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|10|Kindheit im Künstleratelier (1929–1940) Schwabing, Schule, Nationalsozialismus

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Michael Ende wurde am Mittwoch, den 12. November 1929 um 17.15 Uhr im Krankenhaus der Gemeinde Garmisch geboren. Er kam in einer schweren Geburt mit Kaiserschnitt zur Welt und war das einzige Kind seiner Eltern, der 38-jährigen Ladeninhaberin Luise Ende und des 28-jährigen Malers und Bildhauers Edgar Ende. Er selber würde wahrscheinlich noch hinzufügen, dass das Geburtsdatum zum Sternzeichen des Skorpions gehört. Sein Leben endete am 28. August 1995 um 19.10 Uhr in der Filderklinik bei Stuttgart. Eingetragen ins Meldeamt der Stadt wurde er mit den Vornamen Michael Andreas Helmuth. Den Namen Andreas entnahmen die Eltern einem Gedicht, das der Graphiker und Autor Karl Thylmann für seinen Sohn schrieb, bevor er in den Ersten Weltkrieg ziehen musste. Helmuth war der Name des jüngeren Bruders von Edgar Ende.

Schilderungen individueller Kindheit folgen der subjektiven Erinnerung. Sie können also in weiten Teilen nicht mehr sein als Kompilation, Strukturierung, ein Weiterspinnen und Deuten von persönlichen Rückblicken. Auch diese Biographie orientiert sich an Kindheitserinnerungen von Michael Ende, wie er sie in Gesprächen und Veröffentlichungen wiedergab. Hinzu kommen vermutete Kindheitsreminiszenzen innerhalb seines schriftstellerischen Werkes, besonders seiner Kinder- und Jugendbücher. Als weitere Quelle dienen die 1990 erstmals erschienenen Erinnerungen seines Jugendfreundes Peter Boccarius. Hinweise zu Umgebung und Lebensgefühl von Michael Endes Kindheit bietet auch das Text- und Bildmaterial, das Roman Hocke zur Verfügung gestellt hat.

|11|Michael Endes Eltern sind, was man ein interessantes Paar nennt. Ihre Schicksale, ihre Ehe und ihre Elternsorge prägen den Sohn. Er bleibt für Vater wie Mutter bis ins Mannesalter ein naher Gefährte mit großem Zugehörigkeitsgefühl. Für die Mutter ist er zeitlebens der bedingungslos, besitzergreifend geliebte Junge. Zum Vater findet er nach schwierigen Jahren ein mühsam errungenes partnerschaftliches, von gemeinsamen künstlerischen Zielen geprägtes Verhältnis.

Als die Eltern sich 1928 begegnen – Edgar Ende flüchtet vor einem Regenguss in das Geschäft von Luise Bartholomä –, ist er von Hamburg kommend auf der Suche nach einem geliebten Mädchen, das man besorgt in ein bayerisches Internat gebracht hatte. Ähnliches wird später auch dem Sohn widerfahren. Die Geschäftsfrau lädt den hochgewachsenen jungen Mann nach Ladenschluss in ihre Wohnung im ersten Stock ein. Sie beschließen, zusammenzubleiben. Nach der Verlobung folgt am 22. Februar 1929 die Heirat.

Michael Endes Mutter blickt zu diesem Zeitpunkt auf ein wechselhaftes Leben zurück. Sie wuchs nach dem Tod der Eltern in einem Waisenhaus im Saarland auf. Ihre achtzehn Jahre ältere Halbschwester aus der ersten Ehe ihres Vaters arbeitet in Palästina als Diakonissin in Krankenpflege und Sozialarbeit. Sie holte Luise Bartholomä für kurze Zeit zu sich. Im Ersten Weltkrieg arbeitete die junge Frau in Deutschland als Krankenschwester. Später richtete sie einen Laden und eine kleine Manufaktur für Spitzenwäsche im Rheinland ein. Seit ihrer Kindheit vom leistungsorientierten Protestantismus wie von schwärmerischer Mystik religiös beeinflusst, gehörte sie bald zu den Anhängerinnen von Johannes Müller. Der evangelische Theologe verkündete ein von der Kirchendoktrin befreites Christentum und entwarf ein ethisch-religiös untermauertes Lebensprogramm, das er in dem 1916 eröffneten Schloss Elmau mit illustren Gästen zu verwirklichen anstrebte. Müller vertrat rassistische antisemitische Ansichten, die sein Wirken bis heute belasten. Luise Bartholomä folgte seinen Ideen von der Aufhebung gesellschaftlicher Schranken und eines gesunden, luxusfernen Lebens. Sie ließ sich in Garmisch nieder und eröffnete hier einen Laden mit Spitzen, Halbedelsteinen und kleinen Pretiosen, für das sich in den zwanziger Jahren in dem aufstrebenden Ferienort von Künstlern, |12|Schriftstellern und Theaterleuten zunächst genügend Kundschaft fand. Sie war also eine erfahrene Geschäftsfrau mit kunstgewerblichen Fähigkeiten und dem Wunsch nach geistiger Lebensdeutung. Das Zusammenleben mit einem neun Jahre jüngeren, gut aussehenden und vielversprechenden Künstler, die Geburt des gesunden Sohnes im fortgeschrittenen Alter müssen für sie ein fast übergroßes Glücksversprechen gewesen sein; als dessen dunkle Seite stellten sich bald unstillbare Verlustängste ein.

Edgar Ende wuchs mit seinem Bruder Helmuth in Altona auf, wurde zunächst Dekorationsmaler, später Student der Kunstgewerbeschule Altona und der Hamburger Hochschule für Freie und Angewandte Kunst. Ab 1921 verzeichnete er erste künstlerische Erfolge. Eine 1922 geschlossene Ehe wurde vier Jahre später geschieden. Als er 1928 nach Garmisch zieht, wohnt er zunächst in der Pension Nirwana, einem der Feriendomizile von Literaten wie Thomas und Heinrich Mann.

Was bewegte ihn, die Suche nach der jungen Geliebten aufzugeben, eine neun Jahre ältere Geschäftsfrau ohne künstlerischen Hintergrund zu heiraten und spätestens nach der Geburt des Sohnes Michael eine Rückkehr nach Altona nicht mehr in Betracht zu ziehen? Wahrscheinlich bot ihm die dunkelhaarige, kleine und lebhafte Frau in einer Krisensituation der Ratlosigkeit ein Heim, eine Zuflucht, war halb beschützend, halb schutzbedürftig, und er versprach sich von dieser Mischung aus Liebe und Vernunft eine Lebensperspektive. Denn die temporär vorhandene Künstleratmosphäre in Garmisch, der Freundeskreis seiner Frau, ihre Energie boten gute Aussichten für seine künstlerische Arbeit, die Luise Bartholomä von nun an bedingungslos unterstützte.

Das junge Ehepaar mit Kind wohnt im Bunten Haus in der heutigen Bahnhofstraße von Garmisch über dem Laden der Frau. Das große einstöckige Eckhaus, das 1987 baulich stark verändert wurde, beherbergt in Erdgeschoss und Flur einige Läden, darunter auch eine Leihbücherei. Im ersten Stockwerk befinden sich Wohnungen. Das Haus ist eine Lebensgemeinschaft. Man kennt sich, besucht sich, unternimmt etwas gemeinsam. Der kleine Michael Ende ist Kind im Hause, nicht nur in der Familie. Der Dackel des Ehepaars Staackmann – er ehemaliger Offizier, sie Inhaberin der gewerblichen Leihbücherei |13|– ist der erste Hund, mit dem er spielte. Haustiere gehörten fortan zu seinen Vorstelllungen vom guten Leben.

Obwohl der Vater oft unterwegs ist, herrscht in der Familie eine enge – nicht nur durch die Wohnlage bedingte – Nähe. Väterliche und mütterliche Arbeit, die sorgsame Betreuung des Kleinkindes, ein bescheidenes geselliges Leben in den finanziell schwieriger werdenden dreißiger Jahren – das alles lässt sich in den ersten Ehejahren und Lebensjahren des Kindes noch harmonisch miteinander verbinden. Man spricht viel miteinander, liest vor, spielt mit dem kleinen Jungen im Haus, im Hof, auf der Straße und in der Natur. Michael Ende erinnerte sich später an sein Staunen angesichts von Dampflokomotive und Eisenbahn und an die ersten Skilaufversuche im Hof des Hauses. Es gibt eine Anekdote, nach der das durch die Geschäftsbeziehungen der Mutter im Nahen Osten bestellte Spitzenkleid zur vorgesehenen Taufe zweimal zu klein war, weil das Baby so schnell wuchs, und man sich daher gegen die Taufe entschied – eine wunderschöne Geschichte zur Erklärung, warum der Sohn der religiösen Mutter und des aus der Evangelischen Kirche ausgetretenen Vaters ungetauft in die Münchner Christengemeinschaft kam.

Garmisch bietet der kleinen Familie zunächst eine Heimat mit bescheidener Existenzgrundlage, aber nicht das, was sich der Vater angesichts der vielen Künstler in der Region vielleicht versprochen hat: gute Rahmenbedingungen für seine Arbeit, Austausch mit anderen Künstlern, Beziehungen zum Kunsthandel, solvente Käufer unter den Gästen des Ferienortes. Edgar Ende will nach München, der damaligen deutschen Kunstmetropole. Künstlerkollegen und Kritiker machen ihm Mut. Luise muss das einsehen. Sie löst ihr Geschäft in der Erwartung auf, dass der sich langsam abzeichnende Erfolg ihres Mannes eine neue Existenz in München ermöglicht. Für den Vater ist es ein Ruf zur Kunst. Die Mutter erhofft gesellschaftlichen Aufstieg, denn die angesteuerte Adresse ist vielversprechend.

Der kleine Junge verlässt Garmisch, in das er später – zuerst als Schüler in den letzten Kriegsjahren und dann als erfolgreicher Bestsellerautor – wieder zurückkehren wird. Aber die Zeitgeschichte, die Michael Ende erlebte oder aus Erzählungen erfuhr, ließ Garmisch, seit 1935 im Zuge der Gemeindezusammenlegung Garmisch-Partenkirchen, nicht zum literarischen Ort werden. Michael Ende besaß |14|nach eigenen Aussagen kein lokales oder geographisches Zugehörigkeitsgefühl. Er definierte Heimat anders.


1931 vor dem Bunten Haus in Garmisch

Die Stadt Garmisch-Partenkirchen ehrt ihren Sohn bis heute. 1990 pflanzte Ende im Kurpark, der seit 2009 seinen Namen trägt, eine Linde. Zu seinem 70. Geburtstag wurde 1999 eine Gedenktafel an seinem ersten Wohnhaus, heute Bahnhofstraße 43, angebracht. Seit 2004 kümmert sich die hier beheimatete Phantastische Gesellschaft (s. Website „Phantastische Gesellschaft“) um Leben und Werk des Autors. Im Kurhaus wird seit 2007 die Dauerausstellung „Der Anfang vom Ende“ gezeigt. Sie ist den Hauptwerken und Lebenszeugnissen Michael Endes gewidmet. In Teilen des Parks sind landschaftsgerecht Motive aus Ende-Büchern zu Skulpturen und Ruheplätzen geworden. Und im Sommer jeden Jahres gehören Ende-Veranstaltungen zum Kulturangebot der Stadt.

Im Spätherbst 1931 zieht die Familie in das Parterre der 1905 bis 1909 gebauten Villa des Bildhauers Joseph Floßmann, die von der Witwe an Künstler vermietet wird. Die Villa lag in einem damals |15|noch an vielen Stellen unbebauten, verwilderten Areal in Münchner Vorortlage in Obermenzing. Die damalige Adresse lautete Prinzregentenstraße 15, heute Marsopstraße 19. Wer diese Straße mit ihren Schatten spendenden Baumreihen am Würmkanal entlanggeht, kann den von viel Vergangenheit gesättigten Zauber nachempfinden. In Michael Endes früher Kindheit gab es hier verwunschene Orte. Da waren das große Haus, ein Park, nicht kultivierte Wiesen und ein kleines Gehölz. Hier spielten Nachbarskinder, bald Freund und Feind, in einer unkonventionellen Wohngemeinschaft. Der Wechsel der Jahreszeiten wurde zur Lebenserfahrung und bot Räume für neue Spiele. Für das Vorschulkind Michael Ende war diese verzauberte Welt der Jugendstilvillen und Exzentriker Kinderparadies und Schrecknis zugleich.

Für den Vater beginnt in der Ateliergemeinschaft mit anderen Künstlern eine intensive Schaffensperiode. 1931 findet er neue Anregungen auf einer Italienreise – fortan ein Traumziel für Vater und Sohn. 1932 kauft der Staat Bayern einige Bilder von ihm. Auch im Großbürgertum Münchens findet er Käufer. 1934 sind zahlreiche seiner Gemälde auf einer internationalen Ausstellung in Pittsburgh (USA) zu sehen. Es scheint nun stetig bergauf zu gehen. Für ein paar Jahre erlebt Michael einen erfolgreichen, optimistischen Vater und eine zufriedene Mutter.

In der Nachbarvilla leben Hildegard und Ernst Buchner mit drei Töchtern und einem Sohn, mit Köchin und Hausfaktotum ein ungezwungenes, mondän-großzügiges Leben. Hier wird der Junge erstmals mit einer anderen Frauenrolle bekannt als derjenigen seiner ständig besorgten Mutter. Ernst Buchner ist seit 1932 Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen. Als Mitglied des Kampfbundes für Deutsche Kultur steht er den Nationalsozialisten nahe. Er wird es sein, der später aus Freundschaft und Sorge um die Existenz der Familie Ende bei der Bombardierung Münchens durch die Alliierten einige Kunstwerke Edgar Endes zusammen mit den Beständen der von ihm geleiteten Museen in sichere Depots bringt.

Für eine der Töchter entwickelt der kleine Michael Ende eine schwärmerische Zuneigung. Der etwas ältere Bruder Hartmut Buchner wird sein bewunderter Freund. Mit ihm zusammen erobert er die Gegend, besteht Mutproben, heckt er Streiche aus. Hartmut ist |16|der Anführer, Michael lässt sich willig in die Welt der Abenteuer einweisen. Freundschaft gehört seitdem für ihn zum begehrten, immer wieder hergestellten Lebenselixier. Er braucht Freunde, er möchte ein guter Freund sein – bis hin zum Komplizen. Als Freund weiß er, wer er ist.

Boccarius (1995) berichtet, wie Hartmut und Michael eine Straßenbahn entgleisen lassen wollen, wie Karneval gefeiert wird, wie eine Schafherde auf der Wiese campiert und ein Wanderzirkus winterlichen Unterschlupf im Haus der Familie Buchner findet. Die Zirkuswelt – gerade in dieser heroisch-schäbigen Variante – gehört zu Michael Endes frühkindlichen Erfahrungen. Das Motiv wird sich wie ein roter Faden durch seine Geschichten, Dramen und Gedichte ziehen. Der Pagat als Gaukler und Magier ist eine der vielen Identitäten, die er später ausprobieren wird – im Leben wie in der Kunst.

Zum unauslöschlichen Eindruck der frühen Kindheit Michael Endes gehört auch der Maler Franz Reinhard, Fanti genannt, das Faktotum der Familie Buchner. Fantis Gesicht ist verunstaltet. Er ist das, was man hässlich nennt. Darüber wird geredet. Später wird der schöne junge Mann Michael Ende auch die Hässlichkeit zum Thema seiner Literatur machen. Fanti erzählt ihm Märchen, Geschichten, Lebenserfahrungen. Dieses anheimelnde, selbst bei gefährlichen Geschehnissen Vertrautheit und Geborgenheit garantierende Erlebnis will Michael Ende als junger Erwachsener den Kindern seiner Bekannten ebenso vermitteln. Später wird er es zur zentralen Wirkungsabsicht seiner Kinder- und Jugendbücher erklären. Im Playboy-Interview 1983 beschrieb er Fanti so:

„Meine eigentliche Erziehung habe ich durch einen Nachbarn genossen, der ein völlig verrücktes Huhn war. Er war auch Maler. Sein ganzes Haus war bis zur Decke hinauf ausgemalt mit eigentümlichen Märchenbildern. Dieser Mann war Kommunist, schielte wie ein Teufel, weil er sich in seiner Jugend aus Liebeskummer eine Kugel in die Schläfe geschossen hatte, und trug immer so eine Schlägermütze. Die Kinder der Umgebung hingen an dem wie die Kletten, obwohl er nach heutigen antiautoritären Gesichtspunkten als der Inbegriff des Schlimmen gegolten hätte.

|17|Wenn wir etwas angestellt hatten, zum Beispiel haben wir einmal eine Trambahn entgleisen lassen, schätzte er ohne große Emotion ab, was das Verbrechen für eine Strafe verdiente, holte den Kochlöffel und versetzte uns eine genau abgezählte Menge von Schlägen, aber so, daß es weh tat. Wir haben gebrüllt vor Schmerzen. Trotzdem wären wir schwer beleidigt gewesen, wenn er uns nicht verhauen hätte. Wir haben diesen Mann einfach geliebt. – Rückblickend könnte man sagen, diese Zeit war die glücklichste meiner Kindheit.“

(Zit. n. Playboy-Interview 1983, S. 77)

Bevor die Familie Ende im Oktober 1935 aus finanziellen Gründen von Obermenzing nach Schwabing ins Dachgeschoss des Hauses Kaulbachstraße 90 zieht, kommt es zu einem Finale mit einem Höchstmaß an Freundschafts- und Abenteuererfahrung: Hartmut und Michael wollen mit der Dachpappe eines morschen Lusttempels im Park Fackeln bestücken. Die Situation gerät außer Kontrolle. Es kommt zum Brand des Gebäudes und des nahen Waldes. Feuerwehr und Polizei werden eingeschaltet. Die Mütter sind froh, dass den Jungen nichts passiert ist. Man erledigt den Schaden großzügig als Dumme-Jungen-Streich. Michael Ende ist fünf Jahre alt.

Seit zwei Jahren sind die Nationalsozialisten in Deutschland an der Regierung. München ist „die Stadt der Bewegung“, und auch in der Enklave Obermenzing wohnen Anhänger und Nutznießer des faschistischen Regimes. Aber vorerst dringen die Folgen der Machtübernahme noch nicht direkt in das Leben des Kindes ein. Es erlebt den Umzug nach München als behütetes Kleinkind, als Wechsel in eine städtische Umgebung, in eine – ihm vertraute – Gemeinschaft aus väterlichen Kunstfreunden und mütterlichen Bekannten in Nachbarschaft und gleichgesinnten religiösen Kreisen – und als Eintritt in die Schule.

Die Lebensumstände in der ersten Schwabinger Wohnung sind gut belegt. Einen kleinen Eindruck von Michael Endes Umgebung zur Grundschulzeit kann man heute noch gewinnen, wenn man die mit Glasfenstern versehenen Dachwohnungen der ehemaligen Nachbarhäuser betrachtet. Das Künstlerviertel Schwabing der dreißiger Jahre versammelte erfolgreiche wie zeitlebens nicht anerkannte Schriftsteller, Maler, Musiker und deren Entourage in einer von Haus zu Haus |18|fließenden Mischung aus arm und reich, saturiert und verkommen, hoch geistig, kreativ und oberflächlich. Es gab repräsentativ gehaltene Villen, aber die Mehrzahl der Häuser war eher auf eine bestenfalls dekorative Weise vernachlässigt und – wie Michael Ende nie versäumte zu erwähnen – hoffnungslos verwanzt.


Mutter und Sohn 1935

1975 erinnerte sich der seinerzeit in München als Privatdozent tätige Romanist und spätere Friedensaktivist Franz Rauhut an seine Begegnung mit Edgar Ende in Schwabing und an den Lebensstil der Familie:

„Eugen Croissant […] spielte den freundlichen Vermittler, so daß meine Frau und ich bald die bescheidene Atelierwohnung in dem Schwabinger Dachgeschoß betreten konnten, wo Ende mit seiner tapfer zu ihm stehenden Frau Lise und seinem Söhnchen Michael hauste. […] Obwohl mein Leben als Privatdozent notgedrungen bescheiden war, brachte ich die Mittel zusammen, um einen Ende (Die Welle, 1933) zu erwerben; meine Frau führte in das Atelier eine |19|Freundin, Frau Haselberger, die […] das Gemälde von den toten Schwänen kaufte. Zwei Arbeiten auf einmal zu Geld gemacht! Der Schwabinger lud Frau Haselberger, meine Frau und mich zu einem Festessen unter seinem Gebälk ein […].“

(Rauhut 1987, S. 243)

Die Unterkunft der Familie Ende besteht aus einem Dachraum, in den Wohnung und Atelier eingefügt sind. Man lebt in einem Schlafraum für Mutter und Sohn, einer Küchenecke, hauptsächlich aber im Atelier des Vaters, wo er arbeitet und schläft, wo die Familie isst, Besuch empfängt, lange nächtliche Gespräche führt und Feste feiert. Zur Ausstattung gehört seit Michael Endes zehntem Geburtstag ein vom Vater bunt bemalter Schrank mit Motiven nach Daniel Chodowiecki, dem Illustrator des für die Entstehung der deutschen Kinderliteratur wichtigen Almanachs „Der Kinderfreund“, den Christian Felix Weiße auf dem Höhepunkt der europäischen Aufklärung von 1775 bis 1782 herausgab. Bombenangriffe, Umzüge, Italienaufenthalt hat der Schrank überstanden. Heute birgt er im Michael-Ende-Museum der Internationalen Jugendbibliothek in München Dokumente aus dem Nachlass.

In der Schwabinger Wohnung gibt es eine Wasserleitung, einen Kohleofen und für alle Dachgeschossbewohner eine Toilette auf dem Flur. Dieses beschränkte Leben – so mühsam es auch mit heutigen Augen betrachtet erscheinen mag – gewährleistet dem Vater Teilhabe an der Münchner Kunstszene der Gleichgesinnten.

Die Arbeitsweise des Vaters hat Michael Ende später minutiös geschildert. Sie bestimmte den Tagesablauf des Kindes und prägte sich ihm als wichtige, richtige Lebensweise ein, die im Kreis der Familie immer Priorität besaß:

„Vielleicht kann ich es am besten erklären, was gemeint ist, wenn ich einfach seine Arbeitsweise schildere. Das Stichwort hieß: ‚Ich gehe Skizzen machen‘. Das war das Zeichen für meine Mutter und mich, daß der Vater auf keinen Fall gestört werden durfte. Er schloß sich in seinem Atelier ein, meistens verdunkelte er es sogar völlig, legte sich auf das Sofa und konzentrierte sich. Wie er mir einmal erklärte, bestand die Schwierigkeit dieser Konzentration nicht etwa darin, sich auf einen bestimmten Gedanken, auf eine bestimmte Vorstellung zu konzentrieren, sondern auf nichts. […]

|20|Über kurz oder lang – die Dauer dieses leeren Bewußtseins war unterschiedlich – stellten sich Bilder ein […]. Die Bilder waren starr, bewegten sich nicht. […] jedenfalls knipste mein Vater von Zeit zu Zeit ein Lämpchen an und skizzierte auf einem kleinen Notizblock ein solches Bild. Oft kam er von einem solchen ‚Fischzug‘ mit einem ganzen Zettelkasten voller Skizzen zurück […].“

(In: Krichbaum 1987, S. 241–242)

Zu dem in seiner Kindheit so wichtigen Zettelkasten mit den Entwürfen des Vaters wird es später bei dem Autor Michael Ende ein Pendant geben.

Edgar Ende beschäftigt sich – nicht nur im Zusammenhang mit seinem künstlerischen Werk – mit religiösen Fragen, der Lehre Rudolf Steiners, den Grundsätzen der Anthroposophie, aber auch mit okkulten Traditionen, deren Übergänge zum Aberglauben für das Ehepaar Ende und auch für ihren Sohn immer fließend blieben. Michael Endes erstes kindliches Gefühl, dass es Unterschiede zwischen der Welt der Atelierwohnung und der Welt da draußen gibt, manifestierte sich in der bald eingeübten Regel, sie getrennt zu halten. Im Zusammenhang mit der allmählichen Ausgrenzung des Vaters erklärte Michael Ende später:

„Mein Vater war ein schüchterner Mensch. Er war jemand, der von vornherein so etwas wie Lebensangst mitbrachte. Und durch die damalige Zeit war er natürlich erst recht in die Ecke gedrängt. Und für mich wurde das zu einer Erfahrung, die ich nie richtig überwunden habe. Überwunden ist das falsche Wort: die mir geblieben ist als Bewußtseinshintergrund. Diese verschiedenen Welten, wenn Freunde kamen und was dann gesprochen wurde im Haus und was draußen vor sich geht, daß da zwei unvereinbare Welten waren; daß ich um keinen Preis, wenn ich mit meinen Spielkameraden auf der Straße war, irgend etwas, kein Wort von dem sagen durfte, was zu Hause gesprochen wurde. Denn das war mir schon als Kind klar geworden, dass das dann fürchterliche Konsequenzen haben würde. Und dieses Gefühl einer Zweiteilung zwischen einer intimen, familiären, inneren Welt und einer in jeder Hinsicht feindlichen, bösen Welt dort draußen – das ist mir bis zu einem gewissen Grad bis heute geblieben […].“

(Ende/Krichbaum 1985, S. 37)

|21|Diese aus der Kindheit beibehaltene Zweiteilung der Welterfahrung, die sich keineswegs nur auf den politischen Bereich bezieht, ist eine der Wurzeln für Endes lebenslange Suche nach der eigenen Identität, aber auch für die Selbstverständlichkeit, mit der er von der realen Wirklichkeit in die imaginierte Phantasiewelt springen konnte – eine früh geübte Überlebenspraxis. Nur wenige Zeitzeugen weisen darauf hin, dass die hermetische Abgeschlossenheit der Kunstwelt seines Vaters mit den rätselhaften Bildern und der schweren literarischen Kost für ein phantasievolles Kind auch bedrückende, verängstigende Seiten besaß.

Am 10. Februar 1935 zieht der „Völkische Beobachter“ die in der Neuen Pinakothek ausgestellten Werke Edgar Endes in Misskredit. Er schreibt:

„Das ernste künstlerische Bemühen der Ausstellung wird diskreditiert durch eine Reihe ziemlich fragwürdiger Erscheinungen, deren Auswahl bei einer Qualitätsausstellung auf jeden Fall zu Unrecht erfolgt ist. Wir meinen u.a. […] die kühlen, rätselvoll sich gebärdenden Gedankenspielereien Endes, […] und wir könnten noch eine ganze Reihe weiterer Entbehrlicher aufzählen.“

(Zit. n. Boccarius 1995, S. 81)

Dies ist ein Vorbote der in ihrem Ausmaß noch nicht begriffenen Gefahr für den Künstler und den Vater. Am 9. November 1935 findet auf dem Königsplatz in München mit großem Nazi-Pomp die Beisetzung der 16 exhumierten NS-Putschisten statt, die am 9. November 1923 erschossen worden waren. Für Ende ist diese Zeremonie die erste Erfahrung mit dem verführerischen Sog der schwarzen Magie. Sie wird später zum festen Bestandteil seiner Bilderwelt gehören.

Der Vater reagiert auf die politische Entwicklung mit Depression und Verbitterung. Er malt nur noch wenig. 1936 verweigert ihm die Reichskulturkammer den Bezugsschein für Farben. 1937 erhält er Ausstellungsverbot, und seine Werke werden aus öffentlichen Sammlungen entfernt. Samuel Beckett besuchte auf seiner Kunstreise durch das faschistische Deutschland im März 1937 neben anderen Münchner Künstlern auch das Atelier in der Kaulbachstraße. In einem Brief vom 25.3.1937 berichtete er:

|22|„Ich habe ein paar nette Leute getroffen: einen Schauspieler mit ein paar guten Bildern, darunter eins von meinem lieben Hamburger Ballmer, einen Privatgelehrten, der sich immer noch traut, Marc & Nolde auszustellen; einen Konservator im Bayerischen Nationalmuseum, der mich mit Rheinwein und Brandy abfüllte & mir seinen Klee zeigte, seine Sappho-Übersetzung mit Zeichnungen von Sintenis, seine Schwägerin und seine Frau. […] Und ein paar Maler, darunter der einzige deutsche Surrealist, ein Mann namens Ende. Er kannte eine Tochter von Con Curran & schmähte Ernst, Picasso & Dali wegen ihrer ‚mangelnden Integrität‘ (!) und schwärmte für Shem the Penman.“

(Beckett 2013, S. 536)

In seinen „German Diaries“ schilderte Beckett später die Szene bei der Familie Ende genauer. Ein ironischer Unterton ist im Tagebuch nicht zu überlesen. Beckett mochte München nicht, ganz Deutschland erschien ihm gleichzeitig faszinierend und suspekt. Dabei geben Tagebuch und Brief aus der Sicht des unbestechlichen, auf Deutschland neugierigen Iren ein neutrales Bild von Endes Lebensverhältnissen. Michael Endes Vater erscheint als bedeutender Künstler, der – eingeengt durch die politischen Verhältnisse, finanziell unter der Armutsgrenze, angewiesen auf jeden internationalen Kontakt – nur in Ausschnitten den aktuellen Kunstdiskurs wahrnehmen und an ihm teilnehmen konnte.

Wie Beckett feststellte, teilte Edgar Ende seine Kritik an den Unzulänglichen der Sprache im Vergleich zu Kunst und Malerei nicht: „the painter Edgar Ende [d]oesn’t agree that communication is impossible“ (zit. n. Nixon 2011, S. 166). Vielmehr glaubte er an die Wahrhaftigkeit und die Verständigung der Menschen durch die Sprache. Als sein Sohn sich später der Literatur zuwandte, sah er darin keinen künstlerischen Wertunterschied.

Als Hitler im Juli 1937 im neu eröffneten Haus der Kunst die Große Deutsche Kunstausstellung eröffnet, gehört Edgar Ende zu den vom System Ausgeschlossenen. Vater und Sohn erleben den „Führer“ – wie dann auch im September 1938 anlässlich der Viermächtekonferenz – als Zuschauer am Straßenrand inmitten einer frenetisch jubelnden und skandierenden Bevölkerung.

Für die Mutter tut sich in Schwabing eine zum ersten Mal nicht mehr wegzuträumende Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit |23|auf. Edgar Ende gewinnt zwar an Bekanntheit und Anerkennung. Bilder werden gemalt, manche ausgestellt, einige wenige verkauft. Freunde und Weggefährten versuchen ihm mit Käufen, Aufträgen und anonymer Anstellung zu helfen. Man pflegt Umgang mit bekannten Leuten, bespricht weltbewegende Themen, ist sich – mit wachsender Distanz zum politischen Umfeld – seines Künstlertums und seines ethischen Programms gewiss. Aber die Kasse ist leer, und nichts kann über den Mangel im Alltäglichen hinwegtäuschen.

Um der Familie eine kleine finanzielle Sicherheit zu gewährleisten, tritt die Mutter in Obermenzing eine Ausbildung zur Heilgymnastikerin und Masseuse an. Ihr Arbeitstag beginnt, wenn es denn Aufträge gibt, in den frühen Morgenstunden. Die Lebensverhältnisse zerstören die ehelichen Übereinkünfte und die Gemeinsamkeit der Liebe zu ihrem Kind. Es kommt zu häuslichem Streit, der das Kind verstört und als dessen Auslöser und Mittelpunkt es sich bald versteht. Die Welt der väterlichen Bilder, die es umgeben, ist rätselhaft, düster und schickt es mit verschlüsselten Botschaften auf unbekannte Wege. Gleichzeitig sind die Bilder eine Bastion – schützend und abschottend zugleich.

Vor diesem Hintergrund bekommt Bedeutung, was Michael Ende später schilderte: dass er unter dem Himmel lebte, durch das Atelierfenster über ihm nachts die Sterne sah und sich ‚wegträumte‘. Es waren aber keine Träume vom besseren Leben im Sinne einer Überwindung des Mangels. Und so sind auch Endes spätere (Kinder-)Geschichten keine Erfolgsgeschichten im Sinne materiellen Zugewinns oder der Eroberung eines sozialen Status. Ende hat sich über die Armut seiner Kindheit nie beschwert, hat auch keine Kausalität zwischen ihr und seinem späteren Lebensweg hergestellt. Er hat sie als solche nicht erlitten. Anderes war wichtiger, vordringlicher, eindrucksvoller.

Ab Ende April 1936 besucht Michael Ende die Wilhelmschule in der Wilhelmstraße 29. Seinen Schulweg, der lang genug war, um zum Abenteuer zu werden, kann man heute noch gehen. Ende wird Schulwege später als Handlungsorte literarisieren, die Gelegenheit zu kleinen Fluchten geben. Die Schule existiert, wenn auch in veränderter Form, heute noch. Es ist eine Schule wie viele andere, aber der Schüler war nicht wie jeder andere.

|24|Michael Endes Verhältnis zur Institution Schule, zu Lehrern und jeder Form formaler Bildung war von Beginn an konfliktreich, desaströs – als ob hier zwei unvereinbare Lebensprinzipien aufeinanderstießen. Da war mehr als kindlicher Unmut und jugendliche Revolte. Sein Freund Peter Boccarius (1995) sieht die Ursache dafür in der frühen Angst und Verunsicherung, die der kleine Junge im gestörten Elternhaus erfuhr und die er in die Schule trug, um sie auf das Prinzip dieser Institution zu übertragen.

Ein anderer möglicher Grund könnte die frühe Prägung durch einen Künstlerhaushalt gewesen sein, der von Kreativität, kunsthistorischen Diskursen und eindrucksvollen Persönlichkeiten bestimmt war und gegen den sich die normierten Vormittage in einer Schwabinger Grundschule der dreißiger Jahre fremd abhoben. Das Kind kannte und begriff die Regeln der Schule nicht. Sie stellten keinen Wert, keine Zuflucht für ihn dar. Seine früh sichtbaren Hochbegabungen ließen sich in die damalige Schulwirklichkeit nur selten einordnen. Spätestens in der Pubertät flüchtete sich die Unbehaustheit und Orientierungslosigkeit des Schülers Ende in die arrogante Distanz des besser wissenden Lebenskünstlers.

Obwohl Michael Ende die Existenz autobiographischer Züge in seinen Werken lebenslang abstritt und dies auch literaturtheoretisch begründete, gehört die Schule zu den Themen, bei denen er einen entsprechenden Einfluss nicht zurückwies. Seine Hauptwerke „Jim Knopf“ und „Die unendliche Geschichte“ enthalten bedeutungsreiche Schulszenen, die sein Leiden an der Schulwirklichkeit beredt widerspiegeln.

Auf der Suche nach der chinesischen Prinzessin Li Si dringen Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer in das Domizil von Frau Mahlzahn ein. So heißt der zunächst in böser Gestalt auftretende männliche Drache, also eine androgyne grausame Schulautorität, die Angst und Schrecken verbreitet:

„Vor ihnen lag ein großer Saal, in dem drei Reihen Schulbänke standen. An diesen Pulten saßen etwa zwanzig Kinder […]. Alle Kinder waren mit Eisenketten an die Schulbänke gefesselt, so daß sie sich zwar bewegen, aber nicht weglaufen konnten. An der hinteren Wand des Saales stand eine große steinerne Schultafel, und daneben |25|erhob sich wie ein Kleiderschrank ein riesiges Pult aus einem Felsblock. Dahinter saß ein ganz besonders scheußlicher Drache. […] Er hatte eine spitze Schnauze, die mit dicken Warzen und Borsten bedeckt war. Die kleinen stechenden Augen blickten durch funkelnde Brillengläser und in der Tatze hielt er einen Bambusstock, den er beständig durch die Luft pfeifen ließ. […]

‚Das sieht ja aus wie eine Schule‘, flüsterte Lukas Jim ins Ohr.

‚O jemine!‘ hauchte Jim, der noch nie eine Schule gesehen hatte.

‚Is’ Schule immer so?‘

‚Gott bewahre!‘ raunte Lukas. ‚Manche Schulen sind sogar ganz nett. Allerdings sind dort keine Drachen als Lehrer, sondern einigermaßen vernünftige Leute.‘“

(Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer, S. 163f.)

Jim Knopf wehrt sich lange dagegen, lesen und schreiben zu lernen. Erst als Prinz von Jimballa bewegt ihn seine Braut Li Si dazu, einen Lehrer zu akzeptieren. Die Wahl fällt auf den nutzlosen, untätigen Untertanen Herr Ärmel, die bisher gesichtsloseste aller Figuren auf Lummerland, der hier eine sinnvolle Aufgabe erhält:

„‚Tja‘, fuhr Lukas fort […], ‚unser Prinz möchte jetzt nämlich doch Lesen und Schreiben und Rechnen und noch vieles mehr lernen. Das hat er jedenfalls gesagt.‘

‚In der Tat?‘ fragte Herr Ärmel erfreut.

‚Ja‘, sagte Jim, ‚das stimmt. Hätten Sie vielleicht Lust, mir zu zeigen wie es geht, Herr Ärmel?‘

‚Mit dem größten Vergnügen!‘ rief Herr Ärmel.“

(Jim Knopf und die Wilde 13, S. 242)

Es sind also nicht die Lerninhalte, sondern das schulische Prinzip, das Ende Anlass zu Schreckensbildern gibt.

Die Schulszenen in der „Unendlichen Geschichte“ spielen in der Wirklichkeit, vor der Bastian nach Phantásien flieht. Die Bewältigung seiner Schulangst wird allerdings nicht als Teil seiner Selbstfindung thematisiert, sondern bleibt eine Aufgabe, die er nach seiner Rückkehr noch zu meistern hat. Vorerst gilt: Vor der Schule kann man nur weglaufen.

|26|„[…] für einen, der viel zu spät kommt, erscheint die Welt rings um die Schule ja immer wie ausgestorben. Und Bastian fühlte bei jedem Schritt, wie die Angst in ihm zunahm. Er hatte sowieso Angst vor der Schule, dem Ort seiner täglichen Niederlagen. Angst vor den Lehrern, die ihm gütlich ins Gewissen redeten oder ihren Ärger an ihm ausließen. Angst vor den anderen Kindern, die sich über ihn lustig machten und keine Gelegenheit ausließen, ihm zu beweisen, wie ungeschickt und wehrlos er war. Die Schule war ihm immer schon vorgekommen wie eine unabsehbar lange Gefängnisstrafe, die dauern würde, bis er erwachsen war, und die er einfach stumm und ergeben absitzen mußte. […] da wurde ihm klar, daß er auch hier von nun an nichts mehr zu suchen hatte. Er mußte fort.“

(Die unendliche Geschichte 1988, S. 13f.)

Wie der tägliche Schulweg nicht primär zum Unterricht, sondern zu phantastischen Abenteuern führen kann, erzählt Ende in der Kindergeschichte „Der lange Weg nach Santa Cruz“ (1992). Dort heißt es von dem achtjährigen Hermann, der auch zu Hause viel Ärger hat:

„Obendrein war es auch noch ein Montag. […] Für Hermann war das Unerfreulichste an Montagen, daß sie ihn unerbittlich vor die Notwendigkeit stellten, wieder eine ganze Woche lang seine kostbare Jugendzeit mit dem Lernen von Rechtschreiben, Einmaleins und ähnlichem Quatsch zu verplempern. Und das zu einer Tageszeit, zu der es nirgends so schön war wie im warmen Bett.

Logisch, dachte Hermann und lächelte bitter, gerade deshalb bestanden die Lehrer ja darauf, so früh am Morgen anzufangen.

Denen ging es ja nur um eines: möglichst vielen wehrlosen Kindern das Leben zu vermiesen. Ohne diese Möglichkeit machte ihnen wahrscheinlich der ganze Schulbetrieb keinen Spaß mehr.“

(Der lange Weg nach Santa Cruz, S. 5)

Zwei besondere Schulen, Gegenmodelle zu seinen traumatischen Schulerfahrungen, entwarf Michael Ende in der Ballade „Die Rüpelschule“ und der Geschichte „Die Zauberschule“. In der „Rüpelschule“ werden Jungen und Mädchen mit einer Didaktik des Ungehorsams zu Rüpeln erzogen. Diese Kinder kommen, ganz im Rousseau’schen Sinne, artig und unschuldig daher, die Schule bringt sie auf ihren chaotisch-unterhaltsamen Weg:

|27|„Im Lande Hule-Sule,

zehntausend Tagereisen weit,

da gibt es eine Schule

für Ungezogenheit.

Da prahlt man und protzt man,

da motzt man und trotzt man,

und wer dort am lautesten tobt,

wird sehr von den Lehrern gelobt.

[…]

Das große Nervensägen

erlernen nur die Besten gut:

Sich auf den Boden legen

und strampeln voller Wut.

Auch Heulen und Maulen

und Kreischen und Jaulen,

Krakeelen und Poltern mit Kraft –,

manch einer hat’s niemals geschafft!

[…]

Ich kenne ein paar Kinder,

(dabei hab’ ich dich nicht im Sinn)

für die wär’s viel gesünder,

man schickte sie dorthin.

Doch fern liegt das Land

Hule-Sule genannt,

drum müssen bei uns sie versauern,

was wir nur mit ihnen bedauern.“

(Das Schnurpsenbuch, S. 29–33)

Dieses intellektuelle Spiel gegenläufiger Pädagogik setzt Michael Ende – 25 Jahre später und in Kinderliteratur erfahrener – vor Rowlings „Harry Potter“ in der Erzählung „Die Zauberschule“ (1994) fort:

„Übrigens kann nicht jeder einfach auf eine solche Schule gehen, sondern nur Kinder, die besonders begabt sind, das heißt, die über eine außergewöhnlich starke Wunschkraft verfügen. […]

|28|Der Lehrer hieß Rosamarino Silber und war ein rundlicher Herr ungewissen Alters, der eine kleine Brille auf der Nase und einen himmelblauen Zylinder auf dem Kopf trug. Er lächelte oft verschmitzt und sah überhaupt so aus, als ob ihn nicht leicht etwas aus der Ruhe bringen könnte. […]

Die Klasse war gerade eifrig dabei, die allererste Lektion zu üben, die darin bestand, irgendwelche Sachen dazu zu bringen, sich zu bewegen, und zwar ohne sie zu berühren, nur durch die eigene Wunschkraft. […]

Die zweite Lektion […] bestand darin, Gegenstände, die man nicht vor Augen hatte, sondern die mehr oder weniger weit entfernt waren, herbeizurufen und plötzlich erscheinen zu lassen. […] Die siebte und letzte Lektion, das Erschaffen von Lebewesen, war viel schwieriger und dauerte viel länger […].“

(Die Zauberschule, S. 15–34)

Die Zauberschule des phantasievollen Wünschens – in diesem Bild hat Michael Ende seinem Schulhorror ein versöhnliches Ende bereitet. Aber in der Wirklichkeit seiner Schulzeit herrschten andere Gefühle vor. Sie kulminierten, als Michael Ende im Frühjahr 1940 unter Mühen auf das Maximiliansgymnasium, Karl-Theodor-Straße 9, wechseln kann. Er bleibt gleich in der Sexta sitzen und ist verzweifelt. Zu dem ständig präsenten elterlichen Streit kommen nun die – vehement abgewehrten – Anforderungen eines humanistischen Traditionsgymnasiums und eine dritte Kraft, die Ende unvorbereitet trifft: die nationalsozialistische Pädagogik mit ihrem politischen Anspruch. 1983 erinnerte er sich:

„Playpboy: […] Aus Angst vor dem Tod, weil Sie sich ja sonst umbringen müßten.

Ende: Das habe ich einmal versucht während der Schulzeit. Da wollte ich mich ertränken. Ich war sitzengeblieben. Damals hatten meine Eltern sowieso schon Sorgen genug mit der Nazischeiße. Mein Vater galt als entarteter Künstler und durfte nicht ausstellen. Meine Mutter verdiente das Nötigste als Masseuse und Krankengymnastin. Da dachte ich, wenn ich jetzt noch heimkomme mit lauter Sechsern im Zeugnis, ist alles aus. Das konnte ich nicht verantworten, und so bin ich halt einen ganzen Tag lang vor dem |29|Stauwehr an der Isar gestanden, konnte mich aber nicht entschließen hineinzuspringen, sondern hab es immer wieder um weitere fünf Minuten hinausgezögert.

Die Schule in der Nazizeit war eigentlich der größte Schock meines Lebens, denn dort wurde alles getan, um dem Schüler das Rückgrat zu brechen und ihn zu einem gehorsamen, stramm stehenden Lernautomaten zu machen. Die jüngeren Lehrer waren alle an der Front, also hatten wir nur mit alten Knackern zu tun, Parteigenossen der übelsten Sorte.

Man hat mir beigebracht, und zwar auf sehr drastische Weise, daß ich ein Versager bin und fürs Leben nicht tauge. Ich dachte, ich wäre dumm. Das geht mir übrigens bis heute noch so. […]

Playboy: Sind Sie von Ihren Klassenkameraden gehänselt worden? Ende: Nicht von den Kameraden, mehr von den Lehrern. Die haben sich an mir weidlich ausgelassen. Wenn ich kam, hieß es, jetzt kommt das dicke Ende und solche Sachen. Ich bin mir wie ein in sich zurückgestauchtes Kind vorgekommen und habe mich dann in eine totale Indolenz reingeflüchtet.“

(Playboy-Interview, S. 76f.)

Zu diesem bitteren Resümee passt die an Kafka erinnernde Szene „Im Klassenzimmer regnete es unaufhörlich“ aus der Sammlung „Der Spiegel im Spiegel“ (1984). Teile des Textes sind viel früher, der Schulzeit nahe, entstanden. Zwei Opfer – biographisch gedeutet vielleicht Freunde – einer unmenschlich empfundenen Schulwirklichkeit gehören zum Klassenverband: ein verletzter Knabe im Seiltänzerkostüm und ein zerzauster, schmutziger Flügelträger. Diese beiden Figuren werden als heroische Opfer einer verkommenen Schulatmosphäre gezeichnet. Ein Mädchen weist den Weg nach draußen.

„Auf einem hohen, teerschwarzen Katheder vor der Wandtafel lag wie aufgebahrt der reglose Körper eines Knaben von vielleicht vierzehn Jahren. Er war in ein enganliegendes Seiltänzerkostüm gekleidet, das da und dort mit Flicken besetzt war. Die weiße Binde, die er um den Kopf trug, zeigte auf der Stirn einen kreisrunden roten Fleck. Offenbar handelte es sich um ein Zeichen, denn es war viel zu regelmäßig, als daß es durchgesickertes Blut sein konnte. […] Der Junge auf der anderen Seite wirkte sehr vernachlässigt.

|30|Er war klein und schmalwangig und sehr schmutzig. Seine Kleider waren zerrissen, und seine Nase lief […]. Auf dem Rücken trug er viel zu große weiße Flügel, sie waren vom Regen naß und struppig und hingen schwer herunter.“ (Der Spiegel im Spiegel, S. 151–153) „‚Ich möchte wissen‘, murmelte der Junge mit den durchnäßten Flügeln vor sich hin, ‚was draußen für Wetter ist. Vielleicht sind draußen schon Ferien.‘

Das kleine Mädchen mit den Mandelaugen lächelte zu ihm herüber und flüsterte hinter vorgehaltener Hand:

‚Draußen ist das Paradies, aber man kann die Fenster nicht aufmachen […].‘“

(Ebda, S. 255)

Was verleiht dem phantasievollen, verträumten Kind die Fähigkeit der im Interview erwähnten Gleichgültigkeit? Wo findet der Junge das lebenserhaltende Gegengewicht? Vier Zugänge zur Lebensfreude lassen sich für den Schuljungen Michael Ende in den verfügbaren Quellen ausmachen: der Umgang mit Tieren, gleichaltrige Freunde, frühe sexuelle Erfahrungen und nicht zuletzt eine imaginierte Welt durch (Tag-)Träume und Lektüre.

Boccarius (1995) erzählt von Fischen, Katern, Vögeln, Eidechsen, Schildkröten und Mäusen, die in der engen Atelierwohnung Platz finden. Zu den Freunden Michael Endes gehört Willi, Sohn des Zigarettenhändlers in der Kaulbachstraße, der achtjährig an einer Lungenentzündung stirbt. Auch Michael Ende bleibt von Infektionskrankheiten nicht verschont, fehlt lange in der Schule. Es gibt noch kein Penicillin zum allgemeinen Gebrauch. Eine Mittelohrentzündung macht ihn mit Peter Horn, dem Sohn des behandelnden Arztes, bekannt. Beide begeistern sich für Tiere. Auch als Horns Vater seine Praxis in Schwabing auflöst und in den Westen der Stadt zieht, bleiben sie Freunde. Peter und Michael verbringen vier lange Sommerferien auf dem Einödhof der Familie Wiesholzer in der Nähe von Rosenheim.

Boccarius (1995) liegt wahrscheinlich richtig, wenn er diese Aufenthalte des protestantisch orientierten Stadtkindes Michael Ende als erste eindrucksvolle Begegnung mit der katholischen Bauerngesellschaft Oberbayerns für wichtig hält und einen Bezug – vielleicht besser: eine vermiedene Hemmschwelle – zum bayerischen Singspiel „Goggolori“ für möglich hält. Michael Ende hatte eine Mutter aus |31|dem Saarland und einen Hamburger Vater. Er sprach nicht Bayerisch und fühlte sich dieser Sprache auch nicht zugehörig.

Was lebenslang zu Endes meistens diskret behandelten, aber in einigen Texten auch klar definierten Freuden, zu seinem physischen und psychischen Gleichgewicht gehörte, begann nach eigenen Aussagen früh – im Austausch handfester Zärtlichkeiten mit einem frühreifen Mädchen aus der Nachbarschaft. Michael Ende kam früh in die Pubertät. Sexuelle Betätigung gehörte von nun an zu den selbstverständlichen Praktiken des Lebens – auch wenn sie Konflikte, Enttäuschungen, Schuld und Verrat mit sich brachte.

Daneben wurde erzählt, geträumt und gelesen, wurden Traumwelten besucht. Für einen geplanten Verlagsalmanach bat Hans-Joachim Gelberg in einem Schreiben vom 22.1.1974 Michael Ende um Antwort auf die Frage „Welches Buch hat Sie in Ihrer Kindheit besonders beeindruckt?“ Postwendend kam die Antwort. Sie bietet einen aufschlussreichen Einblick in Michael Endes behütete, bildungsnahe Kindheit. Außerdem zeigt sie, dass viele spätere Bilder, Metaphern und Milieus in Endes Schriften – und keineswegs nur in den Kinderbüchern – auf Quellen aus der Kindheitslektüre zurückgehen. Neben den anthroposophischen und surrealistischen Einflüssen und dem Eindruck des Theaters in den späteren Jahren hatten auch die Bücher, in die sich Michael Ende in seiner Kindheit versenkte, bleibende Wirkung. In seinem Brief an Hans-Joachim Gelberg vom 30.1.1974 nennt er die wichtigsten:

„[…] außer den Märchen von Grimm, Andersen und Bechstein, war es in meiner Kindheit vor allem die große von Doré illustrierte Bilderbibel, die mich tief beeindruckte. Die eigentlichen Kinder- und Jugendbücher, die mir besonders viel bedeuteten, kann ich Ihnen leicht nennen, da ich sie alle noch heute besitze. Da war zunächst ‚Pu der Bär‘ von Milne, dann sämtliche Bände von ‚Dr. Dolittle‘ von Hugh Lofting. Ferner alle Bücher des Inders Mukerdschi, vor allem liebte ich ‚Kari, der Elefant‘. Dann die Tierbücher von Ernest Thompson Seton, darunter besonders bevorzugt ‚Jochen Bär‘. Immer wieder las ich die ‚Märchen‘ und ‚Gesammelten Tiergeschichten‘ von Manfred Kyber. Schließlich die Serie der ‚Langerud-Kinder‘ von Marie Hamsun und natürlich ‚Tom Sawyer‘ und ‚Huck |32|Finn‘ von Twain. Von Karl May besaß ich sage und schreibe 36 (sechsunddreißig) Bände, aber die haben mir nicht meine Eltern gekauft, dazu waren wir viel zu arm. Ich bekam sie von einer jüdischen Freundin meiner Eltern geschenkt, die eine kleine Leihbibliothek betrieb, welche sie auflöste – wenige Tage, ehe sie nach Buchenwald gebracht wurde. Auch den ‚Poetischen Hausschatz‘ von Wilhelm Busch bekam ich auf diese Weise. (es kam mir übrigens niemals in den Sinn, die darin enthaltenen Antisemitismen mit irgend einem unserer jüdischen Bekannten in Verbindung zu bringen.) Zu Karl May fällt mir noch ein: Ich las eines Abends ‚Winnetou, der rote Gentleman‘, dritter Band, und weigerte mich mit äußerster Entschlossenheit ins Bett zu gehen. Immer wieder zögerte ich das Ende der Lektüre hinaus, bis meine Mutter schließlich in einem Wutanfall das Buch nahm und in den Ofen steckte. Mein Herz wäre fast gebrochen, und ich war durch nichts zu besänftigen als durch das Versprechen meiner Mutter, gleich am nächsten Tag mit mir einen neuen dritten Band kaufen zu gehen. Wir liefen auch tatsächlich durch die ganze Stadt und suchten das Buch, aber das Schicksal fügte es, daß es zufällig an diesem Tag überall vergriffen war. Der Plan, an einem der folgenden Tage noch einmal loszugehen und das Buch zu kaufen, wurde, ich weiß nicht warum, niemals ausgeführt. So weiß ich bis heute nicht, wie der rote Gentleman eigentlich sein Leben beendet hat. Und ich habe – offen gestanden – auch die Absicht, es dabei zu belassen.

[…]

P.S. Da fällt mir noch ein: Natürlich hatte ich als kleineres Kind auch den ‚Struwwelpeter‘. Er machte mir aber keinerlei Eindruck. Ich fand die ungeheuerlichen Strafen für völlig belanglose Vergehen (Daumenlutschen etc.) ganz unverhältnismäßig und unglaubwürdig. Und als reine Bizarrerien konnte ich die Geschichten wegen ihrer aufdringlichen Moral nicht nehmen. Meine liebsten Bilderbücher waren solche, die mir Künstler, Freunde meines Vaters, selbst gemalt hatten. Aber diese Sachen sind leider alle im Krieg verbrannt.“

(Michael Ende an Hans-Joachim Gelberg, 30.1.1974)

Der Brief erzählt nebenbei viel aus Endes Kindheit: von der Künstleratmosphäre, vom Naturell der Mutter und ihren Erziehungsschwierigkeiten, von den Vergiftungen und Verwundungen der Zeit, |33|in der diese Kindheit gelebt wurde. Ende romantisiert seine Kindheit nicht, sondern schildert sie, um Exaktheit bemüht, eher lapidar. Auch die zeitgeschichtlichen Ungeheuerlichkeiten Holocaust und Kriegsverluste, die für die Kinder seiner Altersgruppe prägend waren, werden funktional und ohne Effekthascherei eingefügt. Ende vermied – wie viele männliche Angehörige seiner Generation – strikt die Jammer- und Opferposition. Er rühmte sich auch nicht seiner Erfahrungen, Traumata oder Einsichten, die er gleichwohl besaß. Niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, seine Kinderbücher als Äquivalent einer durch die Nazis und die Konflikte seiner Eltern verletzten Kinderseele anzupreisen. Darauf hat zuerst Julia Voss (Voss 2009) hingewiesen.

Wenn er später von seinen Kriegserlebnissen erzählte, benutzte auch er das Mantra vieler traumatisierter Kriegskinder: „So ging es ja allen.“ In dieser Formel wird der Mechanismus des Schweigens sichtbar, den sich die deutsche Nachkriegsgesellschaft auferlegte. Abgelegt wurde er erst von den alt gewordenen Kriegskindern zu einer Zeit, die Ende nicht mehr erlebte. Denn keineswegs „alle“ Kinder erfuhren das Gleiche. Für viele war die Jugend im Krieg von Ausnahmesituationen geprägt, die lebenslang nachwirkten, deren Verschweigen Brüche in Leben und Charakter hervorriefen und deren Folgen sich – auch bei Ende – anderswo als im klärenden Gespräch Bahn brachen.

Als der Krieg begann und Michael Ende ins Gymnasium kam, endete seine Kindheit. Aber auch die war schon, ohne dass er Worte dafür gefunden hätte, von den Begleiterscheinungen des Faschismus geprägt. – Aber was bedeutete Kindheit für den erwachsenen Schriftsteller Michael Ende? In zwei Ehen selbst kinderlos und ohne Kinder in der weiteren Familie, bezog sich seine Lebenserfahrung auf die Jungen und Mädchen im Bekanntenkreis. Als der 30-Jährige Texte für Kinder zu schreiben begann, bedeutete das zunächst eine Auseinandersetzung mit dem Kind in sich selbst. Die Bücher gaben ihm dann später Anlass, Kindern bei Lesungen zu begegnen, ihre Briefe zu beantworten und schließlich das Phänomen Kindheit in seine kunsttheoretischen Reflexionen einzubauen.

Jonas Etten, einer der jungen, von ideologischen Flügelkämpfen unberührten Ende-Kenner, analysierte die unterschiedlichen Ebenen |34|von Endes Beschäftigung mit dem Phänomen Kindheit (Etten 2013). Als die wichtigsten Facetten des Kindheitsbildes von Michael Ende können demnach gelten: das Kind als Heilsbringer, als ein der Phantasie und Kreativität noch ganz natürlich verbundenes Wesen und als Inkarnation der Erinnerung an die eigene Kindheit von Autor oder Leser.

1985 fasste Winfried Kaminski, der seinerzeit zu den Kritikern Endes gehörte, seine Erkenntnisse über das Kindheitsbild des Autors zusammen:

„Michael Endes Kindheitskonzept partizipiert an den zwei großen Kindheitsmythen: dem göttlichen Kind und dem Kind als Ursprung. Hinzu kommt die Unterstellung, daß Kindern eine bestimmte Art geistigen Vermögens eignet, die gerade nicht rational, sondern prärational und alogisch sein soll. Die Kraft des Kindlichen bietet sich somit als der archimedische Punkt an, von dem aus Ende die Unsicherheit über den sozial- und welthistorischen Prozeß zu bannen versucht. Kindheit ist etwas Außergesellschaftliches, ja fast Außerweltliches, gleichwohl mit der inhärenten Fähigkeit, auf Welt und Gesellschaft einzuwirken.“

(Kaminski 1985a, S. 72f.)

Endes Kinderbücher zeigen sensible, mutige Jungen und Mädchen, die durch Spiele und Abenteuer in ein Leben führen oder geführt werden, dessen Programm mit dem Begriff „spielerische Freiheit“ vage, aber übergreifend definiert werden kann. Die Kinder sind gut, erlösungsfähig, weitgehend autark. Sie stehen als Individuen stellvertretend auch für das Phänomen der Kindheit als solcher, die wiederum als ein lebenslanges Elixier der Menschen wirksam wird, „weil die einzige Ganzheit, die wir in unserem Leben kennen, die ist, die wir in der Kindheit gehabt haben, ja, in der ersten Kindheit. Ursprünglich ist der Mensch ein ganzes“ (Ende, Eppler, Tächl, S. 119).

Ende hielt sich zu Beginn seiner schriftstellerischen Arbeit für Kinder nicht für kompetent, zu Kindheit, Kinderliteratur und gesellschaftlichen Kindheitsmodellen Stellung zu nehmen. Später formulierte er seine Gedanken zur Kindheit jeweils im Zusammenhang mit poetologischen und literaturtheoretischen Überlegungen.

|35|„Ich glaube, daß die Werke der großen Dichter, Künstler und Musiker dem Spiel des ewigen und göttlichen Kindes in ihnen entstammen – dieses Kind, das ganz unabhängig vom äußeren Alter in uns lebt, ob wir neun Jahre alt sind oder neunzig, dieses Kind, das nie die Fähigkeit verliert zu staunen, zu fragen, sich zu begeistern; dieses Kind in uns, das so verletzlich und ausgeliefert ist, das leidet und nach Trost verlangt und hofft; dieses Kind in uns, das bis zu unserem letzten Lebenstag unsere Zukunft bedeutet.“

(Über das ewig Kindliche, S. 263)

Entsprechende Äußerungen dienen oft zur Definition der eigenen Position. So kommt es, dass sie – auch durch den jeweiligen Anlass und die ihm vorgelegte Fragestellung (z.B. „Warum schreiben Sie für Kinder?“) – fast zwangsläufig in die Nähe der Rechtfertigung geraten, sowohl für Kinder und Jugendliche als auch für Erwachsene zu schreiben:

„Ich schreibe überhaupt nicht für Kinder. So wenig wie Marc Chagall für Kinder malt, obwohl seine Malerei oft ‚kindlich‘ aussieht. Ich schreibe für ‚das Kind in uns allen‘, das schöpferisch ist und fähig Schicksal zu erleben – wofür sonst lohnte es sich zu schreiben? Und worüber sonst?“

(Der Niemandsgarten, S. 45)

In den zugänglichen und veröffentlichten Texten existiert nur eine Kindergestalt, die das durchgehend positive Kindheitsbild überspringt oder konterkariert. Das ist die ungebärdige, fressende, immer größer werdende, den Ich-Erzähler bedrängende Kreatur in der Skizze „Macht nichts“, die 1971 in Hans-Joachim Gelbergs erstem „Jahrbuch zur Kinderliteratur“ erschien. Hier ‚gesteht‘ Ende, dass er durchaus um die archaischen, aggressiven und destruktiven Elemente von Kindheit weiß, sie in dieser Geschichte wie in seinen übrigen Texten aber nach draußen stürmen, aus seinem Gesichtsfeld verschwinden lässt. Wenn Ende von Kindern erzählt, schafft er also ein Konstrukt, das wissentlich und willentlich gewisse destruktive Züge ausscheidet und einem Kindheitsmodell zuarbeitet, das seinen Vorstellungen entspricht.

Es gibt ein Gedicht, das Endes familiär behütete Kindheit im Faschismus, sein Bild vom Wesen der Kindheit und die permanente |36|Bedrohung der Lebensquelle Kindheit zusammenfasst. Es handelt sich um das Gedicht „Der Kindermord“, das 1994 veröffentlicht wurde und das – nach einer Datierungsnotiz in der Handschrift (Marbach) – am 9.5.1981 entstand. Vordergründig geht es dabei um den bethlehemitischen Kindermord.

DER KINDERMORD

In jedem Menschen lebt ein Kind,

das kommt aus andern Welten.

Die Herrscher, die von Diesseits sind,

die lassen es nicht gelten.

Sie fürchten sich vor seiner Macht,

wenn es erst groß geworden.

Sie ziehn mit Spießen aus bei Nacht

und wollen es ermorden.

Und fragt das Kind nach seinem Reich,

aus dem es hergekommen,

und sehnt es sich, dann wird es gleich

in Mörderhand genommen.

Und in Herodes’ Unterricht

lernt es in Herzensnöten:

Die Himmelsheimat gibt es nicht!

So kann man es leicht töten.

Ach, liebe Kinder, glaubt daran,

wenn euch der Tod so nah ist:

Der Kindesmord kommt immer dann,

wenn der Erlöser da ist.

(In: Zettelkasten, S. 256)

Johannes Lenz, ab 1958 Pfarrer der Christengemeinschaft in München, vertrauter Berater der Mutter und später Endes religiöser Begleiter in dessen letzten Lebenswochen, deutet dieses Gedicht nicht nur auf dem Hintergrund des Nationalsozialismus, sondern als Bild |37|allgegenwärtig bedrohter Kindheit und Unschuld. Wie Lenz 2015 bemerkte (Lenz, 30.1.2015), hatte Michael Ende erfahren, dass überall dort, wo Kindermorde im tatsächlichen oder übertragenen Sinne stattfinden, ein „Erlöser“ als Lebensprogramm in Sicht ist, der den Mächtigen gefährlich werden kann. In dem Kind, das im Menschen lebt, wittern die Herodes-Inkarnationen dieser Welt eine „Gefahr“ für sich, die sie frühzeitig abzutöten bestrebt sind. Der Kindermord, die Abtötung des Kindlichen, ist die genuine Technik der Machtbesessenen, Menschen zu beherrschen.

Die nationalsozialistischen Erziehungsinstanzen begannen in der Regel zwar erst auf Kinder im Alter von zehn Jahren zuzugreifen, aber durch die Weltanschauung seiner Eltern und das Malverbot für seinen Vater erlebte Ende einen entsprechenden Zugriff doch schon als Grundschulkind. Edgar und Luise Ende waren keine deklarierten Antifaschisten, sondern gehörten einem Milieu und einer Denkschule an, die dem Nationalsozialismus diametral entgegenstanden. Sie konnten sich von dieser politischen Richtung keinerlei Vorteil, Sicherheit oder Erfolg versprechen. Die frühe Verunsicherung des zuvor in Obermenzing so frei und wild aufgewachsenen Kindes hat sich tief in Michael Ende eingeprägt. Es kann sein, dass seine lebenslange Aversion gegen die Schule seinen Grund auch darin hatte, dass er diese Verunsicherung mit dem Eintritt in die Schule, also dem Heraustreten aus dem geschlossenen Kreis elterlicher Fürsorge, gleichsetzte.

Die Merkmale des faschistischen Kindheitsmodells mit seinen nationalistischen, biologistischen und heroisch-martialischen Wertsetzungen (vgl. Kössler 2014) waren den Eltern fremd, und das Kind musste sich in einer Umgebung, die sich immer mehr auf dieses Leitbild einstellte, ‚anders‘, fremd vorkommen. Die verträumte Kindheit in Obermenzing wurde sozusagen in Frage gestellt durch die Anforderungen „der neuen Zeit“. Hier erlebte das Kind zum ersten Mal, dass seine Phantasie in geregelte, ideologische Bahnen gelenkt und ihm etwas geraubt werden sollte – ja, dass die Verfechter und Institutionen dieser Lehre offensichtlich die Oberhand behielten und vorgaben, Recht zu haben.

Wahrscheinlich reagierte Michael Ende aus dieser Kindheitserinnerung heraus so wenig souverän, überempfindlich und überraschend unsensibel, als vierzig Jahre später eine kleine Schar von |38|Kritikern seine Bücher angriff, weil sie nicht der ‚angesagten‘ problemorientierten realistischen Kinderliteratur entsprachen. Er „emigrierte“, wie er selber sagte, und diese ganz unangemessene Wortwahl weist deutlich genug auf die eigentliche Herkunft seiner Phobie.

Man muss sich vorstellen, dass schon das Kind Michael Ende von Judenverfolgung und Holocaust erfuhr. Er sah Übergriffe in Schwabing. Freunde und Bekannte waren eines Tages nicht mehr da. Seine Eltern pflegten dieses Verschwinden nicht zu beschönigen. 1938 ‚verschwand‘ in Garmisch-Partenkirchen aus dem ehemaligen Wohnhaus der Endes das Ehepaar Staackmann. Sie war Jüdin und wurde mit einem diskriminierenden Schild in Garmisch öffentlich bloßgestellt. Ihr Mann wahrte ihre Würde mit einer Ehrenwache in seiner Uniform aus dem Ersten Weltkrieg. Das Ehepaar musste im November 1938 im Zusammenhang mit den Geschehnissen der Reichspogromnacht die Leihbücherei schließen und Garmisch-Partenkirchen verlassen. Nach einem Sterberegister starb Fritz Staackmann am 15. September 1940 in Leipzig. Hedy Staackmann wurde 16 Monate später, am 21. Januar 1942, von Leipzig aus in das Rigaer Ghetto deportiert und ermordet; vielleicht gab es davor einen Zwischenaufenthalt in Theresienstadt.

Michael Ende wurde von seiner Mutter über die Ereignisse informiert, deren genaue Umstände nicht bekannt, da nicht öffentlich wurden. Sie glaubte noch, der Epileptiker Fritz Staackmann sei vor Ort von einem SA-Mann erschlagen worden. In einem Brief vom 3.4.1990 an den Garmisch-Partenkirchener Chronisten Alois Schwarzmüller erinnerte sich Michael Ende, wie er vom Schicksal der Familie Staackmann erfuhr:

„[…] vor allem auch wegen des tiefen Entsetzens meiner Eltern. Meine Mutter weinte nicht leicht, aber da habe ich sie vollkommen in Tränen aufgelöst gesehen. Durch wen meine Eltern die Nachricht bekommen hatten, weiß ich nicht mehr; es könnte durch Fräulein Schiele gewesen sein, die damals und später noch im Bunten Haus einen kleinen Modesalon hatte … Der Käfig mit Hedy soll übrigens auf dem Platz vor dem Bahnhof gestanden haben. Seltsam, daß sich niemand daran erinnert […].“

(In: Schwarzmüller 2006)

|39|Der Schriftsteller Michael Ende machte aus diesem Kindheitsschock Jahrzehnte später eine bittere „Ballade vom Heldentod eines deutschen Offiziers“. Sie wurde 1986 in der Sammlung „Trödelmarkt der Träume. Mitternachtslieder und leise Balladen“ erstmals publiziert – gegen das Vergessen, in Erinnerung an das Wegsehen zur Zeit seiner Kindheit. Nach einführenden Strophen wird von Fritz und Hedy Staackmann berichtet:

„Beim Bäcker, wo er täglich die Semmeln gekauft,

hieß es plötzlich: ‚Für Sie sind sie aus.‘

Er war auf den Vornamen Fritz getauft,

aber Hedy war aus jüdischem Haus.

Dann war es eines Tages so weit:

Fünf Männer, die taten ganz fremd,

sie ließen ihr nicht mal Zeit für ihr Kleid

und führten sie fort im Hemd.

Die Leute lachten und kamen gerannt:

In einem Käfig stand sie zur Schau.

Da hing ein Schild und darauf stand:

‚Ich bin eine Judensau!‘

Fritz wußte erst nicht, was tun, aber dann

kam er plötzlich in Fahrt.

Er zog sich seine Uniform an,

die hatte er aufbewahrt.

Er hängte sich alle Orden um.

Sein Gesicht, das war feldgrau.

Er marschierte zum Käfig und stellte sich stumm

vor seine liebe Frau.

So stand er in seinem Paraderock,

den Säbel in Habt-acht.

Es begann zu schneien in dichtem Geflock,

Fritz hielt die Ehrenwacht.

|40|Sie sprachen nicht miteinander, die zwei.

Er stand einen Tag, eine Nacht.

Die Leute drückten sich scheu vorbei

und haben nicht mehr gelacht.

Den Herrenmenschen ging allgemach

die Sache denn doch zu weit.

Ein SA-Mann trat zu Fritz und sprach:

‚Du entehrst dieses Ehrenkleid!‘

Doch Fritz fuhr fort, gradeaus zu schaun,

und schenkte ihm keinen Blick.

Da haben sie ihn auf den Kopf gehaun

mit einem Eisenstück.

Er fiel zu Boden ohne Wort.

So lag er im Schnee noch lange,

und viele Leute sahen ihn dort

samt Orden und Ehrenspange.

Sie schwiegen und schauten woanders hin,

wollten niemand loben noch schelten.

Allein saß Hedy im Käfig drin,

in einer großen Kälten.

Es heißt, daß sie nichts mehr verstanden hat,

denn sie war da schon geistig verstört.

Ich hörte, sie kam nach Theresienstadt.

Sonst hab ich nichts mehr gehört.“

(Trödelmarkt der Träume, S. 82–84)

Michael Ende

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