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3. Kapitel

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Das Ende der Kindheit

Neaira saß bis zum Abend allein in der Unterkunft und wartete darauf, dass Idras zurückkam. Doch als es dunkel wurde, war die Schwarze noch immer nicht wieder aufgetaucht. Unruhig rutschte Neaira auf dem Polster herum, da sie ein menschliches Gefühl zu plagen begann. Ihre Blase drückte, als hätte sie eine ganze Amphore mit Wasser getrunken. Sie presste die Beine zusammen und versuchte an etwas anderes zu denken. Von den anderen Zimmern im Hof ertönten die ersten Schreie – und sie war allein! Jetzt, da Metaneira ihr so verwirrende Dinge erzählt hatte, die ihr eine Vorstellung davon gaben, was dort draußen vor sich ging, fand sie alles noch schrecklicher als zuvor. Neaira wusste, dass sie nicht die ganze Nacht durchhalten würde. Sie musste einfach pinkeln. Steifbeinig kletterte sie vom Polster und ging zur Tür. Ihr Herz schlug laut gegen ihre Rippen, als sie die Tür einen Spalt weit öffnete und hinaus spähte. Die Geräusche wurden lauter, doch ein prüfender Blick auf den Hof reichte, um zu sehen, dass er leer war. Sie waren in den Zimmern. Wenn sie schnell lief, würde sie vielleicht nicht gesehen werden. Sie musste nur über den Flur und dann ein paar Schritte weiter, bis sie zu dem Hof mit den Sickergruben kam. Beim Gedanken daran begann ihre Blase noch stärker zu drücken. Neaira tat den ersten Schritt und lauschte. Als nichts geschah, rannte sie so schnell sie konnte über den Hof, hinein in den durch Lampen und Feuerbecken beleuchteten Korridor. Um nicht gesehen zu werden, drückte sie sich an die Wände der Flure und lauschte auf die Schritte der Sklaven, die im Haus umhergingen. Es wäre sicherlich nicht gut, wenn sie entdeckt würde. Neairas Sinne waren so darauf ausgerichtet auf die Geräusche zu lauschen, dass sie erschrak und beinahe unter sich gemacht hätte, als sie dem Mann in die Arme lief. Wie angewurzelt blieb Neaira stehen. Langsam legte sie ihren Kopf in den Nacken und starrte in ein Gesicht, das sie auf eine Art anlächelte, die Neaira nicht geheuer war. Unwillkürlich wich sie einen Schritt vor dem Fremden zurück. Der junge Mann trug nur ein Hüfttuch, und seine Augen schienen im Schein des Feuers zu glühen. Ihr lief ein Schauder über den Rücken. Neaira war in diesem Augenblick davon überzeugt, dass er ein Satyr sein musste - jemand dessen Blick so durchdringend war, konnte kein Mensch sein! Was würde er jetzt mit ihr tun? Etwa das, was Metaneira ihr erzählt hatte, das was auch die Hunde auf den Straßen taten? Sich ... vergnügen? Doch er schien nichts dergleichen vorzuhaben, stand einfach nur da und hielt seine Feueraugen auf sie gerichtet. „Hast du dich verlaufen?“, hörte sie ihn fragen.

Schnell schüttelte Neaira den Kopf und verbarg ihre Angst. Trotzdem musste sie fragen, zumal er keine Hörner, Ziegenohren und soweit sie erkennen konnte auch keinen Pferdeschweif besaß. „Bist du ein Satyr?“

Sein Lächeln verwandelte sich in ausgelassenes Lachen. Neaira meinte vor Angst zu sterben, als seine Hand ihr Kinn berührte. Sie wollte den Blick abwenden, doch konnte es nicht. Er hielt sie gefangen – er war ganz sicher einer von Dionysos Schar!

„Und wenn ich ein Satyr bin? Fürchtest du dich dann vor mir?“

Obwohl seine Worte nicht gerade dazu beitrugen, ihr die Angst zu nehmen, schüttelte Neaira trotzig den Kopf. Metaneira war fort, ihre Mutter hatte sie verkauft ... sie war vollkommen allein auf dieser Welt. Doch es war besser, ihm ihre Angst nicht zu zeigen. Vielleicht ließ er sie dann in Ruhe und suchte sich ein anderes Opfer. Es gelang Neaira noch immer nicht, den Blick von ihm abzuwenden. Sein Gesicht war so geheimnisvoll, so undeutbar, dass es sie ebenso fesselte, wie verängstigte. Seine schlanke Gestalt und der nackte Oberkörper wurden vom Licht der Fackeln in einen unheimlichen Rotton getaucht. Als ob er ihre Gedanken erraten hatte, verwandelte sich sein Lachen wieder in ein schmales Lächeln. Wäre Neaira älter gewesen, sie hätte ihn für einen schönen Mann gehalten; so verzweifelte sie nur an ihrem Versuch, ihn endlich nicht mehr so dumm anzustarren. Aus den Falten seines Hüfttuches zog er etwas heraus und gab es ihr. Es war ein rotes Schmuckband für das Haar einer Frau, fein geflochten und mit Perlen besetzt. Warm und weich lag es in ihrer Hand, da er es so unerhört nah am Körper getragen hatte. „Eigentlich war es für eine Andere, doch an dir wird es schöner aussehen ... schon in wenigen Jahren.“

Neaira wurde rot, da er ihr noch immer in die Augen starrte. Sie krampfte die Hand mit dem Schmuckband zur Faust, dann drehte sie sich um und rannte zurück in ihre Unterkunft, ohne sich noch einmal umzusehen. Verwirrt und in ihren schlimmsten Befürchtungen bestätigt, versah sie ihre Notdurft schließlich in einer leeren Wasseramphore und vergrub sich unter den Decken des Schlafpolsters.

Neaira wusste, dass sie träumte, und doch war ihr nie etwas wirklicher vorgekommen. Der Wald, in dem sie stand, roch erdig und feucht nach Moosen und welken Blättern. Die Geräusche von Käuzchen und Eulen drangen an ihre Ohren, und sie zitterte vor Kälte. Neaira ging ein paar Schritte und fühlte das raschelnde Laub an ihren nackten Füßen. Nackt! Sie war vollkommen nackt. Die Äste und Zweige der Bäume knackten und ächzten als wären sie lebendig. Angestrengt versuchte sie in dem nächtlichen Wald in die Baumkronen zu spähen, denn ihr war als würde sie von dort beobachtet. Schritt für Schritt ging sie weiter, bis sie ein helles Flackern von Feuerschein sah, das zwischen den Bäumen tanzte. War es die Rettung aus diesem seltsamen Traum? Neaira lief schneller. Auf allen Vieren krabbelte sie einen Hügel hinauf, krallte sich mit Händen und Zehen im feuchten Erdreich fest. Dann stand sie auf einer Lichtung. Von hier war der Feuerschein zu ihr gedrungen, denn in der Mitte knisterte ein aus Ästen und Zweigen aufgeworfenes Feuer und tauchte die Lichtung in ein orangerotes Licht. Wie selbstverständlich trat Neaira an das Feuer und wärmte ihren durchgefrorenen Körper. Durch den Feuerschein hindurch sah sie Baumstämme – war dort jemand? Hatte sie nicht glühende Augen und Hände gesehen, die sich um die Stämme herumschoben? Wer seid ihr?, hörte sie ihre Stimme rufen. Gestalten schälten sich aus den Schatten, stämmige Körper mit wolligem Brusthaar, Bärten und Hörnern wie Ziegen musterten sie, kamen jedoch nicht näher. Sie waren gekommen, um sie zu holen – es waren die Satyrn, die sie in ihren Wald entführt hatten! Neaira wollte schreien, weil ihre Gesichter so derb waren. Da, wo das Hinterteil eines Menschen glatt war, saß der kurze Schweif eines Pferdes, der hin und her schlug. Sie drehte sich um und wagte kaum zu atmen. Im Laub auf dem Boden lag Metaneira - vollkommen nackt rekelte sie ihren schlanken Leib, das gerstenblonde Haar wie die Strahlen der Sonne um sie gebreitet. Metaneira, steh auf und lauf weg!, hörte sie sich wieder rufen. Doch Metaneira wand sich wie eine Nymphe, obwohl die Satyrn sie entdeckt hatten. Neaira wollte zu ihr laufen, bemerkte jedoch, dass sie es nicht konnte. Verflochtenes Wurzelwerk hatte sich um ihre Füße geschlungen und fesselte sie an die Erde.

Die Satyrn hoben Metaneira auf ihre Schultern und legten sie dann auf einen Felsen. Als einer der Ziegenohrigen ihre Schenkel spreizte, konnte Neaira sein riesiges Glied sehen. Sie schrie auf, als der Satyr sein Geschlecht in Metaneira drängte, und hielt sich vor Entsetzen die Hände vor den Mund. Doch Metaneira bog sich dem Waldgeist entgegen und empfing ihn mit unverhohlener Gier. Jetzt kamen auch die anderen Satyrn näher, beugten sich über Metaneira und ließen ihre groben Hände über ihren Körper fahren. Unzählige Hände berührten sie, und je mehr es wurden, desto ungehaltener wurde Metaneira, griff nach den erigierten Geschlechtern der Satyrn und schrie ausgelassen. Neaira hielt sich die Ohren zu und schloss die Augen. Aufhören, hört doch auf!, hallten ihre eigenen Schreie in ihren Ohren. Dann spürte sie, wie sie hochgerissen wurde, herumgewirbelt und ihr nackter Körper von zwei Armen umfasst. Entsetzt riss sie die Augen auf und starrte in das Gesicht des Fremden, der ihr das Schmuckband geschenkt hatte. Aus seiner glatten Stirn ragten zwei Hörner, seine Ohren waren nicht mehr menschlich, sondern die einer Ziege, und seine Augen glühten im Schein des Feuers. Er drückte sie an sich und wirbelte mit ihr um das Feuer. Neaira spürte seine glatte schweißnasse Brust an ihrem nackten Körper. Wie von Sinnen tanzte er, lachte und gab sich ausgelassen, während er immer wieder rief: Fürchtest du dich? Hast du Angst, kleine Neaira, fürchtest du dich vor mir? ...

... „Fürchtest du dich, kleine Mänade? Du hast allen Grund dazu!“ Neaira fiel vom Polster der Kline, während Idras an ihrer Schulter rüttelte. Ein stechender Schmerz fuhr durch ihren Rücken und ihr Hinterteil, als sie hart auf dem Boden landete. Idras hielt die Amphore hoch, in der sie sich letzte Nacht erleichtert hatte. „Du glaubst wohl ich würde nicht merken, dass du da reinpinkelst!“

Neaira schüttelte die Reste des verwirrenden Traumes ab und kam ungelenk auf die Beine. Ehe sie etwas hätte sagen können, zog Idras sie am Ohr und packte ihr Handgelenk. „Die Herrin will dich sehen“, gab sie knapp zu verstehen und zog Neaira mit sich, die schnell das Schmuckband unter das Polster schob, das sie die ganze Nacht in ihrer Faust gehalten hatte.



Ehe Neaira begriffen hatte wie ihr geschah, stand sie im Andron vor Nikarete und starrte auf den mit einem Mosaik ausgelegten Boden. Aus zusammengekniffenen Augen, die wenig Freundlichkeit verhießen, betrachtete Nikarete sie von ihrem Stuhl aus und legte die Wollspindel in den Schoß. Die Göttin und Herrscherin dieses Hauses sagte eine Weile gar nichts und musterte Neaira streng. „Du wirst Metaneira für lange Zeit nicht mehr sehen.“ Sie hatte keine Antwort von Neaira erwartet und fuhr ungerührt fort. „Was sich auf der Agora zugetragen hat, darf sich nicht wiederholen!“ Nikarete beugte sich zu ihr hinunter. „Dabei könntest du es zu Großem bringen, das habe ich gleich gesehen, als deine Mutter dich mir brachte. Du bist hübsch und versprichst schön zu werden. Doch das Wichtigste sind die Augen. Wenn du es nur lernst, deinen Trotz und deinen Willen in eine vorteilhafte Richtung zu lenken, werden sie im Odeion über dich sprechen und Verse vortragen, die deine Schönheit und deinen Zauber loben.“

Neaira wagte nicht, ihr zu widersprechen. Wie sie dort saß, auf ihrem Stuhl - wie eine eine Harpyie, die sie als Opfer auserkoren hatte. Neaira konnte sich nur zu gut vorstellen, wie Nikarete nachts ihre Klauen ausfuhr und ihre Flügel spannte. Sie wollte mehr denn je fort aus diesem Haus voller nächtlicher Albträume – jetzt erst recht, wo Metaneira fort war. Neaira erinnerte sich an die Worte der Freundin und die Eindringlichkeit, mit der Metaneira auf sie eingeredet hatte. Du musst lernen den Männern zu gefallen, damit du nicht wirst wie deine Mutter. Neaira ahnte, dass der Weg in die Freiheit nicht so einfach zu finden war, wie sie geglaubt hatte.

„Was ist nun, träume nicht, wenn ich mit dir rede.“ Nikaretes Geduld schien am Ende. Idras betrat mit watschelnden Schritten das Andron, um die Lampen und Kohlebecken zu entzünden, wobei sie einige junge Sklavinnen und Knaben vor sich hertrieb. Der rote Mund Nikaretes zeigte ein künstliches Lächeln, wobei sie auf die flinken Sklaven wies. „Du kannst sein wie die da oder dich später von ihnen bedienen lassen. Entscheide dich endlich!“

Neaira überlegte eine Weile, dachte an das verschlossene Gesicht des Satyrn, dem sie in der letzten Nacht begegnet war. Könnte sie nicht auch einfach ihre Wünsche verbergen und so tun als würde sie der Herrin gehorchen? Nur so lange, bis es ihr gelang wegzulaufen. Neaira wurde klar, dass sie Nikarete aus tiefstem Herzen verabscheute. Doch sie ahnte auch, dass der Weg in die Freiheit an der verhassten Herrin vorbeiführte. „Ich will alles lernen, was es zu lernen gibt.“

Von Nikaretes Gesicht fiel die Anspannung ab. „Idras ist anderer Meinung, aber ich wusste, dass du ein kluges Mädchen bist – nicht so wie Stratola und Anteia, die nur für die müden, hart arbeitenden Männer taugen. Du bist zwar bockig wie ein thrakisches Fohlen, aber auch jung und formbar.“

Sie war eine Harpyie – boshaft, verlogen und gemein! Neaira verbarg ihre Gedanken, und es gelang ihr so gut, dass Nikarete nichtsahnend grinste. Sollte die Harpyie doch ruhig glauben, dass sie formbar war. „Ich will Lesen und Schreiben lernen“, forderte Neaira. Nie wieder sollte ihr ein so ein dummer Fehler wie mit den Sandalen ihrer Mutter unterlaufen, deren Abdrücke im Sand sie für schöne Muster gehalten hatte.

„Wenn ich dich für vielversprechend halte vielleicht.“ Obwohl Neaira kaum daran geglaubt hatte, war Nikarete nicht ganz abgeneigt. „Ein gewisses Maß an Bildung und Schlagfertigkeit ist gut für das Geschäft, doch zu viel davon kann alles verderben – nämlich dann, wenn das Mädchen ein Trotzkopf ist.“

Damit war das Gespräch für Nikarete beendet. Sie winkte Idras herbei, die Neaira in einem Zimmer im Hauptteil des Hauses einschloss. Der Raum war klein aber schön, und die Wände waren hellem Blau getüncht worden. Auch ein Bett mit weichen Polstern stand für Neaira bereit, und die Abendmahlzeit, die eine junge Sklavin ihr brachte, war besser als das einfache Essen, das sie auf dem Hof bekommen hatte. Neaira kaute genüsslich auf dem gebratenen Ziegenfleisch und dem noch warmen Brot und grübelte darüber nach, wie sie Nikarete an der Nase herumführen könnte. Die Harpyie wollte sie zähmen und ebenso willenlos machen wie Metaneira. Aber wenn sie hoffte, Neaira mit Bequemlichkeiten einzulullen, hatte sie sich geirrt. Metaneiras Willen hatte sie brechen können. Doch Neaira sie würde sich nur gehorsam zeigen, bis die Götter ihr eine Fluchtmöglichkeit boten.



Neaira war nicht allein, als sie am nächsten Tag das Andron betrat. Aristokleia, Phila und Isthmias, die drei Mädchen, die mit ihr von Nikarete gekauft worden waren, sollten ebenfalls unterrichtet werden. Noch immer waren sie scheu wie Vögel und stellten sich nicht sehr geschickt an. Neaira, die stundenlang neben Metaneira gehockt und sich kaum für Nikaretes ermüdenden Unterricht interessiert hatte, setzte alles daran, sich fleißig und lernwillig zu zeigen. Sie gab sich wenig mit den drei anderen ab und hielt sich vor Augen, dass alles was sie tat nur ihren Fluchtplänen diente. So wurde der erste Jahresumlauf in Nikaretes Haus der schlimmste für Neaira. Ihre Finger waren blutig von den Saiten der Kithara, und ihre Füße schmerzten von den Tanzschritten und den Schlägen, die sie auf die Fußsohlen erhielt, wenn sie die Schritte nicht schnell genug lernte. „Streng dich mehr an“, wies Nikarete sie mitleidlos an, wenn sie auch nur eine Miene verzog. Den anderen Mädchen, die Neaira nun Schwestern nennen musste, erging es nicht viel besser. Vor allem Phila weinte oft und wurde dann von Idras hart bestraft. Neaira weinte nicht und beschwerte sich nie. Sie biss die Zähne zusammen und kühlte abends ihre wunden Finger in einer Wasserschale, umwickelte die vor Blasen schmerzenden Füße mit nassen Tüchern, wenn sie meinte nicht schlafen zu können, und sie war an jedem Morgen das eifrigste der Mädchen, egal wie müde sie der unerfüllbaren Aufgaben auch innerlich war. Ihr schönes, mit blauen Wänden getünchtes Zimmer, die nahrhaften Mahlzeiten und das bequeme Bett, waren ihr nur ein geringer Trost in ihrem ersten Jahr. Oft zwang sie sich durchzuhalten, manchmal holte sie das rote Schmuckband hervor und rief sich das geheimnisvolle Gesicht des Fremden vor Augen. Obwohl die Furcht vor Dionysos Festen sie noch immer plagte, und das schlimmer denn je, seit sie im Haus lebte, dachte sie daran, wie sein Blick sie gefesselt und wie er sie ihm Traum herumgewirbelt hatte. Er sollte ihr eine Mahnung sein, sich niemals von der Harpyie einfangen zu lassen.

Nach dem ersten Jahr besserte sich die Behandlung fast über Nacht. Phila, die alle nur noch die Heulsuse nannten, wurde von Nikarete zurück auf den Hof geschickt, und auch Isthmias kam bald nicht mehr. „Sie taugen höchstens für ein paar einfache Feste im Haus.“ Die Harpyie hielt sich nicht lange mit denen auf, die sich ihrer Meinung nach ungeschickt anstellten. Dafür wurden die Aufgaben für Neaira und Aristokleia weniger anstrengend. Sie mussten lernen sich behände zu bewegen oder mit Anmut die Weinschale zu halten, sich zu schmücken und ihr Haar zu richten. Neaira hatte Metaneira stets helfen müssen sich zu schmücken, deshalb fiel ihr dieser Unterricht leicht. Aristokleia zog hingegen bald Nikaretes Missfallen auf sich. Zwar wurde sie nicht zurück in den Hof geschickt, doch eines Tages teilte die Harpyie Neaira mit, dass Aristokleia von nun an nicht mehr lernen müsse. Ab da musste Neaira den verhassten Unterricht allein ertragen.



Als Hylas in ihr Leben trat, schlug die Tür ihrer kindlichen Gedankenwelten voller Aberglauben, Geistern und Satyrn ein Stück weit zu. Nikarete schob ihn an einem heißen Sommertag ins Andron, wo Neaira im Schneidersitz auf dem bunten Bodenmosaik saß. „Er wird dich im Lesen und Schreiben unterrichten.“

Neaira war zwölf Jahre alt, aber Nikarete war der Meinung, dass sie gut zwei Jahre älter aussah. Wie alt Hylas war, wusste Neaira nicht - vielleicht sechszehn oder siebzehn Jahresumläufe. Aber sie war alt genug, um ihn schön zu finden, wie er dort vor ihr stand, mit langen weichen Locken, die ihm auf die Schultern fielen. Wegen des heißen Tages trug er außer einer Wachstafel und einem Federkiel nur ein Hüfttuch. Als er sich vor sie setzte und die Beine kreuzte, zog ihr der Duft seines Salböls in die Nase – süß und verführerisch!

„Der Tag ist zu heiß, als dass ich hier bleibe.“ Nikarete bedachte beide mit einem prüfenden Blick, schien kurz zu überlegen und verschwand dann, während Hylas begann, die Buchstaben des Alphabets in die Wachstafel zu ritzen. Als er aufsah und ihr die Tafel hinschob, schienen Sterne in seinen Augen zu tanzen. Neaira konnte sehen, wie jeder einzelne Muskel seines Armes sich bewegte. Konnte ein Mann, der so schön und freundlich war, einer aus Dionysos Scharen sein? In den folgenden Tagen begrub Neaira ihren Glauben, dass alle Männer lüstern wie die Satyrn waren. Natürlich hatten die letzten Jahre ihr mehr Verständnis für die Dinge gegeben, die zwischen Männern und Frauen geschahen. Obwohl Neaira noch immer an die Schreckgestalten ihrer Kindheit glaubte, waren sie nicht mehr Teil ihrer Welt. Sie lebten in Wäldern, die Neaira nicht kannte, jedoch nicht in Nikaretes Haus.

„Du träumst ja vor dich hin“, war der erste Satz, den Neaira aus Hylas Mund hörte. Er klang wie Gesang in ihren Ohren.

Hylas schloss sie ebenso schnell in sein freundliches Herz wie sie ihn, und Neaira hing an seinen Lippen, die sich verschmitzt zu einem Lächeln hoben, wenn sie ihn zu lange ansah. Dann wurde sie rot und starrte auf die Wachstafeln mit den Buchstaben. Er musste längst bemerkt haben, wie sie ihn ansah. Aber Hylas lachte sie nie aus, obwohl Neaira sich in seiner Gegenwart dumm vorkam. Wenn Idras oder Nikarete nicht da waren, erzählte Hylas ihr vom Leben außerhalb dieses Hauses, das Neaira so gut wie nicht kannte. Hylas wusste viel zu erzählen, da er als Sohn eines freien Bürgers geboren war, der durch die Verschuldung des Vaters in die Sklaverei geraten war. Als sein Vater starb und niemand aus seiner Familie die Schulden hatte begleichen können, war Hylas in die Sklaverei verkauft worden. Für Neaira eröffneten sich unvorstellbare Welten aus Hylas Erzählungen, die sie furchtbar gerne selbst erkundet hätte. Nikarete hatte sie beinahe ihr ganzes Leben im Haus gehalten, und Neaira hatte nur noch vage Erinnerungen an das Leben mit ihrer Mutter oder ihre wenigen Ausflüge zur Agora. Hylas jedoch hatte viel gesehen, bevor er zu Nikarete gekommen war, und Neaira bewunderte ihn dafür.

„Mir geht es gut hier, ich lebe zwar mit den anderen Knaben hinter dem Hof in den Sklavenunterkünften, bediene aber abends auf den Festen und werde gut behandelt“, gab Hylas zu. Sein Gemüt war wie die Sonne – aufrichtig, hell und strahlend. Er brachte Licht in Neairas verschlossenes Herz. Hylas hatte selbst einen Lehrer gehabt, bevor er in die Sklaverei geraten war, und Nikarete hatte ihn wiederum gekauft, weil er Lesen und Schreiben konnte. Gebannt lauschte Neaira Hylas Geschichten über das Theater, das Odeion oder das Gymnasion, wo die Knaben und Männer vollkommen nackt Leibesertüchtigungen nachgingen. Für Neaira war das unvorstellbar – unzählige nackte Männer, die dort herumliefen und ... ja was taten sie eigentlich genau? „Ich wünschte, ich könnte es mir auch einmal ansehen.“

Hylas zog die Brauen hoch und wunderte sich über ihren seltsamen Wunsch. „Das sind keine Orte für Mädchen und Frauen. Sie würden dich anstarren, und dein Ruf wäre vollkommen ruiniert.“ Als er die Widersprüchlichkeit seiner Worte erkannte, sah Hylas beschämt zu Boden, und sie wandten sich wieder ihren Schriftübungen zu. Neaira verstand nicht, was an diesen Orten so skandalös sein sollte, dass Frauen sie nicht besuchen durften, während Männer dort sogar nackt herumlaufen konnten. „Das ist dumm. Warum ist es für eine Frau nicht angebracht, sich eine Vorführung im Odeion anzusehen?“

„Das ist halt so“, antwortete Hylas schulterzuckend. „Frauen laufen nicht auf der Straße herum und zeigen sich, wenn sie anständig und ehrbar sind.“

Neaira verkniff sich eine Bemerkung. Eingesperrt war sie bereits, obwohl Nikaretes Haus alles andere als ehrbare Frauen beherbergte.

Während Neaira Buchstaben in die Wachstafeln ritzte, erzählte ihr Hylas die Ilias von Homer sowie die Geschichten anderer Gelehrter, die sich mit der Ilias beschäftigt hatten. Neaira liebte diese Geschichten. In Gedanken und nachts in ihren Träumen erlebte sie die Abenteuer der Helden, reiste in ferne Länder und wünschte sich einmal mehr, frei zu sein. „Ich mag die schöne Helena“, gab sie auf Nachfragen Hylas zu. „Aphrodite hat ihr Macht über die Männer verliehen. Sie ist wie ich, gefangen und allein. Aber dann kommt Paris und rettet sie vor Menelaos.“

„Aber Troja ist wegen ihr gefallen. Sie brachte den Menschen Leid. Auch deshalb ist es besser, wenn Frauen im Haus bleiben. Die Geschichte lehrt uns, dass sie Männer und ganze Völker ins Verderben stürzen, allein durch ihren Anblick!“

„Trotzdem erlaubten die Götter Helena ebenso wie den großen Helden nach ihrem Tod auf den elysischen Feldern zu leben, anstatt als Schattengestalt durch den Hades zu wandeln. Das hätten sie sicherlich nicht getan, wenn sie so schlimm gewesen wäre, wie du behauptest.“ Innerlich beglückwünschte Neaira sich für ihre Schlagfertigkeit, vor allem da Hylas ein verdutztes Gesicht machte. Seltsam, so als bemerke er sie überhaupt das erste Mal, sah er Neaira an und suchte verunsichert nach einer Antwort. „Helena ist eine Ausnahme, weil Aphrodite sie liebte. Trotzdem ist es allseits bekannt, dass die Lust der Frauen zehnmal so stark ist wie die der Männer. Was würde aus der Ordnung und der geistigen Disziplin werden, wenn Frauen nicht von Männern gemaßregelt würden?“

Neaira dachte an ihren Kindheitstraum, in dem Metaneira sich den Satyrn entgegengestreckt hatte - gierig und wild. Sie dachte an die Geräusche ihrer Kindheit auf dem Hof. Waren nicht auch Frauenschreie darunter gewesen? Hatte Hylas recht mit dem, was er sagte?Aber sie war anders, das musste Hylas verstehen. In ihr war keine Triebhaftigkeit, sie war keine Anhängerin von Dionysos. Neaira nahm all ihren Mut zusammen und legte ihre Hand auf die von Hylas. Er zog sie nicht fort, als ihre Hand ihn berührte, sah sie jedoch überrascht an. Etwas in ihm schien sich zu verändern als hätte Neaira sich direkt vor seinen Augen verwandelt. „Du bist schön, weißt du das eigentlich?“ Wie seine Stimme nun klang, so anders als sonst, flüsternd und voller Wärme. Die Worte sickerten in Neairas Herz wie flüssiges Gold und nährten seine verdorrten Adern. Sie wurde mutiger. „Heute Nacht schleiche ich mich aus dem Haus und komme zum Hof neben den Sklavenunterkünften. Wirst du da sein?“ Obwohl Neaira von Nikarete und Idras nicht mehr bewacht wurde, da sie scheinbar fügsam und willig war, wurde ihr klar wie gefährlich es für sie beide werden konnte, wenn sie entdeckt wurden.

„Sobald die Gäste fort sind, werde ich da sein“, flüsterte er heiser. Hylas sah sie an, ertrank in ihren braunen Augen, und war verloren.



Im Haus herrschte Stille und vollkommene Dunkelheit als Neaira sich aus ihrem Zimmer schlich. Die Feuerbecken glimmten noch, doch der vertraute Geruch von Asche hatte sich bereits im ganzen Haus ausgebreitet. Sie musste vorsichtig sein, durfte nirgendwo anstoßen, aber sie kannte den Weg. Auf Sandalen hatte sie verzichtet, ihre Füße huschten über den Steinboden fast ohne ihn zu berühren. Als Neaira den Hof mit den Zimmern der Mädchen erreichte, blieb sie kurz stehen, um zu lauschen, doch auch hier war alles still. In zwei Stunden würde die Sonne aufgehen – zwei Stunden, um nahe bei Hylas zu sein, seine geflüsterten Worte zu hören und sich darüber klar zu werden, was gerade mit ihr geschah.

Lautlos wie eine Katze schlich Neaira über den Hof und verschwand im Schatten des Flures. Sie ließ das Badehaus hinter sich und konnte am Ende des Ganges den Hof zu den Sklavenunterkünften erkennen. Hylas war gekommen! Er stand im Schatten, seine Gestalt zeichnete sich gegen das fahle Mondlicht ab.

Im Schutz der Dunkelheit fiel es Neaira leicht, sich in Hylas Arme zu werfen. Die glatte Haut auf seiner Brust war warm, und er duftete nach schweren Blüten. Sein Herz schlug ebenso schnell wie ihres. „Hylas!“

Hylas Hände fuhren ihren Rücken entlang, suchten einen Weg unter ihr Gewand und schienen Brandmale auf ihrer Haut zu hinterlassen. Neaira hob ihren Kopf. Hylas Lippen schmeckten süß von den Früchten, die er auf Nikaretes Fest gegessen haben musste. Er stöhnte gequält auf und löste sich von ihr. „Was wir tun, ist nicht gut, Neaira.“

Sie legte ihre Hände auf seine Brust und sah ihn an.

Hylas stöhnte gequält. „Bei den Göttern, deine Augen! Ein Blick in deine Augen, und ich war gefangen. Was soll ich nur tun?“

„Wir laufen fort – wie Paris und Helena“, schlug Neaira vor.

„Wir sind Sklaven, wohin sollten wir denn gehen?“ Zärtlich fuhr seine Hand über ihre Brust und verharrte dort. „Bei der schönen Aphrodite, Neaira! Ich kann nicht mehr denken. Du hast mich verzaubert.“

„Lass uns fortlaufen, Hylas. Egal wohin, nur weg von hier“, bettelte sie.

Hylas fuhr über ihr Haar, dann sanft ihren Hals entlang. „Wir wären überall nur Sklaven. Überall wäre es wie hier!“

„Nein!“, drängte Neaira ihn. „Denn wir wären zusammen - wie Paris und Helena!“

„Du kennst doch die Welt da draußen gar nicht, du bist noch so jung ... so unschuldig.“

„Aber du kennst doch die Welt, Hylas. Wenn ich bei dir bleibe, kannst du mich beschützen.“

Ihre Worte schmeichelten ihm, sodass er nachgab. „Vielleicht gibt es jemanden, der mir Geld gibt, sodass ich uns freikaufen kann. Dann wären wir freigelassene Sklaven - Metöken, Fremde zwar in Korinth, aber frei.“ In seine Augen trat ein Hoffnungsschimmer, und dieser genügte Neaira, auch ihr Hoffnung zu geben. Sie ließ sich in seine Arme fallen und Hylas geflüsterte Liebesschwüre in ihr ausgehungertes Herz rinnen. Eine Stunde bevor die Sonne aufging lösten sie sich voneinander. Nach ihrem Entschluss wussten sie beide ohne es ausgesprochen zu haben, dass die zerbrechliche Hoffnung auf Freiheit allzu schnell durch Unvorsichtigkeit zunichtegemacht werden konnte.

Sie bemühten sich in der folgenden Zeit darum, ihre Gefühle füreinander nicht zu zeigen, vor allem wenn Idras oder Nikarete ins Andron kamen. Als sie wenige Tage später allein waren, fragte Neaira Hylas, ob er schon das Geld für ihre Freilassung hätte, woraufhin er den Kopf schüttelte. „Der Mann, den ich fragen will, ist noch nicht wieder ins Haus gekommen. Wir müssen warten.“

Es fiel Neaira immer schwerer zu warten, doch was blieb ihr anderes übrig. Verstohlen legten sie ihre Hände ineinander, wagten jedoch nicht, sich noch einmal auf dem Hof zu treffen. Hylas erzählte Neaira wundervolle Dinge - von einem kleinen Haus, das er bauen würde, von einem Brautbett mit einem weißen Laken, auf das er sie legen wollte. Fürchtest du dich, kleine Neaira?, fielen ihr die Worte aus ihrem Traum wieder ein. Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Vor Hylas fürchtete sie sich nicht. Sie sehnte den Tag herbei, an dem er sie auf ein Brautlager legen würde.

„Er wird heute Abend kommen“, flüsterte Hylas ihr endlich zu, als sie an einem goldenen Herbsttag im Andron saßen. Mittlerweile beherrschte Neaira einfache Sätze, und sie schrieb aufgeregt weiter, während Hylas so tat als würde er ihre Schreibarbeiten überwachen. Die Schwarze schnarchte in der Ecke auf einem Stuhl, sodass sie kaum wagten zu sprechen. Neaira schob Hylas ihre Wachstafel zu, und er lächelte, als er ihre ungelenken Buchstaben las. Morgen vielleicht frei, hatte sie in Kritzelschrift ihren mageren Wortschatz zusammengeklaubt.



Es war ein Tag süß wie Spätsommertrauben, an dem Neaira und Hylas sich gegenübersaßen und verliebte Blicke tauschten. Er hätte nicht schöner, lichter und heiterer sein können.

„Er kauft uns frei“, hatte Hylas ihr zugeflüstert, wobei in seinen Augen wieder einmal unzählige Sterne zu tanzen schienen. Neaira konnte kaum glauben, dass es so einfach sein sollte. Doch Hylas schien sich seiner Sache sicher zu sein. Selbst Neairas ungeübte Hand schien über die Wachstafel zu fliegen, nachdem sie wusste, dass nun alles gut werden würde. Bald läge der Schrecken dieses Hauses hinter ihnen. Vorsichtig suchte Neaira Hylas Hand, und sie verschlangen ihre Finger ineinander.

Plötzlich flog die Tür auf, und Idras stampfte ins Andron wie ein wütender Stier. Einen Augenblick zu spät zog Neaira ihre Hand zurück.

„So ist es wahr. Die kleine Mänade und der hübsche Sklave!“ Idras zog ihren Stock hervor. Doch anstatt Neaira zu verprügeln, hieb sie auf Hylas Rücken ein. Neaira hatte noch nie gesehen, dass Idras einen der Sklaven geschlagen hatte. „Lass ihn, Idras. Er hat nichts getan!“ Doch Idras beachtete sie nicht - sie schlug weiter, während Hylas sich krümmte, aber nicht wagte sich gegen die Schläge zu wehren. Neaira konnte nicht mehr mit ansehen, wie die Schwarze ihn verprügelte. Sie griff nach dem Stock in Idras Hand, was zur Folge hatte, dass auch sie ein paar gezielte Schläge auf die Arme abbekam. Während Neaira über ihre schmerzenden Arme rieb, trieb die schwarze Sklavin Hylas vor sich her wie eine Ziege. „Hylas“, rief Neaira verzweifelt. Doch er wagte es nicht, sich nach ihr umzusehen. Spätsommertrauben, die von der Sonne zu lange geküsst wurden, schmecken bitter, kam Neaira eine Schrift über Weinanbau in den Sinn, die sie unter Hylas aufmerksamen Augen mit Mühe hatte entziffern können. Sie ahnte, dass die warmen Sommernachmittage mit Hylas vorüber waren.

Der Gesang des Satyrn

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