich folgen sollte.
»Dir wird nichts geschehen«, sagt der Zeremonienmeister. »Ich schwöre es dir bei all unseren Göttern.«
»Da die niemand gegen sich aufbringen will, glaube ich Euch. Allerdings werde ich trotzdem nicht allein mit Euch kommen. Elevander wird uns begleiten.«
Ein fragender Ausdruck huscht über Sikiwers Gesicht. »Von wem sprichst du? Handelt es sich ebenfalls um einen Zauberlehrling?«
»Nein, er ist mein bester Freund und mit mir hierhergekommen. Ich werde ihn nicht zurücklassen.«
Der Zeremonienmeister schüttelte den Kopf. »Für den Fürsten sind Nichtmagier im Augenblick nicht von Interesse. Er verlangt, lediglich dich zu sehen.«
»Ohne meinen Freund gehe ich nirgendwohin«, wiederhole ich.
»Wegen dir werde ich noch in Schwierigkeiten geraten.« Sikiwer ballt die Hände. Eine Sekunde lang kann ich die Wellen der Frustration spüren, die von ihm ausgehen. Dann hat er die Kontrolle über seine Gefühle zurückerobert. »Noch nie habe ich so lange gebraucht, um einen Auftrag auszuführen. Wir haben keine Zeit, um uns auf die Suche nach einem kleinen, unwichtigen Jungen zu begeben. Die Herrschaften warten nicht gern.«
»Es dauert nicht lange. Elevander ist bereits hier.« Ich habe bemerkt, wie er sich näher zu uns herangeschlichen hat. Niemand ist so leise wie mein bester Freund. Außer mir hätte ihn bestimmt niemand gehört.
Sikiwer hebt misstrauisch eine Augenbraue.
»Elevander!«, rufe ich schlicht. »Zeig dich.«
Zwei Schritte von mir entfernt raschelt es in den Büschen. Dann erhebt sich mein bester Freund zwischen den Blättern. Er nickt mir ruhig zu. Sein feingezeichnetes Gesicht verrät nichts. Nur in seinen blauen, weisen Augen steht Neugierde, doch er schweigt. Wir wissen beide, dass wir uns gedulden müssen.
Sikiwers Gesichtsausdruck ist unverändert kühl. »Lasst uns endlich aufbrechen. Soll man sich im Schloss mit deinem Ungehorsam und dem unerwünschten Gast befassen.«
Zu dritt machen wir uns auf den Weg zum Schloss. Fast eine halbe Stunde marschieren wir durch den Wald. Erst müssen wir uns einen Weg zwischen den riesigen, hochstämmigen Bäumen und großen, fleischigen Pflanzen hindurch suchen. Dann gelangen wir auf einen Pfad, auf dem wir schneller vorwärtskommen. Elevander und ich werfen uns immer wieder neugierige Blicke zu, während wir Sikiwer schweigend folgen. Wir kennen dieses Gebiet wie unsere Westentasche, weshalb ich dem edlen Herrn zweimal den Weg weise. Sikiwer seufzt nur ungeduldig. Schließlich treten wir zwischen den Bäumen hervor.
Von dem Hügel aus, auf dem der Wald sich befindet, geht es sanft bergab zum Dorf, das sich in das kleine Tal schmiegt. Üblicherweise würden wir jetzt den schmalen Trampelpfad hinunterlaufen, um uns dann im Haus von Elevanders Eltern etwas zu essen aus der Speisekammer zu stibitzen. Wir würden uns noch eine Weile im Stall verstecken, bis wir uns vor unseren Aufgaben nicht mehr drücken können.
Sikiwer wendet sich allerdings nach links. Wir wandern über den Hügelkamm auf eine Erhöhung zu, auf der sich das Schloss unseres Herrn befindet. Mein Großvater lebt dort schon seit vielen Jahren. Er hat mich bei Elevanders Eltern zurückgelassen, um seine Fähigkeiten ganz in den Dienst des Fürsten stellen zu können. Trotzdem besucht er mich an drei Tagen der Woche und lehrt mich die Dinge, die seiner Meinung nach ein angehender Zauberer können muss. Noch bin ich zu jung, um in den Stand eines Zauberlehrlings erhoben zu werden. Noch drei Monate, dann feiere ich meinen sechzehnten Geburtstag. Danach muss ich das mir bekannte Leben verlassen, um mich unter Oremazz’ Obhut ganz der Magie zu widmen.
Je länger wir unterwegs sind, umso größer wird meine Unruhe. Ob der Ruf meines Großvaters mit meinem baldigen Studium zu tun hat? Es ist zu früh, um mich in die Schule mit den anderen Anwärtern zu stecken. Will Oremazz mich auf den Moment vorbereiten, an dem sich alles für mich ändern wird?
Ich sehe zu Elevander und entdecke die gleiche Beunruhigung in seinem Blick, die ich in meinem Herzen empfinde. Noch trage ich das Haar genauso kurz geschoren wie er – die Frisur des gemeinen Volks.
Weit unter uns liegt das Dorf. Dort befindet sich alles, was ich kenne. In den schmalen, ausgetretenen Gassen habe ich mein gesamtes Leben verbracht. Nach dem frühen Tod meiner Eltern hat der Große Zaubermeister nur halbherzig den Ersatz gespielt. Sein Verstand gehörte der Magie, sein Herz der Ausübung der Zauberkünste. Erst durch Elevanders Mutter habe ich Wärme und ein Zuhause gefunden. Ein Schatten legt sich über meine Seele, als ich an Moktuli denke. Wird mein Großvater mich zwingen, den Kontakt abzubrechen? Wie auch immer meine Zukunft aussieht, ohne einen Abschied werde ich sie nicht verlassen. Das kann niemand verlangen.
Sikiwer murmelt etwas, das ich nicht verstehe. Immer wieder treibt er uns an. Als ich stolpere, wirft er mir einen bösen Blick zu.
»Jetzt beeil dich! Der Fürst wird nicht sonderlich erfreut sein, wenn wir noch länger brauchen.«
»Soll ich uns schneller ins Schloss bringen?«, schlage ich vor. Die Idee könnte mich in Teufels Küche bringen. Viel länger will ich Sikiwers Missfallen jedoch nicht ertragen.
»Kannst du es denn?« Überrascht mustert mich Sikiwer.
Ich nicke. »Der Zauber ist einfach für mich. Die Erlaubnis, ihn zu wirken, habe ich allerdings nicht. Das muss mich jedoch nicht daran hindern. Ihr seid berechtigt, mir den Auftrag dazu zu erteilen.«
Der Zeremonienmeister wird langsamer. »Du wirst uns nicht versehentlich in Frösche verwandeln?«
»Natürlich nicht. Ich brauche Eure Hilfe, weil ich mich nur an Orte transportieren kann, an denen ich schon einmal war. Das Schloss habe ich noch niemals betreten. Wenn Ihr Euch die Gegebenheiten dort vorstellt, kann ich uns sicher ins Innere bringen.«
Sein Blick wandert zum Schloss, das noch unendlich weit entfernt wirkt. Dann nickt er. »In Ordnung. Ich befehle dir, uns schnellstmöglich an unser Ziel zu bringen.«
Aufregung ergreift von mir Besitz. Ich habe den Zauber noch nicht allzu oft angewendet. Grundsätzlich muss ich mich in der Öffentlichkeit mit meinen Übungen zurückhalten. Mein Großvater ist der Meinung, dass ich meine Fähigkeiten nicht austesten soll, solange ich kein Zauberlehrling bin. Doch diesen Spruch habe ich mir heimlich angeeignet. Elevander und ich benutzen ihn, wenn wir uns unerlaubt von Zuhause entfernen wollen. Obwohl seine Mutter jedes Mal furchtbar böse wird, wenn sie uns dabei erwischt, hat sie uns niemals verraten. In Moktulis Blick liegt nach ihrer Schimpftirade eine Mischung aus Bewunderung und Besorgnis.
Jetzt darf ich mich endlich mit Erlaubnis eines Erwachsenen daran versuchen. Ich weiß, dass ich dazu in der Lage bin, Elevander in meinen Zauber miteinzubeziehen. Nun ist noch eine zusätzliche Person dabei. Ob ich scheitern werde? Besser wäre wohl, wenn ich mir meine Unsicherheit nicht anmerken lasse.
Ich balle meine rechte Hand und schließe kurz die Augen. Dann spreize ich meine Finger, bis ich die Energie auf meiner Handinnenfläche spüre. Elevander macht von ganz allein einen Schritt auf mich zu, als ich mich neben Sikiwer stelle. Mit einer magischen Linie aus meinen Fingern, die langsam auf den Boden sinkt, zeichne ich einen Kreis um uns. Dann lege ich je eine Hand auf die Schulter meines besten Freundes und eine auf die des Zeremonienmeisters.
»Stellt Euch das Schloss vor«, bitte ich. »Am besten eine Stelle, an der wir uns aus dem Nichts materialisieren können, ohne Aufmerksamkeit zu erregen.«
»Wie groß muss der Raum sein?«, fragt Sikiwer.
Ein Grinsen unterdrückend zucke ich mit den Achseln. »Groß genug für uns drei, würde ich sagen.«
Er verdreht die Augen. »Soweit habe ich mitgedacht, frecher Bengel. Benötigt dein Zauber zusätzlichen Platz? Schickt er Energiewellen aus, die Gegenstände in unserer Nähe zerstören? Einige Zauberer verursachen jede Menge Chaos, wenn sie an einen fremden Ort reisen. Du musst mir daher ein paar Informationen geben.«
»Ich brauche keinen großen Raum. Die Energie, die ich freisetze, ist minimal. Verschwendung von Reserven vermeide ich, wie es mir mein Großvater gezeigt hat. Deshalb geht bei mir auch nichts zu Bruch.«
Sein Blick bleibt skeptisch. »Dann weiß ich einen Raum«, sagt er.
Mit einem aufmunternden Lächeln versuche ich ihn und mich gleichermaßen zu beruhigen. »Schließt die Augen, um die Verbindung nicht zu verlieren. Den Rest erledige ich.«
In Gedanken gehe ich die Worte des Zaubers durch, sage sie stumm vor mich her und konzentriere mich auf die Magie, die uns alle umgibt. Ich sauge die Energie aus der Luft, bis sie mich mit Wärme ausfüllt. Mit einem Flirren entlädt sie sich wieder, wobei mein Herz kurz aussetzt. Eine Sekunde später stehen wir nicht mehr auf dem Hügelkamm.
Dunkelheit umgibt uns. Elevander stößt einen unterdrückten Schrei aus.
Sikiwer räuspert sich. »In dieser Kammer hält sich niemals jemand auf. Deshalb gibt es auch kein Licht.«
Ich murmle nochmal ein paar Worte. Ein Lichtball entsteht auf meiner Handinnenfläche. Jetzt kann ich das Innere des Raums erkennen, in den Sikiwer uns geschickt hat. Holzvertäfelung bedeckt die Wände, filigran geschnitzt und reich verziert. Es existiert hier kein Fenster, was die absolute Dunkelheit erklärt. Die Kammer ist völlig leer. Was für eine Platzverschwendung! Dieser Raum ist größer als der Schlafraum, den wir uns zu viert teilen. Wozu der Raum wohl genutzt wird?
»Danke für die Beleuchtung«, sagt der Zeremonienmeister und greift nach dem Türknauf.
»Wartet. Es wäre vielleicht besser, wenn Ihr nicht erwähnen würdet, dass wir Zauber verwendet haben, um schneller vorwärtszukommen.« Auch wenn ich die Erlaubnis erhalten habe, würde mein Großvater die eigenmächtige Anwendung von Magie ohne seine Anwesenheit nicht gutheißen.
Mit zusammengekniffenen Augen mustert Sikiwer mich. Einen Moment scheint es, als würde er mir widersprechen. Er hebt eine Augenbraue, bevor er nickt. »Ihr habt mir bereits genug Schwierigkeiten bereitet.«
Er tritt nach draußen und sieht sich nach beiden Seiten um. Dann bedeutet er uns, ihm zu folgen. Elevander und ich marschieren hinter Sikiwer den Gang entlang und können unser Staunen nur schwer verbergen. Ein glänzendes Material ist auf Teile der Wandverkleidung angebracht worden. Es ist mir völlig fremd. Doch auch das Holz im Schloss hat eine ganz andere Beschaffenheit als das, welches wir in unseren einfachen Hütten verwenden. Es muss sich um edle Materialien handeln, derer wir nicht würdig sind.
Wir gelangen an einen kreuzenden Gang und wenden uns nach links. Wieder ist niemand zu sehen. Es ist gespenstisch leise. Beiläufig frage ich mich, weshalb all dieser Raum nicht ausgenutzt wird. Die Bewohner des Dorfes kennen nur Enge und Einfachheit. Aber das hier …
Ich ziehe bei der Größe und des Prunks den Kopf ein. Elevander verringert den Abstand zwischen uns. Dabei streifen sich unsere Finger. Ich greife danach. Elevander schiebt seine Hand in meine. Unsere Handinnenflächen sind feucht. Nein, wir fühlen uns beide hier nicht wohl.
Sikiwer hält an. Vor uns beginnt eine mit einem hochflorigen, golddurchwirkten Teppich ausgelegte Treppe. Sie führt zu einer doppelflügeligen Tür aus massivem Holz mit eleganten Ornamenten. Einige der Linien sind mit Gold ausgelegt. Der Zeremonienmeister wendet sich an Elevander. »Weiter kann ich dich nicht mit uns kommen lassen.«
Ich drücke die Finger meines Freundes fester. »Er begleitet mich überall hin.«
»Deine Aufsässigkeit habe ich jetzt lange genug toleriert«, sagt Sikiwer mit gefährlich ruhiger Stimme. Sein Blick ist drohend. »Sollte dieser Wicht mit dir vor dem Fürsten erscheinen, ohne dass seine Anwesenheit gefordert worden ist, kann alles passieren. Es sind schon wichtigere Männer in den Kerkern des Schlosses verschwunden, weil sie sich dem Willen des Fürsten nicht gebeugt haben.«
»Damit könnt Ihr mich nicht einschüchtern.« Leider hört man meinem hohen Tonfall an, dass es sich dabei um eine Lüge handelt. »Ich weiß nicht, was man von mir will. Trotzdem bin ich Euch hierher gefolgt. Elevander mag nicht als meine Begleitung geplant gewesen sein, doch dadurch hat er sich keines Fehlers schuldig gemacht.«
»Du hast keine Ahnung, welche Regeln es in den Hallen der Macht gibt«, erinnert mich Sikiwer. »Folge lieber meinen Ratschlägen.«
Elevander schüttelt den Kopf, als ich neuerlich widersprechen will. »Schon in Ordnung, Lesithder. Ich warte hier vor der Tür.«
Ohne ihn will ich nicht vor den Fürsten treten. Nur in seiner Gegenwart kann ich Selbstbewusstsein vortäuschen. Doch ich möchte Elevander auch nicht der Gefahr aussetzen, den Unwillen unseres Herrschers auf sich zu ziehen. »In Ordnung. Ich werde dich nicht zurücklassen, auch wenn man mich durch einen anderen Weg aus dem Schloss bringen will.«
»Es gibt nur diese Tür in den Audienzsaal des Fürsten«, mischt der Zeremonienmeister sich ein.
»Ich dachte, Ihr kennt meinen Großvater. Ihn hindern solche Details nicht daran, sich neue Wege zu schaffen.« Außerdem zweifle ich an seinen Worten. Es wäre viel zu gefährlich, keine Fluchtmöglichkeit für den Fürsten einzuplanen. Widerstrebend lasse ich die Hand meines besten Freundes los und stelle meinen Fuß auf die erste Stufe.
Neben mir holt Sikiwer tief Luft. Warum hat so ein hoher Herr Angst vor unserem Fürsten?
Mein Herz wird bang, als ich die Treppe erklimme. Bevor Sikiwer an der Tür klopfen kann, schwingen die beiden Flügel auf und gewähren einen ersten Blick auf den riesigen Saal dahinter. Ich erkenne einen Thron auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Mein davor stehender Großvater könnte die Spitze des Kopfteils nicht erreichen, wenn er auf den Schultern eines anderen Mannes stehen würde. Er sieht mir mit ernster Miene entgegen.
Während ich weitergehe, hebe ich den Blick zu der überwältigend hohen Decke. Muster bilden den Nachthimmel ab. Unzählige Sterne in Gold tanzen über unseren Köpfen. Das Firmament muss aufgrund seiner Detailgenauigkeit von jemandem zum Leben erweckt worden sein, dessen Hände durch Magie geführt wurden.
Hinter mir fallen die Türen mit einem dumpfen Knall ins Schloss. Ich zucke zusammen und kann die Anspannung nicht länger unterdrücken. Sikiwer bleibt stehen, weshalb ich es ihm gleichtue. Zehn Armlängen von uns entfernt steht ein fünf Armlängen hoher Thron, auf dem ein überraschend junger Mann in edler Kleidung sitzt. Er trägt eine Toga wie ich. Auf seinen Schultern befindet sich allerdings ein weiter mit Goldfäden durchwirkter Umhang mit pelzverbrämter Kapuze. Der leichte Stoff bauscht sich um unseren Anführer, als er sich erhebt.
Seine prächtige Kleidung unterstreicht seine Position. Beeindruckendere Wirkung hat allerdings sein respektgebietender, erhabener Gesichtsausdruck auf mich. In seinen Augen lese ich Härte und Ungeduld. Verärgerung flackert über seine kantigen, doch hübschen Züge. Sein Erscheinungsbild reicht aus, um mich in die Knie zu zwingen. Von Ehrfurcht ergriffen sinke ich nieder und beuge den Kopf. Die Magie, die der Fürst ausstrahlt, macht jeden Atemzug schwer. Sie vibriert in jedem Molekül der Luft. Sie schwirrt wie unzählige Libellen über mir.
»Mein Enkel, Lesithder«, stellt mich mein Großvater vor. Seine Stimme klingt angespannt. Erwartet mich ein Tadel oder eine Aufgabe?
Rascheln von Stoff erklingt. Gedämpfte Schritte sind zu hören. Der Fürst verlässt den Thron und kommt auf mich zu. Meinen Blick wage ich nicht zu heben, doch ich sehe den Saum seines Umhangs direkt vor mir. Die Magie verrät mir, dass unser Herrscher frustriert ist. Die Enttäuschung, die von ihm ausgeht, senkt die Temperatur in dem Raum um mehrere Grad.
»Er ist doch ein Kind!«, poltert er. »Was soll ich mit einem Nichts wie ihm?«
»Entschuldigt, wenn ich Euch nicht vorgewarnt habe, edler Fürst«, sagt mein Großvater. »Wir haben uns über die möglichen Zeitabläufe unterhalten. Er wird so weit sein, wenn er benötigt wird.«
Verwirrt versuche ich die Bedeutung hinter diesen Worten zu entschlüsseln. Haben Sie etwas mit meiner geplanten Ausbildung zum Zauberer zu tun? Werde ich jetzt endlich lernen, mit meinen Kräften umzugehen?
Obwohl es verboten ist, hebe ich den Kopf und suche den Blick meines Großvaters. Seine Stirn ist verkniffen. Seinen letzten Besuch bei mir hat er nicht angetreten. Ich dachte, wichtige Studien hätten ihn aufgehalten. Jetzt kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass etwas vorgefallen ist, das seinem Zeitplan im Weg stand.
»Ich wage zu bezweifeln, dass du aus ihm rechtzeitig einen großen Zauberer machen kannst. Dieser Schwächling ist mit Sicherheit nicht in der Lage, unser Volk vor der Bedrohung zu beschützen, die du vorausgesehen hast.«
Dann bin ich hier wegen einer Vision, die meinen Großvater heimgesucht hat. Der Große Zaubermeister übernimmt keine einfachen Zauber wie die Heilung von Krankheiten der Bürger unseres Dorfes. Er kümmert sich um die Erhaltung der Gesundheit unseres Herrschers. Wichtiger noch: Er ist in der Lage, dem Fürsten Ratschläge zu erteilen, deren Folgen weit in die Zukunft reichen. Oremazz weiß um die Geschehnisse in der näheren Zukunft Bescheid. Nun scheint es, als würde seine Vorhersage über die Nützlichkeit von Handelsabkommen und die Wetterbedingungen hinausgehen.
»Er wirkt im Augenblick vielleicht nicht, als wäre er der Aufgabe gewachsen …«, setzt mein Großvater an.
»Nein, ich würde mich nicht wundern, wenn er beim kleinsten Windstoß davongeweht werden würde. Wie kannst du behaupten, dass er die Lösung unserer Probleme ist? Dass er an deine Stelle treten soll?«
Mein Herz hüpft. Ich soll Oremazz vertreten? Wie kommt mein Großvater auf diese verrückte Idee? Ich habe keinerlei Erfahrung mit der Zauberei.
»Lasst mich mit ihm arbeiten. Geduldet Euch ein paar Monate. Dann erkennt Ihr in ihm, was ich jetzt schon sehen kann.« Der Große Zaubermeister verteilt kein Lob, erst recht nicht so großzügig wie jetzt. Das erste Mal fühle ich mich von ihm gestärkt.
Seine Aussage reicht aus, damit ich mehr davon will. Ich möchte ihm gefallen. Darum schlucke ich meine Widerworte hinunter.
»Einverstanden. Beginnt sofort mit den Vorbereitungen. Uns läuft die Zeit davon.«
Mein Großvater nickt, während er sich mir nähert. Er beugt sich zu mir und packt meinen Oberarm, um mich hochzuziehen. »Du kommst mit mir.«
Er murmelt etwas, macht eine Handbewegung, und plötzlich stehen wir in seinem Studierzimmer.
»Elevander«, sage ich zu spät. »Er steht vor der Tür des Audienzsaales. Wenn der Fürst in seiner Wut auf ihn trifft …«
»Ich schicke ihn nach Hause«, unterbricht Oremazz ungeduldig.
Seine Hände bewegen sich durch die Luft. Dann steigen Funken von seinen Händen auf. Er stößt den rechten Arm vorwärts.
Dann wendet er sich mir zu. »Du hast uns warten lassen. Der Fürst ist nicht für seine Geduld bekannt. Wärst du früher aufgetaucht, hätte ich ihn leichter beschwichtigen können.«
»Woher hätte ich wissen sollen, dass du ausgerechnet jetzt nach mir rufen solltest?«
Mein Großvater schnaubt. »Woher hättest du es wissen sollen? Du hättest es fühlen müssen. Würdest du nur einen Funken Talent besitzen, hätte es nicht Sikiwer gebraucht, um dich zu mir zu rufen.«
Der Tadel schmerzt. So kenne ich meinen Großvater schon eher. Hat er mich tatsächlich mit einem Zauber zu erreichen versucht? Habe ich seinen Ruf überhört? Bin ich so ein schlechter Lehrling? Scham steigt in mir auf.
»Es tut mir leid«, sage ich. »Heißt das, du hast den Fürsten belogen, als du ihm gesagt hast, ich würde diese geheimnisvolle Aufgabe erfüllen können?«
»Vielleicht habe ich ihm nicht die ganze Wahrheit verraten.« Ein verschlagener Ausdruck huscht über das Gesicht meines Großvaters. »Du wirst nicht allein tun, was er von dir erwartet. Ich werde es durch dich tun.«
Bei allen Göttern!? »Erkläre es mir.«
Mein Großvater nickt und geht zu seinem Schreibtisch, auf dem unzählige Papiere ausgebreitet liegen, darüber verteilt unterschiedliche Bücher. Auf einem Stapel entdecke ich handschriftliche Notizen. Es scheint, als hätte er Stunden über diesen Unterlagen gebrütet.
»Ich hatte eine Vision von einer Bedrohung, die uns heimsuchen wird und auf die wir uns vorbereiten müssen«, erzählt der Große Zaubermeister. »Es handelt sich um mehr als eine Hungersnot; eine größere Gefahr, als uns durch einen überlangen, harten Winter bevorsteht. Es wird schlimmer, als wenn wir über Monate hinweg in Dunkelheit leben müssten.«
Der Tonfall, mit dem Oremazz die Worte ausspricht, macht mir Angst. Er klingt besorgt, drängend, besessen. »Ich verstehe immer noch nicht.«
Er sieht mich mit einem Blick an, dessen Kälte mir bis in die Knochen fährt. »Eine gefährliche Macht bedroht unsere Leben. Das, was wir kennen, wird von Schwärze verschlungen, wenn wir uns nicht für den wichtigsten Kampf vorbereiten, den unser Volk jemals ausgetragen hat.«
»Wer sind unsere Feinde?«
»Das, Lesithder, ist eines der Rätsel, die es zu ergründen gilt. Der Macht, die uns überrollen will, sind wir nie begegnet. Es handelt sich um etwas Dunkles, Unheimliches, nicht Menschliches. Schwarze Magie hilft unseren Gegnern. Ich vermute, dass die antreibende Macht hinter dem geplanten Überfall auf unseren Kontinent nicht für uns Menschen begreifbar ist. Ich vertraue dir eine Befürchtung an, von der unser Fürst nichts erfahren darf. Du musst darüber schweigen, verstehst du mich?«
Gebannt nicke ich.
Oremazz macht einen Schritt auf mich zu. »Ich glaube, eine fremde Gottheit ist auf uns aufmerksam geworden und will unsere Welt für sich beanspruchen. Du kannst dir vorstellen, was das für uns bedeuten würde.« Er huscht zu einem Regal und zieht ein Buch daraus hervor. Aufgeregt wedelt er damit in der Luft herum. »Wenn ich mich nicht irre, finden sich die Beweise für meine Theorie in einem dieser Bücher.«
Ich spüre, dass es ihm ernst damit ist und er an diese Dinge wirklich glaubt. Als sein Enkel sollte ich ihm vertrauen, doch da ist eine leise Stimme, die dagegen ankämpft. Es ist kein Geheimnis, dass mein Großvater in die Zukunft sehen kann. Geschehnisse, die sich am selben Tag zutragen, kann er mit Sicherheit voraussagen, wenn er sich darauf konzentriert. Will man erfahren, was in einer Woche geschehen wird, muss man in seinen Prognosen lesen. Alle anderen Visionen beinhalten Andeutungen, Unsicherheiten, unterschiedliche Versionen der Zukunft. Alles befindet sich im Fluss. Denn wenn Menschen erfahren, welchen Schwierigkeiten sie sich gegenübersehen, verhalten sie sich nicht genau so, wie sie es ohne das Wissen um ihr Schicksal getan hätten. Das bedeutete zwangsläufig, dass das dunkle Bild, das ihm Angst gemacht hatte, nicht in dieser Form Wahrheit werden musste.
»Wann genau soll diese Bedrohung über uns hereinstürzen?«, frage ich.
Der Große Zaubermeister läuft zu einem Regal und zieht dort ein weiteres Buch hervor, in dem er auf dem Weg zurück zu seinem Schreibtisch zu blättern beginnt. »Meine Visionen reichen weit in die Zukunft hinein. Die weisen Wesen, die uns beistehen, haben meine Fähigkeiten anscheinend verbessert. Es werden noch einige Jahre vergehen, bis das Unausweichliche geschieht. Doch es besteht kein Zweifel daran, dass meine Version der Zukunft bereits auf uns lauert.«
Er vertraut so sehr auf seine Vision, dass ihm nicht mehr bewusst ist, dass seine Zauberkräfte Grenzen unterworfen sind. Auf diesen Denkfehler will ich ihn nur ungern hinweisen. »Möglicherweise reicht eine einzige Entscheidung aus, um deine Weissagung nicht wahrwerden zu lassen. Warum glaubst du, dass wir tatsächlich jetzt schon handeln müssen?«
»Weil ich nicht die Zukunft einer einzelnen Person vorausgesehen habe«, antwortet mein Großvater und legt das aufgeschlagene Buch neben die anderen. »Das, was ich in der Zukunft entdeckt habe, betrifft nicht nur eine Familie. Nicht nur unser Dorf. Die ganze Welt ist bedroht. Niemand wird überleben, wenn die Dunkelheit, die ich gesehen habe, sich über die Erde legt. Wir müssen uns mit anderen Völkern in Verbindung setzen. Wenn ich die Schwingungen richtig deute, die ich aus allen Teilen des Landes empfange, sind auch andere Zaubermeister in Aufruhr. Nicht nur ich scheine von diesen Visionen heimgesucht zu werden. Sie entsprechen unzweifelhaft der Wahrheit.«
»Vielleicht gelingt es uns, einen Krieg abzuwenden«, gebe ich zu bedenken. »Wenn wir mit dem Anführer der feindlichen Truppen verhandeln, wenn wir klarmachen, dass wir nicht vorhaben, ihnen unser Land freiwillig zu überlassen, geben sie möglicherweise auf.«
Oremazz schüttelt den Kopf. »Diese Hoffnung kannst du gleich vergessen. Das wird niemals passieren. Meine Visionen waren diesbezüglich sehr deutlich.« Er wendet sich von mir ab.
»Suchst du in den Büchern nach Antworten darauf, wie wir mit der Gefahr umgehen sollen?« Seine Aufregung springt auf mich über, als er zum nächsten Regal eilt und es durchforstet. Es fällt mir schwer, ruhig stehen zu bleiben und nicht ebenfalls durch den Raum zu laufen.
»Die großen Propheten aus unserer Vergangenheit haben Brotkrumen hinterlassen, denen ich folge. Die Welt hat sich schon immer vor etwas Vagem gefürchtet, das niemand näher benennen konnte. Wir leben nun in einer Zeit, in der die Bedrohung sich den Sehenden deutlicher zeigt. Wir sind endlich in der Lage, Prognosen zu erstellen und Gegenmaßnahmen in Angriff zu nehmen. Unsere Generation wird die Vorkehrungen treffen, damit wir uns gegen das Unbekannte zur Wehr setzen können. Die, die nach uns kommen, werden hoffentlich in Sicherheit leben können.«
Die Art, wie er rastlos durch den Raum läuft, der besessene Tonfall seiner Worte, das Feuer in seinen Augen, das gleichzeitig Kälte ausstrahlt, schüren meine Befürchtungen, dass er sich in etwas stürzt, das ihn verschlingen könnte. Meine Sorge, dass er sich übernimmt und über dieser Angelegenheit seinen Verstand verlieren könnte, lässt sich nicht mehr unterdrücken.
Als er wieder an mir vorbeiläuft, stelle ich mich ihm in den Weg. »Willst du dir die Verantwortung für die Bekämpfung dieser Gefahr ganz allein aufbürden?«
»Natürlich nicht. Die Anführer der Völker dieser Erde müssen informiert werden. Unser Fürst hat bereits alles Notwendige veranlasst. Man wird Abkommen treffen, die über die Zukunft der Welt entscheiden. Und dann, in ein paar Jahren, wird der Fürst in den Kampf ziehen und das Böse zerschlagen. Das ist der Augenblick, in dem die Zauberkräfte unserer Familie gefragt sind.«
»Ich verstehe nicht.«
Oremazz greift nach meinem Kinn und sieht mir tief in die Augen. »Unser Fürst wird die Herausforderung nicht allein meistern können. Er benötigt einen Zauberer, der ihn mit Magie unterstützt, der ihm Ratschläge erteilt, nachdem er einen Blick in die Zukunft geworfen hat. Unsere Welt wird fallen, wenn er die Kräfte der Magie nicht nutzt.«
»Du willst dich mit ihm auf das Schlachtfeld begeben?«, frage ich. Noch immer klingt diese Version unseres Schicksals so vage, dass ich damit nichts anfangen kann. Meinen Großvater möchte ich allerdings nicht im Zentrum dieser Gefahr wissen.
»Dafür werde ich zu alt sein, mein Junge. Darum habe ich nach dir rufen lassen. Wir müssen augenblicklich damit beginnen, dich auf deine Aufgabe vorzubereiten.«
Der Blick in seine Augen hat hypnotisierende Wirkung auf mich. Ich fühle mich benommen, überrumpelt, voller Angst. »Ich soll den Fürsten als dein Stellvertreter begleiten? Ich soll die Rolle des Großen Zaubermeisters übernehmen?«
Mein Großvater wirkt überrascht. Dann wirft er den Kopf in den Nacken und lacht beleidigend laut. Die Anspannung, die unablässig von ihm ausgegangen ist, entlädt sich in einem Gelächter, das tief in mein Herz schneidet.
Es dauert mehrere Augenblicke, bis er sich wieder beruhigt. Mein Innerstes ist zu Eis erstarrt. Es tut verdammt weh. Hier stehe ich vor dem einzigen Mann, der von meiner Familie übriggeblieben ist, und er sieht in mir nicht mehr als einen Scherz.
»Ich sehe es wie unser Fürst«, erklärt Oremazz. »Du bist noch zu jung. Deine Ausbildung würde zu lange dauern, damit du rechtzeitig als mein Stellvertreter fungieren könntest. Dafür würde vermutlich nicht einmal deine gesamte Lebensspanne reichen. Das darf der Fürst allerdings nicht erfahren.«
»Wie willst du ihn über meine … meine Unfähigkeit hinwegtäuschen?«, frage ich. Meine Zunge klebt an meinem Gaumen, weil die Worte meinen Mund nicht verlassen wollen.
»Du wirst mein Werkzeug sein. Ich bleibe hier. Allerdings sammle ich meine Kräfte und benutze meine Magie, wie ich es tun würde, wenn ich den Fürsten begleitet hätte. Du wirst mich über alles informieren, was vor sich geht. Unter Zuhilfenahme meiner Fähigkeiten wirst du entscheiden, was zu tun ist. Dann werde ich deine Hände benutzen, um meine Zauber zu wirken.«
Sein Werkzeug? Es klingt abfällig. Selbst wenn ich lediglich seine Marionette spielen soll, wäre es bestimmt von Vorteil, wenn ich nicht völlig ahnungslos wäre. Ich will die Grundlagen der Materie verstehen. Diese Form des Magietransfers haben wir noch niemals getestet. Das hier ist meine Chance, endlich lernen zu können, was er mir verweigert. »Es wird dauern, bis ich genug Wissen sammle, um als dein Instrument fungieren zu können.«
»Die Dunkelheit kommt immer näher, Lesithder. Wir können die Augen nicht länger davor verschließen. In meiner Vision sehe ich einen Kampf, der über unser aller Leben entscheidet. Auch du wirst deine Rolle in den drohenden Unglückszeiten spielen müssen. Wir müssen dich darauf vorbereiten.«
»Ich? Was soll ich schon bewegen? Ich bin kein Zauberer. Meine Fähigkeiten haben dir bislang nicht mehr als Unmut entlockt. Du musst dich irren. Bestimmt war es nicht mein Gesicht, das du in deiner Vision entdeckt hast.«
»Natürlich nicht«, blafft mein Großvater. Seine Augen sprühen Blitze. »Aber ich habe meine Macht vor Ort gespürt.«
Erleichterung durchflutet mich dennoch. Mit seiner Wut auf mich kann ich umgehen. Ich habe ihn im Laufe meines Lebens mehr als einmal enttäuscht. Wenn ich mich nun nicht so tapfer verhalte, wenn ich nicht so heldenhaft reagiere, wie er es sich von mir erhofft hat, werde ich ein weiteres Mal in seiner Achtung sinken. Meine Beruhigung durch die Tatsache, dass er nicht mich in seiner Offenbarung gesehen hat und mich dadurch aus meiner Pflicht entlässt, drückt um vieles schwerer auf meine Schultern. Worauf will er hinaus?
Mein Großvater macht einen Schritt auf mich zu. Je näher er mir kommt, umso unsicherer werde ich. Wellen magischer Energie gehen von ihm aus. In seinen Augen lodert es auf. Ich kann Flammen sehen, die das natürliche Blau seiner Iris verschlingen. Als die Feuerzungen auch das letzte Fitzelchen Weiß seiner Augäpfel überdeckt, entsteht in der roten Flammenhölle ein schwarzer Punkt, der langsam größer wird.
Angst schnürt mir die Kehle zu. Was passiert gerade? Wird mein Großvater mich in seiner Wut mit einem Flammenzauber belegen? Habe ich ihn dermaßen erzürnt, dass er mich in seiner Raserei direkt in die Zwischenwelt schickt?
Der schwarze Punkt gewinnt an Geschwindigkeit. Der Fleck rast auf mich zu. Und mit einem Mal verschlingt er mich. Meine Seele löst sich von meinem Körper und befindet sich plötzlich in absoluter Dunkelheit. Sie schwebt im Nichts. Ich fühle mich gewichtslos, unbedeutend, kleiner als ein Staubkorn im Angesicht des Universums.
Ich löse mich auf. Meinen Körper habe ich längst verloren. Gerade noch war ich nicht mehr als ein Gedanke. Doch auch der beginnt sich viel zu rasch zu zersetzen, als dass ich herausfinden könnte, was gerade mit mir passiert.
Von einem Wimpernschlag zum nächsten befinde ich mich in einem anderen Wesen. Ich sehe durch Augen, die mir fremd sind. Instinktiv weiß ich, dass mein Großvater mich in seinen Verstand gepflanzt hat. Nun kann er Wissen und Emotionen mit mir teilen. Noch bevor die Bilder auf mich einstürzen, ahne ich, dass der Große Zaubermeister seine Vision mit mir teilen will. Schon die ersten Gefühle machen mir klar, dass ich keine Wahl habe. Ich werde tun müssen, was man von mir erwartet.
Eine Armee von Schiffen spuckt Soldaten auf die Strände unseres Kontinents. Ihre Anzahl geht über den menschlichen Verstand hinaus. Sie überziehen das Land wie ein Schwarm hungriger Heuschrecken. Es dauert nicht lange, bis sie auch an den Grenzen unserer Heimat stehen.
Ihre Vorhut hat die Völker dieses Kontinents bereits vernichtend geschlagen. Unsere Feinde sind sogar bis nach Maëlle vorgedrungen. Wer sich nicht vor ihnen verstecken konnte, wurde getötet. Unser Fürst zieht mit dem Rest seiner Männer gegen die neue Flut an Gegnern in den Krieg. Körperlich bin ich nicht anwesend, obwohl mein Geist sich zwischen ihnen befindet. Ich kann keine Gesichter erkennen. Eine Schar an Gestalten kommt an mir vorbei, ihre Züge seltsam formlos. Dennoch verraten mir die Auren der einzelnen Personen, einige Bekannte vor mir zu haben. Ihre Körper sind nicht zu identifizieren, trotzdem weiß ich, wer an mir vorbeizieht. Darum also hat mein Großvater davon gesprochen, mich in seiner Vision gesehen zu haben, obwohl er keine Gesichter vor sich gehabt hat.
Eine erste Welle der Soldaten der Dunkelheit kann unser Fürst zurückdrängen. Dann erwartet uns eine weitere Flut unserer Feinde. Sie sind in der Übermacht und drohen, uns zu überschwemmen. Ein Mann stellt sich ihnen entgegen. Seine Aura erinnert mich an … an mich selbst. Was – gelinde gesagt – verwirrend ist.
Im Körper eines anderen zu stecken und mich selbst zu beobachten, wie ich aus einer Abteilung von Soldaten vortrete, meine Hand in die Luft recke und irgendetwas schreie, bevor ich auf unsere Gegner zulaufe, fühlt sich seltsam an. Ich kann das Bild nicht mit meinem heutigen Ich in Zusammenhang bringen. Sollte ich tatsächlich irgendwann so mutig, so energisch sein, dass mir eine Armee von Soldaten folgt? Was wird passieren, wenn wir auf die Reihen unserer Feinde treffen?
Die Vision zeigt es mir nicht direkt. Stattdessen verändert sich das Bild. Eine Wolke hat sich direkt über unser Land geschoben. Sie hat alles verdunkelt, bis die Sonne keinen Weg mehr hindurchfindet. Kein Lichtstrahl berührt mehr den Boden.
Überall entdecke ich Lager unserer Feinde, die sich auf unserem Kontinent ausgebreitet haben. Nur wenige Mitglieder unseres Volkes haben die große Schlacht überlebt. In den Dörfern leben größtenteils noch Alte und Kinder. Alle kampffähigen Männer, die eine Waffe halten konnten, sind in die Schlacht gezogen und mussten ihr Leben lassen. Die Frauen haben versucht, sich unseren Gegnern entgegenzustellen, konnten die feindliche Übernahme unseres Landes jedoch nicht verhindern. Die Eingebung meines Großvaters verrät mir die Details. Die schreckliche Realität durchdringt meinen ganzen Körper. Wir haben versagt.
Eine dunkle Wolke nähert sich vom Meer aus dem Kontinent. Magieblitze steigen vom Wasser in die Luft, erhellen die schwarze Masse, während sie Energie an das Ungetüm übertragen. In der nebeligen Hülle wächst mit jeder Stunde eine Macht, deren bösartige Gedanken die Welt vergiften wollen. Monster werden darin geboren. Fauliger Regen sammelt sich im Inneren. Blitze wirbeln darin. Die Luft lädt sich mit schwarzer Energie auf, während die Wolke an Größe gewinnt und sich immer näher schiebt.
Ein kalter Wind überzieht das Land mit seinem eisigen Hauch. Überall gefriert der Boden. Pflanzen sterben ab, werden zu Gerüsten aus Eis, die der Sturm in Tausende Splitter zerbersten lässt. Je näher diese Naturgewalt unserem Zuhause kommt, umso mehr nimmt sie an Kälte ab. Doch bis dahin ist bereits so viel zerstört, dass niemals wieder jemand in dieser Gegend siedeln kann. Die Kälte sickert in den Boden, lässt ihn für Generationen unfruchtbar werden.
Nach dem Wind schickt die Wolke, die immer noch über dem Meer schwebt, die Ausgeburten der Hölle aus. Krähen, größer als Häuser, fliegen über das Land und suchen sich ihre Opfer aus den verängstigten Menschen, die nicht schnell genug fliehen können. Sie tragen ihre Beute zurück in die Wolke, ohne dass sie jemals wieder zurückkehren. Unheimliche Kreaturen suchen unseren Kontinenten heim. Sie jagen in der Nacht, fallen über Unschuldige her, verspeisen sie im Schutz der Dunkelheit und verstecken sich bei Tag in den Schatten der Berge.
Durch die Vorboten des dunklen Angreifers verbreiten sich Schrecken und Angst. Keiner der wenigen Menschen, die den Krieg überlebt haben, fühlt sich vor der Gefahr sicher. Das Leben in unserer Welt ist zu einem Albtraum geworden. Die Magie des Feindes zerstört alles, was wir lieben.
Ob es einen Weg gibt, diese schreckliche Zukunft zu verhindern? Existiert ein Ausweg, um unser Land und seine Menschen zu retten? Kann ich etwas tun, damit unsere Feinde keinen Erfolg haben? Werde tatsächlich ich den Unterschied machen, oder sitzt mein Großvater einem Irrtum auf?
Ich werde es herausfinden. Daran gibt es für mich keinen Zweifel mehr. Das hier ist mein Schicksal. Ich werde auf dem Schlachtfeld stehen. Davor kann ich nicht davonlaufen. Denn wenn ich mich dem Albtraum nicht stelle, kann ich nicht verhindern, dass unsere Feinde über uns herfallen. Das würde ich mir niemals verzeihen.