Читать книгу Ostwestfalen morden anders - Bianca Schilsong - Страница 5
ОглавлениеAnja Puhane
16 Stunden, 51 Minuten und 39 Sekunden
Fünf Uhr eins und 55 Sekunden.
Die Sonne geht auf, er schläft noch tief, der Wecker wird erst in knapp anderthalb Stunden klingeln, bis dahin wälzt er sich in seinem Bett herum. Die Temperaturen sind sommerlich, aber die Nächte noch kühl. Daran liegt es nicht, dass er im Schlaf den Kopf immer wieder hin und her dreht, den Körper im Laufe der kurzen Nacht in der Decke verknotet hat.
Das Morgenlicht dringt zaghaft durch die Schlitze der Rollladen, im Laufe der nächsten 88 Minuten wird es immer fordernder, zaubert Muster auf die weiße Wand hinter ihm und würde ihn an der Nase kitzeln, wenn sie nicht tief im Kissen vergraben wäre.
Sechs Uhr dreißig. Der Wecker klingelt, fast zeitgleich stößt seine Mutter die Türe auf.
„Ingo, aufstehen!“
Ihr Brüllen übertönt den Wecker, der eigentlich schon laut genug ist. Es liegt weder am Wecker, noch an der Mutter, dass er schlagartig hellwach ist. Trotzdem unternimmt er einen halbherzigen Versuch, sich wieder in das Kissen zu kuscheln.
„Ingo, steh auf. Du kommst zu spät!“
Er ist noch nie auch nur eine Minute zu spät gekommen. Das lag natürlich nur an seiner Mutter, würde sie sagen.
Irgendetwas vor sich hin brummelnd, wirft sie die Tür wieder zu.
Ingo strampelt die Decke weg und schlurft Richtung Bad. Aus der Küche im Erdgeschoss dringt Geklapper und Geklirre.
Sieben Uhr drei Minuten und 25 Sekunden.
„Ingo!“
Er verdreht die Augen, während er in eine Jeans und ein Transformers-T-Shirt schlüpft. Das Shirt spannt über dem Bauch und die Hose reicht nur noch bis zu den Knöcheln. Er ist schon wieder gewachsen. Du wächst mir noch über den Kopf, sagt seine Mutter immer. Er verkneift sich dann zu sagen, dass er das hofft. Sie könnte das falsch verstehen. Aber sie ist nur 1,65 Meter groß. Da möchte er drüber.
Als er in die Küche kommt, sagt die Mutter nichts, sieht ihn nur mahnend an. Ihre blonden Haare kleben an der Stirn und den geröteten Wangen. Seit der Vater nicht mehr da ist, hat ihre Fürsorge beängstigende Ausmaße angenommen. Zwei Nutella-Brote liegen auf einem Teller, daneben steht die Brotbox für die Pause. Er hat sie zur Einschulung bekommen, zu seinem Leidwesen hat sie mittlerweile sechs Schuljahre relativ schadlos überstanden.
Ingo beißt in eins der Brote und nippt am viel zu heißen Kakao. Seine Mutter sitzt ihm gegenüber, die Hände um einen Kaffeebecher geschlungen. Sie ist noch im Nacht-hemd. Wenn er mittags aus der Schule kommt, wird sie es gegen einen Kittel eingetauscht haben. Sie wird der Großmutter, die in der anderen Doppelhaushälfte wohnt, immer ähnlicher. Aber immerhin hat sie keine blauen Flecken und geröteten Augen mehr.
Sieben Uhr, 35 Minuten, 14 Sekunden.
„Beeil dich, der Bus kommt gleich!“
„Ich fahr mit dem Rad, Ali holt mich ab.“
„Der kommt doch immer zu spät, nimm lieber den Bus.“
Ingo ignoriert ihre Ansage, kaut weiter auf seinem Brot herum.
Um viertel vor acht biegt Ali um die Ecke, Ingo steht schon mit seinem Rad vor dem Haus.
„Ihr werdet zu spät kommen“, orakelt die Mutter.
Werden sie nicht. Sie brauchen nur zehn Minuten, sitzen zwei Minuten bevor die Schulglocke läutet im Klassenraum.
Acht Uhr, Null Minuten, zehn Sekunden. Doktor Schepsmeier betritt den Raum und wirft seine Ledertasche auf den Lehrertisch. In der hinteren Reihe zucken ein paar Schüler zusammen.
Acht Uhr, fünf Minuten, 33 Sekunden.
Die Tür öffnet sich erneut und ein atemloses Mädchen mit einem braunen Zopf kommt herein.
„Entschuldigung, Herr Doktor Schepsmeier. Meine Mutter hat mich gefahren und wir mussten wegen einer Schafherde warten.“
Wie zur Bestätigung heult auf der Straße der Porsche der Lübkings auf.
Doktor Schepsmeier zieht die Augenbrauen hoch. „Leonie Lübking“, er kostet die Silben aus, jeder hält den Atem an. Jeder weiß, dass Leonie immer zu spät kommt. Nur ihre Begründungen variieren.
Es folgt nichts, Leonie geht mit wippendem Zopf zu ihrem Platz, wirft ihren Einhornrucksack unter den Tisch.
Ich hab Scheppi neulich mit Mama Lübking gesehen, steht auf dem Zettel, den Ali Ingo zuschiebt.
„Nein“, zischt der ungläubig. Hastig lässt er das Papier unter seinem Heft verschwinden, als Leonie sich zu ihnen umdreht und lächelt.
Es ist das Lächeln, das ihn bis in seine Träume verfolgt. Er lächelt zurück, kann aber keine Reaktion auf dem Gesicht des Mädchens erkennen. Sie scheint ihn gar nicht zu sehen. Dann dreht sie sich wieder um, und er versucht sich einzureden, dass sie ihn angelächelt hat und ein bisschen rosa geworden ist, als er es erwidert hat.
Zehn Uhr, fünf Minuten, 27 Sekunden.
Ingo öffnet seine Brotdose mit den bunten Autos auf dem Deckel.
„Das sieht aber lecker aus!“
Er spürt, wie die Röte in seinem Gesicht aufflackert und hält ihr die Dose hin.
„Möchtest du?“
Leonie schüttelt den Kopf und streicht sich über die Hüften, als ob das eine Erklärung wäre. Vermutlich macht ihre Mutter das auch.
„Wo ist denn eigentlich Ali?“
Die Frage klingt belanglos.
“Hier!“, unterbricht der Gesuchte Ingos Gedanken, die noch im Zustand einzelner Gewitterwolken waren.
Leonies Lächeln verdichtet die Wolken. Ingo reißt seinen Blick von dem Mädchen und blickt den Freund an. Seinen besten Freund.
Ali ist etwas kleiner als er. Klein und drahtig, mit dunklem Teint und schwarzen Haaren, die ein bisschen zu lang sind.
Leonie und Ali lächeln sich an. Sie dreht den Zopf um ihren Finger. Kichert. Die Wolken werden schwarz und schwer.
„Geht Ihr auch heute Nachmittag zum Kinderschützenfest?“, fragt Leonie, dreht weiter an ihren Haaren und sieht Ali an.
„Klar!“, antwortet der und wirft sich in die schmale Brust.
Ich muss zu Hause sein, bevor es dunkel wird, will Ingo sagen, beißt sich aber auf die Lippen. Es tut weh.
„Meine Mama fährt mich. Sollen wir Euch abholen?“
Ali schüttelt den Kopf. „Wir fahren mit dem Rad.“
Die Pausenglocke klingelt. Sie gehen wieder ins Gebäude. Keiner bemerkt das aufziehende Gewitter. Ingos Gedanken kreisen wie ein Tornado. Er wird mehrmals von seinen Lehrern ermahnt. Kann sich einfach nicht konzentrieren. Die Brote liegen schwer im Magen.
Ein Uhr, 45 Minuten, drei Sekunden.
Die Mutter stellt einen Teller mit Fischstäbchen und Kartoffeln vor ihn auf den Tisch. Er will sagen, dass er keinen Hunger hat, dass der Klumpen aus Frühstückbroten noch in seinem Magen liegt. Aber er schluckt es hinunter und schlingt alles in sich hinein.
„Dann scheint die Sonne auch morgen wieder“, lobt ihn die Mutter in ihrem bunten Kittelkleid.
Welche Sonne, da ist keine Sonne, sagt eine kleine Stimme in seinem Kopf. Er lässt sie nicht heraus, sondern nimmt das Eis, das seine Mutter ihm gibt. Trotz allem gibt es ein bisschen Trost.
„Wir wollen heute Nachmittag zum Kinderschützenfest.“
„Wer wir? Doch nicht wieder dieser Ali?“
Seine Mutter mag Ali nicht. Ingo schüttelt den Kopf.
„Ein paar aus meiner Klasse.“
Sie nickt. „Aber nur, wenn du vorher deine Hausaufgaben machst. Und der Rasen muss gemäht werden.“
Es interessiert sie nicht, dass am nächsten Tag Samstag ist. Sie hat ihre Prinzipien, den Kitt ihrer Welt.
15 Uhr, zwei Minuten, 40 Sekunden.
Er wartet an der Ecke auf Ali. Seine Mutter muss ihn nicht unbedingt sehen, sonst ruft sie ihn doch noch unter einem Vorwand zurück.
„Und sei zu Hause, bevor es dunkel ist!“, hat sie ihm hinterher gerufen. Er weiß nicht, ob ihr klar ist, dass es der längste Tag des Jahres ist. Und dass er hier, am Nordpunkt, besonders lang ist. Der längste Tag. Er seufzt. Die letzten Stunden waren schon lang genug.
Ali ist erstaunlich pünktlich. Er trägt eine neue Jeans und ein frisches Shirt. Auf seiner Brust prangt Thor, lässig auf seinen Hammer gestützt. Ingo streicht verlegen über Bumblebee, den ein Fettfleck ziert.
Sie reden nicht, als sie am Rand des Festplatzes auf Leonie warten. Sie kommt mit einer Viertelstunde Verspätung. Ihre Erklärung rauscht an beiden vorbei. Ingo bemerkt, dass Ali mit Thor um die Wette grinst.
Er kauft Cola für alle drei, das Geld hat er seiner Großmutter aus der Schublade geklaut. Mit den Getränken stehen sie vor der Reithalle, in der es Kakao und Kuchen für die Kinder gibt. Leonie nuckelt an ihrem Strohhalm und schaut auf ihre Füße, die in pinkfarbenen Sandalen stecken. Die Zehennägel sind Türkis. Ingo kann seinen Blick nur schwer davon lösen.
Die Alternative ist nicht besser. Er schaut zum Bierstand. Ein anderes Bild schiebt sich vor seine Augen. Seine Mutter im Sommerkleid, die blonden Haare zu Locken gedreht. Wie sie dem Fremden zuprostet. Der Mann in Jeans und Shirt. Auf dem Shirt steht der Name irgendeiner amerikanischen Universität. Seine Mutter schwankt leicht, Spritzer von ihrem Bier landen auf dem Hemd des Fremden.
Ingo blinzelt, er will das nicht sehen, und schon gar nicht das, was danach kam.
Als sie in der Halle sitzen und Donauwellen in sich hineinschaufeln, lächelt Leonie ihn an. Endlich. Sein Herz wird warm. Jetzt wird alles gut, denkt er.
Der Moment endet, als Leonie sich an Ali lehnt. Ingo befördert ein großes Stück Kuchen in seinen Mund. Das hat noch immer geholfen. Er denkt an den tröstlichen Pudding, den seine Mutter ihm kocht. Vanille und Schokolade für die Seele. Die Masse in seinem Mund schmeckt bitter, nimmt an Volumen zu. Er versucht sie mit Kakao hinunterzuspülen, während Leonie über einen Spruch von Ali lacht. Der Freund lächelt ihm zu, wie er immer lächelt. Fröhlich und offen.
Ingo will nicht hinsehen, geht zum Toilettenwagen. Als er zurückkommt, sind die beiden verschwunden. Nur ihre leeren Becher und Pappteller stehen noch auf dem Tisch.
Ingo wirft sie in den Mülleimer, um den Fliegen und Wespen kreisen, dann läuft er kreuz und quer über den Platz.
Das Rad von Ali steht immer noch neben seinem. Er geht zu der Frau am Eingang der Reithalle, fragt nach seinen Freunden. Die schüttelt den Kopf. Viel zu viele Kinder, wie soll sie sich da an zwei erinnern können. Sie ahnt nicht, dass sie diesen Satz noch häufiger sagen wird.
Ingo schlendert Richtung Aue, läuft an der Straße entlang, als ob ihn etwas zöge. Versucht an nichts zu denken. Das Nichts hat das fröhliche, rotwangige Gesicht der Mutter, das hochrote Gesicht des Vaters und das verschwommene Gesicht des Fremden. Immer wieder schieben sich die Gesichter von Leonie und Ali davor.
Dann hört er die Stimmen. Leise, fast übertönt vom Glucksen der großen und der kleinen Aue, die sich vereinigen.
Ingo geht die Böschung hinunter zum Wasser. Dort sitzen die beiden, die Köpfe nah beieinander und flüstern. Das Wispern kommt ihm verdächtig vor, spöttisch. Als ob sie sich über ihn lustig machen. Über den dicken kleinen Ingo mit dem alten T-Shirt und den zu kurzen Hosen. Und den Eltern, von denen jeder weiß, was sie getan haben. Plötzlich versteht er, was seine Mutter meinte, als sie sagte, sie hätten weg gehen sollen. Aber wohin? Und jetzt ist es zu spät.
„Da seid ihr ja!“, ruft er fröhlich.
Die Freunde zucken zusammen, rücken ein Stück voneinander weg. Leonie wird ein bisschen rot.
„Störe ich?“
Beide schütteln den Kopf. Ingo setzt sich neben sie, schaut auf das Wasser. Alle drei schweigen, bis Leonie anfängt, eine Geschichte über den Hund der Nachbarin zu erzählen. Sie verheddert sich in Details, schweigt dann einfach, ohne dass die Geschichte ein Ende hat.
„Ich muss nach Hause, bevor es dunkel ist“, sagt Ingo in die Stille hinein und erhebt sich.
„Dann bis Montag!“, ruft Ali.
Ingo klettert die Böschung wieder hoch. Geht Richtung Reithalle. Er blickt auf seine Kinderuhr. 18 Uhr 42. Noch drei Stunden, zehn Minuten bis zum Sonnenuntergang. Seine Mutter wird ihn nicht fragen, warum er so früh wieder da ist. Sie wird ihn auch nicht fragen, warum er das Wochenende auf seinem Zimmer verbringt. Sei fragt nur, ob er seine Aufgaben erledigt hat.
Er geht zur Aue hinunter, setzt sich ans Ufer und starrt auf das Wasser. Es gluckst eine Geschichte, die keiner versteht, während die Bäume Antworten auf Fragen wispern, die keiner gestellt hat.
Vielleicht sind es aber auch die Antworten auf seine Fragen. Wie geht es weiter? Die nächsten drei Stunden und die nächsten fünfzig Jahre oder so. Eine unermesslich lange Zeit, die ihm unfassbar düster erscheint. Fünfundzwanzig Jahre sind nichts dagegen.
Ali, sein allerbester Freund. Dachte er.
Leonie, ein wunderbares Wesen. Oder auch nicht.
Freundschaft, was zählt das noch? Die große Aue lacht ihn aus. Wie konnte er nur an so etwas glauben?
Er stellt sich vor, wie er zu den anderen zurückgeht und alle drei zusammen darüber lachen, dass er sich ausgeschlossen fühlte. Betrogen. Dass er dachte, sie würden ihn das ganze Wochenende nicht sehen wollen. Die Schützenfesttage ohne ihn verbringen.
Nein, sie würden zusammen lachen. Wie beste Freunde; für immer.
Niemals würden sie ihn ansehen, als ob sie hoffen, er würde möglichst schnell wieder verschwinden. Kein verärgerter Blick von Leonie. Keine zusammen gezogenen Augenbrauen von Ali.
Kein Stein in seiner Hand. Kein Schrei, kein Blut. Keine Mädchenfäuste, die auf seine Brust schlagen. Keine blonden Haare, durch die Blut sickert. Keine Körper, die ins Wasser fallen. Kein Stein, von dem die Aue das Blut abwaschen muss.
Nichts von dem. Die Aue fließt weiter, als ob nichts passiert wäre. Er starrt immer noch auf das Wasser.
21 Uhr 30.
Er hat noch 22 Minuten, um nach Hause zu fahren. Um zur Reithalle zurück zu gehen. Noch einmal die Leute nach seinen Freunden zu fragen. Sein Fahrrad aufzuschließen. Einen Blick auf das verlassene Rad von Ali zu werfen. Aufs Rad zu steigen und nach vorne zu blicken. 22 Minuten, Zeit genug.
Ihm fehlen drei Stunden davor. Drei Stunden, die er am Ufer der Aue sitzend verbracht hat. Zeit, die sein Hirn einfach ausgeblendet hat. Kann man so lange am Wasser sitzen? Kann man so sehr die Zeit vergessen?
Er steht vor der Haustür, während hinter ihm der Tag versickert. Kann einen Moment lang weder vor noch zurück. Fühlt sich alt und doch ganz klein. Vermisst den Vater. Würde ihn gerne etwas fragen und kennt die Frage nicht.
Seine Mutter nimmt nur wahr, dass er zu Hause ist, bevor es dunkel wird. Wie dunkel es vorher schon geworden ist, sieht sie nicht.