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Derek schlurfte mit langem Gesicht von Tisch zu Tisch, er arbeitet schließlich nicht im Ritz in Paris. Derek kannte diese goldene berufene Stadt aus den Erzählungen seines Vaters, der sie wiederum in irgendeinem schlüpfrigen Kalenderblatt gelesen hatte. Leider konnte er nicht vergessen, wo er sich befand. Er muss nur aus dem verschneiten mit Eisblumen bewachsenen Fenster seiner Kneipe starren, so wie es der Constable mit seinem gutmütigen rosa Ferkel Gesicht machte. Eine Gruppe Arbeiter marschierte wie zum Drill eines Preußen zur Nachtschicht in die Gießerei. Typen mit dicken Hälsen roten Augen und rauer Sprache. Wohin geht ihr nur? Fragte sich der Constable, seltsam poetisch gestimmt. Er bedauerte die 12-jährigen, die gezwungen wurden, anstatt ein gutes Buch zu lesen oder was immer man in einem der kältesten Winter seit Jahrzehnten machen konnte, zur Knochenarbeit in drückende Hitze zu müssen. Derek Green legte die Melodie pfeifend den Irisch Marsch von Sullivan auf das neue Grammofon. Der Constable widmete sich nach der Betrachtung der Arbeiter, halber Kinder der nicht weniger unerfreulichen Inneneinrichtung des Seemannskopfs.

An den Wänden hingen 200 mittelmäßige bis drittklassige Gemälde und Drucke von Segelschiffen und der Küste von Dover. Der Wirt und Besitzer der miesen Ölschinken schlurfte an seinem Tisch vorbei und bedachte ihn mit einem kurzen Nicken. John sah, wie die Tür aufflog und wie Singer, Lemotte und als kreisender Satellit, der das Licht beziehungsweise den Einfluss als gravitätische Einheit umkreiste, Francis Sebastian, heute ohne dieses lächerliche lange Kragenhemd, das ein über dreißigjähriger nicht tragen sollte, ganz egal wie fanatisch er auch an der Überzeugung hing, mit junger Mode das Alter kaschieren zu können, an ihren Tisch schlenderten, ohne sich weiter um ihn zu kümmern. Viel war an diesem Abend nicht los; vielleicht war der Mord daran schuld, oder die auffälligen Gestalten, die man im Ort noch nie gesehen hatte, aber in der Kneipe hingen, mit den Schillingen klimperten wie Lords und vorgaben auf der Suche nach Arbeit zu sein. Jeder sah es auf den ersten Blick Lemotte Männer dazu engagiert, den aufkeimenden Streik zu ersticken.

»John!« Die aufdringliche Stimme Miss Lemottes ertönte durch den Pub, der guten Leute. »John bist du taub? Komm schon!«

John riss sich von seinen Träumen los. Er machte sich innerlich gequält auf den Weg zu ihnen. Auf dem kurzen Weg zur Elite dieses Städtchens begaben sich seine Gedanken auf eine andere Reise und schlugen Richtungen ein, die mit seiner Funktion als Polizist nichts zu tun hatten. Er war von oben bis unten voller guter Hausmannskost und Wunschträumen, wie zum Beispiel, dass er endlich den Mut aufbrachte, in den Kolonialdienst zu treten. Nur wie sollte er das seiner 76 Jahre alten Mutter erklären, die in hündischer Liebe an ihren Jüngsten hing. Seinen Weg zum Tisch seiner Bekannten führte er einem inneren Dialog auf, sodass es jedem, der in sein Gesicht gesehen hätte, es aufgefallen wäre. Die meisten taten es nicht, seine Lippen bewegten sich und sein Mund zeichnete ein Lächeln in die Luft, was er absurderweise für charmant und schneidig hielt. Vor Francis Füßen lag ein gewaltiger, zottiger Hund von sehr zweifelhaftem Charakter. Der so groß war, um eine Kuh von der Weide zu reißen und den Kadaver 3 Meilen weit nach Hause zu schleifen. Als er John kommen sah, öffnete er kurz seine Augen und beobachtete, wie er den Raum durchquerte. Kaum hatte John sich gesetzt, erhob er sich und lief auf ihn zu und legte zuerst seine gewaltige Pfote und dann seinen Kopf auf seine Knie.

»Mörder mag dich, John«, sagte Agatha Singer verwundert.

Die alte Dame hatte ein Faible für spleenige Namen. Man konnte in West Hoathly ab und zu eine Lady in schwarzer Witwentracht in der Hand eine zerrissene Hundeleine die Straßen entlang rennen sehen und, »Mörder! Mörder«, schreien hören, was jedes Mal einen kleinen Aufruhr verursachte. Inzwischen war auch Derek an ihren Tisch gekommen und hatte die Bestellung für die Drinks entgegengenommen. Ein Gin für Agatha Singer und eine Schüssel Bier für den Hund. Ein Bier für John und mit Milch verdünnten Rum für Francis Sebastian und Miss Lemotte. Zwei weitere Gäste waren soeben in den Seemannskopf gekommen. Doktor Swift und Josefine seine Gattin, ein junges, verliebtes Ehepaar schien es auf den ersten Blick. Sie trug einen knöchellangen blauen Chinchillamantel neu und stolz präsentiert, als arbeite sie als Mannequin in einem Londoner Westend Modeatelier. Ihre Kopfbedeckung war ein gelber italienischer Strohhut an der Krempe mit Rosetten geschmückt. Unter dem Mantel steckte die Schöne in einem leichten grünen Straßenkleid mit großen roten Tupfen. John beobachtete ihre Bewegungen und den Stolz in ihren Augen. Josefine legte den größten Wert auf gesellschaftliche Stellung, sodass selbst wirklich verständnisvolle Leute, die nicht leicht zu erschöpfen waren, sich nach wenigen Minuten in ihrer Gesellschaft total ausgelaugt fühlten. Sie bekam es fertig, in der Zahnarztpraxis ihres Gatten Jonathan so viel gesellschaftliche Stellung auszustrahlen das man sich dort fühlte, als reiße Queen Victoria einem dort die vereiterten Backenzähne persönlich aus. Diese fieberhafte Begeisterung, der sichtlich unerfüllten Frau, für das Elitäre in seiner grauenhaft langweiligen und englischen Form verkündete sie mit Einsprengseln von Worten und Anreden in ihren Monologen, denn meist ließ sie kaum jemanden zu Wort kommen, die seit Oliver Cromwell aus der Mode waren. Constable John Arnold verabscheute im Moment beide, ihn, weil er ein stümperhafter Zahnausreißer war, der mit seinem Äther Gas zu knauserig umging, um seinen Patienten höllische Schmerzen zu ersparen. Der Constable musste nur an die Extraktion seines kaputten Zahnes denken und schon flammte wieder tiefer Groll in ihm auf. Und Sie mochte er nicht, nun, weil sie so war, wie sie war, eine Snob. Er konnte es sich leider nicht erlauben, seine Abneigung offen zu zeigen. Josefine wartete ungehalten in ihrem Chinchillamantel und hüstelte leise. Oliver machte, ein erschrockenes Gesicht, half ihr aus dem schweren Mantel und zog ihr blitzschnell mit der freien Hand einen Stuhl heran. Sie setzte sich in einer Abfolge pantomimischer Bewegungen, eine Schärpe, schwarz wie die Seele eines Katholiken, aus Seidengaze fiel von ihren Rücken herab. Jonathan „Oliver“ Swift begnügte sich mit einem hellgelben Zylinder aus Bast, den er gekonnt vor den anwesenden Damen zog, sich verbeugte und die ihm entgegen gestreckten Damenhände, in Miss Lemottes bedauerlichen Fall eine Pranke, zum Begrüßungskuss berührte. Alle am Tisch schienen nur noch auf ein Stichwort zu warten, um über das Thema zu reden, das John bereits zum Hals heraushing, dieser Mord. Aber zuvor ergriff Josefine das Wort und betonte, das sie es schade finde das in der Reformmode hohe, schwere Schleppen und Kragen beseitigt werden. Insbesondere jedoch war ihre tiefe Sorge die lebhaft im Unterhaus besprochene Forderung nach einem Verbot des Korsetts.

»Ha immer das Korsett und was ist mit den Unterstrümpfen? Diese empörenden Farben! Habt ihr die weißen Wollstrümpfe gesehen die Mrs Wether Allen in ihrem Strumpfgeschäft in der James Street verkauft?«, fragte Agatha empört. »Anständige Damen haben keine Schaufensterpuppen die ihre Beine präsentieren und sie tragen schwarze Wollstrümpfe.« Miss Allen, die Besitzerin des Tuchgeschäfts in der James Street war immer für einen gut. Einmal hatte sie französische Spitzenkorsetts in ihrem Schaufenster ausgestellt. Die um die öffentliche Moral besorgten Bürger hatten sich die Klinke des Wachhauses gegenseitig in die Hand gegeben. John Arnold musste Miss Allans Schaufensterpuppen leider verbieten, aufreizende Bekleidung zu präsentieren.

»Weiße Wollstrümpfe.«, Miss Lemotte schüttelte den Kopf. »Unseriös. Nur unseriöse Damen tragen weiße Wollstrümpfe!« urteilte sie abschließend.

Josefine mit ihrem vornehmen blassen Gesicht, sie half mit flüssigem Bleichmittel der Marke Wäscheweiß nach und rückte ihren Sommersprossen mit arsenhaltigem Pulver zu Leibe, drückte Langeweile an der Unterhaltung aus. Sie wechselte das Sujet, so abrupt als springe der Dirigent mitten im dritten Satz der kleinen Klaviermusik von Mozart zu Beethovens achter Sinfonie.

»Oliver hat eine Theorie«, stellte Josefine fest.

»Was nur eine? Ich habe schon ein dutzend verschiedener gehört.« Sagte John und starrte auf ein schlecht gemaltes Gemälde eines an einer Klippe zerschellenden Dreimasters. Er dachte beim Anblick des untergehenden Schiffes an die Familie von Donovan. Die irgendwo unerreichbar für ihn in Europa war, genauso unerreichbar als hätte das Meer sie verschluckt.»Hör dir das doch erst einmal an!«

Ohne sich, darum zu kümmern, ob es ihn interessierte oder nicht, lehnte sich Josefine über den Tisch und unterbreitete ihm Doktor Swifts Mord Theorie. »Er meint, der Mörder ist einer, der was gegen West Hoathly oder East Sussex hat, dem durch Mister Donovan ein Unrecht zugefügt wurde. Der Fabrikbrand von 1886 und Rache!«

»Rache?«, fragte John und klopfte die Asche aus seiner Pfeife. »Er hat Donovan einfach gefressen oder besser sich ein Ragout aus ihm gemacht, das klingt nicht nach Rache, sondern verkorkster Diät.«

Die Damen am Tisch verzogen ihr Gesichter vor Abscheu.

»Ragout ist nicht John, aber ich habe kalten Hackbraten und noch etwas vom Stilton Käse«, rief Derek quer durch den Raum.

Josefine blickte sich verblüfft um, und Olivers Lächeln verschwand so schnell als hätte man es mit Dereks schmierigen Putzlappen von seinem Gesicht gewischt.

»Ich sagte Ihnen doch achten Sie nicht auf ihn. Tun Sie so, als wäre er nicht da«, sagte Agatha und bestellte sich noch einen Gin. Aber Josefine ließ nicht locker.

»Oliver schreibt eine Chronik unserer Familie. Eine Art Bericht über private und solche Dinge.«

»Solche Dinge?«, fragte John höflich.

»Na ja, dieser Mord.«

»Schon gut Liebes, verrate nicht alles«, sagte Oliver.

»Du weißt, ich rede nicht gern über meine Aktivitäten als Dichter und das ich eine kleine Passion für West Hoathlys Stadtgeschichte habe.«

Warum? Das ist krank um Gottes Willen, dachte der Constable angewidert. West Hoathlys Stadtgeschichte hatte nur den Einzug der Pest 1642, einen Kirchenbrand 17Hundertnochwas und die Schlammlawine von 1865. Und das Jahr 1886 hatte einen Fabrikbrand zu bieten. Eine Menge junger Menschen waren geröstet worden, seitdem war auch Anthill hier. Er galt als so scharfer Hund, das man ihn nicht nahe London wollte.

Agatha starrte grimmig vor sich hin. In West Hoathly war Oliver ihr größter Konkurrent, da er schon seit einigen Jahren einen gewissen Ruf als Autor in den Salons und Zirkeln der Gegend genoss. Besonderen Erfolg hatte Oliver mit seinen lateinischen Blumengedichten. Oliver sprach laut, vermutlich um sein großes Repertoire an Sinnsprüchen zu beweisen, mit einem Lächeln. »Wer sagte noch so treffend, wenn ich ein gutes Buch lesen will, schreibe ich eines?«

Wahrscheinlich du selber, dachte John und widmete sich wieder seinem Glas Guinness.

»Ha haha der gute Benjamin Disraeli.« Oliver sah sich Beifall suchend um. Josefine klatschte in ihre zarten in Spitzenhandschuhen steckende Hände. Sie trug zwei verschiedenfarbige Handschuhe, einen weißen und einen schwarzen. Dieser Fauxpas einer russischen Gräfin, die zu einem Zaren Ball geladen war und weil sie Probleme hatte, Farben zu unterscheiden, zwei verschiedene Handschuhe mit sich nahm, hatte sich als feine Mode verbreitet und den Namen jeder russischen Adligen unsterblich gemacht. John las ab und zu den Klatsch in den Zeitungen von den Höfen in aller Welt. Unfassbar aber nicht nur die Times hatte einen extra abgestellten Korrespondenten in Petersburg, dessen Aufgabe nur darin bestand Zaren Bälle zu besuchen.

»Eine interessante Theorie, jemand mit Rachegelüsten also. Es muss sich aber um einen Irren handeln!«, sagte Agatha, die an ihrer eigenen Mordtheorie saß.

»Großer Gott, das auf jeden Fall. Der Punkt ist, das Opfer war uns vollkommen vertraut, ein Freund jemand aus unserer gesellschaftlichen Schicht. Ich befürchte, der Mörder ist jemand, der etwas gegen die besseren Leute hat!«, vertraute Oliver der Gesellschaft flüsternd an. »Was in aller Welt meinst du?«, fragte Josefine mit erschrocken aufgerissenen Augen. »Bist du verrückt geworden?«

John sah, dass ihr Entsetzen echt war. Schlimmer als dieser schreckliche Mord war das Motiv. »Er meint also, dass jemand bei uns ein Menschenfresser ist!«, sagte Agatha und streichelte ihren Hund und fragte lächelnd: »Und wer glaubst du, liebste Josefine hat es getan?«

»Was getan?«

»Den armen Mann gekocht, natürlich. Ihr scheint ja zu glauben, es war jemand aus unserem netten Ort. Aber wenn ihr euch umseht, es wimmelt hier von zwielichtigen Fremden!«

Die als störend empfundene Anwesenheit der Polizeispitzel und der von Lemotte bezahlten Provokateure war kaum zu übersehen.

Kannibalen und feine Leute

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