Читать книгу Der Gesang des Satyrn - Birgit Fiolka - Страница 7
4. Kapitel
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Mannbar
Die Ohrfeige der Harpyie traf Neaira hart im Gesicht. Sie zuckte nicht zurück, obwohl sie meinte, dass die Male von Nikaretes Hand für immer auf ihrer Wange brennen müssten.
„So ist es wohl wahr, das Mädchen ist mannbar.“ Nikaretes Züge waren wie Stein.
„Sie blutet noch nicht, Herrin, das hätte ich bemerkt. Ich lasse die Sklavinnen ihre Laken durchsehen.“ Das war Idras gewesen, die ihre dicken Arme vor der Brust verschränkt hatte.
Neaira trat von einem Bein auf das andere, während sie daran dachte, dass sie gerade noch die Wärme eines Spätsommertages gespürt hatte. Wie konnte es auf einmal so kalt werden, wie konnte alles Schöne in nur einem einzigen Augenblick zerstört werden?
„Was macht es schon, dass sie nicht blutet? Sie hat sich in die Arme eines Sklaven geworfen, also kann sie sich auch in die Arme anderer Männer legen.“ Erbarmungslos trafen die Worte der Harpyie Neairas Verstand.
„Hat er dich gehabt?“, forderte Nikarete zu wissen.
Neaira starrte auf die beringten Finger der Harpyie und auf ihren rot geschminkten Mund. Verstohlen sah sie hinüber zum Beistelltisch neben dem Stuhl, auf dem ein kleiner Dolch lag, mit dem Nikarete Wollfäden durchtrennte. Wie wäre es wohl, mit diesem Dolch Nikaretes Lebensfaden zu durchtrennen, sie einfach auszulöschen - ebenso wie Nikarete diesen glücklichen Tag einfach ausgelöscht hatte! Mit Gewalt zwang Neaira sich zur Besinnung zu kommen, damit Nikarete und die Schwarze ihre Gedanken nicht errieten. „Er hat mich nicht angerührt“, gab sie stattdessen zu.
„Ich hoffe für dich, dass du mich nicht anlügst, denn ich würde erfahren, wenn er es doch getan hat. Dann lasse ich dich auf den Hof bringen und mehr Männer über deinen Körper rutschen, als du zu zählen vermagst.“ Sie war misstrauisch, die alte Harpyie. „Ich habe dir Freiheit gewährt und war großzügig – und das ist der Dank!“
Idras kam und packte Neaira am Arm.
„Heute Abend wird sie den Herren vorgestellt“, bestimmte Nikarete. „Also sorge dafür, dass sie hübsch ist.“
Die Schwarze nickte, und Neaira ließ sich von ihr fortzerren, hinaus aus dem Andron. Ihre Knochen schienen schlaffe Binsenstängel zu sein. Ohne aufzubegehren, ließ sie sich von Idras in ihr kleines Zimmer schleifen, wo Neaira sich auf ihr Bett setzte und die Wand anstarrte.
„Hör zu, was ich dir sage.“ Idras gab ihr eine Ohrfeige - die zweite an diesem Tag. „Der heutige Abend wird nicht schwer für dich werden, denn die Herrin wird dich erst spät holen lassen, wenn nur noch einige wenige Gäste im Haus sind. Es werden Gäste sein, deren Geldbeutel so schwer ist, dass es ihnen danach verlangt ihn zu erleichtern, ebenso wie den Beutel zwischen ihren Beinen.“ Ungeduldig kramte Idras in Neairas Truhen und fand, was sie suchte; einen weißen Chiton und einen Silbergürtel. „Sei nicht aufreizend oder schlagfertig. Sei scheu, halte dich zurück und überlasse alles andere den Männern.“
Neaira sehnte sich nach Hylas und seiner Umarmung. Heute Nacht sollte sie den Satyrn zum Tanz gebracht werden!
Idras brachte Neaira ins Badehaus, wo sie sich am Louterion waschen und danach den weißen Chiton mit dem Silbergürtel anziehen musste.
„Sieh zu, dass du nicht zuviel duftendes Öl benutzt und auch keine Schminke. Die Männer mögen den natürlichen Duft und die ungekünstelte Schönheit junger Mädchen.“ Idras schickte ihr eine der Haussklavinnen, die Neaira half ihr Haar zu richten und einen durchsichtigen weißen Schleier über ihren Kopf und halb vor das Gesicht zu legen. Dann musste sie allein in ihrem Zimmer warten und sah durch den Spalt über ihrer Tür, wie die Sonne wanderte, ihre Strahlen von Gelb zu Orange und schließlich zu Rot wechselten und schließlich ganz verschwanden. Die Sklaven gingen im Haus umher und entzündeten die Lampen und Feuerbecken. Neaira vernahm die Schritte der ankommenden Gäste vor ihrer Tür und stellte sich vor, wie Satyrn Nikaretes Andron betraten, ihre Pferdeschwänze auf die gepolsterten Klinen legten und dann die Mädchen auf ihren Schoß zogen. Der Lärm des Festes und das immer lauter werdende Lachen aus dem Andron ließen Neaira Vorstellungen entwickeln, die ihr das Schaudern ihrer Kindheit zurückbrachten. Tanzten sie dort, sangen sie, waren sie nackt? Sie wartete, betete und zitterte, während die Stunden dahinkrochen.
Schritte vor ihrer Tür ließen Neaira am späten Abend zusammenzucken. Es war soweit – Nikarete kam, um sie anzubieten wie ein Stück Fleisch.
Die Harpyie sprach nicht, als sie Neaira zunickte, und führte sie stattdessen die Flure entlang, immer dem Lärm entgegen.
Es gab kein knisterndes Feuer, um das sie tanzten, und sie hatten auch keine Hörner. Sie lagen auf Klinen, nur mit einem Hüfttuch bekleidet, gefüllte Weinschalen in den Händen haltend. Doch das Andron hatte sich auf unheimliche Weise in den Wald verwandelt, der Neairas Kinderträume begleitet hatte. Wo waren die Sonnenstrahlen, die sie und Hylas beschienen hatten, wenn sie auf dem Mosaik gesessen hatten, wo war all das Licht hin? Das Andron hatte sich in einen Tummelplatz für Dionysos und seine Anbeter verwandelt. Vor den Klinen standen kleine Speisetische, auf denen Schalen, Weinamphoren und Leckereien lagen, Reste eines Festes, das nichts mit Herzensfreude zu tun hatte. Einige der Amphoren und Weinkelche lagen umgestoßen auf dem Boden wie Opfer für den Weingott, und die Platten mit Trauben und Früchten hatten sich bereits geleert. Es gab kein welkes Laub, das an Neairas Füßen raschelte, dafür zerdrückte Blüten überall auf dem Boden um die im Halbkreis angeordneten Klinen. Es roch nach Schweiß und welken Blumen. Fünf Männer waren noch da. Sie ruhten mit weinschwangerem Blick auf den Klinen und prosteten sich lautstark zu als Nikarete ihnen Neaira vorführte.
„Ich hoffe unser langes Warten hat sich gelohnt. Du hast uns eine Überraschung der besonderen Art versprochen. Wir haben getrunken, geredet und Dionysos geehrt. Enttäusche uns nicht“, lärmte einer, dessen Bart und Haar bereits von grauen Strähnen durchzogen war, woraufhin die anderen in lautes Gelächter verfielen.
„Habe ich euch denn jemals enttäuscht, ihr edlen Bürger und Herren?“ Nikarete tat beleidigt, denn sie wusste, dass es ihr Spiel war, das hier gespielt wurde - das Spiel, auf das sie sich verstand. „Dies ist mein bestgehütetes Geheimnis, die liebste meiner Töchter!“
„Noch eine Tochter, Nikarete? Du hast in deiner Jugend wohl fleißig die Beine gespreizt.“
Neaira horchte auf. Woher kannte sie diese Stimme? Warum war sie ihr so vertraut wie ein besonders nachhaltiger Traum? Sie kannte die Antwort, ehe sie das Gesicht des Mannes sah. Er war schön und hatte durchdringende Augen. Er war es! Er, der ihr vor Jahresumläufen das rote Band in die Hand gedrückt hatte ... der Satyr, der sie in ihren Träumen heimgesucht und aufgefordert hatte, mit ihr zu tanzen. Fürchtest du dich? Hast du Angst, kleine Neaira? Sie fürchtete sich, und sie hatte Angst! Würde er sie heute an sich zerren und das einfordern, wofür sie damals zu jung gewesen war?
„Edler Phrynion, gerade du müsstest verstehen, was Leidenschaft ist.“
Er, der Satyr, hatte einen Namen, und dieser brannte sich ebenso in Neairas Kopf wie alles andere von ihm – seine Stimme, seine Blicke, sein schmales Lächeln. Er war Phrynion, der Satyr. Würde er sie in dieser Nacht zum Tanzen auffordern? Nikarete schob sie weiter vor, zu einem Feuerbecken hin, dessen Flammenschein Neaira umschmeichelte. „Seht meiner schönen Tochter in die Augen und sagt mir, ob sie etwas Besonderes ist.“
„Sie ist doch noch ein Kind ohne Reize.“ Der, der es gesagt hatte, der Älteste von ihnen, wusste, wovon er sprach, denn er hätte ihr Vater oder sogar Großvater sein können. Nikarete zog ihr den Schleier mit fließender Handbewegung vom Gesicht. „Lass die Herren dein wunderschönes Gesicht sehen.“
Mein Gesicht ist ein Fluss voller Tränen, hallte die Strophe eines alten Liedes in Neairas Kopf, das die Mädchen oft im Hof sangen, während sie Wolle spannen. Dann war es still. Sie hob den Kopf und bot ihnen ihr bloßes Gesicht dar, damit sie es mit Blicken verschlingen konnten. Augenpaare ruhten auf ihr, betasteten ihren Körper, drangen durch ihr dünnes Gewand ...
„Bei Zeus, ein wirklich schönes Kind! Gerade als hätte Aphrodite selbst sie geboren.“ Es war derjenige, der an ihren Reizen gezweifelt hatte und dem jetzt alle beipflichteten, nickend und andächtig schweigend.
„Kein Kind, edle Herren, Neaira ist mannbar! Ihr habt ein scharfes Auge, ihr Herren. Sie ist in der Tat ein Geschenk der Aphrodite. Wer von euch hat je Vollkommeneres erblickt?“ Die Harpyie pries Neairas Vorzüge als böte sie ein edles Geschmeide oder ein feines Tuch feil. Zungen leckten sich Wein von den Lippen, Hände drehten unruhig Weinschalen. „Seht sie euch an“, flüsterte Nikarete. „Wie flüchtig ist der Augenblick von Unschuld und Jugend. Wer würde sich nicht in Schulden stürzen, um diesen Blütenkelch zu öffnen?“
„Ich zahle dir fünf Mina für sie!“ Das Gebot schien die Harpyie nicht zu beeindrucken, denn sie schüttelte den Kopf. „Willst du mich beleidigen?“
„Sechs Mina!“
Wie viel waren sie bereit für ihre Gier zu zahlen? Phrynion mit dem gefälligen Äußeren, dessen Augen so seltsam eindringlich schauten, schwieg. Neaira fragte sich, ob er sie erkannt hatte oder vielleicht gar denselben Traum geträumt hatte wie sie vor vielen Jahren. Waren seine Blicke begehrlich, gierig oder gelangweilt? Sie konnte es nicht sagen. Er war zu geheimnisvoll, als dass sie es hätte erkennen können. Fast war Neaira versucht Aphrodite darum zu bitten, dass er es wäre, der sie heute Nacht zum Tanzen aufforderte. Aber sie beschloss, dass es unwichtig war, wer von den Herren sie bekam. Es gab keinen Paris und keine Helena. Nicht hier, nicht jetzt ... nirgendwo!
„Zehn Mina!“
„Ich gebe dir zwölf für sie!“, überschlugen sich die Stimmen - und noch immer schwieg der Satyr Phrynion und beteiligte sich nicht an den Geboten.
„Ein Talent!“ Wiederum derjenige, der Neaira ein reizloses Kind genannt hatte, forderte jetzt diesen einmaligen Tanz mit ihr.
„Du bist ein Kenner, Xenokleides. Nicht nur deine Worte sind Poesie, auch dein Geschmack! Nun, ihr Herren, wollt ihr überbieten?“
Konnten Harpyien singen? Neaira meinte, dass diese es konnte, wenn man ihr nur genug Geld bot - und der Preis, den Xenokleides geboten hatte, war unerhört hoch.
„Ein Poet mag er sein, jedoch kein guter Geschäftsmann, wie es bei den meisten Schöngeistern so ist. Ich warte lieber, bis ihr Kelch geöffnet ist und der Preis erschwinglich.“ Sie lachten, sie nickten, sie waren sich einig. Phrynion schwieg sich weiter aus. Warum fühlte sie sich von ihm betrogen, und warum sah er sie noch immer an? Einen Augenblick schien Neaira ihre Gedanken nicht verbergen zu können, denn er verzog seinen Mund zu diesem schmalen Lächeln, von dem sie nicht wusste, was es bedeutete.
„So ist es abgemacht.“ Nikarete versetzte ihr einen unmerklichen Schubs in den Rücken und drängte sie vor sich her, hinaus aus dem Andron und hinein in einen Raum, der mit einer Schlafkline und üppigen Polstern ausgestattet war. „Ein Talent; wer hätte das gedacht. Xenokleides hat ein Vermögen für dich bezahlt.“ Mit der Sorgsamkeit eines Raubvogels sah sich Nikarete um, überprüfte noch einmal die Polster und nickte dann zufrieden.
Als Xenokleides zu ihr kam, schloss er die Tür hinter sich mit einer so endgültigen Geste, dass Neaira zusammenzuckte. Er hatte keine Hörner, keinen Pferdeschweif und auch keine plattgedrückte Nase. Trotzdem war es leichter für Neaira die Augen zu schließen und sich vorzustellen er hätte all diese Dinge, als er den Gürtel ihres Chitons löste. Ohne Ungeduld zog er den Stoff von ihrem Körper, nahm sie hoch und legte sie auf das Lager. „Du musst dich doch nicht fürchten, ich werde sehr sanft mit dir sein.“ Sie hielt die Augen fest geschlossen, als er seinen Mund auf ihre Brüste senkte, an ihnen saugte und sogar hineinbiss. Vor ihren geschlossenen Augen sah Neaira seine groben Augenwülste, den untersetzten Körper, die Hörner. Dann spürte sie sein hartes Glied zwischen ihren Schenkeln.
„Wie einzigartig ist der Genuss eines jungendlichen Leibes.“ Mit einem Stöhnen ließ Xenokleides sich auf sie sinken, während er ihre Schenkel spreizte. Neaira glaubte ihr würde die Luft zum Atmen genommen, denn sein schwerer Körper drückte die Luft aus ihren Lungen. Sie bog sich ihm nicht entgegen wie Metaneira den Satyrn in ihrem Traum, als er sein Glied in sie zwängte und ihre Beine umklammerte. Stattdessen krallte sie ihre Hände in das Laken und ließ ihn tun, was er wollte. Xenokleides stieß in sie, keuchte und drängte seine Zunge in ihren Mund. Hylas Mund hatte nach süßen Früchten geschmeckt, doch Xenokleides schmeckte nach saurem Wein und nach faulen Zähnen. Er war nicht behutsam, nichts was er tat, hätte diese Bezeichnung verdient. Er war ein Satyr, der sich einen Mädchenleib nahm. Nach einer Weile stieß er ein letztes Mal hart in sie und stöhnte noch einmal laut auf. Schwer atmend lag er auf ihr, dann rollte er sich endlich zur Seite. Neaira öffnete die Augen. Er war nicht mehr der grobe Satyr. Das was neben ihr lag, war ein ausgelaugter Mann mit altersfleckigen Händen und eingefallenem Brustkorb, der sich an ihrer Jugend verausgabt hatte. Alles an Xenokleides sank so schnell zusammen wie sein Glied. Schweiß glitzerte auf seiner Stirn. „Ich bin müde“, murmelte er, und beinahe im gleichen Augenblick begann er zu schnarchen.
Neaira rückte so weit es ging auf der Kline von ihm ab. Sie störte weder das Brennen noch sein klebriger Samen zwischen ihren Schenkeln, noch der kleine Blutfleck auf dem Laken des Polsters. Viel schlimmer war der Geruch, der an ihr haftete - jener stechende Geruch, den sie als Kind an ihrer Mutter und später an Metaneira wahrgenommen hatte. Jetzt begann er Neaira anzuekeln, da ihr klar wurde, woher er stammte. Es war der Geruch männlicher Lust und Gier, der Geruch eines brünstigen Tieres, der Gestank der Satyrn! Neaira dachte daran, dass Hylas Haut nie so gerochen hatte. Er hätte es sein sollen, der sie auf ein Lager aus duftenden Blüten legte. Schließlich erlaubte sich Neaira ein paar geheime Tränen um ihre zerstörten Träume.
Xenokleides verabschiedete sich am nächsten Morgen mit knappem Gruß und drückte ihr einen perlenbesetzen Kamm für ihr Haar in die Hand, den Idras ihr sofort abnahm, als sie kam um Neaira ins Badehaus zu bringen. Neaira störte es nicht, ihr lag nichts an diesem Geschenk, doch sie wusch sich ebenso wie einst Metaneira so gründlich und verbissen, dass Idras ungeduldig mit dem Stock wedelte. „Genug jetzt, du bist sauber!“
Sie war nicht sauber, wie konnte die Schwarze es nicht riechen? Bemerkte sie nicht den beißenden Gestank? Neaira meinte, dass er sich nie wieder abwaschen ließ. Doch Idras gab nichts auf ihre Einwände. Neaira gelang es nur schwer, ihren rasenden Hass auf Idras im Zaum zu halten.
„Zieh das an und trödele nicht herum.“ Idras warf ihr einen Peplos zu und brachte sie zurück in ihr eigenes Zimmer, wo Neaira sich auf ihrem Bett zusammenrollte. Sie war so furchtbar müde, und sie fühlte sich wund – nicht nur in ihrem Körper, auch in ihrem Herzen. Am Abend brachte eine junge Sklavin ihr eine Platte mit einem Becher Ziegenmilch, einem Fladen Brot, Oliven, Käse und etwas Obst. Neaira aß ohne Appetit und betete zu Aphrodite, dass sie nicht erneut geholt werden würde. Sie könnte es nicht ertragen, nicht noch einmal! Die Göttin schien ihre Gebete zu erhören. Idras kam erst am nächsten Morgen und forderte Neaira auf, mit ihr zu kommen. Der Schlaf hatte ihr gut getan. Sie fühlte sich zwar noch immer leer und wund, aber sie war gefasster als am Vortag.
Im Andron wies nichts auf die Feste hin, die Nikarete feierte und bei denen sie vorgab ihre eigenen Töchter zu verkaufen. Die bunten Steine des Mosaiks glänzten frisch geschrubbt, und die Weinkelche und Blüten waren fortgeschafft worden. Einzig die Harpyie auf ihrem Thronstuhl zerstörte das Bild einer friedlichen Idylle.
„Ich bin sehr zufrieden mit dir. Der Preis, den deine Jungfräulichkeit mir einbrachte, ist der höchste, von dem mir bekannt ist, dass er jemals für eine Entjungferung bezahlt wurde.“
Ob Helena sich ebenso gefühlt hat, als Menelaos sie das erste Mal auf sein Lager holte? Haben ihre Scham und ihr Leib wohl von der Grobheit ihres Gatten gebrannt?, war alles, was Neaira einfiel.
„Ich werde Idras etwas von dem Geld geben, damit sie dir Gewänder und Schmuck kauft. Natürlich wirst du sie nicht begleiten. Dein Gemüt muss sich erst an das neue Leben gewöhnen.“ Die Harpyie war geschäftstüchtig, hielt dann jedoch inne. „Sicherlich ist dir klar, dass deine Zurückhaltung erfreulich für die erste Nacht war, aber die Herren von einer erfahrenen Frau anderes erwarten ... Unterhaltsamkeit, Wortwitz und Gesellschaft, und vor allem Erfahrung in den Freuden des Lagers.“ Sie stand von ihrem Stuhl auf und hob Neairas Kinn mit spitzem Finger. „Hierzu bedarf es weiteren Unterrichts, den ich meinen Töchtern angedeihen lasse.“
Sie stellte sich vor, wie sie Nikarete ins Gesicht spuckte, ihr die Augen auskratzte und sie dann mit Idras Stock schlug. Was war aus all dem geworden, was sie geplant hatte? Wann würde hinter all dem endlich die Freiheit stehen? Doch sie würde der Harpyie nicht die Genugtuung geben, in ihr Herz zu schauen.
„Du bist mir ein Rätsel, Neaira. Ich weiß sehr gut, dass du deine Gedanken vor mir verbirgst. Du hast gelernt, dein wildes Blut und deinen Trotz zu verstecken. Ich selbst habe dir dazu geraten. Aber ich mag es nicht, wenn du dich mir gegenüber verschließt.“ Ihr Lächeln schien freundlich, aber Neaira wusste längst, dass die Freundlichkeit der Harpyie viel gefährlicher war als ihre offen gezeigte Wut. Sie klatschte in die Hände, und Neaira vernahm Idras Watschelschritte, begleitet von den Schritten eines weiteren Paar Füßen in ihrem Rücken.
„Ich habe einen Lehrer für dich ausgewählt, der dich in die Künste des Lagers einweisen wird.“ Das schmale Lächeln der Harpyie jagte Neaira einen Schauer über den Rücken. Als Neaira sich umwandte, erschrak sie so sehr, dass sie nicht mehr sprechen konnte. Selbst eine Harpyie konnte nicht so grausam sein! Doch Hylas stand vor ihr wie der Beweis ihrer Boshaftigkeit, sein glatter Leib vollkommen nackt. Er war schön, sein Körper glänzend von einem Öl, mit dem er sich eingerieben hatte, seine Locken fielen in Wellen auf seine Schultern und rahmten sein betrübtes Gesicht. Er war nicht wie Xenokleides, er war kein Satyr! Doch sein Glied reckte sich ihr steif entgegen! Noch vor wenigen Tagen hätte seine Lust Neaira nicht abgestoßen, aber nun empfand sie Abscheu. Hylas hielt den Kopf ebenso gesenkt wie sie, da er sich der beschämenden Aufgabe bewusst war, die ihm bevorstand. Aber wie konnte er sie verraten und Lust empfinden?
„Mein dummes Kind. Habt ihr wirklich geglaubt, ihr könntet einfach verschwinden? Die dummen Gedanken, die dir Hylas in den Kopf gesetzt hat – Paris und Helena!“ Nikarete schnalzte mit der Zunge, setzte sich auf ihren Stuhl und nahm ihre Wollspindel zur Hand. „Zu viel Bildung schadet nur.“ Sie tippte sich mit der Spindel an den Kopf. „Sie bringt zu viele Fragen für ein Mädchen wie dich, das sich für etwas Besseres hält. Es war dumm von Hylas seinen Gönner darum zu bitten, ihn und dich auszulösen. Habt ihr geglaubt, dass der Herr auf seinen Geliebten verzichten würde?“
Neaira und Hylas sahen sich an. Es war ein einziger Blick, der ihnen verriet, dass ihre Träume unter einer Wahrheit begraben lagen, die schwerer als Marmor war. Erst als Hylas Augen in Schicksalsergebenheit verschwammen, verstand Neaira das Ausmaß von Nikaretes Boshaftigkeit. Sie hatte Hylas den Glanz gestohlen, die Sterne, die in seinen Augen gefunkelt hatten. Neaira hätte es lieber nie erfahren wollen ... dass Hylas nicht die Sonne war, sondern ebenso ein Opfer der Lust, wie sie selbst. Seine Stimme war kaum ein Flüstern. „Ich wollte es versuchen, nur für dich.“
Neaira starrte auf ihre Füße. Armer Hylas, arme Neaira.
„Schön, wenn dies nun alles geklärt ist, können wir beginnen“, bestimmte Nikarete.
Sie erzählte Neaira von den drei Körperöffnungen, die ein Mann an einer Frau bevorzugte. Neaira musste sich ausziehen, und Nikarete genoss eine Weile das Schweigen zwischen dem Mädchen und dem Knaben. Dann zwang sie Neaira, sich gleich einem Hund auf den Boden zu kauern. Als Hylas seinen Körper über sie beugte und sie nahm, schlimmer als die Satyrn in ihren Alpträumen es mit Metaneira getan hatten, verging der Zauber ihrer Liebe, ohne dass sie etwas dagegen hätten tun können. Sein Glied, sein Atem, sein Körper – es hätte auch Xenokleides sein können, der sich in sie drängte. Nikarete fand für unaussprechliche Dinge harmlos anmutende Namen wie Der Reiter, Das gestreckte Fohlen oder Das Rinden des Baumes.
Nachdem ihre Scham wund und ihr Unterleib von dem Mann zerrissen worden war, dessen Wärme und Sanftheit sie geliebt hatte, war es der Harpyie an einem einzigen Nachmittag gelungen Neaira klarzumachen, dass die Götter launisch sind, und dass die Liebe hässliche Seiten hat, von denen Homer in seiner Ilias nichts erwähnt hatte. Als Idras sie ins Louterion führte, hatte Neaira längst vergessen, dass Hylas Haut einmal nach Salböl geduftet hatte, anstatt nach jenem beißenden Geruch, dass seine Arme sie liebevoll umfangen gehalten hatten, anstatt ihre Schenkel zu spreizen, und dass er ihr versprochen hatte, sie auf ein Brautlager zu legen, anstatt sie wie ein Tier zu besteigen. Und es war noch etwas geschehen. Die Tür zu ihrer kindlichen Traumwelt war ein für alle Mal zugestoßen worden. Es gab keine Satyrn mehr, denen sie die Schuld geben konnte, keine Waldgeister, die Menschen dazu brachten, sich wie Tiere zu benehmen und ihre Opfer zu verzaubern. Es waren die Menschen, die ihr das antaten! Sie waren es, die schlecht waren!
„Ich hasse dich, Nikarete – dich und Idras und alle Männer, die meinen Körper von nun an besitzen werden“, war alles, was Neaira hervorzupressen vermochte als Nikarete sie am Abend in ihrem Zimmer aufsuchte, wo sie zusammengekauert auf ihrem Polster lag und die blau getünchten Wände anstarrte.
Nikarete, gekleidet in ein kostbares aber viel zu buntes Gewand, behangen mit Gold und edlen Steinen, die sie durch den Verkauf ihrer Mädchen bezahlt hatte, gab ihr die einzige ehrliche Antwort, die sie je von ihr bekommen sollte. „Ja, das weiß ich, Neaira. Das ist gut so. Hass ist das einzige Gefühl, das uns am Leben hält. Hass wird dich gesund halten in den Jahren, in denen du für mich arbeitest. So lernen es alle meine Töchter - schnell und hart! Du hast erfreulicherweise sehr schnell begriffen.“ Nikaretes rot geschminkter Mund verzog sich zu einem spöttischen Lächeln. „Ich sagte dir ja, meine kleine Mänade, du bist zu Großem bestimmt.“