Читать книгу Ostwestfalen morden anders - Bianca Schilsong - Страница 6
ОглавлениеRosemary White
Die Paderborner Morde
Enttäuscht schaltete Emily das Radio aus. Den ganzen Tag über hatte der Nachrichtensprecher gleich zu Beginn der Sendung das Ergebnis der Abstimmung Soll der Bücherbus weiterfahren? Ja oder Nein? vorgelesen.
Sie goss den heißen Kaffee in die Thermoskanne und stellte sie auf das vollgeladene Tablett.
Beim Anblick des schwarzen Kaffees musste sie unwillkürlich an das dicke schwarze Kreuz denken, dass sie auf ihrem Stimmzettel bei Ja gemacht hatte. Niemals hätte sie sich vorstellen können, dass der Bücherbus nicht mehr fährt. Aber irgendwelche Banausen hatten offensichtlich doch die andere Möglichkeit, nämlich Nein, angekreuzt.
Sie balancierte das Tablett quer durch das Gemeindezentrum, bis ans andere Ende des Flurs. Dabei kündigte das leise Klirren der Porzellantassen allen in der Bastelgruppe die heißersehnte Kaffeepause an.
Emily erhaschte noch einen kurzen Blick aus dem Flurfenster, vor dem im Licht der Straßenlaternen dicke Schneeflocken wie ein weißer Vorhang sanft zu Boden glitten. Die ersten in diesem Winter, dachte sie und lächelte. Von Ferne schlug die Domuhr Vier, und Emily betrat den hellerleuchteten Raum.
Die anwesenden Herrschaften befanden sich mitten in einer lebhaften Diskussion über das hochaktuelle Thema – den Bücherbus.
„Ah, unsere gute Fee!“, rief Herr Schneider, ein ehemaliger Orgelbauer und einziger Mann unter den fünf rüstigen Rentnerinnen. Dabei breitete er seine Arme aus, als hätte er gerade einen Rockstar angekündigt.
Emily, die sich stets gerne im Gemeindezentrum nützlich machte, war allerdings weit entfernt von dem, was man landläufig als glamouröse Erscheinung bezeichnen würde. Mehr als ein verlegenes Lächeln brachte sie nicht über sich. Sie wirkte eher wie ein verschüchtertes kleines Mädchen, als eine lebenslustige Vierunddreißigjährige.
Niemand hatte sie jemals in einem anderen Outfit erlebt, als dem wallenden Faltenrock, der ihr fast bis zu den fellgefütterten Winterschuhen reichte. Zudem war sie stets in eine beigefarbene Strickjacke gehüllt, deren Rautenmuster die einzigen Erhebungen auf ihrem sonst flachen Körper formten. Eine große Brille und kinnlange, braune Haare schirmten das Gesicht hermetisch nach außen ab. Dabei hatte sie sehr schöne, haselnussbraune Augen.
Emily schenkte den Kaffee aus, und Frau Freese, die den Apfelstrudel erst vor zwei Stunden frisch aus dem Ofen gezogen hatte, reichte ihn voller Stolz von einem zum anderen. Bald war der ganze Raum erfüllt vom wohlig warmen Duft des frischgebrühten Röstgetränks und frischem Gebäck. Eine wunderbare vorweihnachtliche Stille breitete sich aus, während alle Anwesenden die Köstlichkeiten genossen.
Fräulein Pöppelmann, die ehemalige Lehrerin an der Grundschule, griff nach einem weiteren Kuchenstück und ließ, um von diesem Umstand etwas abzulenken, die Diskussion erneut aufflammen.
„Trotzdem dürfen wir die Jungen und Alten in den Dörfern nicht vergessen“, dozierte sie, als hätte sie Erstklässler vor sich sitzen. Und nachdem niemand im Raum reagierte, fügte sie etwas verärgert hinzu: „Die, die keinen fahrbaren Untersatz haben, meine ich. Außerdem, was soll denn der arme Fahrer jetzt machen? Er hat doch bestimmt keine Arbeit mehr.“ Sie blickte fragend in die Runde.
Herr Schneider, der direkt neben ihr saß, nickte beifällig und nahm sich ebenfalls noch ein Stück Kuchen.
Die anderen vier Damen, alle in ihren Siebzigern, und Emily schwiegen zunächst. Ihnen schien bei dem letzten Satz das trockene Stück Kuchen wie ein Kloß im Halse festzustecken.
Emily umfasste ihr Stück Strudel zärtlich mit beiden Händen, als könnten die Wärme und der Duft etwas von ihrem Liebeskummer nehmen.
Sie hatte Erwin vor sechs Monaten zum ersten Mal gesehen, damals als sie das erste Mal den Bücherbus betreten hatte. Seitdem war Erwin, der Bücherbusfahrer, zu ihrem Lebenselixier geworden, wenn er jeden Montag Halt vor dem einsamen Gehöft machte, in dem sie und ihre bettlägerigen Eltern wohnten. Eine ganze Stunde lang hatte sie dann in seinem Bus zugebracht und ihn heimlich beobachtet, wie er ihren selbstgebackenen Kuchen aß und den mitgebrachten Kaffee trank. Ein echtes Highlight.
Frau Ahrens‘ schriller Einwand riss Emily aus ihren Gedanken.
„Ich fand den Bücherbus schon lange überflüssig!“ Sie fuchtelte mit der Kuchengabel in der Luft herum. „Die jungen Leute von heute lesen doch gar nichts mehr und wenn, dann nur noch irgendwelchen Kram auf ihren Handys.“ Mit diesen Worten spießte sie ein Stück Kuchen auf und schob es sich in den Mund.
Von der Vorrednerin tief beeindruckt, trauten sich jetzt auch die anderen Drei ihre offensichtliche Wahl zu rechtfertigen. Frau Schultheiss und Frau Freese stimmten gemeinsam einen Kanon an, in dem sie den Bücherbus als lästige Konkurrenz zu ihrer kleinen Bibliothek im Pfarrheim verunglimpften. Und sie seien beide froh, dass dieser Zigeunerwagen, wie sie ihn nannten, endlich weg ist.
Frau Meyers brüstete sich sogar, nicht einmal an der Abstimmung teilgenommen zu haben. So wenig hätte sie die Angelegenheit interessiert. „Ich lese nur das Gemeindeblättchen und einige Kirchenveröffentlichungen. Mehr machen meine Augen nicht mit.“ Sie bremste sich allerdings an der Stelle, weil sie an den abfälligen Blicken einiger Augenpaare zu erkennen glaubte, dass sie sich mit dieser Aussage höchst selbst ins Abseits der dümmlichen Wenig- bis Nichtleser katapultiert hatte.
„Und Sie?“ Die pensionierte Lehrerin blickte Emily freundlich an. „Möchten Sie uns vielleicht auch Ihre Meinung mitteilen?“
Aber statt zu antworten schüttelte Emily am anderen Ende des Tisches nur den Kopf, stand auf und fing an, eilig das Kaffeegeschirr zusammen zu räumen.
„Ach, sie ist bestimmt verliebt und hat heute noch was vor, nicht wahr Emily?“, flachste Herr Schneider und zwinkerte ihr verschwörerisch zu.
Das wiederum konnte sich keine der anwesenden Seniorinnen ernsthaft vorstellen, darum quittierten sie Schneiders Bemerkung mit einem gequälten Lächeln und wandten sich eiligst ihren Bastelarbeiten zu. Emily stapfte derweil mit dem Tablett voll schmutzigen Geschirrs zurück in die Küche.
Eine Stunde später verabschiedete sich die Gruppe draußen auf dem Parkplatz. Es hatte aufgehört zu schneien, und die Sterne funkelten am schwarzen Firmament, als wollten sie die Menschen auf das bevorstehende Weihnachtsfest einstimmen.
„Bis nächsten Donnerstag“, schallte es allenthalben und alle winkten Emily zum Abschied noch einmal zu. Emily winkte von der Treppe aus zurück. Danach schloss sie die Tür von innen ab. Sie würde noch die Küche aufräumen und dann auch nach Hause fahren. Ihre Eltern warteten bestimmt schon ungeduldig.
Herr Schneider schob mit bloßen Händen die weiße Pracht von seinem Auto, Fräulein Pöppelmann schob mit ihrem Fahrrad lustige Spuren in den Neuschnee und die restlichen Damen tapsten schnatternd in die entgegengesetzte Richtung. Anscheinend hatten sie vor, die Abkürzung durch die spärlich beleuchteten Paderquellen zu nehmen. In diesem Moment ahnte niemand von ihnen, dass dieser Winter einer der härtesten werden sollte, den Paderborn je erlebt hatte.
Drei Tage später saß Frau Meyers in ihrer gemütlichen Küche und schaute aus dem Fenster. Heute hatte sie ein Gedeck mehr aufgelegt, denn ihr Enkel Holly hatte sich spontan zum Frühstück angekündigt. Seit er die Stelle als Kommissaranwärter auf der hiesigen Polizeiwache bekommen hatte, schaute er öfter mal auf einen Plausch vorbei.
Der heftige Frost der vergangenen Nacht hatte den schneebedeckten Paderwall mit einem Netz aus glitzernden Eiskristallen überzogen, die in der Wintersonne wie Brillanten aufblitzten.
Noch war keine Menschenseele zu sehen. Aber das war nicht ungewöhnlich für einen Sonntagmorgen.
Während sie auf Holly wartete, lauschte Frau Meyers ihrem Lieblingssender Radio Hochstift, sang dann und wann fröhlich die gesendeten Weihnachtslieder mit und entzündete drei Kerzen am Adventskranz.
Der Gong für die 8-Uhr-Nachrichten erklang, und sie schob den Lautstärkeregler am Radio höher.
„Heute in den frühen Morgenstunden machten Anwohner an den Paderquellen einen grausigen Fund. In dem eisigen Gewässer lag eine Frauenleiche, die offenbar zuvor mit einem schweren Stein erschlagen worden war. Sachdienliche Hinweise…“
Das schrille Läuten der Türglocke riss Frau Meyers aus ihrer Erstarrung. So etwas in Paderborn, dachte sie, und da kannte sie noch nicht die ganze Wahrheit.
Wenige Minuten später saß Holly am Frühstückstisch und biss in ein Marmeladenbrötchen: „Hast du einen Verdacht?“, fragte er seine Oma und hielt Stift und Block bereit, um sich alles zu notieren, so wie er es sich bei seinem Chef, Kommissar Rinke, abgeschaut hatte.
Die alte Dame zuckte ratlos mit den Schultern. „Wer um Himmels Willen sollte einer meiner Freundinnen nach dem Leben trachten?“ Sie schüttelte bekümmert den Kopf. „Und das eine Woche vor Heiligabend. Die arme Frau Freese.“
Als Holly sich verabschiedete nickte er Richtung Anrufbeantworter. „Da blinkt was.“
„Ach, das war gestern Abend. Wer was will, soll wieder anrufen“, winkte seine Oma ab. Sie war viel zu aufgeregt von den außerordentlichen Neuigkeiten, als dass sie sich um so banale Dinge wie verpasste Anrufe hätte kümmern wollen. Ihr stand jetzt mehr der Sinn danach, selbst herumzutelefonieren.
Am darauffolgenden Donnerstag hatte der Winter die Paderborner noch immer fest im Griff. Die Fußgänger mussten sich mit den Autos die Straße teilen, weil die Gehwege von den Räumfahrzeugen mit Schneebergen zugeschüttet worden waren.
Nur Fräulein Pöppelmann, Herr Schneider und Emily hatten es pünktlich zur Bastelgruppe geschafft und saßen bei Kaffee und Kuchen zusammen. An Basteln allerdings war nicht zu denken. Sie hatten nur ein Thema: der frei herumlaufende Frauenmörder. Seit Frau Freeses Ableben in den Paderquellen, dort wo die dicken Steine liegen, hatte Frau Meyers aus erster Hand erfahren, dass sich eine weitere Tragödie ereignet hatte.
Vor zwei Tagen war die Zeitungsbotin im Dunkeln über einen steifgefrorenen Körper gestolpert, der quer vor einem Hauseingang gelegen hatte. Sie hatte im Dunkeln zunächst geglaubt, auf einen umgefallenen, noch verpackten Weihnachtsbaum getreten zu sein.
Als der Notarzt wenig später Frau Schultheiss in die stabile Seitenlage rollen wollte, sahen alle im Schummerlicht der Außenleuchte das Brotmesser, das jemand der armen Frau mit brutaler Wucht in den Hals gerammt hatte.
Als endlich auch Frau Meyers und Frau Ahrens ankamen, trampelten sie den Schnee von den Stiefeln, hängten ihre vollgeschneiten Mäntel und Mützen an den Garderobenständer und holten sich aus der Küche Kaffee und Kuchen, den man freundlicherweise für sie beiseite gestellt hatte. Wer genau, konnte zunächst nicht ermittelt werden.
Keine fünf Minuten nachdem der Notruf eingegangen war, rannten Kommissar Rinke und ein aufgebrachter Holly die Stufen zum Gemeindezentrum hoch. Zwei Polizeibeamte folgten ihnen.
Rinke schickte sofort einen Beamten los, die Räume nach weiteren Personen abzusuchen. Den anderen postierte er neben Frau Ahrens, die vornüber auf ihrer zersplitterten Kaffeetasse lag und ihre entsetzten Bastelkollegen mit gebrochenem Blick ansah. Es kam ihnen allerdings eher so vor, als starrte die Tote durch sie hindurch.
„Das war Gift, oder?“ Holly zeigte auf den weißen Schaum um Frau Ahrens‘ Mund.
Unaufgefordert tat Herr Schneider einen Schritt vor und sagte kleinlaut: „Den Kuchen habe ich mitgebracht. Heute Morgen habe ich ihn selbst gebacken.“ Er stand da, wie ein kleiner Junge, den eine Tracht Prügel erwartete. Als der Kommissar ihn wortlos musterte, trat Schneider wieder zurück in die Reihe der anderen und fragte sich, was um alles in der Welt ihn geritten hatte. Er wünschte sich, er hätte einfach seinen Mund gehalten.
„Vermutlich der Kaffee“, sagte der Kommissar und bedeutete dem Beamten mit einer lapidaren Handbewegung, die Thermoskanne und deren Inhalt zu sichern.
Der Andere war noch immer auf der Pirsch durch alle Räume. In der Küche erwischte er Frau Meyers, die mit irgendetwas in der Spüle herumhantierte.
„Was machen Sie da?“
Frau Meyers fuhr zusammen und versteckte einen Gegenstand hinter ihrem Rücken.
„Nichts!“ Frau Meyers lief rot an.
Er winkte sie unmissverständlich heran. Frau Meyers wusste, dass nun die Wahrheit ans Licht käme. Widerwillig zeigte sie dem Polizisten ihr Geheimnis.
„Eigentlich ist es zu schade zum Wegwerfen, naja und ja auch Sünde…“, druckste sie herum und ihr Gesicht war nun tiefrot gefärbt, „…aber ich bin auf Diät.“ Dann überwand sie ihre Scham und streckte ihm tatsächlich den Kuchenteller hin. „Vielleicht mögen Sie das essen?“ Die alte Dame lächelte verlegen.
Dem Beamten dämmerte es langsam, dass er der Großmutter seines zukünftigen Chefs gegenüber stand und nahm deshalb das Angebot dankend an, nicht zuletzt, weil er Hunger hatte, bis unter beide Arme. Er biss herzhaft in das fluffige Backwerk.
Zunächst dachte Frau Meyers, er hätte sich verschluckt, als er sich an den Hals fasste und mit erstickter Stimme etwas stammelte, das sie nicht verstand. Dann taumelte der Hüne einige Schritte durch den Flur und fiel, wie ein gefällter Baum, der Länge nach um.
Gelblich-weißer Schaum, mit Schokokrümeln gespickt, quoll aus seinen Mundwinkeln. Es war das Letzte, das Frau Meyers noch wahrnahm, dann kippte auch sie um und blieb regungslos auf den Küchenfliesen liegen.
Der Bestatter schien etwas enttäuscht, hatte er doch gehofft, nach Frau Ahrens und dem Polizisten auch noch die Leiche von Frau Meyers mitnehmen zu dürfen. Stattdessen hatte man den Körper auf einen der Küchenstühle gehievt und befächelte ihn von allen Seiten mit Geschirrtüchern. Als ihr bewusst geworden war, dass der Giftkuchenmörder es auf sie abgesehen haben musste, war Frau Meyers vor Schreck in Ohnmacht gefallen.
„Emily, würden Sie sich bitte solange um meine Oma kümmern, bis ich hier fertig bin?“, hatte Holly Emily gefragt.
„Aber selbstverständlich“, hatte Emily geantwortet und ihm ein Lächeln geschenkt, während sie sich die Gummihandschuhe übergestreift und schmutziges Geschirr in die Spülmaschine geräumt hatte. Holly war überrascht, wie sehr ihn dieses Lächeln berührt hatte. Er konnte nur noch nicht genau sagen, welches Gefühl es in ihm auslöste.
Frau Meyers, die ihre Fassung schnell wiedererlangt hatte, ergoss sich derweil in einem nicht enden wollenden Wortschwall, was ihr alles hätte passieren können. Vom Vergiftet werden bis hin zum Ohnmachtsanfall, bei dem sie sich leicht hätte den Kopf aufschlagen oder das Genick brechen können - alles war dabei.
Emily hörte wie immer geduldig zu. Sie zog die lange gewellte Klinge des Brotmessers vorsichtig durch Daumen und Zeigefinger, um die Schokoreste abzuschlecken. Sie überlegte kurz, ob sie das Messer in den Block auf der Anrichte hinter Frau Meyers schieben sollte. Aber dazu hätte sie sich an der üppigen Frau vorbeizwängen müssen oder sie bitten, ihren Stuhl etwas vorzurücken. Und wenn sie dabei in ihrem wackeligen Zustand stürzte…
Schließlich zwängte sie sich doch an Frau Meyers vorbei, schien es sich noch einmal zu überlegen, denn sie hielt kurz inne. Langsam drehte sie sich zu der unentwegt schnat-ternden Seniorin um. Die hatte ihr den Rücken zugewandt. Emily konnte nicht anders. Sie hob das Messer wie in Trance mit beiden Händen bis weit über ihren Kopf, zielte und…
In diesem Augenblick drang ohrenbetäubendes Scheppern aus dem Nebenraum. Holly war über zwei Zinkeimer gestolpert, als er die Tür aufgestoßen hatte und wie ein angriffslustiger Tiger Emily von hinten angesprungen und zu Boden gerissen hatte.
Seine Oma wunderte sich ein wenig, warum sich ihr Enkel und Emily ineinander verkeilt auf dem Boden wälzten. Durch den Lärm aufgeschreckt eilte auch Rinke hinzu und entriss der jungen Frau das Messer.
„Danke, Chef! Keine Sekunde zu früh!“, keuchte Holly und klopfte sein Sakko glatt.
„Woher wussten Sie, dass es Emily war?“ Der Kommissar konnte eine gewisse Bewunderung in seiner Stimme nicht verbergen.
„Das wusste ich gar nicht! Ich hatte mir erst nichts dabei gedacht.“ Holly hockte sich neben seine Oma, die jetzt stumm und wie ein Häufchen Elend auf dem Stuhl hockte. „Du weißt doch noch“, begann er sanft, „dass ich dich beim Frühstück am Sonntag nach dem Blinken auf dem Display gefragt hatte, und du mir sagtest, du hättest das Telefonklingeln am Abend zuvor nicht gehört. Du warst wieder mal vor dem Fernseher eingeschlafen.“
Frau Meyers seufzte. Sie war noch immer ganz benommen.
„Und heute Morgen fand ich genau dieselbe Telefonnummer auf den Anruflisten von Frau Freese und Frau Schultheiss. Der Mörder hatte es irgendwie geschafft, sie so spät abends noch aus dem Haus zu locken.“ Holly machte eine kurze Pause, dann zeigte er zum Flur. „Die Anrufe kamen vom Münztelefon hier im Gemeindezentrum.“
„Na, das nenn ich mal einen gesunden Schlaf!“ Rinke lachte schallend über seinen Witz. Jedoch als einziger.
Emily versuchte noch immer, sich aus Rinkes festem Griff zu winden. Sie schrie aus Leibeskräften: „Alle hatten sie es verdient! Alllleeee!“
Frau Meyers jagten kalte Schauer über den Rücken, als sie in die wutverzerrte Fratze der jungen Frau blickte. Es war wie die Fratze des leibhaftigen Teufels, wie sie später allen erzählte.
Emily schäumte: „Ihr habt mein Leben für immer zerstört!“ Noch ein letztes Mal versuchte sie sich loszureißen, aber das kalte Metall der Handschellen umringte mit einem Klicken fest ihre zarten Handgelenke.
Ach Erwin, könnte ich dich noch ein einziges Mal sehen, wimmerte sie in sich gekehrt. Tränen unendlicher Verzweiflung quollen aus ihren Augen und über ihre Wangen.
In das Stimmengewirr mischte sich das Quietschen der Eingangstür. Jemand war hereingekommen und ging den Flur entlang auf die Gruppe zu. Sie konnte ihn durch den dichten Tränenschleier erst nicht richtig sehen. Doch dann…. Sie war fassungslos. „ERWIN!“
„Ja“, strahlte der junge Mann und fügte vergnügt hinzu: „Ab heute bin ich hier im Gemeindezentrum der neue Hausmeister.“
Und sie erkannte, sie würde niemals mehr aus diesem Albtraum erwachen.