Читать книгу Die Seele des Zauberlehrlings - Betty Kay - Страница 6
2. Kapitel
ОглавлениеZwei Jahre später
»Halte den Zauberstab fester«, befiehlt mein Großvater. »Sobald dir ein Hauch von Gegenwind entgegenbläst, wirst du ihn verlieren.«
»Ich brauche ihn doch gar nicht mehr. Diese Zauber kann ich auch ohne Hilfsmittel anwenden.«
»Kommt nicht infrage.« Oremazz schüttelt den Kopf. »Die Sprüche, die ich dir beigebracht habe, kannst du vielleicht in diesen Räumen ohne Probleme umsetzen. Dich erwartet allerdings eine Aufgabe, die weit über diese Fingerübungen hinausgeht. Du wirst als mein Stellvertreter diese Reise antreten. Durch deine Hände wird meine Magie fließen. Wie willst du die Kräfte, die in dir toben werden, unter Kontrolle halten, wenn du dich ausschließlich auf deine unausgereiften Fähigkeiten verlässt?«
Eine Haarsträhne verdeckt mir die Sicht. Mit einer ungeduldigen Bewegung streiche ich sie hinter mein Ohr. Langsam nicke ich. Der Große Zaubermeister lässt keine Gelegenheit aus, um mich auf meine Unzulänglichkeiten hinzuweisen. Immer noch scheine ich nicht gut genug, um seine Ansprüche erfüllen zu können. Seit zwei Jahren üben wir jeden einzelnen Tag die gleichen einfachen Zauber und Sprüche. Im Gegensatz zu den anderen Zauberlehrlingen erhalte ich zusätzlich Einzelunterricht bei meinem Großvater. Letzte Nacht hat er mich in den frühen Morgenstunden geweckt, um mich auf den Prüfstand zu stellen.
»Die Übungen in der Lehrstunde mit den anderen Schülern sind gut verlaufen«, erinnere ich meinen Großvater. »Im Vergleich zu den anderen Lehrlingen habe ich mich nicht schlecht angestellt.«
»Das ist nicht genug. Verstehst du denn nicht, dass deine Aufgabe größer und komplizierter ist als ihre? Nur zwischen uns besteht die Verbindung des Blutes, durch die ich wirken kann. Dadurch hast du Fähigkeiten, die andere vielleicht niemals erreichen können. Doch das ist bei Weitem nicht genug, um es mit den Feinden aufzunehmen, die auf uns warten. Du weißt, dass die Zeit nicht auf unserer Seite ist.«
»Motivation ist eindeutig kein Grundpfeiler deines Unterrichts«, murmle ich.
Oremazz runzelt die Stirn und steht plötzlich direkt vor mir. »Wie bitte?«
Ich senke den Blick und schüttle den Kopf. Meine Worte will ich lieber nicht wiederholen.
»Du nimmst diese Sache nicht ernst genug«, beschwert sich der Große Zaubermeister. »Seit zwei Jahren versuche ich dir klar zu machen, wie wichtig deine Rolle werden wird.«
»Als deine Handpuppe.«
»Was interessiert es dich in ein paar Jahren, was genau du getan hast, um unsere Welt zu retten? Man wird dich als Helden feiern. Niemand wird ahnen, dass es sich nicht um deine eigenen Zauberkräfte gehandelt hat. Zumindest wenn du dich endlich anstrengst und versuchst, meine Magie auf die richtige Art zu kanalisieren.«
Mein Herz sollte nicht von Bitterkeit zerfressen werden. Ich weiß, dass ich niemals annähernd gut genug sein werde, um so mächtig zu werden, wie mein Großvater es ist. Ehrlich gesagt habe ich die Zauberei in meiner Kindheit tatsächlich nie als mein Schicksal angesehen.
Das hat sich allerdings geändert, als ich das erste Mal Magie wirken durfte. Noch bevor die Prophezeiung der Gefahr für unser Volk meine Person zu einer Spielfigur des großen Plans gemacht hat, wollte ich alles Notwendige lernen, um den überdimensionalen Fußstapfen meines Großvaters mit kleinen Schritten folgen zu können. Doch jetzt bin ich zu einer Marionette geworden. Oremazz hat nicht einmal in Betracht gezogen, ich könnte als Zauberlehrling genug Entwicklung zeigen, um auch nur einen Teil der Zauber selbst zu wirken.
»Ich verstehe, wie groß die Gefahr ist, die uns durch die schwarze Wolke droht«, stelle ich klar. »Wir müssen die Vorhut aus unserem Land verjagen, damit die Dunkelheit uns nicht vernichtet. Ich bin bereit, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um das Schlimmste zu verhindern. Lehre mich alle Zauber, die du kennst. Lass mich nicht nur in den Büchern deiner Bibliothek lesen, wie Magie richtig angewendet wird. Erlaube mir, all diese Dinge auszuprobieren.«
»Eine schlechte Idee. Damit würden wir bloß unnötig Zeit verschwenden. Meine Vision war mehr als deutlich. Wir wissen, ich habe dich gelenkt. Wozu willst du dich mit etwas befassen, das ohnehin niemals eintritt?«
Obwohl es in seinem Studierzimmer langsam zu dunkel wird, um das Spiel seiner Miene genau deuten zu können, erkenne ich die Missbilligung auf seinem Gesicht. Die Sonne wird viel zu oft von Wolken verdeckt. Die Abstände, in denen es ihr gelingt, die verfinsternde Decke zu durchdringen, werden immer kürzer. Dennoch sehe ich, wie Oremazz’ Augen funkeln, als er sich seinen Büchern zuwendet.
Mit einer beiläufigen Handbewegung entzünde ich ein Feuer in den drei Laternen an der Wand. »Ich habe mich in den letzten Tagen an einigen einfachen Zaubern versucht«, gestehe ich. »Nichts allzu Großes. Doch es ist mir gelungen, Abwehrmechanismen anzuwenden.«
Der Große Zaubermeister lacht auf. »Lassen wir außer Acht, dass du lieber etwas anderes hättest üben sollen, und widmen wir uns einen kurzen Augenblick dieser ungenauen Aussage. Welchen Zauber hast du gewirkt?«
»Ich habe einen Schutzschild um mich herum gebildet. Elevander hat mit einem Ball auf mich geschossen, aber der Ball konnte den Schild nicht durchdringen.«
Wie stolz ich in diesem Augenblick gewesen bin! In den letzten Monaten habe ich nicht einmal den Anflug dieses Glücks empfunden. Oremazz glaubt nicht an mich. Elevander stachelt mich an. Mein bester Freund unterstützt mich bei meinen Übungen. Ihm ist es aufgrund seines Standes nicht erlaubt, Zauberlehrling zu werden, obwohl ich ihn zu gern an meiner Seite hätte. Genau wie sein Vater arbeitet er als Schreiner und ist damit mehr als zufrieden. Ihn dabei zu beobachten, wie geschickt er mit einem Stück Holz umgeht, schenkt mir den Frieden, den ich bei meiner Aufgabe niemals finde. Er tut, wozu er berufen ist, und motiviert mich, an mir selbst zu arbeiten. Durch seine Hartnäckigkeit habe ich meine Hoffnung noch nicht aufgegeben, irgendwann ein großer Zauberer zu werden.
Oremazz’ Augenbraue hebt sich. »Ein Schutzschild für dich allein? Das lernen Lehrlinge in den ersten Monaten ihrer Ausbildung. Wozu soll dieser Zauber schon gut sein? Willst du ihn in der Schlacht anwenden? Möchtest du dich damit vor unseren Feinden schützen, während um dich herum die Männer fallen?«
Mir ist bewusst gewesen, dass es sich bei meiner Übung nur um einen kleinen Trick handelt. Natürlich reicht das nicht, um in einem Kampf die Männer, die unser Fürst aus dem ganzen Land einberufen hat, vor Unheil zu bewahren. Trotzdem habe ich gehofft, mein Großvater würde in Betracht ziehen, dass ich hilfreicher als eine Handpuppe sein könnte.
»Hast du letzte Nacht die Sprüche gelernt, die ich dir aufgetragen habe?«, fragt der Große Zaubermeister streng.
»Selbstverständlich. Ich würde dich niemals enttäuschen.«
Oremazz seufzt. »Zeig es mir«, fordert er. »Sag eine der Formeln.«
Nervosität lähmt mich sofort. Ich weiß, welchen Spruch ich sprechen möchte. Unsichtbar sein. Dabei handelt es sich um eine Fähigkeit, die ich mir immer schon gewünscht habe. Tatsächlich habe ich ihn bereits vor dem Auftrag von Oremazz gelernt. Mehrmals habe ich den Zauber getestet, um mich heimlich mit Elevander wegschleichen zu können. Niemals hatte ich ein Problem damit, ihn richtig umzusetzen. Doch plötzlich ist mein Kopf wie leergefegt. Die Angst, zu versagen, lässt mich noch vor dem Beginn verzweifeln. Ich klammere mich an den Anfangsworten des Spruches fest und trage ihn leise und langsam vor.
»Mit meiner Seele rufe ich die Macht,
damit der helle Nebel über mich gebracht.
Unsichtbar wandle ich auf dieser Welt,
solange es mir so gefällt.«
Nichts passiert. Und das ist kein Wunder. Triumph blitzt in den Augen meines Großvaters auf.
»Du hast in der letzten Zeile ein paar Worte verwechselt«, tadelt Oremazz sofort. »Es heißt: solange mir diese Tarnung gefällt. Du musst darauf achten, die Sprüche fehlerfrei zu kennen. Wenn du unkorrekte Zauber aussprichst, wirst du keinen Erfolg haben. Du bringst damit nicht nur dich in Gefahr. Genau deshalb kann ich dich nicht ohne meine Hilfe zaubern lassen.«
Scham erhitzt meine Wangen. Dieser Fehler war unverzeihlich. Ich habe versucht, meinen Großvater davon zu überzeugen, sein Vertrauen verdient zu haben. Stattdessen habe ich ihm einen weiteren Grund geliefert, warum ich nicht würdig bin, sein Nachfolger zu werden. Unter Druck versage ich. Möglicherweise hat Oremazz recht, wenn er mir nicht mehr Verantwortung überträgt.
»Es tut mir leid, dich enttäuscht zu haben«, würge ich hervor.
»Ich habe nicht erwartet, dass du plötzlich zu einem Meistermagier wirst. Vergiss einfach deine Albernheiten, schlag dir aus dem Kopf, die Zauber allein zu wirken, und konzentriere dich auf die Aufgabe, die du wirklich umsetzen kannst. Bist du dazu bereit?«
Mehr als ein Nicken gelingt mir nicht.
»Schön. Dann lass uns nach draußen gehen und nach einem geeigneten Versuchsobjekt suchen.«
»Einem geeigneten Versuchsobjekt?«, echoe ich.
»Exakt. Wir werden sofort einen Versuch starten, bei dem ich den Zauber spreche, und du dich auf die Person konzentrierst, bei der sich die Wirkung zeigen soll. Es ist an der Zeit, deine Fähigkeiten zu testen. Ich will sehen, ob du in der Lage bist, meine Kräfte zu kanalisieren.«
Bisher haben wir uns hauptsächlich darauf beschränkt, an Gegenständen zu üben. In den letzten Wochen hat mein Großvater Freiwillige dazu abgestellt, mich meine Zauber an ihnen testen zu lassen. Wir haben niemanden darüber informiert, dass nicht wirklich ich es bin, der die Magie benutzt. Genau das wollten wir schließlich verhindern. Es hat auch niemand bemerkt, dass wir nur ein Theaterspiel veranstalten, was Oremazz in seinem Glauben bestärkt, dass wir den richtigen Weg beschreiten. Ich weiß nicht, ob ich glücklich darüber bin, so ein guter Schauspieler zu sein.
Jetzt soll ich jemanden beeinflussen, der nicht ahnt, für meine Zwecke benutzt zu werden. Seit drei Tagen versuchen wir uns an Zaubern, die unsere Gegner außer Gefecht setzen sollen. Das würde bedeuten, dass wir einen Dorfbewohner ohne Vorwarnung handlungsunfähig machen. Nein, wir könnten ihn sogar verletzen. Der Gedanke gefällt mir nicht.
»Hältst du das wirklich für eine gute Idee?«, frage ich. »Was, wenn jemand bemerkt, was wir tun? Was werden die Leute denken, wenn wir unsere Macht nicht auf verantwortungsvolle Weise einsetzen?«
»So ein Schwachsinn! Hast du vielleicht vor, unsere Feinde um Erlaubnis zu fragen, bevor du sie kampfunfähig machst?«
»Nein, aber das kannst du nicht vergleichen. Willst du einen unschuldigen Menschen in Angst und Schrecken versetzen …?«
Mein Großvater stößt einen Laut der Verärgerung aus. Mit dem Blick, den er mir zuwirft, könnte er glühende Kohlen zu Eis verwandeln.
Oremazz packt eines seiner Bücher – wozu er es benötigt, weiß ich nicht – und verlässt den Raum. Ich folge ihm auf den Gang. Es wäre ein Leichtes für uns, mit einem Zauber innerhalb einer Sekunde in den Hof zu gelangen. Er liebt den großen Auftritt. Doch dafür hat er es nicht nötig, Magie anzuwenden.
Bei jedem Schritt, den wir im Schloss zurücklegen, halten die Leute ehrfurchtsvoll inne. Die Frauen sinken in einen tiefen Knicks. Die Männer verbeugen sich. Während man ihn grüßt, wird der Name meines Großvaters nur leise gemurmelt. Es scheint, als wolle man ihn nicht abnutzen, als beinhalte er einen Zauber, den es zu bewahren gilt.
Obwohl ich direkt neben ihm gehe, werde ich keines Blickes gewürdigt. Als sein Enkel könnte ich eine gewisse Sonderstellung in unserer Gemeinschaft einnehmen. Das ändert allerdings nichts daran, dass ich neben Oremazz nicht beachtet werde.
»Warte hier«, befiehlt der Große Zaubermeister, als wir auf den Innenhof gelangen.
Eine Frau mit einem Korb voller Wäsche läuft an uns vorbei. Als sie in den Knicks sinkt, steigt sie sich auf den Saum ihres Kleides, das unter der Toga hervorschaut. Ich greife nach ihrer Hand, um sie am Fallen zu hindern. Sie flüstert einen Dank, bevor sie weitereilt.
Mein Großvater nimmt die Aufregung der Frau gar nicht wahr und eilt über den Hof. Vermutlich macht er sich auf die Suche nach einem geeigneten Opfer für unseren Versuch. In mir brodelt Unwohlsein. Das ist wohl ein schlechter Traum. Gleich wache ich auf. Das kann er doch nicht tun! Sucht er möglicherweise jemanden, der leicht zu manipulieren ist? Oder möchte er mir die Sache nicht zu leicht machen? Ich hätte nichts dagegen, einen kleinen Erfolg vorweisen zu können, auch wenn ich den Gedanken hasse, irgendjemanden gegen dessen Willen zu beeinflussen. Ich will das nicht!
Beiläufig beobachte ich das Treiben auf der plattgetretenen Fläche, die fünfzig Schritte auf der einen Seite und gut hundert auf der anderen Seite breit ist. Ein Mann repariert das Rad eines Karrens. Zwei weitere zimmern an einem Hühnerstall, was den Unmut einer Frau erweckt, die lautstark nach der Verlegung der Baustelle fordert.
Dann verändert sich etwas. Meine Nackenhaare richten sich auf, während mein Herz einen Hüpfer macht. Frieden breitet sich in mir aus. Er ist da.
Ich nehme seine Aura wahr, bevor er mich anspricht. Gesichter habe ich mir noch niemals gut gemerkt. Sie sind leicht zu verwechseln, austauschbar, verändern sich je nach Laune. Die Aura eines Menschen bleibt allerdings immer gleich.
»Was tust du hier? Solltest du nicht im Studierzimmer über deinen Büchern brüten?« Elevander bleibt hinter mir stehen.
Einen Moment lang habe ich Oremazz aus den Augen verloren. Dann entdecke ich ihn an den Stufen, die zum Rundgang im ersten Stock führen. Will er von dort aus den Zauber wirken?
»Ich soll mich an einem Opfer versuchen, das nichts von der Manipulation ahnt«, gestehe ich. Mein bester Freund weiß über die Täuschung Bescheid, die mein Großvater und ich planen. Ich musste mich jemandem anvertrauen, auch wenn der Große Zaubermeister das bestimmt nicht gutheißen würde.
»Eigentlich soll ich einen Schrank für die Bibliothek ausmessen. Jetzt lasse ich mir damit noch ein wenig Zeit. Wann geht es los?«
»Willst du wirklich dabei zusehen, wie ich mich vor allen lächerlich mache?«, frage ich.
Elevander lacht leise. »Vielleicht solltet ihr nicht nur an deinen Fähigkeiten als Zauberer arbeiten. Es würde nicht schaden, wenn ihr dein Selbstbewusstsein aufbauen würdet.«
Ich unterdrücke ein trauriges Seufzen. »Dafür haben wir keine Zeit. Mein Großvater gibt mir sehr deutlich zu verstehen, dass ich seine Erwartungen bei den Aufgaben nicht erfülle, die ich unbedingt erlernen muss. Wenn wir uns dann noch bei Nebensächlichkeiten verzetteln, wird das niemals etwas mit meiner Funktion als Simulationszauberer.«
Mein bester Freund hebt eine Augenbraue. »Das Problem verstehe ich nicht ganz. Warum kann dein Großvater denn nicht an deiner statt diese Reise unternehmen, wenn er der Meinung ist, bei ihm handle es sich um den besten Zauberer für diese Aufgabe?«
»Er ist nicht mehr jung genug«, zische ich Elevander zu, als ich den intensiven Blick von Oremazz auf mir spüre. Wenn ich mich jetzt nach meinem Großvater umsehen würde, könnte ich ihn nicht entdecken. Er hat sich einen Platz gesucht, an dem er keine Aufmerksamkeit erregt. Ich kann fühlen, wie er auch meine Augen benutzt, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen.
»Weshalb lässt er dich dann nicht die Zauber lernen, die notwendig sind?«, will Elevander wissen. »Ihr hattet zwei Jahre, um aus dir einen echten Zauberer zu machen. Wieso hat er diese Zeit nicht genutzt?«
»Weil ich nicht gut genug bin.«
Elevander legt mir eine Hand auf die Schulter. »Womit wir wieder bei dem Problem deines mangelnden Selbstbewusstseins wären.«
Daran wird sich so schnell auch nichts ändern. »Ich danke dir, dass du an mich glaubst. Vielleicht wärest du als Enkel meines Großvaters nicht gescheitert.«
»Du bist der Bessere von uns«, behauptet mein Freund. »Du wirst deinen Weg gehen. Daran kann der Große Zaubermeister dich nicht hindern. Möglicherweise erkennt er nicht, wozu du fähig bist. Ich allerdings weiß, dass du zu Großem berufen bist.«
Das plötzliche Kribbeln in meinem Nacken hat seinen Ursprung in Magie, die zu mir durchdringen will. Inzwischen bin ich geübt darin, meinen Schutzwall Oremazz gegenüber hinunterzufahren. Sofort weiß ich, welche Nachricht mein Großvater mir schicken möchte. Er winkt mich heran. Zeit für meinen großen Auftritt. Ich muss das Gespräch mit Elevander beenden, obwohl ich ihm zu gern dabei zuhöre, wie er meine Zukunft in leuchtenden Farben für mich malt. »Ich weiß deinen Versuch zu schätzen, mich aufzumuntern. Wenn du irgendwann meine aufbauenden Worte benötigst, werde ich sie parat haben.«
Sein Lächeln ist ein warmer Sonnenstrahl an meinem Hinterkopf, der durch Blätter dringt. »Du irrst dich, wenn du denkst, ich würde dir nur einschmeichelnde Komplimente zumurmeln. Ich weiß, dass du uns alle überraschen wirst und zu mehr in der Lage bist, als Oremazz dir zutraut. Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich dafür sorgen, dass du dich nicht mehr hinter deinem Großvater versteckst. Ich werde dich daran erinnern, an dich zu glauben.«
»Lesithder! Gehst du endlich zu dem Ort, den ich dir gezeigt habe?« Oremazz schickt mir mit Hilfe von Magie einen bösen Blick.
»Ich mache mich gleich auf den Weg«, teile ich ihm durch Gedankenübertragung mit, bevor ich mich Elevander zuwende. »Das ist sehr nett von dir.«
»Erspare mir deine unnötige Dankbarkeit. Deine Zeit wird kommen. Ein Moment, in dem du allen Zweiflern beweist, wozu du wirklich fähig bist. Ich werde mich vor dich stellen und dich dabei unterstützen, wenn es sein muss.«
Tränen brennen in meinen Augen. Die Zuversicht, die in Elevanders Augen leuchtet, schnürt mir die Luft ab. Wie kann jemand an mich glauben, der mich so oft hat scheitern sehen?
Ich öffne den Mund für weitere Dankesworte, halte dann aber kopfschüttelnd inne. Es gibt nichts, was ich Elevander nicht schon mehrmals gesagt habe. Er kennt mich gut genug, um zu wissen, was in mir vorgeht.
Nach einem Kopfnicken in seine Richtung, wende ich mich ab.
»Geh los«, fordert mein Großvater in meinem Kopf. »Ich weise dir den Weg.« An der gegenüberliegenden Wand befindet sich ein Durchgang, der zu den Räumen der Dienstboten führt. Mein Großvater lenkt meine Beine in diese Richtung. Ich verberge mich im Dunkeln und suche mit dem Blick den Innenhof nach dem Gesicht ab, das Oremazz mir geschickt hat.
Als ich noch einmal zu Elevander sehe, nickt der mir zu, als hätte er keine Schwierigkeiten, mich auch in der Finsternis zu finden. Ein Lächeln erscheint auf seinem Gesicht, bevor er sich auf den Weg macht, um seiner Arbeit nachzugehen.
Ich schiebe mich tiefer in die Schatten und setze meine Suche fort. Endlich entdecke ich den Mann, auf den der Große Zaubermeister es abgesehen hat. Der grauhaarige Kerl macht sich gerade an einer der Tonnen zu schaffen, in denen das Regenwasser aufgefangen wird. Anscheinend hat sich ein Ring gelockert, der die Holzbretter zusammenhält. Der Mann versucht, sie an die richtige Stelle zu rücken und dann mit dem Schlag seines Hammers zu festigen.
Seine Handlungen will Oremazz also mit meiner Hilfe beeinflussen. Ich werde das Werkzeug sein, mit dem er die Magie in die richtige Richtung lenkt. Jetzt wird sich entscheiden, ob unser Plan in die Realität umgesetzt werden kann.
Die Aufgabe stellt eine Herausforderung für mich dar. Ich muss mich jede Sekunde konzentrieren, um die Verbindung nicht abreißen zu lassen. Es wäre viel leichter, einfach die Augen zu schließen, meinen Körper ganz meinem Großvater zu überlassen. Wenn er die Kontrolle übernimmt, bemerke ich nicht, was vor sich geht. Es ist, als ob ich in Trance wäre und an einen anderen Ort katapultiert wäre. In einen dunklen Raum, in dem keine Zeit existiert.
Meine Miene wird dabei allerdings zu einer starren, gefühllosen Maske. Meine Lippen bewegen sich zu Oremazz’ Worten. Doch in meinen Augen fehlen die Lebendigkeit, das Feuer, das mich ausmacht. Jedem Beobachter ist sofort klar, dass etwas mit mir nicht stimmt.
Deshalb musste ich lernen, wie ich den Willen meines Körpers in dem richtigen Ausmaß an Oremazz übergebe. Er steuert meine Bewegungen, meine Worte, meine Gedanken. Dadurch bemerkt niemand die Täuschung. Niemand kann herausfinden, dass nicht ich die Magie wirke, nicht ich die weisen Ratschläge gebe. Es ist ein Schutz meiner Person, die als Hochstapler gebrandmarkt werden würde, und gleichzeitig die einzige Möglichkeit, das Vertrauen in mich zu stärken. Wenn jemand herausfinden würde, dass Oremazz über meine Fähigkeiten gelogen hat, würde das seine Position als Großer Zaubermeister gefährden. Er ist zu wichtig für unser Volk, als dass ich auch nur den geringsten Zweifel an seiner Position aufkommen lassen kann.
Jetzt bemühe ich mich um eine ruhige Atmung. Ich fokussiere meine Aufmerksamkeit ganz auf Oremazz. Gleichzeitig lasse ich den Mann nicht aus den Augen, den mein Großvater ausgewählt hat. In ein paar Sekunden werde ich die Worte sprechen, die mir der Große Zaubermeister in den Mund gelegt hat. Gleich werde ich einen Zauber wirken, um zu testen, ob der Fremde meinen Befehlen folgt. Nur so können wir herausfinden, ob Oremazz durch mich einzelne Feinde außer Kraft setzen kann.
Die Verbindung steht. Ich kann die Magie fühlen, die sich jetzt in mir sammelt, mich bis in die Zehenspitzen ausfüllt. In mir bündelt sich Wärme, Licht und Kraft. Meine Fingerspitzen prickeln, sodass ich meine Arme hebe und meine Hände die richtige Haltung einnehmen lasse. Währenddessen steigt die Kraft weiter in mir an. Gerade als ich denke, nicht mehr davon ertragen zu können, beginnt die Magie in einem steten Strahl zu fließen. Sie durchströmt meine Arme und verlässt durch meine Finger meinen Körper, während immer neue Kraft nachdrängt. Nur für mich ist dieser Fluss von Energie von mir weg als schnelle Vibration in der Luft sichtbar.
Die Magie erreicht den Mann, für den sie gedacht ist. Er richtet sich auf und drückt den Rücken durch. Der Hammer gleitet aus seiner Hand und landet direkt neben seinen Zehenspitzen auf dem Boden. Der lange Stiel prallt dabei von seinen Schuhen ab. Bestimmt ist das schmerzhaft, doch der Mann gibt keinen Laut von sich.
Ich kann sein Gesicht erkennen. Ein verblüffter Ausdruck liegt darauf, bevor er sich langsam in Angst wandelt, weil er nicht in der Lage ist, sich zu bewegen.
Oremazz befiehlt ihm, den Arm zu heben. Zuerst wehrt er sich dagegen. Vermutlich ist es nicht hilfreich, dass ich Mitleid mit dem armen Mann habe, der nicht weiß, was mit ihm geschieht. Die Verärgerung des Großen Zaubermeisters trifft mich wie ein Peitschenschlag.
Wieder einmal bin ich dabei, ihn zu enttäuschen. Zwei Sekunden lang schließe ich die Augen, fokussiere mich auf die Macht, die er durch mich strömen lässt. Dann blicke ich zu dem Mann, verstärke den Zauber meines Großvaters, indem ich auch meinen Befehl an unser Opfer schicke, das zu tun, was Oremazz ihm aufgetragen hat.
Langsam hebt sich der Arm des Mannes. Seine Muskeln zittern vor lauter Anstrengung, der Bewegung zu widerstehen. Doch er hat keine Chance. Schließlich reckt sich seine Hand hoch gen Himmel.
Ein Hochgefühl nie gekannten Ausmaßes macht mich trunken. Dieser Erfolg ist nur durch mich möglich gewesen. Jetzt hoffe ich nur, mein Großvater triumphiert über diesen Augenblick genauso sehr wie ich.
Der Mann, der unter unserem Bann steht, gibt einen wimmernden Laut von sich. Er will sich immer noch gegen uns wehren, was ich ihm nicht verdenken kann. Die Magie, die Oremazz durch mich fließen lässt, um die Kontrolle über ihn zu behalten, steigt an. Sie füllt mich bis zum Rand aus, sodass sich ein leichtes Schwindelgefühl in meinem Magen breitmacht. Ganz offensichtlich ist der Große Zaubermeister nicht zufrieden damit, wie der Versuch bis jetzt verlaufen ist.
Wieder lese ich erst die Gedanken meines Großvaters. Als ich weiß, welche Art von Bewegung ihm vorschwebt, helfe ich mit meiner eigenen Kraft nach. Ganz plötzlich streckt der fremde Mann die Hand zur Seite aus, während er sein linkes Bein anhebt.
Diese Position kann unmöglich bequem sein. Tatsächlich muss es sogar schwer sein, das Gleichgewicht zu behalten. Dennoch steht er gerade, als wäre sein rechtes Bein im Boden verwurzelt.
Der Gesichtsausdruck unseres Opfers zeigt seine Panik. Seine Augen huschen von links nach rechts. Der Zauberspruch von Oremazz verhindert, dass der arme Mann den Kopf drehen kann. Er ist nicht in der Lage, herauszufinden, woher die Bedrohung kommt, oder um Hilfe zu bitten. Wieder kommt dieses seltsame, unterdrückte Wimmern von ihm. Dann schickt mein Großvater etwas mehr Magie, und der Mann auf einem Bein verstummt zur Gänze.
Ich kann den Zauber lesen, den der Große Zauberer plant. Ich verstehe, was er vorhat.
Die Anziehungskraft der Erde soll keine Wirkung mehr auf den Mann haben. Wenn Oremazz ihm mit einem schnellen Ausbruch der Magie einen Stoß versetzt, wird er abheben und gegen eine der Wände des Innenhofs geschleudert werden. Sein Körper würde das nicht verkraften.
Verdammt, das kann mein Großvater nicht tun! Dieser arme Mann hat nichts Falsches getan. Er ist bloß zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Er hat nicht verdient, dass man ihn verletzt.
Mit der Kraft meiner Gedanken sende ich dem Großen Zaubermeister eine Nachricht. »Diesen Sturz wird er nicht überleben. Das können wir nicht riskieren.«
»Es gibt keine andere Möglichkeit, herauszufinden, ob du als Medium funktionieren kannst.«
Einen Moment stockt mir der Atem. Hat Oremazz tatsächlich gerade den Tod eines Menschen als notwendiges Opfer abgetan? »Wir haben keine andere Variante versucht.«
»Sträube dich nicht gegen das Unabwendbare«, befiehlt mein Großvater. »Öffne dich für die notwendige Magie.«
»Nein.« Ich bin einfach nicht in der Lage, Teil dieses bösen Spiels zu sein. Möglicherweise ist es notwendig, dass wir jemanden als Versuchskaninchen benutzen. Doch diese Person soll dabei nicht zu Schaden kommen. Dieser Mann hat nicht verdient, durch meine Unfähigkeit verletzt zu werden. Ich kann es nicht zulassen. Nun will ich ihn verteidigen. Komme, was wolle.
Die aufbrandende Wut des Großen Zaubermeisters flirrt spürbar in der Luft. Als ich meine Arme senke, um die Verbindung zu dem Fremden zu lösen, versucht Oremazz, in meinen Verstand einzudringen. Er will mich dazu zwingen, ihn bei dieser grausamen Tat zu unterstützen. Das erste Mal in meinem Leben wehre ich mich gegen ihn. Dieses eine Mal bin ich stärker als er.
Die überschüssige Magie sucht einen Weg in meinen Körper. Da ich mein Schutzschild hochgefahren habe, überzieht mich die Kraft wie ein schweres Tuch. Sie drängt immer näher, drückt mir die Luft ab. Ich beginne zu zittern, kann dem Druck nur schwer widerstehen, den der Große Zaubermeister auf mich ausübt. Meine Haut beginnt zu prickeln. Elektrische Entladungen tanzen auf meinen Armen. Doch ich bleibe reglos und warte auf den Moment, in dem ich in tausend Stücke zerrissen werde, weil die Macht zu groß wird, um sie zurückzudrängen.
Tatsächlich wird das Beben meines Körpers stärker. Ich schwanke und muss mich an die Wand lehnen, um nicht zu fallen. Mein Herz rast. Ich schließe die Augen und warte auf das Ende, das mich zweifellos erwartet.
Noch einmal steigt die Kraft der Magie an, während ich mich dagegen wehre, benutzt zu werden. Schmerz rast durch meinen Körper, weil ich den Fähigkeiten meines Großvaters nichts entgegenzusetzen habe. Angst schnürt mir die Kehle zu. Jetzt ist es so weit. Jetzt werde ich sterben. Aber lieber das, als das Leben eines Unschuldigen in Gefahr zu bringen.
Plötzlich wird der Energiestrom schwächer. Ein Schauer durchläuft mich. Dann ist der Ansturm der Magie zu Ende.
Ist es vorbei? Bin ich gestorben? Oder hat Oremazz selbst den Zauber an dem armen Mann im Innenhof angewendet, um mir eine Lektion zu erteilen?
Ich reiße die Augen auf und sehe mich um.
Der Mann, den wir als Opfer ausgewählt haben, hat wieder beide Füße auf dem Boden. Sein Arm hängt an seiner Seite hinunter. Auf seinem Gesicht spiegeln sich Schock und Unverständnis. Doch er scheint unverletzt. Kann er sich inzwischen wieder bewegen? Er muss von hier fort. Wenn mein Großvater versuchen sollte, ihn direkt mit seiner Magie anzugreifen, hat der Bauer dem nichts entgegenzusetzen.
Oremazz wird meinen Wunsch, dem Mann zu helfen, nicht verstehen. Ich verschwende keine Zeit damit, ihn um Erlaubnis oder Gnade anzuflehen. Tatsächlich stelle ich nicht einmal eine Verbindung zu ihm her, um ihn nach seinen Plänen zu fragen. Ich trete aus dem Durchgang hervor, eile vorwärts und laufe auf den Mann zu, der von dem, was mit ihm geschehen ist, immer noch verwirrt scheint.
»Verschwinde!«, rufe ich. »Weg hier!«
Der Mann wendet sich mir zu, völliges Unverständnis im Blick. So einfach wird er es mir nicht machen, ihn vor weiterem Unheil zu bewahren.
Ich wedle mit den Armen, als versuche ich einen Schwarm Flugechsen zu vertreiben. »Du solltest dir irgendwo anders eine Aufgabe suchen«, befehle ich. »Sofort.«
»Aber die Tonne …« Verwirrt bricht er ab.
»Willst du noch einmal bewegungsunfähig sein?«, brülle ich. »Lauf endlich!«
Der Ausdruck in den Augen des Mannes verändert sich. Der Schock scheint endlich nachzulassen. Verspätet wird ihm bewusst, was gerade passiert ist. Er stolpert rückwärts und läuft schließlich los. Erleichtert bleibe ich stehen.
Hinter mir nähern sich Schritte. »Wie konntest du nur?«, beschwert sich mein Großvater. »Was sollte das?«
»Ich weiß, dass ich noch einiges zu lernen habe. Das bedeutet aber nicht, dass ich jemanden verletzen werde.« Vermutlich klinge ich nicht so selbstsicher dabei, wie ich gerne würde. Dennoch drehe ich mich um und sehe Oremazz entgegen.
»Wie sollen wir üben, unsere Feinde außer Gefecht zu setzen, wenn du zögerst, die notwendigen Versuche zu machen?«
»Das war keine harmlose Übung, Großvater. Das war ein hinterhältiger Überfall auf jemanden, der nicht zu den Bösen zählt. Ich kann so etwas nicht tun.«
»Schwächling.« Das Gesicht des Großen Zaubermeisters verzieht sich voller Abscheu. »Wieso ist das Schicksal bloß der Meinung, du würdest für den Sieg gegen unseren Feind notwendig sein? Weshalb ist die Zukunft unseres Volkes nur untrennbar mit deinen Fähigkeiten verknüpft?«
Diese Frage habe ich mir in den letzten zwei Jahren unzählige Male gestellt, ohne eine Antwort zu finden. Wenn mein Großvater in der Lage wäre, mir einen Grund mitzuteilen, könnte ich vielleicht daran glauben, dass er sich nicht geirrt hat. Wenn es eine Erklärung gäbe, weshalb ausgerechnet ich durch die Vision meines Großvaters mit dieser Aufgabe beauftragt worden bin, würde ich mich vielleicht damit abfinden können, unangenehme Dinge zu tun. Doch solange man mir unablässig unter die Nase reibt, nicht gut genug zu sein, werde ich mich innerlich gegen die Vorstellung zur Wehr setzen.
Verärgert schüttelt Oremazz den Kopf. »Immer wieder enttäuschst du mich. Ich bin es leid, dich Dinge zu lehren, die du nicht verstehst. Deine Eltern würden sich für dich schämen.«
Ich habe keine Erinnerung an meine Eltern. Sie sind gestorben, als ich noch klein war. Mein Großvater hat mir auch nichts über meine Eltern erzählt. Ich besitze nichts, was ihnen gehört hat: kein Bild, kein Andenken, einfach nichts. Tatsächlich habe ich keine persönlichen Gegenstände mehr aus der Zeit, die ich mit ihnen verbracht habe. Solange ich denken kann, habe ich immer im Haus von Elevanders Eltern gewohnt und mir das Schlafzimmer mit ihm geteilt. Auch wenn seine Mutter sich bemüht hat, mir in ihrem Zuhause ein Heim zu bieten, habe ich mich immer fremd gefühlt. Mir hat etwas gefehlt, das ich nicht näher benennen kann. Wie sollte ich auch? Ich kenne nichts anderes. Eigenen Besitz habe ich nicht angesammelt. Die Souvenirs, die ich mir ersehnt habe, waren verloren, weil mein Großvater sie vernichtet hat.
Welche Art von Menschen meine Eltern waren, weiß ich nicht. War mein Vater ein großer Zauberer? Hatte meine Mutter ein Faible für Magie oder war sie eine Nichtzauberin? Ich kann sie nicht einschätzen, habe kein Gefühl für das, was sie bewegt hat. Deshalb weiß ich auch nicht, ob ich ihnen ähnlich bin, ob sie stolz auf mich waren, ob ich mich so entwickelt habe, wie sie es sich gewünscht haben. Der Gedanke, dass sie mich als Schande für unsere Familie empfinden könnten, schmerzt.
»Du bist ein Versager«, zischt mein Großvater. »Womit habe ich einen Klotz am Bein wie dich verdient?«
»Aber …«
»Geh mir aus den Augen. Versch…« Plötzlich verstummt er. Seine Stirn runzelt sich und er fasst sich an seine Brust.
So schlimm ist mein Versagen nicht gewesen. Misstrauisch beobachte ich, wie sein Gesicht an Farbe verliert. »Was ist los?«
»Ich …« Er schwankt, streckt die Hände nach mir aus.
Automatisch greife ich danach, um ihn aufrechtzuerhalten. Mein Argwohn hat sich in Rauch aufgelöst. Meine Sorge hingegen wächst ins Unermessliche.
Oremazz’ Hand rutscht aus meiner. Noch einmal torkelt er. Dann fällt er zu Boden. Seine Miene verzieht sich zu einer Grimasse, als hätte ihn etwas furchtbar erschreckt. Er wird noch eine Spur blasser, stöhnt leise. Seine Augen schließen sich flatternd, und er erschlafft. Auch seine Atmung verändert sich, sie wird flacher, gleichmäßiger. Er ist ohnmächtig.
Angst legt einen Eisenring um meine Brust. Was geschieht mit ihm? Woher kommt dieser Anfall? Wie kann ich ihm helfen?
Ich sehe mich um. Die Menschen im Schlossinnenhof beobachten uns mit schreckgeweiteten Augen. Niemand wagt sich an uns heran. Ich muss diese Situation allein bewältigen.
Die Aura von Elevander nähert sich. Ich kann spüren, dass er auf uns zuläuft. Auch wenn ich befürchten muss, dass er nichts tun kann, um meinen Großvater von seiner seltsamen Krankheit zu retten, schenkt mir seine Gegenwart ein Gefühl von Vertrauen, dass alles gut werden wird.
Über meine Schulter hinweg werfe ich Elevander einen Blick zu. Mein bester Freund wirkt besorgt. Er ist meine Familie. Er gibt mir die Kraft, die ich brauche.
»Helft mir, ihn von hier wegzubringen«, rufe ich. »Oremazz muss sich ausruhen. Wir müssen ihn ins Innere tragen. Bitte, jemand muss mit anpacken.«
Misstrauische Blicke streifen mich. Niemand scheint davon überzeugt zu sein, dass ich weiß, was zu tun ist. Tja, da geht es mir wie diesen Menschen.
Ich greife unter Oremazz’ Achseln und will ihn hochhieven. Auch wenn der Große Zaubermeister ein Mann von schmaler Gestalt und nur unmerklich größer ist als ich, gelingt es mir nicht, ihn hochzuheben. Es spielt keine Rolle für mich, wie lächerlich ich wirken muss, als ich rückwärtsstolpere und dabei meinen Großvater mit mir ziehe. Auf diese Art werde ich ihn unmöglich die Stufen hochbringen können. Aber wenigstens tue ich etwas.
»Ich nehme seine Beine«, sagt Elevander und klingt ein wenig außer Atem vom Laufen. »Gemeinsam schaffen wir ihn mit Sicherheit schneller nach drinnen.«
»Danke für deine Hilfe.« Ich warte, bis Elevander bei den Füßen meines Großvaters angelangt ist und sie anhebt. Gerade, als ich ihm ein Zeichen geben will, dass wir losmarschieren können, schlägt der Große Zaubermeister die Augen auf.
Er reißt den Mund auf, saugt hungrig Luft in seine Lungen. Die Farbe kehrt auf seine Wangen zurück. Seine Gesichtszüge entspannen sich.
Erschrocken lasse ich Oremazz los, weshalb er unsanft auf dem Boden aufkommt. Obwohl ich erleichtert bin, dass er sein Bewusstsein zurückerlangt hat, habe ich Angst vor dem Ausdruck in seinen Augen. Darin spiegelt sich eine neue Dunkelheit, etwas Böses, das nichts mit seiner eigenen Grausamkeit zu tun hat.
»Was tust du denn da?«, blafft der Große Zaubermeister mich an. »Warum versuchst du, mich zu tragen?«
»Du bist bewusstlos geworden. Ich hatte Angst, du wärst von etwas besessen …«
»Und das wolltest du mir in einem dreckigen Graben austreiben?« Mein Großvater ergreift die Hand, die Elevander ihm entgegenstreckt, rappelt sich mit seiner Hilfe auf und klopft sich den Dreck von der Kleidung. Sonderlich erfolgreich ist er damit nicht.
Verunsichert trete ich zurück. »Ich dachte, in deinem Studierzimmer einen Hinweis darauf finden zu können, wie ich dir helfen sollte.«
Oremazz seufzt. »In meinen Unterlagen entdeckst du bestimmt nichts, was mit dieser Vision zusammenhängt. Hätte ich vorhergesehen, Bilder der Zukunft zu erhalten, hätte ich selbst Vorkehrungen getroffen. Denk das nächste Mal besser nach. Jetzt ist meine gute Tunika völlig umsonst verdreckt.«
»Tut mir leid, Großer Zaubermeister. Dann hattest du eine Vision? Dabei bist du bis jetzt doch niemals ohnmächtig geworden.«
»Die Bedrohung ist auch näher als jemals zuvor. Ich muss sofort mit dem Fürsten sprechen. Du wirst in der Zwischenzeit ein paar Sprüche üben. Das, was du vorhin zustande gebracht hast, ist meines Enkels nicht wert.« Als er losmarschiert, scheint er Elevander das erste Mal zu bemerken, obwohl er ihm hochgeholfen hat. »Hast du nichts Besseres zu tun, als mich anzustarren?«
»Tatsächlich hätte ich Wichtigeres zu erledigen«, gibt mein bester Freund zu. »Ich dachte allerdings, es wäre ein Gebot der Höflichkeit, erst Lesithder dabei zu helfen, Euch zu versorgen.«
Der Große Zaubermeister macht eine wegwerfende Handbewegung. »Hätte er so viel Anstrengung ins Lernen der notwendigen Sprüche gesteckt, wäre unsere Lage jetzt nicht so angespannt. Mach dich endlich auf den Weg, Lesithder. Die Zeit arbeitet gegen uns.«
Ich nicke Elevander zur Verabschiedung zu und gehe dann durch einen Durchgang zu den Stufen, die mich zum Studierzimmer meines Großvaters bringen werden. Das Drängen in seiner Stimme gefällt mir nicht. Es scheint, als hätte ihn diese Vision aufgewühlt. Ob die Zeit tatsächlich knapp wird? Was, glaubt er, wird passieren, wenn sie abgelaufen ist?
Während ich mich noch auf dem Gang befinde, höre ich, dass im Innenhof Unruhe entsteht. Ein Reiter prescht ins Schloss und springt ab, bevor seine Reitechse vollständig angehalten hat. Er bellt Befehle, verlangt, sofort zum Fürsten vorgelassen zu werden.
Beunruhigt beobachte ich die Aufregung im Innenhof, bevor ich das Studierzimmer betrete. Die Geschehnisse scheinen sich tatsächlich zu überschlagen. Welche Neuigkeiten der Reiter dem Fürsten wohl übermitteln will? Ich befürchte, es handelt sich um keine guten.
»Es ist noch schlimmer, als ich nach meiner Vision vermutet habe«, sagt Oremazz, als er Stunden später zu mir kommt. Tiefe Furchen verunzieren seine Stirn. Sein Blick ist abwesend, als er auf dem Stuhl an seinem Schreibtisch Platz nimmt.
Ich klappe das Buch zu, in das ich vertieft gewesen bin, und trete näher. »Aus welchem Teil des Landes hat der Reiter Nachrichten ins Schloss gebracht? Weißt du, was er von unserem Fürsten wollte?«
»Unsere Feinde sind näher, als ich befürchtet habe. Der Bote hat einen Brief von Pitreu, dem Fürsten des Küstenstaates Nialling, überbracht. Der hat ihn mit Hilfe einer Flugechse an Ethoss geschickt, um ihn zu warnen, und der hat … Egal. Viel wichtiger ist, was in dem Schreiben gestanden hat. Unbekannte Boote haben sich Nialling genähert. Kriegsschiffe mit schwerer Bewaffnung, die außer Reichweite im Meer vor Anker gegangen sind. Auch wenn die Schiffe wieder aus der Sicht der Wachtürme verschwunden sind, werden sie zurückkehren. Bald. Sie werden Soldaten an unsere Küsten bringen, die uns vernichten sollen. Der Krieg steht unmittelbar bevor.«
»Bei allen Göttern!« Panik verursacht einen harten Knoten in meinem Magen.
»Die können uns nicht helfen. Die scheinen uns verlassen zu haben, wenn sie die Gefahr nicht abgehalten haben. Wir sind auf uns allein gestellt. Jeder von uns muss jetzt seine Aufgabe kennen, ihr seine Seele widmen und sie ohne Zögern erfüllen.«
Widerstand regt sich in mir. Das, was er gerade dem armen Mann angetan hat, darf nicht noch einmal passieren. Die Erinnerung an die Vision, die er mit mir geteilt hat, drängt in mein Bewusstsein. Wenn es uns gelingt, mit Zaubern wie diesem unseren Feinden zu schaden, werden wir sie anwenden müssen. Zukünftige Versuche an Unschuldigen werde ich nicht dulden; wenn der Krieg allerdings bald an unsere Haustüre klopft, werde ich mich meiner Aufgabe stellen müssen. Deshalb nicke ich mit bangem Herzen.
»Zum Glück sind die Verhandlungen mit den Herrschern der angrenzenden Länder bereits so gut wie abgeschlossen. Unser Fürst hat fast alle davon überzeugen können, dass wir nur gemeinsam in den Krieg ziehen können. Leider haben die Mächtigen unseres Kontinents sich nicht darauf einigen können, einen Anführer zu wählen, der die Truppen aller Länder führt. Wenn ich daran denke, welch ein Chaos entstehen könnte, wenn jeder Fürst seinen Soldaten andere Anweisungen gibt … Jemand muss die Männer anführen.«
»Wenn die Zeit gekommen ist, werden die notwendigen Entscheidungen gefällt werden«, versichere ich ihm. »Jemand wird unsere Völker vereinen. Unser Fürst Manekas wird die richtigen Worte finden.«
»Er ist bei den Bewohnern von Maëlle beliebt, weil sein Vater als gütiger und gerechter Herrscher bekannt war. Noch hat unser junger Fürst sich nicht beweisen müssen. Ich hoffe, er ist dieser Aufgabe gewachsen.«
»Wir werden es schaffen«, versuche ich, den Großen Zaubermeister zu beruhigen. »Da wir alle wissen, was davon abhängt, werden wir unser Bestes geben.«
»Ich dachte, wir hätten mehr Zeit«, murmelt Oremazz. Er klingt entsetzt und hoffnungslos zugleich, während er mich betrachtet. Sein faltiges Gesicht ist eine Maske des Grauens. In seinen blauen Augen lodert die Dunkelheit. So habe ich ihn noch nie gesehen.
»Wir wussten, dass wir uns beeilen müssen.«
Mein Großvater schüttelt den Kopf. »Es gibt noch so viel, das du lernen musst. Du bist überhaupt nicht vorbereitet auf das, was vor dir liegt.«
Da der Große Zaubermeister das regelmäßig wiederholt, habe ich keinen Zweifel am Wahrheitsgehalt seiner Worte. Also nicke ich. »Das wiederholst du ständig. Allerdings frage ich mich, weshalb du nicht vorhergesehen hast, dass die Staubkörner schneller durch die Sanduhr fließen, als du uns mitgeteilt hast. Warum ist dir dieses Detail verborgen geblieben?«
Ein finsterer Ausdruck huscht über das Gesicht meines Großvaters. »Stell meine Fähigkeiten nicht infrage.«
»Das tue ich nicht. Meine Frage ist, meiner Meinung nach, durchaus angebracht. Gibt es eine fremde Macht, die zu verhindern versucht, dass wir rechtzeitig Vorkehrungen treffen können?«
Diese Überlegung scheint Oremazz zu überraschen. Die Verärgerung weicht aus seinen Zügen. Stattdessen runzelt sich seine Stirn grüblerisch. »Eine fremde Macht?«, echot er.
Ich zucke mit den Schultern. »Es hat einen Grund, weshalb du diese Vorwarnungen erhalten hast. Das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse möchte vermutlich Gerechtigkeit schaffen. Doch wieso macht dir die Magie dann etwas vor, wenn es um den genauen Zeitpunkt geht, an dem die Bedrohung für uns spürbar wird?«
Mein Großvater richtet sich auf. Die Farbe kehrt in sein Gesicht zurück. Tatsächlich wirkt er plötzlich sehr zufrieden. »Du hast recht. Das erste Mal in deinem Leben überraschst du mich mit deinen weisen Worten. Du hast den Finger an die richtige Stelle gelegt.«
Ein Kompliment verpackt in eine Beleidigung. Oder umgekehrt. Ich bin mir nicht ganz sicher, welches von beidem zutreffender ist.
»Eine fremde Macht!«, wiederholt Oremazz. »Unsere Gegner scheinen uns zu manipulieren. Das klingt sehr wahrscheinlich. Natürlich werden sie versuchen, unsere Pläne zu durchkreuzen. Wenn sie bemerkt haben, dass wir vorgewarnt wurden, müssen sie selbstverständlich versuchen, uns aus dem Konzept zu bringen. Gezielte Fehlinformationen. Ich konnte gar nicht richtig interpretieren, wann meine Vorhersage Realität wird. Unsere Feinde haben meine Magie beeinflusst.«
»Dir unterlaufen fast nie Fehler«, versichere ich dem Großen Zaubermeister.
»Natürlich nicht. Ich bin unfehlbar.« Er drückt den Rücken durch. »Wir müssen verhindern, dass unseren Feinden durch ihre Manipulation ein Vorteil erwächst. In ein paar Tagen sollten die letzten fehlenden Antworten von den Anführern unserer Verbündeten einlangen. Dann werden unsere Streitkräfte aufbrechen. Das bedeutet für uns, dass wir jede Stunde nutzen müssen, die uns noch zur Verfügung steht.«
Schon jetzt ist mir aufgrund der Studien nicht viel Freizeit geblieben. Es scheint, als würde ich in den nächsten Tagen auch wenig Schlaf erhalten.
Oremazz steht auf und tritt an seinen Studiertisch. »Die Kanalisation meiner Kräfte funktioniert gut genug. Wir können nicht noch mehr Zeit damit vergeuden. Es gibt noch so viel, was ich dir beibringen muss. Ich werde dir Bücher zur Lektüre überlassen, damit du deine Wissenslücken füllen kannst. Mir ist klar, dass es nicht ausreichen wird, um dir das notwendige Werkzeug in die Hand zu geben. Doch fürs Erste muss es reichen. Alle anderen Zauber werde ich dich lehren, wenn der Moment gekommen ist, an denen du sie anwenden musst.«
Tatsächlich habe ich den Eindruck, dass ich beim Lesen der Zauberbücher mehr erfahre, als ich es durch die einseitige Ausbildung meines Großvaters tue. Während er sich darauf konzentriert, mir die Sprüche einzutrichtern, die ich brauche, um als sein Werkzeug zu fungieren, kann ich nachts die Zauber üben, die ich in den dicken, alten Wälzern lese.
»Du weißt, welche Aufgabe dich ganz am Beginn dieses Abenteuers erwartet?« Oremazz sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an.
»Ich muss als Mittelsmann fungieren, damit wir für den großen Krieg einen Verbündeten an unserer Seite haben. Nur dessen Macht wird uns siegen lassen.«
Mein Großvater nickt. »In meinen Visionen war dieses Detail ganz deutlich zu erkennen. Umock ist der Schlüssel zu unserem Erfolg. Ohne ihn sind wir verloren.«
Ein Schauer läuft mir über den Rücken. »Und wenn es mir nicht gelingt, ihn dazu zu bewegen, sich uns anzuschließen?«
»Dann Gnade uns die Magie.« Oremazz’ Stimme klingt dunkel.
Der strenge Blick, den er mir zuwirft, lässt mich den Kopf senken. Die Verantwortung, die auf meinen Schultern liegt, wiegt schwer. Die Verhandlungen mit unseren potenziellen Bündnispartnern führt normalerweise unser Fürst selbst. Doch mit Umock kann er sich nicht von Angesicht zu Angesicht unterhalten. Dafür ist meine Hilfe notwendig. Als Zauberer ist es mir möglich, den König der Nebelseelen zu rufen. Nur ich kann den Geist, der zurückgezogen in den Sümpfen von Anouk lebt, um eine Audienz bitten. Niemand außer einem Zauberer ist in der Lage, die körperlose Aura zu verstehen. Da mein Großvater sich dafür entschieden hat, mich an seiner Stelle in den Krieg ziehen zu lassen, werde ich die Verhandlungsposition des Fürsten übernehmen müssen.
Meine Nackenhaare stellen sich auf. Ich weiß nicht, was mich erwartet, wenn ich Umock gegenüberstehe. Möglicherweise lacht er mich aus. Unter Umständen glaubt er mir nicht. Vielleicht hält er unsere Bitte für einen Scherz. Egal, wie viel Zuversicht der Große Zaubermeister empfindet, ich fürchte, dass er sich in diesem Punkt irrt. Niemand kann voraussagen, was ein Wesen wie Umock antreibt.
»Wenn ich den Ausdruck auf deinem Gesicht betrachte, beginne ich an meiner Vision zu zweifeln«, brummt Oremazz. »Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass du deine Rolle in dieser Zeit der Gefahr zufriedenstellend spielen kannst.«
»Dann wirst du uns begleiten?«, frage ich und verachte mich für die Hoffnung in meiner Stimme, in dieser Sache nicht allein zu sein.
»Du weißt, dass das nicht möglich ist. Lass uns noch einmal wiederholen, was ich dir über die Nebelseelen beigebracht habe. Nimm dich vor ihnen in Acht. Besonders Umock wird versuchen, dich zu manipulieren. Selbst nachdem er zugestimmt hat, uns zu helfen, darfst du ihm nicht den Rücken zuwenden.«
Ich nicke. Das ist das Erste gewesen, das mein Großvater mir klargemacht hat.
»Glaub ihm nichts, was du nicht überprüft hast. Dieses Wesen der Dunkelheit spricht mit gespaltener Zunge. Sei vorsichtig, wenn du ihm das erste Mal gegenüberstehst. Die Macht, die es besitzt, wird Auswirkungen auf deine Sinneswahrnehmungen haben, wenn du dich nicht davor schützt. Vergiss nicht, den Zauber zu sprechen, den ich dir beigebracht habe. Der wird dafür sorgen, dass Umock dich nicht manipulieren kann. Benutze ihn, bevor die du Sümpfe von Anouk betrittst. Dieses Moor ist gefährlich. Du kennst die Geschichten darüber.«
Wieder spüre ich, wie ein kalter Schauer über meine Wirbelsäule huscht.
Oremazz nickt zufrieden. »Es schadet nicht, gesunden Respekt vor Umock zu haben. Auch wenn er von den Großen Zaubermeistern und den Lichtwesen vor vielen Jahrhunderten in die Sümpfe verbannt worden ist, besitzt er Macht. Durch mich bist du vor ihm in Sicherheit. Schließlich bindet ihn die Magie, die mich zum Großen Zaubermeister gemacht hat. Solange es ihm nicht gelingt, die Fesseln der Zauber abzuwerfen, durch die er zum Schoßhündchen gemacht worden ist, kann er lediglich als unsere Marionette fungieren.«
Ganz ähnlich fühlt sich auch meine Rolle an. Doch ich darf kein Mitgefühl mit Umock empfinden. Er hat es verdient, aus der Reihe der Zaubermeister verstoßen worden zu sein. Ich kenne vage Geschichten der dunklen Zauber, die er gewirkt hat, bevor man ihn in seine Schranken gewiesen hat.
»Wiederholen wir die Details«, fordert Oremazz. »Womit wirst du ihm drohen, damit er uns in unserem Krieg gegen den unbekannten Feind unterstützt?«
»Damit, dass er seine Magie völlig verlieren wird, wenn er sich nicht unserem Willen beugt.«
»Du wirst ihm zeigen, dass es uns damit ernst ist. Während du mit ihm sprichst, kann ich dir nicht beistehen. Der Zauber, der verhindert, dass du zu einem Sklaven seiner Willkür wirst, sperrt auch mich aus deinem Kopf. Du musst deine Sinne beisammenhalten, Junge. Diesen einen Zauber, der Umock zeigt, dass er nicht Herr über dich ist, musst du allein anwenden. Ich habe dir befohlen, ihn zu lernen, bis du ihn im Schlaf beherrschst. Genauso wichtig ist der Spruch, mit dem du ein anderes Wesen unter deinen Bann stellen kannst. Bist du bereit, ihn auszusprechen?«
Erschrocken reiße ich die Augen auf. »Aussprechen?«
»Wie sonst, denkst du, wird er seine Wirkung zeigen?« Oremazz’ Stimme verhöhnt mich.
»Wenn ich ihn anwende, muss ich ihn auf jemanden lenken. Wer sollte die Macht dieses Zaubers zu spüren bekommen?«
Ein grimmiges Lächeln hebt die Mundwinkel meines Großvaters. »Such dir jemanden aus.«
Vehement schüttle ich den Kopf.
»Dir wird nichts anderes übrigbleiben. Du musst sicherstellen, dass du dazu in der Lage bist.«
»Ich habe dir bereits gesagt, dass ich dazu nicht bereit bin.«
»Tu, was ich dir sage!«, befiehlt Oremazz mit einem Knurren. »Du machst dich lächerlich. Einmal hast du bereits versagt. Versuch wenigstens, die Blamage von vorhin auszumerzen.«
Unter seinem Ärger ziehe ich die Schultern ein. Dennoch bewege ich den Kopf langsam von links nach rechts.
Der Große Zaubermeister hebt die Hand und ohrfeigt mich.
Mein Kopf wird zur Seite geschleudert. Diese Brutalität kommt so überraschend, dass es einen Moment dauert, bevor ich begreife, was gerade passiert ist. Noch niemals hat Oremazz Gewalt angewandt, um mich dazu zu bringen, etwas zu tun, was ich nicht wollte. Noch niemals hat er dermaßen die Beherrschung verloren. Noch niemals habe ich mich so gedemütigt gefühlt.
»Du denkst, du hast eine Wahl. Doch da irrst du dich.« Mein Großvater macht einen Schritt auf mich zu und fixiert mich mit finsterem Blick. »Wenn du dich weigerst, meine Forderung zu erfüllen, werde ich dich dazu zwingen.«
»Es ist nicht gerecht, Magie an jemandem anzuwenden, der sich nicht wehren kann.« Weder an mir noch an der Person, die ich mit meinem Zauber verletzen soll. »Große Macht darf nicht für das Böse genutzt werden.«
Oremazz lacht auf. »Soll das unsere Feinde davon abhalten, gegen uns zu kämpfen? Tu, was notwendig ist. Unsere Gegner werden nicht zögern, uns zu vernichten, wenn wir uns nicht angemessen verteidigen.«
Diese Argumentation kann ich nachvollziehen. Doch die Schlussfolgerung, die der Große Zaubermeister daraus zieht, ist falsch. »Einen Unschuldigen werde ich in diese Versuche nicht mit einbeziehen, wenn er oder sie dadurch zu Schaden kommen könnte.«
Eine Augenbraue meines Großvaters schnellt in die Höhe. Seine Lippen bewegen sich zu Worten, die ich nicht verstehe, deren Wirkung ich jedoch sofort zu spüren bekomme.
Ich bin nicht mehr Herr meines Körpers. Obwohl ich all meine Kraft ansetze, um mich gegen den Überfall der Magie zu wehren, bin ich nicht in der Lage, mich zu bewegen. Grauen erfasst mich, als meine Beine sich in Bewegung setzen und mich zum Fenster tragen, das den Blick auf das umliegende Gelände freigibt. Ich will meine Lieder schließen, als könnte ich dadurch das Schlimmste verhindern, doch meine Augen werden durch den Zauber von Oremazz gelenkt. Sie fixieren einen Mann, der auf das Schloss zugeht und eine Kuh am Strick führt.
Nein! Nein, das darf nicht passieren!
Die Worte sind in mir gefangen und finden keinen Weg nach draußen. Wut und Scham brodeln in mir, weil es mir nicht gelingt, mich dem Bann meines Großvaters zu entziehen. Hilflos bin ich gezwungen, meine Arme zu heben. Meine Finger zeigen in die Richtung des Mannes. Ich will schreien, toben, mich an einen anderen Ort transportieren. Ein Teil von mir möchte sogar den Großen Zaubermeister schlagen, obwohl er alles ist, was mir an Familie noch geblieben ist.
Magie erfüllt mich vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen. Die Kraft ist so überwältigend, dass es meinen Verstand berauscht. Mein Widerstand gegen ihn beginnt aufgrund der Gewalt seines Zaubers zu bröckeln, während das Feuer der Magie, das in mir entzündet worden ist, überhandnimmt. Einen Augenblick lang empfinde ich ein Hochgefühl, das mich alles vergessen lässt. Selbstbewusstsein und Macht in nie gekanntem Ausmaß. Endlich lerne ich eine Kraft kennen, die meine Seele strahlen lässt. Ich habe mir immer gewünscht, so viel Wärme zu spüren.
Die Energie, die sich in meinem Körper gesammelt hat, sucht einen Weg über meinen Arm ins Freie. Meine Hand vollführt eine Bewegung, die ich ihr nicht befohlen habe. Oh, bei allen Göttern! Es beginnt! Gleich wird es passieren! Ich werde Schuld auf mich laden. Das Entsetzen schnürt mir die Kehle zu. Tränen, die ich aufgrund des Zaubers meines Großvaters nicht weinen kann, brennen in meinen Augen.
Aus meinen zitternden Händen schießt die Energie in Richtung des Mannes vor dem Schloss, der nichts von der Gefahr ahnt, in der er sich befindet. Er wird von der Macht erfasst, mit der der Zauber von Oremazz durch mich strömt. Ganz plötzlich reißt ihn die Magie zurück. Er hebt vom Boden ab und fliegt mehrere Armlängen weit, bis er an den Stamm eines Baumes geschleudert wird.
Sein Schrei reißt plötzlich ab. Einen Augenblick lang scheint es, als würde der Fremde in zehn Armlängen Höhe am Stamm festgenagelt sein. Dann löst er sich von der Rinde und fällt schlaff zu Boden, wo er reglos liegen bleibt. Die Kuh, die er geführt hat, trottet langsam davon.
Meine Unfähigkeit, ihn zu warnen, oder das Unheil von ihm abzuwenden, erschüttert mich bis ins Innerste. Es ist nicht meine Entscheidung gewesen, den Fremden zu verletzen. Trotzdem trage ich Schuld daran. Was ist mit dem Mann passiert? Ist er tot? Bin ich jetzt ein Mörder? Noch weigern sich meine Beine, sich in Bewegung zu setzen, um nach ihm zu sehen. Ich muss sichergehen, dass er noch lebt. Auch wenn ich mich gegen die Inbesitznahme meines Körpers gewehrt habe, wäre es ohne mich niemals so weit gekommen. Und das alles nur, weil der Große Zaubermeister meinen Willen brechen wollte. Ich werde Oremazz niemals verzeihen, was er mir angetan hat.