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|41|Jugend und Krieg (1940–1949) Soldaten, Gedichte, Waldorfpädagogik

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Drei Erziehungsinstanzen bestimmten das Leben von Schulkindern, seit der Nationalsozialismus sich fest in der deutschen Gesellschaft etabliert hatte. Neben Elternhaus und Schule traten die für Jungen von Beginn an paramilitärischen Programme der Jugendorganisationen der NSDAP. Ihr Reiz bestand zu einem nicht geringen Teil in Angeboten, die die Familien und die herkömmliche Ausbildung entweder gar nicht oder für einen späteren Lebensabschnitt vorsahen. Jugend und Adoleszenz wurden in ein jüngeres Alter vorverlegt. Diese Entwicklung kam dem erfolglosen Gymnasiasten Michael Ende recht, auch wenn er im Elternhaus die existenzbedrohenden Folgen der herrschenden politischen Programmatik erlebte.

Sein Vater erhält Weihnachten 1940 den Stellungsbefehl der Deutschen Wehrmacht und zieht als Rekrut bei der Flakartillerie in Bonn ein. Ab 1941 ist er in Köln als Obergefreiter beim Flakscheinwerfer-Bataillon 408 im Innendienst mit technischen Zeichnungen beschäftigt. Weil es auch unter den nazifreundlichen Bekannten des Ehepaares Ende Bewunderer seiner offiziell abgelehnten Kunst gibt, erhält Edgar Ende Aufträge, süddeutsche Kasernen auszumalen – eine gern genutzte Gelegenheit, wieder in Bayern tätig zu sein. Der Vater, auf den ständig Rücksicht zu nehmen war und der trotz aller Lebensangst unbeirrt an seiner Verantwortung als moralische Instanz festhielt, rückt für Michael Ende nun in immer größere Ferne. Seine Abwesenheit bedeutet Bewegungsfreiheit. Der Junge sieht ihn bis 1945 nur noch bei Heimaturlauben, zuletzt im Frühjahr 1944. Die dominante, aber nachgiebige Mutter agiert nun für fast fünf Jahre als Bezugsperson in schwieriger Zeit.

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Vater und Sohn 1940

Die Schule bleibt weiterhin ein Desaster. Er gewöhnt sich nicht ein und verweigert jede Leistung. Schon in dieser frühen Phase beginnen die Verhaltensweise des Jungen seine Umgebung zu polarisieren: Ist er faul, ängstlich oder schwierig aus Kalkül? Fragen, die sich Freunde und Wegbegleiter lebenslang stellten.

Als die Sexta wiederholt werden muss, findet er im neuen Klassenverband einen Freund, laut Boccarius (1995) hieß er Bodo. Auch dessen Eltern ermöglichen dem Jungen aus der mittellosen Künstlerfamilie Ferienaufenthalte auf dem Land – kleine Annehmlichkeiten, für die sich Michael Endes Eltern nie angemessen revanchieren konnten. Bekannte schildern, dass es die liebenswürdige Ratlosigkeit und Verbindlichkeit der Mutter war, die Großzügigkeiten dieser Art zuließen. Michael Ende gewöhnte sich daran, Geschenke entgegenzunehmen, ohne viel zu fragen. Vielleicht liegt hier der Grund dafür, dass der Autor einige Jahre später mühelos und wirkungsvoll Bittbriefe um Geld und Unterstützung schreiben konnte, die seinen |43|hochgesteckten ästhetischen und moralischen Vorstellungen entgegenstehen mussten.

Der Schulunterricht des von der Münchner Bürger- und Bildungselite geschätzten Maximiliansgymnasiums findet im Westflügel des repräsentativen Gebäudes statt. Die Schüler benützen den Zugang von der Siegfriedstraße 20 aus. In einer Baracke im Luitpold-Park hält die Hitlerjugend ihre Heimabende ab. Michael Ende nimmt an den Indoktrinations- und Erlebnisangeboten teil, trägt die Uniform der Hitlerjugend, findet einen vermeintlich schulfreien Raum für seine Freundschaft mit Bodo. Was die Eltern als Ausweichmanöver zur Vermeidung der paramilitärischen Übungen der Hitlerjugend verstehen und begrüßen, eröffnet dem zwölfjährigen Sohn nach seinem Lebensgefühl neue Abenteuer. Als Hitlerjunge übernimmt er in der Reitschule der SA in der Königstraße Stalldienste, die ihm die Möglichkeit geben zu reiten. Als der Krieg mit drohenden Bombenangriffen auf München näher kommt, gehören auch Nachtwachen zu seinem Dienst.

Am 4. Juni 1940 flogen die Alliierten von Frankreich aus den ersten Angriff auf München. Die letzte Bombe des Zweiten Weltkrieges fiel am 26. April 1945 auf eine danach zu 90 Prozent zerstörte Innenstadt. München stellte vor allem wegen seiner Rüstungsbetriebe und als Eisenbahn- und damit auch als Transportknotenpunkt des Aggressors Deutschland ein wichtiges Ziel dar. Michael Ende erlebt aus nächster Nähe den Angriff am 19. September 1942, als mit 89 Flugzeugen 168 Tonnen Bomben auf die Stadt abgeworfen werden und es allein in einem Haus in Schwabing am nahen Elisabethplatz dreißig Tote gibt.

Ein Jahr später ist der 13-Jährige Feriengast bei den Großeltern und seinem Onkel Helmuth Ende in der Corneliusstraße 17 in Groß-Flottbek. Altona war 1937/38 im Handstreich nationalsozialistischer Kommunalpolitiker dem Land und der Stadt Hamburg eingemeindet worden. Der Onkel gehörte zum Direktorium des Hamburger Hafens und war in dieser Position „UK“, vom Kriegsdienst freigestellt. Der Neffe erlebt hautnah den „Feuersturm“ der fünf Nacht- und zwei Tagesangriffe vom 24. Juli bis zum 3. August 1943. Bei der sogenannten Operation Gomorrha kamen nach heutigen Schätzungen 34.000 Bewohner ums Leben. Altona war eines der zentralen |44|Angriffsziele. Von Harburg aus kann der 13-Jährige mit dem Zug Hamburg in Richtung München verlassen.

Liest man einige von Endes verstörenden Texten über herumirrende Menschen, zerstörte Städte und Landschaften, ist der Gedanke an erinnerte Bombenangriffe sicherlich zulässig. Diese Texte weisen aber auch eine verblüffende Nähe zu nicht wenigen rätselhaften Bildern seines Vaters auf. Besonders in den Erzählungen des Bandes „Der Spiegel im Spiegel“ mit Graphiken von Edgar Ende entstand eine Vater-Sohn-Symbiose, die gemeinsames Erleben und künstlerische Nähe miteinander verband.

„Aber einmal geschieht es, daß ein Erdbeben durch all das geht. Die steinerne Mauer reißt entzwei, ein Spalt, der sich weiter und weiter öffnet. Die gemalten Sterne treten auseinander, und du schaust in etwas hinaus, das deinen Augen so fremd ist, daß sie sich weigern, es wahrzunehmen, eine Ferne, in die dein Blick stürzt, ein leuchtendes Dunkel, ein regloser Sturmwind, ein immerwährender Blitz.“ (Der Spiegel im Spiegel, S. 93f.)

Ausdruck verdrängter Kriegsassoziationen sind auch Endes Gedichte über das Militär. In vielen seiner Gedichte ist ausdrücklich von Soldaten, Offizieren, Generälen die Rede. Sie entstanden zu einer Zeit, in der „das Militär“ in der deutschen Gegenwartsdichtung vornehmlich als Inkarnation des vergangenen Zweiten Weltkrieges oder als Menetekel der neu aufgestellten Bundeswehr, des „Bürgers in Uniform“, Erwähnung fand. Während der erfolgreichen Schaffenszeit des Autors Michael Ende dachten seine Leser und viele seiner Anhänger beim Stichwort Krieg allerdings nicht mehr an den Zweiten Weltkrieg, sondern an den Vietnamkrieg und den Kalten Krieg, Deutschland wurde als das Schlachtfeld zwischen West und Ost antizipiert. Für Ende verbanden sich Erinnerung und bundesrepublikanische Gegenwart mit der Furcht vor einer zukünftigen Apokalypse.

Die Sammlung „Trödelmarkt der Träume“ (1986) enthält einige frühe Gedichte zu diesem Themenkreis. Im „Phantásischen Reiselied“ sind Soldaten die Feinde der Phantasie. Sie verursachen ein Gefühl der ständigen Bedrohung. Sie stehen für Zerstörung, für Beutemachen, für das krude Abschöpfen von Schönheit und Stolz:

|45|„Tagein, nachtaus

durchsuchen Soldaten mein leeres Haus.

Sie gehen in meinen Wäldern auf Jagd.

Einhörner schießen sie, ehe es tagt.

Tagein, nachtaus

mit dem Gefieder des goldenen Pfaus,

mit meiner Krone aus Beuteschmuck

todmüde kehren sie wieder zurück.

Sie haben die Traumstadt verbrannt.

Was sie erbeuteten, zerfällt im Licht.

Mich ganz alleine, mich finden sie nicht,

finden mich niemals in meinem Heimatland.“

(Trödelmarkt der Träume, S. 73)

„Der Helm“ ist ein dreistrophiges satirisch-ironisches Gedicht aus dem Jahr 1968 über den Militärhelm, der nur „im Ernstfall“ als Schutzhelm, sonst als „Teil der Uniform“ zu betrachten sei. Ende ‚sorgt‘ sich um die korrekte Beachtung des Ernstfalles, fragt sich, ob auch der Helm sie kennt, und schließt:

„Sehn Sie, drum möcht ich, um’s ehrlich zu sagen,

lieber an unsichern Tagen

’nen Regenschirm tragen.

Plemplem.“

(Trödelmarkt der Träume, S. 26)

Eines der zum Abdruck vorgesehenen Lieder wurde nicht aufgenommen. Es liegt in einer frühen Fassung im Marbacher Archiv. Unter Einschluss der handschriftlichen Korrekturen lautet es:

MÜDER SOLDAT

Das vielzerrissene Fahnentuch des Regens

weht übers Land, von Rost und Erde braun.

Geschliffner Wind, die Schneide eines Degens,

an dumpfer Trauer ist er stumpf gehaun.

Kein Baum mehr rings, kein Tier, kein Vertraun.

|46|Und leis’ das lang vergessne Lied der Flöten

und seine sanfte Traurigkeit kommt mir zurück.

Das macht mich hilflos unter Stahl und Schlick.

Der Sand ist gut. Ich möchte nicht mehr töten …

Die Absage an den Krieg und das männlich-soldatische Töten nimmt Ende in der Ballade „Das ewige Heldenlied“ mit einer Suche nach neuem Heldentum auf.

„Ich hoffe, man wird in der künftigen Welt

vielleicht mal was Neues erfinden.

Und dann gilt der Mann, der nicht töten kann,

erst als richtiger Mann. Aber wann? Aber wann?“

(In: Trödelmarkt der Träume, S. 38)

Zu den Kriegserfahrungen der Generation Michael Endes gehört auch die Kinderlandverschickung (KLV). Ab 1940 evakuierte die Reichsdienststelle KLV Mütter mit Kleinkindern und Kindergruppen, später ganze Schulgemeinschaften aus den von Luftangriffen bedrohten städtischen Regionen. Aufnahme fanden sie in eigens eingerichteten KLV-Lagern, wo ein ideologisch streng geregelter Tagesablauf herrschte, aber auch in besetzten und umfunktionierten öffentlichen und privaten Einrichtungen, wo es manchmal etwas weniger kontrolliert zuging. KLV-Orte gab es in ländlichen, nicht industrialisierten Regionen des Deutschen Reichs – wie den ländlichen Regionen Bayerns – und in von der Deutschen Wehrmacht annektierten Gebieten. Auch die Hotels, Pensionen und Privatunterkünfte der Kurorte füllten sich mit privaten Bombenflüchtlingen aus den deutschen Großstädten, mit KLV-Gruppen und Rekonvaleszenten aus Lazaretten. Sie brachten Arbeit und Einnahmen für die Gastbetriebe. Zum Problem wurde das Zusammenleben dieser unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen erst, als die vor der Roten Armee Fliehenden hinzukamen und bei Kriegsende die Infrastruktur des nationalsozialistischen Regimes zusammenbrach.

Als die Schüler und Lehrer des Maximiliansgymnasiums 1943 nach Garmisch-Partenkirchen evakuiert werden, haben sie – nach dem Wertesystem des NS-Großstadtlebens jener Tage – ein gutes |47|Los gezogen. Sie kommen in den Kramerhof nach Garmisch, einer ehemaligen Hotelpension in der Von-Müller-Straße 12, nur hundert Bahnkilometer von Endes elterlicher Wohnung entfernt. Garmisch-Partenkirchen wurde in den dreißiger Jahren bevorzugter Erholungsort der NS-Prominenz und entwickelte sich während des Krieges zunehmend zum Rückzugsort für die weitblickende faschistische ‚Elite‘.

Für Michael Ende ist es eine Rückkehr in den Geburtsort, wo er noch Bekannte und Freunde aus den ersten Ehejahren der Eltern und dem früheren Lebensumkreis der Mutter hätte treffen können. Aber für den 14-Jährigen sind andere Dinge wichtig: die neue Freiheit, die neuen Mädchen, der neue Spaß. Das gesteigerte Lebensgefühl der dem Bombeninferno entronnenen Schüler besitzt allerdings noch eine andere Quelle: die sich langsam breit machende Gewissheit, dass der Zugriff der Wehrmacht und die Einberufung zum aktiven Kriegsdienst nicht mehr lange auf sich warten lassen werden. Daher soll die verbleibende Zeit möglichst viele Freuden bieten.

Zusammen mit Freund Bodo bezieht Michael Ende ein Zimmer mit vier Stockbetten im Hinterhaus des Kramerhofes. Der Unterricht findet im Wirtszimmer statt. Es gibt Fahnenappelle und Übungsmärsche, aber keinen pausenlosen Drill – und viel Freizeit. In der Hierarchie des Ortes gehört man zur privilegierten Jugend. Für die Mädchen – Arbeitsmaiden aus dem Ruhrgebiet in der Küche, eine Sekretärin mit Halbweltvergangenheit, die behüteten Töchter der Hoteliers – sind die Jungen aus München Boten der großen, weiten Welt mit Bildung und Lebensart. Zum ersten Mal kann der junge Michael Ende die Zugehörigkeit zu einer ‚guten Adresse‘ – auch wenn es die verhasste Schule war – zu seinen Gunsten definieren.

Im Austragungsort der Olympischen Winterspiele 1936 mit allerbester sportlicher Infrastruktur sind Wanderungen, Bergtouren, Schlittschuhlaufen und Skifahren an der Tagesordnung. Michael Ende nutzt diese neue Kombination von Schule, Freizeit und Gruppenleben aber auch, um seine bisher in der Schule unangebrachten Fähigkeiten einzubringen. Er verfasst Sketche, inszeniert Bunte Abende mit kleinen Revuen, singt mit, wenn die Ohrwürmer der letzten Kriegsjahre verballhornt und mit jugendlicher Frivolität aufgeführt wurden. Das alles ist ein Spaß der Schulkameraden, wird |48|aber hier zum ersten Mal zur Qualität, findet ein Publikum, stellt sich neben die schulische Leistung, d.h. neben das Versagen.

Peter Boccarius und Michael Ende konnten sich schon als Schüler unterschiedlicher Klassenzüge des Maximiliansgymnasiums im gemeinsamen protestantischen Religionsunterricht nicht leiden. Als Bewohner des Vorder- und Hinterhauses im Kramerhof sind sie natürliche Feinde, werden aber zum Ärger ihrer Kumpane dann doch beste Freunde. Verbunden sind sie durch Geschichten, Gespräche, am Bildungsgut von Schule und Elternhaus orientierte Gedanken über Moral, Schönheit und Kunst.

In seinen Erinnerungen zitiert Boccarius ein Gedicht Michael Endes, das in diesen Jahren – also 1943/44 – entstand. Von den ersten schriftstellerischen Versuchen wird es von nun an noch circa 17 schwierige, krisenreiche Jahre dauern, bis Michael Ende öffentliche Anerkennung findet. Das frühe Gedicht steht in krassem Gegensatz zur aufgeputschten Lebensfreude des auffallend schönen Jungen in der Pubertät, stimmt nicht in Endsieg-Euphorie ein, zeigt vielmehr Nähe zum familiären Bilder- und Gedankengut:

APOKALYPTISCHES GEBET

Wenn auf Dein Gebot, O Herr,

unendliches Leid die Menschen bedrückt,

Wenn auf Dein Gebot, O Herr,

der Haß sein Geißel-Szepter schwingt,

vor ihm herschreitend die Not,

zu bereiten dem Herrscher den Thron

in rauchenden Trümmern.

Wenn auf DEIN Gebot, O Herr,

die Verzweiflung die Menschen würgt,

das Grauen ihnen die Kraft aus dem Herzen saugt,

Wenn auf Dein Gebot, O Herr,

die vier teuflischen Engel

die Himmel durchfahren,

erzittern machen die Welten,

|49|wenn sie gleich rasenden Sternen

die Bahnen ziehn, zu säen die Saat,

die Du ihnen befahlst –

Dann vergieb mir, O Herr,

wenn ich klein werde

und wenn ich frage:

Mein Gott, warum?

Denn groß sind Deine Werke, gewaltig,

und ich bin, ach so gering.

Du aber bist Treue, O Herr,

und nicht verlässest Du Deine Schöpfung,

wenngleich es mir schiene,

als habest Dein Antlitz Du von ihr gewandt,

sie überlassend den Dämonen.

Doch alles geschieht nach Deinem Gebote,

denn Du

hast keinen Gegner,

auch im Bösen bist du.

(Zit. n. Boccarius 1995, S. 107f.)

Bei der großen Bombenoffensive auf München im Juli 1944 werden die bereits beschädigte Wohnung der Familie und das Atelier in der Kaulbachstraße zerstört. Die meisten Bilder, Drucke und Zeichnungen des Vaters sind verloren. Die Mutter zieht aus der Innenstadt nach München-Solln. Es ist nicht auszumachen, ob das Gedicht vorher oder danach entstand.

Als die Mutter auf Klagen des Sohnes die Haushälterin des Kramerhofes wegen der geringen Essensportionen zur Rede stellt und er daraufhin für einen vorangegangenen Protest der Schüler verantwortlich gemacht wird, muss Michael Ende den Kramerhof verlassen. Man logiert ihn in die Pension Roseneck in der Partnachstraße 50 ein, wo die jüngeren Schülerjahrgänge untergebracht sind und wo er nun ein eigenes Zimmer bewohnen darf. Dort verliebt er sich prompt in Gudrun, eine Verwandte der Pensionsbesitzer, die in Dresden lebte und wegen der Bombenangriffe zurück nach Garmisch gekommen ist. 2007 erinnerte sie sich:

|50|„Also das war so. Als ich von Dresden kam, musste ich ja in die Schule gehen. Ich konnte ja nicht ohne Schule sein und da war ich im Kainzenbad im Melcher, da war ja die Oberschule. Da hat ein gewisser Melcher, da wo jetzt das Krankenhaus ist …

War das eine Privatschule?

Ja, Privatschule und da war ich dort, aber in Latein war ich sehr schlecht, in Mathematik ebenfalls, denn die Mathematiker sind meistens in Latein gut, wie umgekehrt, also das war nicht mein Fall und ich brauchte Hilfe und zwar brauchte ich Hausaufgabenhilfe. Und da haben wir das so ausgemacht, da er ein sehr guter Lateiner war. Ich kam heim mit meinen Hausaufgaben, hab die Hausaufgaben abgeschrieben auf einen Zettel und hab sie unter den Teppich der dritten Stufe, die dann hinaufging, unter den Teppich geschoben und da hat er die rausgezogen, hat mir die Hausaufgaben gemacht, sie wieder drunter geschoben und dann am Abend hab ich sie mir abgeholt und schön wieder in mein Heft rein geschrieben. Also das war ein kleiner Betrug, aber sonst kam er auch oft rauf und hat dann Vokabeln abgehört, aber ein richtiger Lateinlehrer war er nicht, das war nicht der Grund.

Was hat Sie an ihm fasziniert?

Er muss damals so 15 gewesen sein. Ich war so 14 ungefähr. Was mir gefallen hat, war eben, dass man sich fantastisch mit ihm unterhalten konnte. Wir sind oft spazieren gegangen am Kramerplateauweg auch oberhalb vom Weg. Wo gehen heute junge Leute hin? Auf den Kramerplateauweg. Und da haben wir oft zusammen gesessen, haben uns unterhalten, bei uns oben in der Wohnung, bei meiner Tante Hanne und Onkel Philipp. Ich hatte ja große Schwierigkeiten damals wegzugehen. Damals war man ja als junges Mädchen sehr betreut. Da aber meine Familie die Ende-Familie kannte, war das der einzige, mit dem ich überhaupt raus durfte. ‚Ja, das ist ein anständiger Junge, mit dem kannst du ruhig gehen.‘ Ja, und er hat auch sehr schön gezeichnet, er hat mir damals auch eine wunderschöne Zeichnung in mein Poesiealbum reingemacht, aber das find ich nicht mehr, das ist weg. Viele Dinge, die weg sind. Und dann musste ich wieder nach Dresden und dann hat er mir noch paar mal geschrieben und dann hat er mir auch ein Foto geschickt von sich und seiner Mutter. Und dann ‚aus den Augen aus dem Sinn‘, man hat sich dann langsam verloren.“

(Guizzardi)

|51|Als junge Frau und Mutter nahm die zeitweilige Lateinschülerin Michael Endes später in München wieder lockeren Kontakt mit ihm und seiner Mutter auf. So einen hübschen liebenswürdigen Jungen vergisst man nicht.

Der Schüler Ende genießt in der Pension Roseneck seine hier noch weniger kontrollierte Freiheit, deren Bedrohung ihm gleichwohl bewusst ist. Ein Erlass vom 5.3.1945 des Oberkommandos der Wehrmacht bestimmt den Einzug des Jahrgangs 1929 zum aktiven Wehrdienst. Viele Klassenverbände treten geschlossen in die Waffen-SS ein. Die Alternativen sind entweder die Wehrmachtsverpflichtung an der Front oder der Eintritt in den sogenannten Volkssturm, dem letzten Verteidigungsaufgebot auf deutschem Boden. Die nach Garmisch evakuierten Schüler aus Michael Endes Alterskohorte werden von einem SS-Offizier angeworben. Der Junge weicht aus und gibt an, Pfarrer werden zu wollen. Aber nun weiß er, dass seine Einberufung nur noch eine Frage der Zeit ist. – Er selbst berichtete später, wie ihm ein Zeitaufschub gelang:

„Daß der Krieg inzwischen endgültig verloren war und nicht mehr lange dauern konnte, war uns allen klar. Es ging also nur noch darum, Zeit zu schinden. Jeder Tag, um den einer seine Einberufung verzögern konnte, zählte dabei. Einige meiner Klassenkameraden waren auf eine glorreiche Idee gekommen, die sozusagen eine Flucht nach vorn bedeutete: Man konnte sich als Offiziersanwärter melden. Dazu mußte man eine besondere Prüfung ablegen, die jedoch erst in einigen Wochen stattfinden würde. Bestand man diese Prüfung, so mußte man zunächst eine entsprechende Ausbildung hinter sich bringen, ehe man an die Front kam. Bestand man sie nicht, so hatte man wenigstens diese paar Wochen und dazu noch die Tage bis zum Eintreffen des Ablehnungsbescheids gewonnen – und wer weiß, wie die Dinge bis dahin lagen. Ich meldete mich also gemeinsam mit ihnen als Offiziersanwärter an. Da ich mich dabei für eine Waffengattung entscheiden mußte, schrieb ich hin: Gebirgsjäger. Ich hoffte, auf diese Weise während der Ausbildung in der Nähe von München bleiben zu können.

Meine Bewerbung wurde tatsächlich angenommen. Daß ich damit wieder einmal Glück gehabt hatte, zeigte sich schon bald. Während |52|wir noch auf die Prüfung warteten, waren einige Jungen meines Jahrgangs aus der Parallelklasse bereits zur Wehrmacht eingezogen worden. Man hatte ihnen einen Stahlhelm aufgesetzt, einen Karabiner 08/15 in die Hand gedrückt und sie den amerikanischen Panzern entgegengeschickt. […]

Dann kam der Tag unserer Prüfung. Da wir schon gemustert waren, bestand sie hauptsächlich aus schriftlich zu beantwortenden Fragen, die die Allgemeinbildung betrafen, wie zum Beispiel: ‚Wieviel Prozent Salzgehalt hat das Meer?‘ Da ich keine Ahnung hatte, schrieb ich hin: ‚Welches Meer?‘ und fiel prompt durch. Wenige Tage später hatte ich meinen Ablehnungsbescheid.“

(Zettelkasten, S. 234f.)

Als die Einberufung kommt, flüchtet Michael Ende nach München-Solln zu seiner Mutter. Der auch hier eintreffende Stellungsbefehl wird von Mutter und Sohn nicht beachtet. Die chaotischen Zustände kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges retten ihn. Er wird nicht – wie so viele seiner Altersgenossen in gleicher Lage – als jugendlicher Deserteur zur Verantwortung gezogen. Aber es ereignet sich ein von Michael Ende in den Interviews späterer Jahren geschildertes Zwischenspiel, dessen Dramatik und zeitgeschichtliche Bedeutung ihm vielleicht erst nach Kriegsschluss klar wurde.

Um die unterrichtslose Zeit bis zur Wiedereröffnung des Maximiliansgymnasiums zu überbrücken, erhält Michael Ende Griechischunterricht bei einem Angehörigen des Berchmanskollegs in Pullach. Das Kolleg war eine Ausbildungsstätte des Jesuitenordens auf Hochschulniveau und während der Zeit des Nationalsozialismus einer der Treffpunkte des Kreisauer Kreises. Der Griechischlehrer stand der Widerstandsbewegung Freiheitsaktion Bayern unter der Führung von Rupprecht Gerngross nahe, die mit einem erfolglos verlaufenen Putsch gegen das Militär in München und Umgebung die kampflose Übergabe der Stadt an die einmarschierenden US-Armee erreichen wollte. Der über seine eigentliche Aufgabe nicht informierte Schüler Michael Ende wird ein paar Mal als Kurier benutzt und bringt mit dem Fahrrad verschlüsselte Nachrichten von Pullach in die Villa Gerngross nach Bogenhausen. Von seinen Eindrücken auf diesen Wegen berichtete er später:

|53|„Von Solln nach München führte eine breite Allee an der Isar entlang. Hier bewegte sich ein endloser grauer Menschenstrom, die geschlagene deutsche Armee auf dem Rückzug in Richtung Alpen, zu Tode erschöpfte, ausgemergelte Gestalten. Selbst die Achtzehn- und Zwanzigjährigen unter ihnen sahen aus wie uralte Männer, die sich kaum noch auf den Beinen halten konnten. Auch Verwundete waren darunter, mit blutverkrusteten Verbänden um Arm oder Kopf, manche humpelten auf Krücken. An einigen Bäumen links und rechts baumelten Erhängte im Wind. Im Vorbeiradeln sah ich, daß sie Pappschilder umgehängt hatten, darauf stand mit roter Farbe geschrieben: ‚Deserteur‘. Die armen Teufel hatten offensichtlich versucht, sich in die Büsche zu schlagen, und waren von den allgegenwärtigen ‚Kettenhunden‘ – so nannte man die Feldgendarmerie – oder der SS aufgegriffen worden. Mich beachtete Gott sei Dank niemand.“

(Zettelkasten, S. 241)

Am 30. April 1945 marschiert die US-Armee in München ein. Edgar Ende kehrt im Sommer 1945 zu Frau und Kind nach München-Solln zurück. Wie für viele seiner Generation stellt sich aber das erwartete große Befreiungsgefühl nicht ein. Michael Ende beschrieb es später so:

„In all den Jahren davor hatte ich mir immer vorgestellt, wenn erst einmal ‚alles vorbei‘ sei, dann würde ein großes, wunderbares Gefühl der Erleichterung über mich kommen.

Aber es hat sich nie eingestellt, bis zum heutigen Tage nicht.“

(Zettelkasten, S. 243f.)

Der Halbwüchsige erlebt die erste Nachkriegszeit mit Hunger, Wohnungsnot, Schwarzmarkt und sporadischer Gewalt in alltäglichen Scharmützeln zwischen Siegern und Besiegten. Seelischen und auch sozialen Halt finden die Eltern in der Münchner Gruppe Die Christengemeinschaft, einer 1922 gegründeten, in Lehre und Kultus weithin protestantisch ausgerichteten, von der Evangelischen Kirche aber nicht anerkannten religiösen Bewegung. Sie wird wesentlich getragen vom anthroposophischen Denkmodell des Esoterikers und Kulturphilosophen Rudolf Steiner. Der nationalsozialistische Staat hatte 1935 die anthroposophische Lehre, ab 1941 auch die Christengemeinschaft verboten und deren Mitglieder verfolgt.

|54|Die Eltern hatten schon vor dem Krieg lockere Verbindungen zur Anthroposophie und zu den Mitgliedern der Christengemeinschaft gepflegt. Dem Sohn waren die Schriften und die Lehre Rudolf Steiners – auch durch seinen Onkel Helmuth in Hamburg – vertraut. In der Volksschule unterrichtete ihn ein anthroposophischer Lehrer. Der Hang der Mutter zur Mystik, die künstlerische Selbstverpflichtung des Vaters zum romantischen Surrealismus, ihrer beider Nähe zu Astrologie und Wahrsagerei vereinten sich in Vorstellungen von der Vorherbestimmtheit des eigenen Schicksals und der Kraft visionärer Phantasie. Diese Mischung machten Eltern und Sohn empfänglich für eine Religionsgemeinschaft, die ein hohes Maß an persönlicher Annäherung gewährleistete.

In der neu aufgestellten Münchner Gemeinde mit ihren kultischen Weihehandlungen und gleichzeitig zupackender Sozialarbeit findet Michael Ende erste Orientierung fern von den rüden Erfahrungen der Jahre 1945 bis 1947. Mag er sich später auch in kritische Distanz zu Anthroposophie und Christengemeinschaft begeben haben, so blieb er dem weit verzweigten Kreis dieser Gemeinde und einigen ihrer einflussreichen Mitglieder, die ihm wichtige Türen öffneten, lebenslang verbunden. Bis heute sind anthroposophische Gruppen – auch in Japan – eine zuverlässige Lesergemeinde seiner Schriften für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Endes Kontakte zu Verlagen, Illustratoren, Veranstaltern, Gesprächspartnern und Analytikern seiner Texte rekrutierten sich maßgeblich aus anthroposophischer Umgebung. Später, im Zenit seines Erfolges, als sie ihn als einen der Ihren und seine Texte oft genug als ihr Sprachrohr vereinnahmten, mag er sie manchmal als lästig empfunden haben. Den Respekt aber verlor er nie. Zum Sterben kehrte er in ihren Umkreis zurück.

Zur Christengemeinschaft in München gehörte der Landschaftsmaler Richard Ferdinand Schmitz, der als Angehöriger der Gruppe „Herberge fahrender Gesellen“, einem privaten Debattierklub erfolgreicher Künstler und Intellektueller, ins Visier der Gestapo geraten war. Er pflegte Kontakte zum weiteren Umkreis von Stefan George und Karl Wolfskehl, hatte luxuriöse Zeiten erlebt. Nach dem exzentrischen Maler Fanti war Schmitz die zweite Quelle für Michael Endes Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Hässlichkeit: |55|Seine eine Gesichtshälfte bedeckte ein blaurotes Muttermal bis zur Lippe, von der ein Teil geschwollen herunterhing.

Schmitz stellt dem Kollegen Edgar Ende Wohnung und Atelierraum in seiner großen Wohnung im vierten Stock des Hauses Leopoldstraße 135a zur Verfügung. Fünfzehn Jahre wohnt Michael Ende hier zunächst mit seinen Eltern, später mit der Mutter allein. Dem Vater gibt dieser seinerzeit fast unbezahlbare Freundschaftsbeweis neuen Antrieb. 1946 betätigt er sich als Mitbegründer des Berufsverbandes Münchner Künstler und der Neuen Gruppe. Er schließt Freundschaft mit dem Komponisten Karl Amadeus Hartmann. Die ersten großen Bilder entstehen. In den nächsten Jahren gehören Ausstellungen im In- und Ausland, Italienreisen, hochkarätige Mandate – wie die Präsidentschaft der Großen Münchner Kunstausstellung im Haus der Kunst – zu seinem Leben. Hinzu kommen berufspolitische Aktivitäten wie die Gründung des Deutschen Künstlerbundes.

Aus Boccarius’ Schilderung des väterlichen Ateliers spricht sehr eindringlich die Atmosphäre, die hier herrscht, die dem Sohn bald widerstrebt, aus der er schließlich fliehen wird:

„Und die nächste Tür führte ins schönste Gelaß der Wohnung – in eine Traumwelt, die es so heute nicht mehr gibt.

Es war das Atelier, angefüllt mit verschlissenem Pomp, der verstaubten Pracht einer vergangenen Zeit, einem Rest vom überladenen Stil Makarts. Auf dem Parkett lagen abgewetzte Teppiche, darauf standen alte Möbel: Fauteuils, Tische, Etageren und ein riesiger, weitausladender Barockschrank, der die halbe, gewiß nicht schmale Wand bedeckte; ferner ein gewaltiges, venezianisches Bett, mit Edelholzintarsien verziert, das am Tag als Sitzgelegenheit für Besucher diente und nachts als Schlafstätte für Gäste. Darüber war ein ehemals sehr kostbarer, nun aber ramponierter Orientteppich gespannt, über diesem – und an allen anderen Wänden auch – hingen bis hoch hinauf Ölgemälde, Bild an Bild. Die meisten stammten aus Schmitzens Produktion und zeigten Landschaften und bäuerliche Motive.“

(Boccarius 1995, S. 129f.)

Michael Ende bewohnt in der Leopoldstraße ein eigenes kleines Zimmer. Nachdem bis zum Jahresende 1945 kein Schulunterricht |56|stattgefunden hat, geht er nun wieder ins Maximiliansgymnasium, schreibt in der Manier großer Vorbilder anspruchsvolle Gedichte zu religiösen und philosophischen Themen – und verliebt sich in ein Mädchen aus guter, anthroposophischer Familie. Bocccarius nennt sie Wiltrud.

Wiltrud gibt Michael Ende in der Ateliergemeinschaft Schmitz/Ende Klavierunterricht und wird seine feste Freundin. Beide gehören zum Chor der Christengemeinschaft, der von dem Komponisten Fritz Büchtger geleitet wird und in öffentlichen Konzerten auftritt. Als aktive Mitglieder der Jugendgruppe der Christengemeinschaft beteiligen sich Wiltrud und Michael an jahreszeitlichen Feiern und Theateraufführungen. Höhepunkt im Gemeindeleben sind die Oberuferer Weihnachtsspiele, die in der Tradition der mittelalterlichen Mysterienspiele biblische Szenen auf volkstümlich-derbe und humorvolle Weise zur Aufführung bringen. Rudolf Steiner hatte sie zusammengestellt und herausgegeben. Einige dieser Stücke werden im Dialekt einer deutschsprachigen Enklave bei Bratislava, aber mit bayerischen Anklängen dargeboten.

Ein später Nachklang dieses Kontakts mit der Volksliteratur ist Michael Endes Libretto zum Singspiel „Goggolori“ (1985). Vielleicht lässt sich auch eine Verbindung zwischen dem erwähnten Gedicht „Der Kindermord“, das die Herrschaftsstrategie des Herodes entlarvt, und Endes Mitwirkung an den Theateraufführungen der Christengemeinschaft herstellen. Denn hier hatte er selbst unter anderen die Rolle des Herodes übernommen. 2015 wies Johannes Lenz auf Endes fundamentale, sichere Bibelkenntnis und auf dessen Vorliebe für diese Rolle hin. Dabei machte Lenz auf den möglichen Zusammenhang zwischen Endes Lust, den Herodes zu spielen, und seinem Gefallen an der dunklen Seite der Welt aufmerksam. Gleichzeitig identifizierte er darin das offenbar schon damals sichere Gespür Michael Endes für die Attraktivität und den Reiz einer guten Rolle. Seine Kontakte mit dem Autor haben Johannes Lenz zu der Überzeugung geführt, dass für Ende die Beschäftigung mit dämonischen Mächten ein Weg zur Bewusstseinserweiterung war, den andere mit Hilfe von Drogen suchten (Lenz, 30.1.2015).

Die Jugendgruppe der Christengemeinschaft München ermöglicht Michael Ende auch Reisen. Zu Pfingsten 1946 fährt er zur ersten |57|anthroposophischen Jugendtagung, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Fellbach bei Stuttgart stattfindet. Hier sammelt er erste Eindrücke von der gefestigten anthroposophischen Gesellschaft in Baden-Württemberg, die ihm später zum Fundament seiner Glaubensvorstellungen, zur Lesergemeinde und zum kritischen Wegbereiter werden wird. Sie bot Ende eine Heimat, und das wusste er zu schätzen. Aber mit ihrem zum Dogma erhobenen Lehrgebäude engte sie ihn auch ein. Vor allem der Kunsttheorie Rudolf Steiners konnte er nicht folgen.

Neben den Angeboten der anthroposophischen Gesellschaft Münchens und der Christengemeinschaft nutzt Michael Ende intensiv die kulturellen Angebote der Nachkriegszeit. Da sind zunächst die wieder aufgenommenen Theatervorstellungen, Opern und Konzerte, die auch von den Nationalsozialisten verbotene Musik und Literatur wiederbeleben. Hinzu kommen das Theater und die Unterhaltungsmusik der US-Besatzungsmacht, neue Publikationsformen wie die preiswerten Vorgänger der Taschenbücher, frei zugängliche Literatur im Münchner Amerika-Haus, dem erfolgreichen Instrument des Reeducation-Programms der US-Regierung. Auch die Bars, die Jazz-Clubs, die Amüsierzonen der Nachkriegsgesellschaft lässt Ende nicht aus.

Der schöne junge Mann mit dem deutlichen Hang zu Lebensgenuss und wenig Disziplin war nach dem fast unverändert wieder aufgenommenen Wertesystem des Bildungsbürgertums vor der Währungsreform eine gefährliche Versuchung für die Lebenslust der Töchter, aber kein potentieller Schwiegersohn. Die Pille gab es noch nicht, jede sexuelle Begegnung barg die Gefahr einer Schwangerschaft. Abtreibungen waren zwar an der Tagesordnung, aber strafbar und beim herrschenden Mangel an Antibiotika immer auch gefährlich. Wie groß Wiltruds Eltern die Gefahr einschätzten oder wie groß ihr Verantwortungsgefühl gewesen sein mag, sieht man an ihrem Entschluss, im Verein mit dem Ehepaar Ende eine Lösung im doppelten Sinne zu finden. Erlag Michael Ende hier einer Bestechung, die ihm Distanz vom Elternhaus versprach?

Am 15. April 1947 tritt er in die traditionsreiche, 1919 gegründete und gerade wiedereröffnete Freie Waldorfschule Uhlandshöhe in der Haußmannstraße in Stuttgart ein. Die Eltern des Mädchens zahlen |58|das Schulgeld. Er wohnt zur Untermiete in der Klopstockstraße. Um die Situation richtig einzuschätzen, muss daran erinnert werden, dass Michael Ende bisher ständig in enger Gemeinschaft gelebt hatte, nie allein und auch für die Strukturierung seines Tagesablaufes nie verantwortlich gewesen war.

Die unter dem Nationalsozialismus verbotene freie Waldorfpädagogik gefällt ihm besser als der Unterricht im humanistischen Gymnasium, aber ein guter Schüler wird er auch hier nicht. Viele Fächer wie Handarbeit, Modellieren und Eurythmie kann er nicht ernst nehmen. Dafür steht ihm seine Bildung aus dem Maximiliansgymnasium im Weg. Wieder ist er den Mitschülern an Lebenserfahrung weit voraus. Der Lebensstil der Eltern und die nationalsozialistischen Erziehungsprinzipien haben ihn früh erwachsen werden lassen. Er moniert den Mangel an modernen Autoren und Lebensfragen im Unterricht.

Sein Verhalten scheint die Besorgnis der Eltern des Mädchens zu bestätigen. Wenn es ums Feiern und Trinken geht, kann Michael Ende, der die Gesellschaft mit Liedern und kleinen Szenen unterhält, kein Ende finden. Er nutzt seine Freiheit zu wechselnden Affären, probiert seine Männlichkeit weidlich aus und verbringt viele Stunden allein in Gedanken über seine Identität und seine Rolle in der Kunst.

Diese inneren Selbstgespräche, die er später als kaum unterbrochene Monologe in Gesellschaft abrufen konnte, lenken ihn, dem in seinem Zimmer keiner widerspricht, oft genug in Gedanken und Vorstellungen des Mystischen und Okkulten. Denn das ist die Bilderwelt, mit der er aufgewachsen ist. Auch Boccarius erwähnt in seinen Jugenderinnerungen die Geschichte von dem Zwerg, der in Michael Endes Zimmer auf dem Stuhl sitzt und beschwörend sagt: „Du wirst heute Nacht nicht schlafen.“ Michael Ende erzählte auf diese Weise vielen Freunden von seiner Sehnsucht nach Gemeinschaft in der nächtlichen schwäbischen Einsamkeit – wenn gerade mal kein Mädchen da war.

Gesellschaft verschafft ihm sein alter Schulfreund Boccarius, der ganz in der Nähe wohnt und das Stuttgarter Eberhard-Ludwig-Gymnasium besucht. Das für damalige Verhältnisse verschwenderisch ausgestattete, geheizte, ausreichend beleuchtete Amerika-Haus Stuttgart |59|wird zum Zentrum von Michael Endes außerschulischen Aktivitäten. Hier findet er Lektüre, Lesungen und Theaterstücke, wie er sie in der Kinderlandverschickung in Garmisch-Partenkirchen geübt, in der Münchner Christengemeinschaft erfolgreich gespielt hat und nun semiprofessionell im Hinblick auf eine eigene Theaterlaufbahn inszenieren will. Impulse und Hilfe dafür liefert ihm die Waldorfpädagogik, in der das Theaterspiel eine große Rolle spielt. Hier stößt er nicht auf das Experiment, sondern auf gediegenes Handwerk. Fotos von Michael Ende als Faun in einer Inszenierung von William Shakespeares „Sommernachtstraum“ zeigen ein leidenschaftlich grimassierendes, auch Flöte spielendes Naturwesen (vgl. Hocke/Neumahr 2007, S. 28).

Im Amerika-Haus wagt man sich an die Inszenierung von Jean Cocteau. Michael Ende legt erste Proben von Regiearbeit ab. Es gehört zum Lebensstil der Stuttgarter Gesellschaft, in der er sich nun dank Schulzugehörigkeit und Freundeskreis bewegt, den Nachwuchs zu sich einzuladen. Dabei sind die Grenzen zwischen Mentor und Party-Gastgeber fließend. Ende lernt auf diese Weise den Maler Willi Baumeister, den Nervenarzt und Kunstsammler Ottomar Domnick und die Witwe von Oskar Schlemmer kennen.

Die neuen Maßstäbe für Kunst, Musik und Theater holt er sich weiterhin in München, erlebt dort tief beeindruckt das wieder erwachende Kunstleben mit neuen Namen und Programmen. Die Amerikaner Thornton Wilder und Eugene O’Neill, die Franzosen Paul Claudel, Jean Anouilh, Jean Cocteau und Jean-Paul Sartre, die Deutschen Wolfgang Borchert und Carl Zuckmayer gehören dazu. Die Annäherung an diese Welt ist für Teile von Michael Endes Generation in den ersten Nachkriegsjahren direkt und schrankenlos. Während viele seiner Altersgenossen größte Schwierigkeiten haben, das in Kindheit und Jugend indoktrinierte nationalsozialistische Gedankengut zu verarbeiten, zu verdrängen, zu überwinden, fühlt Ende sich befreit und bestätigt durch die sich ihm öffnende neue Welt. Er hat keine nationalsozialistischen Irrtümer zu bedauern. Seine direkten oder indirekten Beziehungen zu den vielen großen Namen, die von Boccarius und anderen Biographen genannt werden, können in diesem Stadium als Versprechen auf eine große Zukunft gedeutet werden. Sicher haben es der vielversprechende junge Mann und |60|seine Eltern so gesehen. Trotz aller Einschränkungen verbringt der Sohn in Stuttgart privilegierte zwei Jahre.

Seit 1943 schreibt Michael Ende ununterbrochen an Gedichten und Liedern, später an ersten Handlungsabläufen von Dramen, die nicht fertiggestellt, manchmal aber nach Jahren für ein neues Projekt verwendet werden. Dem Waldorfschüler und Mädchenschwarm mit Amouren, dem gern gesehenen jungen Gast im Kreis der arrivierten Stuttgarter Kunstszene gelingt es, eines seiner Gedichte 1947 in der „Eßlinger Zeitung“ zu veröffentlichen:

DER GAUKLER

Du sahst ihn seltsam durch die Dämmrung schreiten.

Sein Gehen war wie eines Tänzers Gang.

Du hörtest, wie er lachte, wie er sang

Von Tod und Leben und von Kleinigkeiten.

Und was er unterwegs zu beiden Seiten

Gerade fand, das warf er hoch und zwang

es in den Wirbel seines Spiels, solang

Es ihm gefiel. Dann ließ er es entgleiten.

Er lachte, wenn sein Spielzeug von ihm fiel.

Und lachte auch, wenn er nach neuem griff.

Nahm Abschied und kam immer an.

‚Was ist dir ernst?‘ so fragtest du den Mann

Und stelltest ihn. Er blickte auf. ‚Das Spiel!

Du lernst es auch.‘ Und ging davon und pfiff.

(Zit. n. Boccarius 1995, S. 186f.)

Das Sonett – deutlich unter dem Eindruck von Rainer Maria Rilke und Hugo von Hofmannsthal geschrieben – gibt wohl eher das erstrebte, weniger das authentische Lebensgefühl des 18-Jährigen wieder. Fast möchte man sagen: So cool wollte er gerne sein!

Seine ersten dramatischen Versuche sind ernste, mit Symbolen überfrachtete Stücke. Eines davon stellt er fertig: das fünfaktige Stück „… denn die Stunde drängt“ mit dem handschriftlichen Entstehungsvermerk „1948 im Juli“ (Marbach).

|61|Hier führen ein „Heiliger“, ein „Mächtiger“ und „Der Verhuellte“ Dialoge über Liebe, Schuld, Freiheit und Verantwortung. Der Verhüllte fordert den Heiligen auf, zu seiner eigentlichen Natur zu finden. Der Heilige versucht, den Mächtigen von seinem Weltzerstörungsplan abzuhalten. Einmal widersteht er der Versuchung, den Mächtigen vorbeugend umzubringen. Bei der zweiten Gelegenheit stürzt er ihn einen Abhang hinunter. Das ruft den Schlussdialog von Verhülltem (der den Mord ablehnt) und Heiligem auf, in dem es um Schuld (die der Heilige auf sich nimmt), Freiheit (die sowohl der Mächtige als auch der Heilige für sich in Anspruch genommen haben), Liebe (die der Heilige sowohl für die geretteten Menschen als auch für seinen Bruder, den Mächtigen, empfindet), um Gesetz und Recht geht. Der Heilige steht in Ketten, stellt sich dem Gericht, hat das Dasein des Verhüllten vollendet und das Gesetz der Liebe erkannt. Das ganze Stück ist auf Dialog, auf eine Auseinandersetzung mit Gott angelegt.

Man spürt, dass Ende hier noch sehr von seiner anthroposophischen Umgebung beeinflusst war. Gleichzeitig ist das Drama ganz im Geist der Nachkriegsauseinandersetzung mit der Atombedrohung im Kalten Krieg geschrieben und lässt Endes Beschäftigung mit unterschiedlichen zeitgenössischen Vorbildern wie Paul Claudel und Jean Anouilh erkennen.

„Der Heilige: Erzähle mir, was geschehen wird, dann wirst du gesagt haben, was böse ist.

Der Mächtige: Nun, was wird schon geschehen? – Ich werde einen Befehl geben. – Und dann wird die grosse Stadt mit vielen tausend Menschen zu Asche werden. – Zuerst gibt‘s eine Flamme, die sieht aus wie eine Sonne, wie eine richtige Sonne, und dann entsteht ein Rauchpilz, hoch, paar tausend Meter. Und dann rollt ein Donner über die Erde, wie bisher noch keiner war. Dann ist geschehen, worum du wahrscheinlich so ein Theater machst: viele werden kläglich verreckt sein, die übrigen, die Glück gehabt haben und nicht dahin sind, haben Pech gehabt. Was da so im Umkreis des Donners war, wird teils verstümmelt sein, manche blödsinnig und andere vielleicht steril. – Je nach Veranlagung.“

(… denn die Stunde drängt, S. 11)

|62|Die Währungsreform vom 20. Juli 1948 schuf mit der Einführung der konvertierbaren DM in den drei Besatzungszonen der westlichen Alliierten die Voraussetzungen für die funktionierende Marktwirtschaft der späteren Bundesrepublik Deutschland. Rückblickend lag hier der Beginn einer beispiellosen Erfolgsgeschichte. Die Umstellung brachte seinerzeit jedoch auch Probleme mit sich. Jeder Einwohner erhielt zunächst 40 DM Kopfgeld. Dafür kaufte sich Michael Ende eine Gitarre. Seine Miete, das Schul- und Fahrgeld mussten in neuer Währung gezahlt werden. Der gesamte Kulturbereich wurde nun mit DM finanziert und musste sich selbst in DM finanzieren. Bücher, Konzert- und Theaterkarten, Zeitungen und Zeitschriften waren dadurch für viele zunächst unerschwinglich. Verlage, Buchhandlungen, Privattheater, Kleinkunst in Gaststätten waren vielfach nicht zu halten. Gerade die avantgardistische Kulturszene hatte es schwer zu überleben. Ein Teil der von Michael Ende so geliebten und mittlerweile von ihm selbst auch aktiv mitgestalteten Subkultur der ersten Nachkriegsjahre ging verloren.

Michael Ende verlässt die Stuttgarter Waldorfschule am 31. Dezember 1948 mit dem Abschlusszeugnis der 12. Klasse (das heute im Museum Kurohime Dõwakan in Shinanomachi, Japan, einzusehen ist). Für das Studium an einer deutschen Hochschule wären eine zusätzliche Verweildauer und weitere Prüfungen notwendig gewesen. Vielleicht waren eine Entscheidung der finanziellen Unterstützer oder/und der Geldmangel im Elternhaus die Gründe für diesen Entschluss. Gegen Letzteres spricht, dass der Vater ihn als Abiturienten sehen wollte, als Universitätsstudenten mit gesicherter Zukunft.

Es gibt im Elterhaus einen Krach wie selten, als Michael Ende seine Zukunftspläne bekennt. Er will in München die Schauspielschule besuchen, um sich das Handwerkszeug als Theaterautor anzueignen. Daher ist wahrscheinlich, dass er selber den Entschluss fasste, Stuttgart und die Waldorfschule zu verlassen und auch in München kein zum Universitätsbesuch berechtigendes Abitur abzulegen. Damals wurde man mit 21 Jahren volljährig und geschäftsfähig. Der minderjährige Sohn brauchte die Zustimmung des Erziehungsberechtigten. Schließlich gab der stets auf Ausgleich bedachte Vater dem rebellierenden Sohn nach.

|63|Die Schulzeit war zu Ende. Es gilt festzuhalten, dass Michael Ende zwar kein guter Schüler, aber auch kein Schulschwänzer oder totaler Schulversager war, der hauptsächlich als Autodidakt zu Wissen und Können gekommen wäre. Nicht zufällig hält die chinesische Prinzessin Li Si dem Analphabeten Jim Knopf die Notwendigkeit des Lesenlernens immer wieder vor Augen. Nationalsozialismus und Kriegszeit minderten zwar die Qualität und Ausrichtung seiner Schulzeit. Aber er absolvierte die gymnasiale Ausbildung am renommierten humanistischen Maximiliansgymnasium und der hoch geschätzten Stuttgarter Rudolf-Steiner-Schule.

Die Selbstinszenierung und Legendenbildung von Künstlern und Schriftstellern liebt den Hinweis auf den vermeintlichen Emanzipierungs- und Befreiungsprozess von autoritären Schul- und Ausbildungsverhältnissen. Michael Ende aber rebellierte nicht sichtbar. Er litt, wich aus, soweit es möglich war, sublimierte seine Schulnot in Dichtung und Lebensart. Sein schriftstellerisches Werk, seine kunsttheoretischen Äußerungen, sein künstlerisches Auftreten lassen sich jedoch ohne seine humanistische Schulbildung gar nicht denken. Aber von nun an bestimmte er seinen Lebensweg selber und wollte seine Fähigkeiten, Vorstellungen und Ziele, die in der Schule stets als Defizite betrachtet worden waren, endlich wertgeschätzt und anerkannt wissen.

Der Konflikt mit dem Vater verschärft sich. Waren es zunächst nur die Schwierigkeiten des Sohnes gewesen, sich an den heimgekehrten Ehemann an Mutters Seite zu gewöhnen, so tun sich jetzt eine Generationskluft und auch ein Interessenkonflikt auf. Es existiert eine Lebensbeschreibung des Vaters aus dem Jahr 1948, vielleicht für einen Antrag auf staatliche Entschädigung verfasst. Aus ihr spricht eine düstere, freudlose Stimmungslage, die Michael Ende widerstrebte, gegen die er zunehmend rebellierte:

„1928 fuhr ich, wie ich glaubte vorübergehend nach Garmisch. In der Pension Nirvana lernte ich eine Menge geistig tätiger Menschen kennen, verschiedene Schriftsteller, darunter auch Heinrich Mann und seine Frau. Hier lernte ich auch meine jetzige Frau kennen. Sie hatte in Garmisch ein Spitzengeschäft mit einer Werkstatt. Wir richteten gleich in der Wohnung ein Zimmer ein, in dem ich arbeiten konnte. […]

|64|Am 12. November 1929 wurde mein Sohn Michael geboren. Es war eine schwere Geburt, er kam mit einem Kaiserschnitte zur Welt. Durch die damit verbundenen großen Unkosten und den schlechten Geschäftsgang, der damals allgemein war, und wir keine großen Geschäftsleute waren, mußten wir das Geschäft aufgeben. Wir zogen 1931 nach München Pasing. Ich hatte dort ein sehr schönes großes Atelier gefunden. Da [der Münchner Kunsthändler] Franke ganz gut verkaufte, konnten wir ganz gut leben. In diesem Jahr machte ich, angeregt durch meinen Bruder, eine Reise durch Italien […].

Mein Freundeskreis vergrößerte sich, wir hatten immer viel Gäste. […] Wir dehnten diese improvisierten Kaffeegesellschaften mit Hilfe von Reibekuchen-Essen bis in die Nacht hinein aus. […]

Die relativ glückliche Zeit brach 1933 mit einem Schlage ab. Meine sämtlichen Ausstellungsmöglichkeiten waren zugrunde. Nur noch hinter verschlossenen Türen wagten die Kunsthändler meine Bilder zu zeigen. In diese Zeit fiel die Jubiläumsausstellung der Neuen Secession, deren Mitglied ich inzwischen geworden war. Der oberste Parteirichter Major Huch nahm die Ausstellung zum Anlaß, einen Artikel im Völkischen Beobachter zu schreiben, in dem er Maly und mich mit Freiheitsentzug bedrohte, falls wir weiter so malten. Daraufhin zog ich mich zurück und stellte nicht mehr aus. Wie sich später herausstellte, stand ich auf der schwarzen Liste, denn man verweigerte mir in der Reichskunstkammer den Bezugsschein für Farben mit dem Hinweis auf den Inhalt der Akte über mich.

Meine Frau hatte durch Frau Roh [Frau eines Kunstkritikers] Gelegenheit, einen Massagekurs in der Klinik mitzumachen. Die Zeit dieses Kurses war sehr schwer für uns. Mit dieser Arbeit versuchte sie, uns über Wasser zu halten. Ich selbst war sehr schwermütig und lange unfähig zu arbeiten. Da wir die Miete in Pasing nicht mehr bezahlen konnte [!], suchten wir ein billiges Atelier in München und zogen im Oktober 1935 nach München in die Kaulbachstraße. Die Bildhauerin Frau Praetorius unterstützte uns sehr und zahlte uns monatelang die Miete, wenn der Verdienst meiner Frau nicht reichen wollte. Ich selbst versuchte nun durch Dekorationsmalereien, die mir Kollegen verschafften, unseren Lebensunterhalt zu verdienen. […]

Inzwischen war der Krieg ausgebrochen. Weihnachten 1940 bekam ich den Stellungsbefehl und mußte am Tag nach Neujahr als Rekrut |65|bei der Flak Artillerie in Bonn einrücken. Hier machte ich die schlimmste Zeit meines Lebens durch. Als ein nach Innen gerichteter Mensch plötzlich so nach außen gezerrt zu werden, als geachteter Mann nun plötzlich im üblichen preußischen Kommisston beschimpft zu werden, war schauderhaft. Die Ausbildung war eine Hölle. […]

Nach meiner Rekrutenausbildung kam ich zu einer Scheinwerfer Einheit in Köln. Hier traf ich zufälligerweise auf einige kultivierte Menschen. […] Meine Militärzeit in Köln war, abgesehen von den vielen Fliegerangriffen, erträglich. Im Jahre 44 kam ich nach Polen und Oberschlesien. Nach einem weiteren Vierteljahr kam ich durch einen glücklichen Zufall in die Flak-Art.-Schule in Baden bei Wien, wodurch ich Gelegenheit hatte, Wien kennen zu lernen.

Im April 1944 wurde durch Bombenangriffe unsere Atelierwohnung in der Kaulbachstraße mit allem, was wir besaßen, verbrannt. Mein Sohn war vorher mit dem Max-Gymnasium nach Garmisch evacouiert, so daß meine Frau alleine in München bleiben mußte. Der Direktor der Bayrischen Staatsgemäldesammlung, Dr. Buchner, mit dem wir sehr befreundet waren, hatte auf Bitten meiner Frau eine Anzahl Bilder und Zeichnungen mit dem Besitz der Staatlichen Gemäldesammlungen in Sicherheit gebracht.

Im Januar 1945 wurde ich zu einer leichten Einheit versetzt und kam mit dieser an die Front bei Pressburg [heute Bratislava]. […]

Eines Tages wurde das ganze Lager geräumt und an die Front in Südsteiermark geworfen. Hier erlebte ich das Ende des Krieges. In dauernden Eilmärschen versuchten wir, die amerikanische Zone zu erreichen, um nicht in russische Kriegsgefangenschaft zu kommen. In Lienzen an der Enns begegneten uns die ersten Amerikaner, die uns aber nicht über die Brücke lassen wollten, da alles jenseits des Flusses in russische Kriegsgefangenschaft kommen sollte. Es blieb uns nichts anderes übrig, als den Fluß zu durchschwimmen, wobei sehr viele ertranken. Ich war froh, mit heiler Haut, aber ohne jede Bekleidung bei den Amerikanern anzukommen. Bei Salzburg waren wir noch 6 Wochen in einem Stehlager unter freiem Himmel ohne jede Verpflegung. Ende Juni wurden wir von Negern nach München transportiert.“

(Zit. n. Kinnius 1998, S. 171–173)

Diesen gramerfüllten Ton, diese Lesart auch seiner eigenen Biographie erträgt Michael Ende nicht mehr. Er will anders leben, der Bild- und Wörterwelt seines Vaters entfliehen.

Michael Ende

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