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Kapitel 1

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Lerne dich kennen und vergib dir selbst

Viele gute Geschichten beginnen mit den Worten „Es war einmal …“

Also: Es war einmal eine Frau namens Magdalena.

Ein Name. Für die Seele ein absolut unwichtiges Detail. Sie kennt weder Raum und Zeit noch sinnlose Benennungen. Sie ist einfach. Da Magdalena aber nicht von klein an wusste, dass sie eine Seele hat, gewannen beide Faktoren rasch an Bedeutung für ihr Leben.

Ob Magdalena ein Geschenk war, weiß sie nicht. Ein Geschenk ist man nur dann, wenn Mutter und Vater freudestrahlend vor ihrem gerade geschlüpften, schreienden Baby stehen und innerlich Luftsprünge machen. Ihre Mutter tat das bestimmt. Ihr Vater wohl eher nicht. Er war ein Mann, den sie nie richtig kennengelernt hat. Das Einzige, was sie von ihm bis zu ihrem Teenageralter erlebte, war sein Alkohol. Sein Alkohol und er, gepaart mit Wutausbrüchen, Terror, Gestank und schlechter Laune. Wenn er einmal nüchtern war, dann hielt das nicht lange an. Eigentlich hätte Magdalena ein Junge werden sollen. Irgendwann vernahm sie diese Aussage in einem Gespräch anderer Personen aus der Familie.

Heute versteht sie, dass die Tatsache, ein Mädchen geworden zu sein, wohl mit ausschlaggebend für die Distanz und Wut ihres Vaters war.

Nun gut. Da war es also, das etwas pummelige kleine Mädchen, das schon nach ein paar Monaten Beinchen wie ein Michelin-Männchen hatte und beim Anblick von alten Kinderfotos erkennbar macht, dass esspäter Probleme haben könnte, die Beinchen übereinanderzuschlagen. Liebevolle Bezeichnungen ihrer Großmutter unter den Bildern im eingeklebten Album, wie „Der Wonneproppen“, untermalten das noch für Menschen, die es nicht von sich aus erkannten.

Das kleine Mädchen war meist zu laut, zu ungestüm, zu unaufmerksam, zu wild, zu ungezogen. Zu wenig Vorzeigekind, und am Ende zu viel von dem, was andere sich selbst zu wenig erlaubten zu sein. Es war schlichtweg lebendig. Es war Kind.

Tief in sich drin spürte Magdalena damals schon: Diese Familie hatte so viel mit sich selbst zu tun, dass sie einfach zu viel war. Und irgendetwas sagte ihr, dass sie nicht das einzige Kind war, das intuitiv dieses Gefühl empfand. So lernte sie unbewusst rasch: „In dieser Welt, wo dich keiner versteht, wo jeder so viel mit sich selbst zu tun hat, ohne es zu wissen, kannst du nur gut überleben, wenn du dich deinem Außen anpasst. Wenn du blitzschnell spürst, was deine Mutter oder dein Vater braucht, oder sich von dir wünscht, um ihnen das Leben so angenehm wie möglich zu machen, dann bist du sicher.“

Wenn sie weiter das Kind geblieben wäre, das nach seinen eigenen Sinnen, Wünschen und Gefühlen agiert hatte, wäre sie untergegangen. Und der Rest gleich mit. Denn diese Stärke besitzt ein kleines Kind nicht. Was es aber besitzt, ist ein hoher Grad an Sensibilität. Es spürt. Alles. Wirklich alles.

Es spürt, wenn die Mutter traurig und verzweifelt ist. Es spürt, wenn der Vater Dinge tut, die andere Väter nicht tun, spürt seine Ohnmacht und seine Härte. Nur kann es diese Gefühle noch nicht richtig zuordnen und bezieht alles auf sich. Denn der einzige Wunsch eines kleinen Kindes ist, bedingungslos geliebt zu werden, und das Schlimmste, was einem kleinen Wesen widerfahren kann, ist es, das tiefe Gefühl zu entwickeln, die Schuld daran zu tragen, dass es seinen Eltern nicht gut geht.

Die Erklärung dafür ist ganz einfach: Wenn wir auf die Welt kommen, sind wir noch rein, unbeschadet, unvoreingenommen, ungebrannt. Es gibt keine gespeicherten Autobahnen im Gehirn, mit einer Beschilderung aus Erfahrungen oder Erinnerungen, die uns zu Verstehen gibt: „Da geht es lang!“ Es gibt keinen geprägten Verstand, der schneller urteilt und glaubt, Bescheid zu wissen. Es gibt nur ein reines Herz und eine Seele, und den offenen Kopf, der bereit ist, zu lernen und sich konditionieren zu lassen, um etwas zu werden, was er noch nicht ist. Dafür ist unser Umfeld zuständig.

Bestimmt hat sich die Seele von Magdalena genau diese Familie ausgesucht und genau dieses Leben, um zu lernen. Denn dafür sind wir da – um zu lernen, uns aus angelernten Konstrukten und Fahrbahnen im Gehirn zu befreien, und um unseren wahren Kern und damit unser eigenes Glück zu finden, das vollkommen frei von Definitionen, Ansichten und Erwartungen anderer ist. Sie versuchte lange Zeit, ihr Gespür in diese Familie zu bringen. Das Gespür, das sie alle selbst irgendwann als Kind verloren hatten, um ihrer damaligen Familie zu entsprechen. Das zu tun, was deren Meinung nach richtig war.

Dazwischen war sie der Zwangsrebell, der sich nicht anders zu helfen wusste, als sein Ungerechtigkeitsempfinden durch Wut und Tränen zu äußern. Die Möglichkeit, die Situation zu verändern, hatte sie nicht. Sie war dem Außen ausgeliefert, sie war Kind, genauso, wie sich ihre Mutter und ihr Vater in deren Ehe ausgeliefert fühlten und von Ohnmacht befallen waren, weil sie ihre inneren Kinder nie erlöst hatten. Der eine war vielleicht Retter, der andere Opfer, und am Ende waren beide auch Täter. Und Magdalena mittendrin, in ihrem selbstgebauten Käfig.

Natürlich verstand sie mit ihrem kleinen Kopf und noch nicht „funktionierenden“ Verstand nicht, was das alles sollte. Warum sie ständig anders sein sollte als sie nun mal zu sein fühlte. Sie war noch zu klein, um Emotionen erklären zu können, da gab es nur laute Schreie, die sie herausbrachte. Sie konnte nicht erklären, warum oftmals eine Gefahr lauerte, wo sie nicht ansatzweise eine gesehen hatte. Warum leise zu sein besser war als laut zu sein und die Stimme zu nutzen. Warum es so wichtig war, was alle anderen im Außen denken.

Erst als sie begonnen hatte, diese Welt zu hinterfragen, die richtigen Fragen stellen lernte, in Geschichten eintauchte, konnte sie langsam verstehen. Und sie konnte nicht nur verstehen, sondern vor allem die Welt der anderen fühlen. Nur ihre eigene nicht, weil sie zu sehr darauf konzentriert war, im Außen alles unter Kontrolle zu halten, damit vielleicht der eine oder andere Streit nicht stattfand.

Sie hatte also schon sehr früh gespürt, was da im Außen passierte, war aber nicht fähig, es zuzuordnen. Ein Kind besitzt die Fähigkeit nicht, reflektiert auf die Dinge zu schauen. Im Gegenteil: Es nimmt im Alter von null bis sieben Jahren alles auf, was ihm über den Weg rennt, ist wie ein Computer, der alles auf seiner Festplatte abspeichert, ohne filtern zu können, was stimmig ist und was nicht. Diese Festplatte ist übrigens unser Unterbewusstsein, der Ort, wo alles festsitzt, was sich in diesem Alter im Außen zeigt. Wir Menschen schöpfen in weiterer Folge nach diesen sieben Jahren zu 95 % die Antworten für all unsere Entscheidungen und unser Tun aus eben diesem Speicherplatz. Das bedeutet, dass das wahre Bewusstsein, also der Teil, der wirklich nur unserem eigenen wahren Selbst entspricht, nur 5 % ausmacht. Und das unser ganzes Leben lang.

Es sei denn, wir beginnen, uns dann und wann zu hinterfragen und gehen auf die Suche nach „dem wahren Selbst“. Tun wir das nicht, können wir mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass vieles, was uns widerfährt und wo unsere Stimme gefragt ist, am Ende die Stimme unserer Mutter, unseres Vaters oder unserer Ahnen ist. Eine jener Stimmen, die sich in unserem zarten Kindesalter in den Programmspeicher verirrt haben und dort ihr Unwesen treiben.

Heute weiß Magdalena, dass sie über einen hohen Grad an Sensibilität verfügt. Hochsensibel – der neumoderne Ausdruck des 20. Jahrhunderts. Auch wieder so eine Geschichte mit einer Bezeichnung, denn eigentlich war Magdalena einfach nur ein lebhaftes, sehr viel wahrnehmendes Kind. Ein Kind, das immer mehr spürte als andere, das Emotionen und Geräusche aufsaugte wie ein Staubsauger und sie nah heranließ an sein zartes Kinderherz, ohne etwas dagegen tun zu können. Ein Kind, das sich am Ende selbst vergaß, weil das Geschehen im Außen zu viel wurde und sein kleiner Körper das alles nicht mehr abspeichern konnte. Heute weiß sie, dass der Grund, warum sie damals nie genug oder zu laut und zu ungestüm war, der war, dass sie es gewagt hat, ihr inneres Kind am Leben halten zu wollen.

Irgendwann, als alles im Außen zu viel wurde, gab sie auf und fügte sich dem, was das Außen wollte, damit es in dem kleinen Köpfchen leiser werden konnte. Heute spürt sie für sich, dass ihre Stimmen großteils nur eine Wiedergabe dessen waren, was sie vom Außen aufgenommen hat. Und manchmal war das wirklich viel.

Magdalena sammelte viele Puzzleteile in ihrem Leben, die im Laufe ihrer Entwicklung ihr eigenes Bild ergaben. Meist dann, wenn sie nicht danach suchte – dann suchten sie einfach den Weg zu ihr.

Vor ihrer Erkenntnis, eine sehr sensible Frau zu sein, war ihr nicht ansatzweise klar, dass es für dieses Verhalten auch eine Bezeichnung gibt. Du kannst dir nicht vorstellen, wie erleichtert sie war, als sie erfuhr: „Das, was du bist, ist vollkommen okay! Es ist mehr als das. Es ist ein Geschenk.“ Ein Geschenk, endlich in Ordnung zu sein, so wie sie war.

Einerseits war das erleichternd, andererseits warf es die Frage auf: „Wie kann das ein Geschenk sein, wenn ich so viel spüre?“ Sie spürte Dinge, die andere selbst noch nicht spürten, und deshalb erklärten sie sie für verrückt. Gefühle, von denen sie oft nicht genau wusste, ob es ihre eigenen waren oder die der anderen. Immer wieder wurde sie an den Pranger gestellt, wenn sie aussprach, was andere sich (noch) nicht erlaubten, oder gar noch nicht von ihrem Unterbewusstsein in ihr Bewusstsein geholt hatten. Was also war hier das Geschenk, außer, dass sie immer wieder recht früh schon erkannte, was sich stimmig und nicht stimmig anfühlte? Jahrelang besaß sie dennoch nicht die Stärke, auch danach zu handeln, weil ihre Angst, zurückgewiesen zu werden, zu groß war.

Für andere war sie immer schon das „Sensibelchen“ gewesen, das sich gern in etwas hineinsteigert. Zu viele Menschen auf einem Fleck ertrug Magdalena nur schwer. Sie wollte von der Party weg, die gerade erst begonnen hatte, weil es zu laut, zu voll war, konnte aber damals noch keine Erklärung liefern, denn man hatte ihr beigebracht: „Benimm dich bitte!“

Sie spürte Dinge, die vom bloßen Auge nicht wahrgenommen werden konnten und die viele andere nicht verstanden. Jedes Wort, ob ausgesprochen oder nicht, jede Aktion und jede Energie landete mitten in ihrem Herzen. Sie dachte oft, sie wäre einfach anders, passe nicht in diese Welt und würde hier wohl nie ihren Platz finden.

Eine leise Stimme, die sie noch nicht deutlich hören konnte, flüsterte ihr damals schon zu: ihr Herz.


Diese eine von all den Stimmen, die wahrhaftig die ihre war, flüsterte schlussendlich leise: „Du bist einfach du, mit all dem, was dich ausmacht. Bezeichnungen, Schubladisierungen – das spielt alles keine Rolle, wenn du dich annimmst, wie du bist.

Du darfst aufhören, zu glauben, du seist nicht in Ordnung. Und vor allem darfst du aufhören, andere weiter unbewusst zu imitieren oder gar zu manipulieren, in der Annahme, dein Wesen sei nicht besonders genug. Du darfst die verborgene Schatztruhe in dir entdecken, die du vor langer Zeit als Kind irgendwo vergraben musstest. Die Schatztruhe, die all deine Talente, Fähigkeiten und dein besonderes wahres Sein beinhaltet. Sie ist da und wartet auf dich, damit du voller Staunen und Liebe dein Leuchten zu erkennen lernst und Möglichkeiten findest, dich etwas mehr von all der Flut im Außen abzugrenzen.“

Diese Schatztruhe wartet in jedem von uns, auch in dir. Auf ihr steht „SELBSTLIEBE“. Sie beinhaltet all das, was deine Sinne und damit dich ins Fühlen bringt. Sie möchte allerdings nicht durch deinen Kopf gefunden werden, denn der denkt zu viele unnütze Gedanken. Sie möchte entdeckt werden, wenn es still ist in dir, wenn dein Herz pocht und du dich mit einem oder allen deinen Sinnen genau da wahrnimmst, wo du bist: in dem einen gegenwärtigen Moment.


Verzeihe dir. Verzeihe dir heute, dass du damals noch nicht anders konntest, weil du nicht erwachsen genug warst, um dich selbst zu beschützen. Verzeihe dir, dass du dich immer wieder dafür verurteilst, nicht schnell genug, gut genug, schön genug, besonders genug, liebevoll genug zu sein. All das sind nur Geschichten, die dir dein Kopf erzählt. Geschichten, die dir andere in ihrer eigenen Ohnmacht und Hilflosigkeit erzählt haben, weil sie nicht anders konnten, als dir das zu vermitteln, was ihnen ihr Kopf erzählt hat. In sie wurden diese Geschichten ebenso einprogrammiert – von Generationen davor. Sie sind allerdings nur eine Illusion.

Verzeihe dir, dass du oftmals nicht liebevoll mit dir warst und den strengen Richter gespielt hast, den du als Kind des Öfteren von Erwachsenen erlebt hast, um jemandem zu entsprechen, damit du dich endlich wertvoll und vollkommen angenommen fühlen konntest. Verzeihe dir all die Momente, in denen du die Stimme deines Herzens gegen eine Kopfstimme getauscht hast, aus der Angst heraus, dass ihr zu folgen Ablehnung vom Außen mit sich bringen könnte. Verzeihe dir, dass du bisher angenommen hast, du seist nicht wertvoll genug – du bist es, in all deiner einzigartigen Schönheit, die mindestens genauso einzigartig und besonders ist wie dein Fingerabdruck.

Verzeihe dir, dass du dich bisher noch nicht erkannt hast, als das kleine verwundete Kind, das voll von längst veralteten, nie gültig gewesenen Emotionen und Glaubenssätzen darauf wartet, endlich von dir erlöst zu werden, damit es frei sein kann, sich zeigen kann. Lass es sprechen. Lass es lebendig sein.

Lass es leben, in deinem Herzen, das Kind, das früher entdeckungsfreudig war, intuitiv gehandelt hat, ein Grundvertrauen in die Welt hatte und frei war von Schuld, Neid, Missgunst, Verurteilungen oder Machtspielchen.

Du fragst dich vielleicht, wie oft du verzeihen musst. In einem sehr wertvollen Buch steht 77 Mal, von ganzem Herzen. Leg deine Hand auf dein Herz und lerne es zu spüren, bevor du gewaltsam versuchst, das Verzeihen mit deinem Kopf zu vollziehen. Sei geduldig mit dir. Das ist neu, und alles, was neu ist, braucht ein wenig Übung und Zeit. Hilfreich kann es sein, dich vor einen Spiegel zu begeben und dir das kleine Mädchen oder den kleinen Jungen von damals vorzustellen.

Dazu ein Text, der auch für die weiteren drei Kapitel in deinem Herzen Platz nehmen darf, wenn du möchtest:



Verzeihen. Ein Wort, das so viel Kraft und Wirkung hat. Es befreit von Schuld. Von etwas, das gar nicht existiert, weil jeder Mensch immer nur so gut kann, wie er kann. Erwartungen an andere, die nicht erfüllt werden, erzeugen diese Schuld. Jetzt bist du erwachsen, du darfst dich um dich selbst kümmern, wie du es dir immer von anderen gewünscht hast.

Verzeihen erlöst das Herz, es gibt inneren Frieden. Kommen dabei noch Widerstände auf, dann bleib einfach dran. Das ist neu, für den Kopf ganz ungewohnt, denn der ist zu voll mit alter Schuld und gibt diese nur Stück für Stück ab. Dahinter steht die Erlaubnis, die darauf wartet, von dir selbst an dich erteilt zu werden. Die Erlaubnis, dir zu verzeihen, dass du als Kind und junger erwachsener Mensch noch nicht bedingungslos für dich da sein konntest.

Erlaube dir aus tiefstem Herzen, dir selbst zu verzeihen. Nimm dein inneres kleines Kind von damals bildlich gesehen an die Hand, lass es auf dich zukommen. Es wurde vielleicht zu sehr verstoßen oder nicht ausreichend geliebt, sodass es noch etwas vorsichtig ist und zögernd. Bleib dran, gib dir die Liebe und das offene Herz, das du dir von anderen immer schon sehnlichst gewünscht hast. Es ist alles in dir und wartet auf dich.


Herzgeflüster

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