Читать книгу Ostwestfalen morden anders - Bianca Schilsong - Страница 7

Оглавление

Angelika Godau

Traditionen

Mit schnellen Schritten ging Hubert auf das Haus zu, registrierte, dass sein Name unverändert an der Klingel stand, obwohl er bereits vor acht Monaten ausgezogen war. Gleich nach der Hochzeit mit Gerlinde war er hierher in ihr Elternhaus gezogen. Der erste Fehler von vielen, die er in den nächsten Jahren gemacht hatte. Er war nicht der Typ für dieses Dorf am Ende der Welt. Blomberg, wer wollte da schon wohnen, und doch hatte er Tag für Tag aneinandergereiht, für Gerlinde, die Kinder, den Hund und natürlich die allgegenwärtigen Nachbarn.

Dreiundzwanzig Jahre hatte er durchgehalten, bis zu diesem Samstagmorgen im April, als Jessica ihm in den Kofferraum gekracht war. Seine Empörung hatte sie weggelacht, ihn auf ein Glas zu sich eingeladen und ihm dann den aufregendsten Sex seines Lebens beschert. Von einer unbekannten Leichtigkeit erfasst, war er später nach Hause gefahren, hatte seine Sachen gepackt, Gerlinde mit knappen Worten mitgeteilt, dass er sie verlassen würde und war zu Jessica nach Bielefeld gezogen.

So stürmisch ihre Beziehung begonnen hatte, so stürmisch ging sie weiter. Er lernte Stellungen und Praktiken kennen, von denen er nicht einmal geahnt hatte, dass es sie gab. An Gelinde dachte er nie, sie war völlig aus seinem Gedächtnis verschwunden. Erst nach einem halben Jahr war ihm aufgefallen, dass sie nicht ein einziges Mal versucht hatte, ihn zu erreichen.

Das beschäftigte ihn zunehmend. Interessierte es sie überhaupt nicht, wo er sich aufhielt und was er tat? Reichte es, dass er monatlich Geld überwies? War es nur das, was sie all die Jahre von ihm erwartet hatte? Dieser Gedanke ließ ihn nicht mehr los, und Jessica war ihm keine Hilfe. Für sie war Sex die Lösung aller Probleme. Sex unter der Dusche, auf der Küchenanrichte, im Treppenhaus, ja, sie schreckte nicht einmal vor dem Fahrstuhl des Finanzamtes zurück. Sie war unersättlich und sicher der Traum vieler Männer, aber er konnte seine Zweifel nicht einfach wegficken. Immer öfter dachte er an vergangene Zeiten, an Ausflüge mit den Kindern, zum Hermannsdenkmal oder zu den Externsteinen. Es musste an der Vorweihnachtszeit liegen, alle Welt wurde sentimental, nur Jessica nicht, die reagierte immer öfter ungehalten auf seine melancholische Stimmung. Als er dann das erste Mal nicht konnte, war sie richtig wütend geworden.

„Hubi“, hatte sie gesagt und die Lippen zu einem unschönen Strich zusammen gepresst, „du musst aufhören ewig in der Vergangenheit zu leben. Lass dich endlich scheiden.“

Vielleicht war es die Angst vor diesem Gedanken, oder ihre täglichen Forderungen. Seine Erektionsprobleme verstärkten sich. Klein-Hubert hing an ihm, wie er an seiner Vergangenheit.

Und dann kam diese SMS von Gerlinde.

„Lieber Hubert, könntest du bitte am Heiligen Abend gegen 13.00 Uhr vorbeikommen, ich brauche deine Hilfe. Gerlinde.

Dieser Satz löste weitere Erinnerungen aus. Er sah sich mit ihr unter dem Weihnachtsbaum stehen, sah die Kinder Geschenke auspacken, Purzel, der sich über einen Knochen freute und wie verrückt bellte. Ja, er schmeckte sogar den Heringssalat auf seiner Zunge, den es alljährlich vor der Bescherung gab. Mit gebuttertem Toast.

Nun stand er vor der Tür und starrte auf seinen Namen. Er atmete tief durch und drückte auf die Klingel.

Gerlinde öffnete sofort. „Hubert“, sagte sie und lächelte freundlich, „wie schön, dass du es einrichten konntest. Komm doch herein, bitte.“

Er nickte, schloss die Tür und folgte ihr. Irgendwie wirkte sie verändert. Er kam nicht drauf, was es war, bis er sie in der Küche stehen sah. Natürlich, sie trug keine Schürze, sondern einen enganliegenden Pullover und dazu Jeans. In ihrer gesamten Ehe hatte sie niemals Jeans getragen. Außerdem trug sie ihre Haare offen, die auch viel länger und heller waren, als früher.

„Setz dich doch, Hubert, fühl dich wie zu Hause“, sagte Gerlinde in seine Betrachtung hinein.

„Du siehst abgespannt aus, hast du im Büro so viel zu tun? Du bist doch nicht krank? Hubert? Hörst du mir eigentlich zu?“

„Was? Ja, natürlich höre ich dir zu, du siehst nur so verändert aus.“

„Oh, gefalle ich dir nicht?“, fragte sie, klang aber nicht so, als würde seine Antwort sie wirklich interessieren.

„Doch, doch, du siehst sehr gut aus, nur eben anders, als ich dich in Erinnerung hatte.“

Er kam sich vor wie ein Vollidiot, stotterte fast, dabei war es doch nur Gerlinde, die da in der Küche am Kühlschrank stand. Den öffnete sie jetzt mit geheimnisvoller Miene, nahm eine geschlossene Schüssel heraus und stellte sie auf den Tisch.

„Überraschung, Hubert“, sagte sie, öffnete den Deckel und präsentierte ihm mit großer Geste etwas, das umgehend traute Weihnachtsstimmung in ihm hervorrief. Heringssalat! Seit seiner Kindheit war der für ihn untrennbar mit dem Heiligen Abend verbunden. Frieden erfüllte ihn, alle Unsicherheit fiel von ihm, er war wieder daheim. Als der Duft aus der Schüssel seine Nase erreichte, sog er ihn ein und schloss verklärt die Augen. Als er sie wieder öffnete, begegnete sein Blick dem von Gerlinde, und er meinte etwas Lauerndes in ihm zu erkennen. Was war das, was hatte sie vor?

„Setz dich doch, Hubert“, wiederholte sie, drehte sich zum Schrank um, und entnahm ihm zwei Teller.

„Ich habe doch nicht vergessen, dass das dein Lieblingsgericht ist und habe mir gedacht, wenn du schon kommst, um mir zu helfen, dann solltest du zumindest dafür belohnt werden.“

In Hubert schrillten Alarmglocken. Ein schrecklicher Gedanke durchfuhr ihn, so unglaublich, dass er sich schwer auf den angebotenen Stuhl fallen ließ. Gerlinde wollte ihn vergiften! Das war der Grund für den engen Pullover und die Jeans, vor allem aber der Grund für den Heringssalat. Sie wusste genau, dass er dem nicht widerstehen konnte.

„Das ist wirklich nett von dir“, begann er, obwohl sein Puls raste und sein Mund so trocken war, dass er kaum sprechen konnte. „Ich habe aber leider überhaupt keinen Hunger.“

Gerlinde schaute ihn an und er war sicher, Heimtücke in ihrem Blick zu erkennen, auch wenn sie immer noch lächelte.

„Ach, so ein bisschen wird schon gehen, er ist mir dieses Jahr besonders gut gelungen.“

Sie löffelte eine große Portion auf seinen Teller, bevor sie sich selbst bediente. Dann sprang sie unvermittelt auf und sagte: „Jetzt habe ich doch glatt den Toast vergessen, ich bin etwas durcheinander.“

Erst als sie wieder am Tisch saß, fuhr sie fort: „Es ist so vertraut, mit dir hier zu sitzen. Als die Kinder klein waren, hast du nach dem Essen den Baum geschmückt und dazu das Wohnzimmer abgeschlossen. Da durften wir erst wieder rein, wenn das Christkind da gewesen war. Weißt du noch?“

„Na klar weiß ich das noch“, stieß er hervor und räusperte sich heftig. „Und zu essen gab es immer Heringssalat und Toast, hier in der Küche.“

„Ja, so war das früher“, sagte Gerlinde leise. „Nun iss aber auch, zumindest probieren musst du. Bitte, mir zuliebe.“

Sie schob sich eine Gabel voll in den Mund, schaute hoch, und ihre Augen wurden groß. Heftig warf sie die Gabel zurück auf den Teller.

„Hubert, das darf nicht wahr sein. Du glaubst, ich wollte dich vergiften, mit deinem Lieblingsessen umbringen?“

Sie vergrub den Kopf in beiden Händen. Tränen quollen zwischen ihren Fingern hervor.

„Nein, Gerlinde, daran habe ich überhaupt nicht gedacht“, log er, „wirklich nicht. Es ist nur mein Magen, aber gut, wenn dir so viel daran liegt … siehst du, ich esse. Na, komm schon, hör auf zu weinen, er schmeckt wirklich ganz wunderbar, genau wie er schmecken muss.“

Gerlinde ließ die Hände sinken, hob den Kopf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

„Das freut mich, Hubert, wirklich, es war doch nicht alles schlecht zwischen uns, nicht wahr? Auch wenn du jetzt bestimmt ein viel aufregenderes Leben hast, es gab auch bei uns gute Zeiten.“

„Ja, natürlich“, stimmte er schnell zu. „Ich denke auch oft daran, weißt du. Vielleicht schätzt man Dinge erst, wenn sie nicht mehr da sind.“

„Ach, ich habe mein Leben mit dir eigentlich immer geschätzt. Möchtest du einen Kaffee, Hubert, oder einen Schnaps?“

Er überlegte, ob man auch mit Kaffee oder Schnaps jemanden vergiften konnte, erachtete die Gefahr aber als gering.

„Ja, gerne“, sagte er daher. „Wenn es dir nicht zu viel Mühe macht, hätte ich gern beides.“

„Natürlich, nein, das macht mir überhaupt keine Mühe“, sagte Gerlinde und sprang auf.

Sie tranken Kaffee und Steinhäger, den kräftigen Klaren, den man hier zu allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten trank.

„Möchtest du noch einen?“, fragte sie und hob die Flasche, aber er lehnte mit dem Hinweis darauf, dass er noch Auto fahren müsse, ab.

„Oh natürlich, sagte Gerlinde sofort und erhob sich. Ich will dich auch nicht länger aufhalten, deine Freundin wartet sicher schon auf dich.“

„Ja“, sagte Hubert, „aber es war wirklich schön mit dir. Ich danke dir für den Heringssalat, den macht keine so gut wie du.“

Sie errötete dezent und lächelte. „Danke, Hubert, das ist nett, dass du das sagst.“

„Nein, nein“, wehrte er ab, „was wahr ist, muss auch wahr bleiben.“

Er hatte schon seinen Mantel an, als ihm etwas einfiel.

„Sag mal, du hast mir doch geschrieben, dass du Hilfe brauchst. Wobei denn?“

„Oh das“, sagte sie. „Ja, tatsächlich. Es ist nicht wichtig, du bist jetzt schon spät dran und es hat angefangen zu schneien. Bis nach Bielefeld wirst du eine ganze Weile brauchen.“

„Das macht nichts“, widersprach er. „Komm schon, sag, was ich für dich tun kann.“

„Ach, nur eine Kleinigkeit. Das Kellerlicht geht seit einiger Zeit nicht mehr. Vermutlich ist nur die Birne kaputt, aber du weißt ja, ich habe schon im Hellen immer Angst vor diesem alten Keller.“ Gerlinde lachte verlegen und wurde wieder etwas rot.

„Ist doch kein Ding“, sagte Huber, „das ist schnell erledigt. Hast du Ersatzbirnen und eine Taschenlampe?“

„Eine Taschenlampe habe ich nicht, kann aber zum Nachbarn rüber laufen und eine ausleihen, wenn du sie dringend brauchst.“

„Ach was“, sagte Hubert, „das geht auch so. Wo ist die Birne?“

„Die habe ich schon rausgesucht, hier liegt sie“, sagte Gerlinde und reichte sie ihm vom Schuhschrank. „Aber wirklich nur, wenn du meinetwegen nicht in Schwierigkeiten gerätst“, rief sie ihm noch nach.

Das hörte Hubert vermutlich nicht mehr. Ihre fürsorglichen Worte gingen unter in dem Lärm, der entsteht, wenn in einem alten Haus in Blomberg eine gemauerte Treppe zusammenbricht, aus der einige Steine gelockert wurden.

„Es tut mir sehr leid, aber ich konnte nichts mehr für Ihren Mann tun“, sagte der noch junge Notarzt. „Er hat sich bei dem Sturz das Genick gebrochen und sicher nicht gelitten, vielleicht tröstet Sie das ein bisschen.“

„Ich danke Ihnen“, antwortete Gerlinde und wischte sich mit einem Papiertuch über die Augen.

„Er wollte diese Treppe schon vor Monaten reparieren, aber dann ist ihm etwas anderes dazwischen gekommen. Wie gut, dass er noch etwas von meinem Heringssalat gegessen hat. Das war sein Lieblingsessen, verstehen Sie?“

„Ah ja“, sagte der Notarzt, „das ist sicher schön für ihn gewesen. Ich muss jetzt die Kripo informieren, aber keine Sorge, das ist reine Formalität bei häuslichen Unfällen.“

„Natürlich, antwortete Gerlinde, „das verstehe ich. Die Adresse haben Sie ja und sein Name steht an der Klingel.

„Ja, Hubert“, sagte sie leiste, während sie in den Keller hinabsah, „nun wirst du doch für alle Ewigkeit hier in Blomberg bleiben müssen, aber das ist nicht schlimm, denn, wie jeder weiß, Bielefeld gibt es nicht.“

Ostwestfalen morden anders

Подняться наверх