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Hinter dem Vorhang des Schweigens

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„Warum bekommt denn die Mutti ihre Spangen nochmal? Wann kommt sie denn endlich nach Hause?“ So oder so ähnlich waren meine Fragen an meinen Vater, als ich auf der Kommode im Schlafzimmer die Sachen meiner Mutti entdeckte. Die hatte sie doch alle schon mit ins Krankenhaus genommen!

Aber ich erhielt keine Antwort. Auch meine Fragen, warum die Mutti so lange im Krankenhaus war und warum ich sie nicht besuchen durfte, blieben unbeantwortet. An die genauen Ausreden kann ich mich nicht erinnern; wenn ich überhaupt jemals welche gehört habe.

Doch ich, damals gerade einmal 8 Jahre alt, erinnere mich an diesen einen Tag, der den Boden unter meinen Füßen so derart ins Wanken brachte, dass ich mich nie mehr vollkommen davon erholen sollte:

Ich saß im Wohnzimmer und spielte mit meinem Meerschweinchen, als mein Vater zu mir ins Wohnzimmer kam. Muckl, ein braun-weißes Rosettenmeerschweinchen, hatte ich von meinen Eltern zur Einschulung geschenkt bekommen. Es wurde von mir gekämmt, herumgetragen und musste in einem Puppen-Gitterbettchen mit rosa Rüschenhimmel schlafen. Meine Omi hatte mir extra eine wasserdichte Einlage in das Puppenbettchen gelegt, weil Muckl mit Vorliebe hinein zu pieseln schien.

Schon bei seinem Eintreten spürte ich diese große Anspannung und augenblicklich bekam ich ein mulmiges Gefühl. Warum sich dieser Moment so sehr in mein Gehirn gebrannt hat, konnte mir nie jemand schlüssig erklären. Aber es ist, als kniete ich wieder vor diesem Bettchen und ich bin in der Lage, alle Gegenstände im Wohnzimmer so wiederzugeben, wie sie tatsächlich vorhanden waren. Die Musiktruhe an der Wand, die Blumen auf dem Wohnzimmertisch, die Anordnung der Bilder in der Schrankwand und sogar der Vorhang hinter der Tür zum Esszimmer, der das Bücherregal meiner Mutti verdeckte, in dem sie ihre Readers Digest Büchersammlung aufbewahrte, ist in meiner Erinnerung so deutlich, als würde ich gerade vor ihm stehen.

Jetzt werden einige denken, dass die Einrichtung des Wohnzimmers mich ja viele Jahre begleitet hat und es nicht außergewöhnlich ist, dass ich mich daran erinnere. Dem stimme ich völlig zu. Jedoch habe ich Jahre später einmal mit meiner Omi und einer 'Tante' darüber gesprochen und zum Beispiel gerade im Hinblick auf den Blumenstrauß auf dem Tisch waren beide mehr als erstaunt. Denn bei diesem Strauß handelte es sich um einen 'Beileidsstrauß', den mein Vater an diesem Morgen geschenkt bekommen hatte und der gerade einmal eine Woche in unserem Wohnzimmer stand. Es gab nie Fotos von ihm, auf denen ich ihn hätte sehen können oder ihn mir deswegen gemerkt hätte.

Doch ich erinnere mich an alle Gegenstände, als wäre es gestern gewesen. Die Erinnerung scheint unauslöschlich auf meine Festplatte gebrannt zu sein. Auch meine Gefühle habe ich nie wieder vergessen können, wobei mir das gesprochene Wort nur aus Erzählungen und nicht aus meiner eigenen Erinnerung heraus bekannt ist.

Mein Vater betrat den Raum, schloss die Tür hinter sich (was mehr als ungewöhnlich war), nahm in seinem Fernsehsessel Platz und wandte sich mit verschränkten Fingern zu mir.

„Püppi, ich muss dir etwas sagen“, waren seine Worte, bevor er zu schluchzen begann. Ich bin zu ihm gegangen und habe ihn in den Arm genommen. „Nicht weinen, Vati. Alles wird wieder gut“, soll ich zu ihm gesagt haben. Er hat mir später immer wieder davon erzählt, wenn seine Trauer ihn übermannte.

„Die Mutti ist jetzt bei den Engeln. Aber sie wird trotzdem immer bei dir sein, vergiss das nie!“ Noch heute lösen diese Worte in mir ein Gefühl des Verlassenwerdens aus. Warum hat sie mich verlassen und war bei den Engeln? War ich schuld daran, dass sie gegangen war?

In mir ist eine Welt zusammengebrochen und ich fühlte mich unendlich schuldig. Ich schämte mich, weil sie mich zurückgelassen hatte. Sie liebte mich nicht, weil ich nicht gut genug war. Ich hatte sie enttäuscht. Sie war gegangen, ohne mich mitzunehmen. Was hatte ich denn getan?

An diesem Tag bin ich innerlich zerrissen und habe mich nie mehr davon erholen können. Mir wurde bei lebendigem Leib das Herz herausgerissen und bis zur Geburt meiner Kinder hat nichts diese blutende Wunde heilen können.

Danach verschwimmt meine Erinnerung. Da waren nur noch dieser Schmerz und ein tiefes schwarzes Loch, das mich immer weiter in die Tiefe zog. Ich schrie ihn an: „Du lügst!“ und schlug auf ihn ein.

Nach Jahren erzählte mir meine Schwester, dass ich aus dem Zimmer gerannt sei und danach für Monate kein einziges Wort mehr gesprochen hätte. Alle waren in großer Sorge um mich und auf meine Frage, ob sie denn mit mir bei einem Psychologen gewesen wären, antwortete sie mir zunächst gar nicht und später, auf immer wiederkehrende Nachfrage, dass die Familie beschlossen hätte, abzuwarten. So verhielte sich bestimmt jedes Kind nach dem Tod eines Elternteils. Das wäre normal und ich würde mich wieder beruhigen.

Doch ich bekam Fieber und zudem entzündeten und verschorften sich meine Lippen derart, dass ich nur noch flüssige Nahrung durch einen Strohhalm zu mir nehmen konnte. Noch heute erinnert mich der Duft von Kamillentee an diese Zeit, denn ich musste immer wieder in Kamille getränkte Tücher auf meinen Mund legen. Jahre danach hat mir meine Omi erzählt, welche Angst sie um mich hatte. Aber über den Tod meiner Mutti und warum sie gestorben ist, hat niemand mit mir gesprochen. Da konnte ich nachfragen, so viel und so oft ich wollte.

In meinem Zeugnis von 1973 stand oben im 'Kopf', dass ich aufgrund eines familiären Todesfalles fast ein halbes Jahr vom Unterricht befreit war und eine Beurteilung meiner Leistung anhand von Hausaufgaben erfolgte.

Genauso sind meine lieben Verwandten mit mir schon nach dem Tod meiner kleinen Schwester umgegangen. Ich war gerade einmal 3 Jahre alt, als die Heike mit 1 ½ Jahren starb. Alle haben heimlich geweint. Niemals hätte ich geglaubt, dass man sich an Geschehnisse aus so frühen Kindertagen erinnern kann, aber es ist so. Denn nach sehr vielen Jahren habe ich mal wieder versucht, von meiner Familie zu erfahren, woran die Heike damals gestorben ist. Und als ich dann erzählte, woran ich mich erinnern kann, waren alle nicht nur verwundert, sondern ich sah den Schrecken in ihren Gesichtern. Denn ich konnte mich noch genau an den Abend erinnern, als meine Eltern aus dem Krankenhaus nach Hause kamen und meiner Oma und meinen Schwestern von Heikes Tod erzählten. Aber auch zu dieser Zeit stieß ich auf eine Mauer des Schweigens, die ich niemals durchbrechen sollte.

Die kindliche Trauer ähnelt dem Erleben der Erwachsenen. Für die Entwicklung ist die Trauerreaktion eines Kindes nach dem Tod eines engen Familienangehörigen oder wie in meinem Fall, eines Elternteils und meiner kleinen Schwester nicht nur zweckmäßig, sondern evolutionär ein absolut notwendiger Anpassungsprozess. Die Trauer eines Kindes ist schwer erkennbar, weil sie oft nicht hörbar ist. Meine Familie hielt es für richtig, mir als Kleinkind nach dem Tod meiner Schwester nichts zu erzählen und auch im Alter von 8 Jahren nach dem Tod meiner Mutti nicht mit mir zu reden oder gemeinsam mit mir zu trauern. Ihre eigene Trauer haben sie vor mir versteckt und es wurde nie über die beiden gesprochen. Jedenfalls nicht mit mir.

Jeder trauert auf seine Weise und muss den richtigen Weg für sich finden, mit einem so schrecklichen Verlust umzugehen. Jedoch habe ich aufgrund dieses Verhaltens nicht gelernt, mit meiner eigenen Trauer umzugehen. Ich sah niemanden weinen und nur mein Vater konnte seine Tränen manchmal nicht zurückhalten, wenn er mich in den Arm nahm. Doch dann hatte ich das Gefühl, ihn trösten zu müssen.

Ich wusste doch noch gar nicht, wie ich reagieren darf und was mir geholfen hätte. Sollte ich schreien oder wütend sein? Durfte ich meine Tränen zeigen, während die anderen die ihrigen vor mir versteckten? Niemand hat doch von ihnen erwartet, dass sie mich sofort und auf der Stelle über alles informiert hätten, was für mich sicherlich auch eine absolute Überforderung gewesen wäre. Jedoch habe ich in all den Jahren immer wieder nachgefragt und niemals eine Antwort bekommen. Ich fragte wieder. Und wieder. Und wieder. Doch der Vorhang des Schweigens, hinter dem sie sich alle versteckt hatten, ließ sich nicht mehr beiseiteschieben. In unserem Hause wurde nicht über den Tod gesprochen!

Für mich wäre es jedoch sehr wichtig gewesen, gemeinsam mit meiner Familie Abschied von meiner Mutti und meiner kleinen Schwester nehmen zu können. Ich konnte nie wirklich um sie trauern, denn ich habe nicht gelernt, wie das geht.

Ein Kind sollte durch altersgerechte und sachliche Informationen zeitnah über den Tod eines nahestehenden Menschen aufgeklärt und zum Fragen ermutigt werden. Genauso wie für den Erwachsenen ist für das Kind das Abschiednehmen unglaublich wichtig. Durch das Verheimlichen entstand in mir nicht nur der Eindruck, dass mir nicht vertraut wurde, sondern auch, dass ich schuld am Tod meiner Mutti war. Jeder Angehörige sollte sich Unterstützung holen, wenn ihm ein Gespräch mit dem betroffenen Kind nicht möglich ist. Ich glaube, wenn Kinder merken, dass ihre Eltern nicht in der Lage sind, den Alltag zu meistern, übernehmen sie die Rolle des Erwachsenen. Also tröstete ich meinen Vater und versuchte ihm über den Verlust der Mutti hinwegzuhelfen. Ich bemühte mich, die Bedürfnisse meines Vaters zu erfüllen und steckte meine eigenen zurück.

Diese Rollenumkehr erzeugte bei mir die ersten psychischen Probleme und es sollte sich herausstellen, dass sie mich mein Leben lang begleiten würden.

Es wäre so unendlich hilfreich und wichtig für mich gewesen, mich gemeinsam mit meiner Familie an meine Mutti oder die Heike zu erinnern. Man hätte dafür sorgen müssen, dass ich nicht in die Rolle der Trösterin des Vaters über den Verlust von Ehefrau und Tochter schlüpfe und Verantwortung für das Wohlbefinden anderer übernehme. Sie machten mich zu ihrem 'Nesthäkchen', um über den eigenen Verlust der kleinen Schwester, der Enkelin und der Tochter hinweg zu kommen.

Vieles habe ich sicherlich auch verdrängt, denn mein Vater hat sich ja um mich gekümmert. Zum Beispiel ging er mit mir oft zum Friedhof, damit ich meiner Mutti meine neue Püppi zeigen konnte. Ein Spitzname übrigens, denn mein Vater mir gab. Egal wo wir waren, ganz gleich, was wir taten. Überall sprach er mich mit Püppi an. Nur wenn er etwas strenger werden musste, was nach seiner Aussage sehr selten vorkam, sprach er mich mit meinem Vornamen an. Ich möchte an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen, dass mein lieber Mann diesen Spitznamen für mich übernommen hat und ihn sehr gern benutzt. Auch er spricht mich nur ganz selten mit meinen Vornamen an.

Ich habe mich in der Therapiezeit lange auch mit diesem Thema beschäftigt, um endlich zur Ruhe zu kommen. Es ist mir auch weitestgehend gelungen und mir wurde klar, dass jeder von ihnen auch einen unglaublichen Verlust erlitten hat. Der Ehemann, der seine geliebte Frau nach hartem Kampf gegen eine Krankheit verliert und nun, vor allem nach dem zuvor zu bewältigenden Verlust seiner jüngsten Tochter, in Sorge um sein Nesthäkchen ist. Oder die Mutter, die ihre Tochter verliert und sich nun um ihre Enkeltochter kümmern muss. Meine beiden 10 und 12 Jahre älteren Schwestern, die auch erst eine kleine Schwester und dann die Mutter verloren hatten. Diese Tragödien haben unsere Familie nicht zusammengeschweißt, sondern aus jedem von uns einen Einzelgänger gemacht.

Also bitte wer hätte mich wirklich trösten können? Jeder von ihnen musste seinen eigenen Weg der Trauer gehen. Es war für uns alle eine sehr schwere Zeit. Aber ich war doch noch ein Kind …

Wissenschaftler haben eindrücklich belegt, was es für ein Kind bedeutet, wenn ein Elternteil verstirbt. Kinder leiden oft Jahre, ja gar Jahrzehnte unter dem Verlust. Oft wirken sie traurig und verloren und dieses Verloren sein wird selten erkannt oder angemessen berücksichtigt. Denn der verbleibende Elternteil ist naturgemäß selbst von der eigenen Trauerarbeit eingenommen, so dass kaum ausreichend Raum für die Trauer des Kindes bleibt.

Langfristig gesehen haben Kinder nach dem Tod eines Elternteils ein erhöhtes Risiko, psychisch krank zu werden. Bereits seit langem herrscht in klinischen Fachkreisen die Überzeugung, dass ein größerer Anteil dieser Kinder längerfristig psychische Auffälligkeiten entwickeln.

In Gesprächen mit meiner Therapeutin habe ich gelernt, dass es stark vom Umfeld abhängt, inwieweit ein Kind trauert oder langfristig leidet. So habe ich als Kind beobachtet, wie meine Familie mit dem Verlust eines geliebten Menschen umgegangen ist. Daran habe ich mich orientiert und meinen Schmerz und meine Trauer nicht gezeigt. Bilder meiner Mutti und von Heike habe ich mir heimlich angeschaut; Tränen flossen nur unter der Bettdecke. Ich dachte, meine Tränen darf ich nicht zeigen.

In mir entwickelte sich eine große Angst vor Verlust und Verlassenwerden. Ich dachte, wenn sich jemand aus meiner Familie über mich ärgert, würde das einen Liebesentzug oder sogar ein Verlassenwerden für mich zur Konsequenz haben. Viele Jahre lang dachte ich, dass ich nach dem Tod meiner kleinen Schwester so unartig war, dass meine Mutti aus Gram über mich gestorben war. Es konnte doch gar nicht anders sein, als dass ich schuld am Tod meiner Mutter war. Darüber sprechen wollte mit mir aber niemand und es war auch niemand da, der mir dieses Gefühl wieder genommen hätte.

Zudem wollte ich niemandem zusätzlichen Kummer bereiten und versuchte nach außen hin, stark zu sein. Also war ich extrem artig, ordentlich und gehorsam und gab niemals Anlass zum Ärger. In der Schule war ich unauffällig und unter meinen Mitschülern beliebt. Während der gesamten Schulzeit hatte ich nur eine feste Freundin. Mit ihr ging ich durch dick und dünn und verbrachte die meiste freie Zeit mit ihr. Ich trieb mich nie herum und war immer pünktlich. Aber ich fühlte mich nicht geliebt und spürte auch niemals die Anerkennung meiner Familie. An Sätze, wie: das hast du gut gemacht oder ich bin stolz auf dich, kann ich mich nicht erinnern. Eher an Aussagen, wie: ich habe nichts anderes erwartet oder ja und, ist doch normal!

Ich konnte andere nicht um Hilfe bitten, wenn es mir schlecht ging, aus Angst, abgewiesen zu werden; ich habe mich nie zu Fragen getraut, ob ich etwas bekommen kann aus Angst, abgewiesen zu werden; ich bat nie um Schutz, aus Angst, für schwach gehalten zu werden. Bis zum heutigen Zeitpunkt, und ich bin inzwischen 54 Jahre alt, fällt mir das 'Bitten' mehr als schwer. Noch heute versuche ich, mit meinen Ängsten, Sorgen und Nöten lieber erst einmal allein zurecht zu kommen.

Für meinen Mann ist das sehr schwer verständlich und er fühlte sich von mir zurückgewiesen, wenn ich ihn nicht um Hilfe bat. Gibst du mir bitte mal? Bringst du mir bitte … mit? All das sind Sätze, die ich nur schwer über die Lippen bringe.

Aber im Laufe der letzten Jahre ist es erheblich besser geworden und nach sehr vielen und intensiven Gesprächen mit meinem Mann versteht er mich heute besser und kann auf mich eingehen.

An dieser Stelle möchte ich auch meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen, dass er sich mit mir und meiner Erkrankung so sehr auseinander gesetzt hat.

Umgib dich mit Menschen,

die dir guttun

und wirklich wichtig sind.

Alle anderen sind Energiefresser.

(unbekannter Verfasser)


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