Читать книгу Durch Schatten gehen - Birgit Treckeler - Страница 7

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3 Auszug

Der nächste schmerzvolle Abschied naht. Während ich zwischen Weihnachten und Silvester und an den ersten Tagen des neuen Jahres mit allen Maklern, die ich trotz der Feiertage erreichen konnte, telefoniert habe und mir jede nur irgendwie brauchbar erscheinende Wohnung im Internet herausgesucht hatte, wird mir eines schnell klar: Beide Hunde werde ich auf keinen Fall mit in mein neues Leben nehmen können. Wird bei einem kleinen Hund hin und wieder noch eine Ausnahme vom kategorischen Nein zur Hundehaltung gemacht, werde ich jedoch ganz sicher mit einer so wilden Maus wie meiner Lady keinen einzigen Vermieter davon überzeugen können, ruhige und unauffällige Mieter zu werden.

Katja, meine Hundefriseurin und zugleich eine liebe Freundin, hatte während der vergangenen Wochen kurz hintereinander gleich zwei ihrer drei Hunde beerdigen müssen. Und als ich sie anrief, um ihr von meiner Trennung zu erzählen, erfahre ich im Verlauf des Gesprächs, dass sie sich ganz schnell wieder einen Hund wünscht. „Du glaubst gar nicht, Britt, wie leer das Haus nun ist. Ich kann und kann mich einfach nicht daran gewöhnen, dass die beiden nicht mehr da sind.“ Und ob ich mir das vorstellen kann! Katjas neues Jahr hatte also ebenfalls sehr traurig begonnen und spontan macht sie mir den Vorschlag, sich um Lady zu kümmern – nicht ohne zuvor sehr viele und sehr unschöne Worte über Eberhard und sein Verhalten losgeworden zu sein. „Bring sie her, Britt, wenn du willst gleich heute Nachmittag noch. Dann werden wir sehen, wie sie hier klarkommt. Aber eins musst du wissen: Das hier bei mir ist keine

Hundepension! Wenn sie kommt und hierher passt, dann bleibt sie auch für immer.“ Katja ist sehr direkt und stets eine Freundin klarer und ehrlicher Worte, eine Eigenschaft, die wir beide eigentlich teilen, aber eine, die ich gerade heute so gar nicht gebrauchen kann.

Das ist nun also unsere Chance, Ladys Chance, auf ein gutes Weiterleben auch ohne mich. Noch am gleichen Tag fahre ich nachmittags zu Katja. Mir fällt diese Fahrt unglaublich schwer und ich muss fast unentwegt weinen. Aber ich muss diese Entscheidung treffen und mich von Lady trennen, ob ich will oder nicht. Und in mir stirbt schon wieder etwas.

Vier Jahre war Lady bei uns, eine Straßenhündin aus Ungarn. In der Tiernothilfe hatte sie auf ein neues Zuhause gewartet und es bei uns gefunden. Sie ist ein wirklich anstrengender Hund: eigensinnig, rebellisch, aber mit einem umwerfenden Charme ausgestattet, ein wunderschönes Tier, das ich sehr schnell sehr lieb gewonnen hatte. Bestimmt aber ist sie kein Hund für ein Leben in einer Wohnung, sondern eine Wilde.

Fortan also, falls sie sich einlebt, wird sie auf Katjas Bauernhof zusammen mit anderen Tieren viel Freiheit und Natur genießen können, versuche ich mich selbst ein wenig zu trösten.

Katja drängt auf einen schnellen Abschied an diesem Nachmittag, so wie sie es auch angekündigt hatte. Ich bin ihr dankbar und weiß, dass es Lady gut bei ihr haben wird. Trotzdem tut der Abschied gewaltig weh. Ihr trauriger, fassungsloser Blick, als ich mich über sie beuge, leise in ihr Fell weine und schließlich ohne sie das Haus verlasse, verfolgt mich.

Das Gefühl, versagt zu haben, und ein leises schlechtes Gewissen werden mich fortan begleiten, wann immer ich an Lady zurückdenken werde. Verlassen, Versagen, Verlieren – diese Trias zieht sich nun schon so lange wie ein roter Faden durch mein

Leben. Offensichtlich sind die drei großen ‚V‘ meine grundlegenden unbewältigten Lebensthemen.

***

„Wo ist denn Lady?“, begrüßt mich Eberhard abends mürrisch, als ich allein mit Ovambo von einem Spaziergang zurückkomme.

„Weg!“

„Was heißt das, weg? Wo ist sie?“

„Sie ist da, wo sie es von nun an besser haben wird.“

„Das kann jetzt aber nicht dein Ernst sein! Du kannst doch nicht einfach meinen Hund weggeben!“

„Siehst du doch, dass ich das kann. Oder hast du etwa vor, dich in deinem neuen

Freiheitsleben um sie zu kümmern und für sie zu sorgen?“ Mich packt die kalte Wut über so viel Ignoranz.

„Das kann ich doch gar nicht“, kommt seine pikierte Antwort zurück. Klar, mitten in der Midlifecrisis und in seinem künftigen neuen Leben stört natürlich die Verantwortung für einen Hund, genauso wie für eine erkrankte Ehefrau oder auch für die Kinder aus früheren Beziehungen. Und so verlässt er auch dieses – unser – Leben mit einem radikalen Schnitt. Offenbar kann er gar nicht anders. Es ist eben sein Muster, Frauen zu verlassen, immer wieder.

Aber ich habe keine Kraft mehr für Kämpfe und Diskussionen und entgegne im

Weggehen deshalb nur lapidar: „Ich auch nicht“, – und versuche, nicht ständig an Lady zu denken. Währenddessen spielt Eberhard weiter den Gekränkten und blendet dabei offenbar völlig aus, dass er die Lage doch selbst zu verantworten hat. Was also soll sein Getue, frage ich mich.

Nur wenige Wochen später wird er sich um keinen seiner Hunde mehr kümmern wollen und mir durch seinen Anwalt mitteilen lassen, dass er gerne auch für Ovambo ein neues Zuhause sucht, sofern ich ihn weiter mit Bitten belästigen sollte, sich an den Futter- oder Tierarztkosten zu beteiligen oder gar mit der Anfrage, die kleine Fellnase übers Wochenende einmal selbst zu betreuen. Unfassbar!

***

Die kommenden Tage, die ersten des neuen Jahres, sind für mich ausgefüllt mit Telefonaten, Wohnungsbesichtigungen, Auszugsplänen und Fluchtreisen zu Freunden oder zu meinem Vater und seiner Claudette. Es ist schon berührend festzustellen, wie sehr sich viele Menschen um mich sorgen und mich mit Essenseinladungen aus dem Haus locken wollen. Nur zu gerne nehme ich diese an, es sind immerhin Abwechslungen zu Toast mit Honig, Milchschnitten und Fertigpuddings. Allerdings halte ich es nie lange aus, jeder Besuch ist anstrengend und ermüdend. Ich suche dann schnell wieder die Einsamkeit, die ich – paradoxerweise – aber auch nicht ertragen kann. Doch immerhin habe ich wieder einen weiteren Tag überlebt. Um mehr scheint es derzeit nicht zu gehen.

Ich kann das Alleinsein nur schlecht ertragen, habe es noch nie gut gekonnt. In meiner jetzigen Situation geht es allerdings gar nicht. Und so sehe ich ständig zu, irgendwelche Verabredungen zu treffen und verteile meine Anwesenheit auf möglichst viele Menschen. Denn mir ist schon klar, dass ich in meinem derzeitigen Zustand und mit den immer gleichen Gesprächsthemen momentan nicht gut auszuhalten bin. Und eigentlich bin ich jedem dankbar, der bereit ist, mich für ein paar Stunden zu ertragen.

Und dann gibt es da noch etwas, das ich am liebsten vollständig verdrängen würde: meine Arbeit. Unerbittlich ruft sie mich an den Schreibtisch. Ich müsste mich um so Vieles kümmern und wie gerne hätte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich Kunden und Konten, Mitarbeiter und Abrechnungen so sträflich vernachlässige. Aber stattdessen ist mir das einfach nur egal. Es gelingt mir nicht, mich zu konzentrieren, mich zu kümmern. Und so verschiebe ich alles Notwendige eben auf morgen, auf übermorgen – oder gleich auf die nächste Woche.

Seit vielen Jahren bin ich nun schon als Unternehmerin tätig, und eigentlich als eine ziemlich erfolgreiche sogar. Mein Nachhilfeinstitut floriert, erst vor ein paar Wochen habe ich mein Einzugsgebiet um einen lukrativen Landkreis erweitert. Meine Kundenstamm verlässt sich seit Jahren auf mich, ist meine persönliche Betreuung und engagierte Beratung gewohnt. Und die regelmäßig eingehenden Aufträge haben Eberhard und mir in der Vergangenheit ein gutes Leben mit vielen Annehmlichkeiten ermöglicht. Ich hatte mich über den raschen Erfolg definiert, habe sogar Auszeichnungen für hervorragende unternehmerische Leistungen eingeheimst. Doch seit der Trennung vernachlässige ich dies alles völlig, vertröste mit einem kurzfristig improvisierten Sekretariatsservice Kunden und Mitarbeiter von einem Tag auf den anderen. Zum ersten Mal in meinem Leben sind mir Disziplin, Kraft und Interesse, mich in meiner Firma zu engagieren, einfach schlichtweg abhandengekommen.

Und zu alledem kommt ja dann auch noch der Job in der Beratungsstelle, den ich vor einem Jahr übernommen habe. Ich arbeite dort mit Hilfe suchenden Familien, versuche Lösungen in und aus Krisen zu finden, Hoffnung zu vermitteln, Auswege aus Sackgassen aufzuzeigen. All das kann ich nicht mehr bewältigen. Ich weiß nur eines:

Ich muss dort schnellstmöglich kündigen.

Christin, meine Chefin, ist völlig überrascht, als ich unangemeldet in ihrem Büro auftauche. Kaum dass ich in ihrem Zimmer sitze, kann ich meine Tränen nicht mehr unterdrücken und ihr nur noch weinend berichten, dass ich bald wegziehen werde. Mir ist es daher schlichtweg nicht mehr möglich, die laufenden Fälle abzuschließen, da müssen nun notgedrungen Kolleginnen für mich einspringen und das übernehmen – es geht einfach nicht anders. Christin findet das alles äußerst bedauerlich und lässt mich, wie sie sagt, nur ungern gehen. Aber zugleich versteht sie mich auch, ist sehr mitfühlend. Sie selbst hatte vor fünf Jahren, wie sie mir dann anvertraut, eine ähnlich fiese Trennung zu bewältigen, als auch sie von ihrem Mann Knall auf Fall verlassen wurde. „Ich kann dich also nur zu gut verstehen, Britt. Mir ist es damals ganz genauso ergangen“, erinnert sie sich. Aber bei ihr gab es ein Happy End. In ein paar Sätzen erzählt sie mir, wie sie ihren heutigen Mann kennengelernt hat und sich so ganz plötzlich der Trennungsschmerz über ihre zerbrochene Ehe in Nichts auflöste. „Heute bin ich wieder glücklich verheiratet und betrachte die damalige Trennung im Rückblick eigentlich wirklich als Glücksfall. Für mich ist jetzt nahezu alles perfekt. Mein Mann und ich, wir passen viel besser zusammen und leben wirklich in einer phantastischen

Beziehung,“ vertraut sie mir lächelnd an. Dabei fällt mein Blick auf den Bildschirmschoner ihres Laptops, aufgenommen an ihrem Hochzeitstag – und ich glaube es ihr sofort. So viel Glück in Nahaufnahme, beneidenswert!

Es sind natürlich genau solche Geschichten, die ich im Moment nicht ertragen kann – diese „Alles wird wieder gut“- und „wirst schon sehen, auch du bist eines Tages wieder glücklich“-Geschichten. „Gib dir ein wenig Zeit, dann heilen alle Wunden!“ Ja, genau

Als ich ihr Büro verlasse und meine Kündigung abgegeben habe, will ich möglichst schnell raus aus dem Gebäude. Bloß keine Kolleginnen treffen, keine Erklärungen geben müssen. Das tränennasse Gesicht im hoch aufgestellten Mantelkragen verborgen, laufe ich zu meinem Auto. Ich fühle so viel Scham.

***

Wie es beruflich für mich weitergehen wird – im Moment ist mir das noch völlig unklar. Ich habe überhaupt keine Vorstellung davon, wie meine Zukunft aussehen wird, oder soll. Aktuell werde ich nur von einem einzigen Gedanken beherrscht: Ich muss wegziehen aus dieser Stadt. Weg aus diesem Haus. Und letztlich auch weg aus diesem Leben, das nicht mehr das meine ist. Die Anstrengungen, die Konzentration auf Planungen, das Organisieren und alles, was notwendig wäre, um meine Firma mit umziehen zu lassen – ich kann das unmöglich leisten. Ich will das nicht und vor allem kann ich es auch gar nicht. Das ist das Einzige, was ich momentan mit Bestimmtheit weiß. Wie es dann weitergehen wird und soll, werde ich irgendwann überlegen. Morgen vielleicht oder in vierzehn Tagen, aber nicht jetzt.

Für die nächsten paar Wochen werde ich noch die eine oder andere Stunde, die eine oder andere Nacht in unserem Haus verbringen müssen, auch wenn ich tagsüber zusammen mit Ovambo fast ständig unterwegs bin. Irgendwie fühlt es sich an wie auf der Flucht. Aber ich kann es nicht mehr länger ertragen, dass ich alleine im Schlafzimmer liege, dass ich ständig auf Eberhards Schritte im Haus horche. Ich kann nicht einschlafen, ehe er, der sonst abends gegen zehn ins Bett gegangen ist, erst weit nach Mitternacht nach Hause kommt. Mit wem trifft er sich nur ständig? Woher kommt er, so spät in der Nacht?

Ich bin umgeben von einem Leben, in dem mich alles an unsere gemeinsame Zeit erinnert, an das alte Leben, das ich mir so sehr zurückwünsche. Und doch kann ich zugleich die Erinnerungen daran und mein derzeitiges Dasein so überhaupt nicht mehr erdulden. Also bin ich, ob ich will oder nicht, zu einem Besichtigungsmarathon von diversen Wohnungen gezwungen. Disziplin ist ja bekanntlich meine Stärke – und nun hält sie mich am Laufen. Ob mich die Makler wohl für exzentrisch halten? Sicherlich werden sie meinen Mangel an Begeisterung oder mein fehlendes Interesse an den Räumen ein wenig befremdlich finden, aber eigentlich stört mich das nicht wirklich. Auch die vielen Infos, die ich bei meinen Besichtigungen erhalte, machen mich nicht neugierig. Ich sehe auf den ersten Blick, ob die Wohnung für mich infrage kommen könnte oder nicht. Ist sie uninteressant, verabschiede ich mich spröde und gehe nach ein paar Minuten wieder.

Ich muss durch einige Appartements durch, ehe ich schließlich eine wirklich schöne Wohnung in einem Zweifamilienhaus anmieten kann, ganz in der Nähe des Wohnortes, in dem mein Vater lebt. Die schwierigen, manchmal fast inquisitorischen Gespräche mit den Vermietern bringe ich irgendwie hinter mich und fühle zum ersten Mal seit vielen Wochen eine merkwürdige Erleichterung, als ich endlich den Mietvertrag unterschreiben und die Kaution in bar übergeben kann. Die Maklerin staunt nicht schlecht, als ich ihr danach weinend um den Hals falle und ihr tränenreich für ihre Fürsprache danke. „Ich danke Ihnen so sehr, dass Sie mich den Vermietern empfohlen haben, jetzt habe ich das Schlimmste hinter mir, kann wieder ein wenig durchatmen.“

„Ach herrjeh, Frau Ilkner, was ist los mit Ihnen? Ich habe mir schon die ganze Zeit über gedacht, dass es Ihnen nicht gut geht. Was ist denn nur passiert?“, fragt sie anteilnehmend, aber auch neugierig.

„Ich stecke mitten in einer fiesen Trennung und muss so schnell wie möglich aus unserem Haus ausziehen, sonst werde ich noch verrückt. Aber jetzt habe ich wieder eine Perspektive und das Schlimmste ist hoffentlich bald geschafft.“ Geschichten wie diese hört eine Maklerin natürlich ständig, eigentlich lebt diese Berufsbranche ja sogar zu einem großen Teil von Trennungen, von Hausverkäufen, von wohnungssuchenden ExPartnern. Sie versteht also, es interessiert sie aber auch nicht weiter.

Allerdings muss ich mich noch drei Wochen bis zum Umzug gedulden, so viel Zeit benötigt mein Vormieter, um die Wohnung peu à peu zu räumen. Am liebsten wäre ich von heute auf morgen dort eingezogen, hätte auch unrenovierte und schmutzige Zimmer in Kauf genommen – Hauptsache, endlich nur weg von Eberhard. Aber immerhin: Ich habe nun eine Perspektive, es wird irgendwie weitergehen. Ich muss bloß noch diese drei Wochen durchalten, überstehen.

Eberhard weiß nichts von meinen Auszugsplänen, ahnt auch nichts. Und während er munter fremde Frauen datet, plane ich minutiös meinen Auszug. Ich möchte, dass der Überraschungseffekt ganz auf meiner Seite ist, dass er eines Tages in ein halbleeres Haus kommt und ich einfach weg bin. Aber leider gelingt mir das nicht wie geplant. Eine Woche vor meinem Umzug entdeckt er in meinem Büroschrank, in dem er irgendwas gesucht hat, die Unterlagen der angemieteten Umzugsfirma. Am gleichen Abend laufen wir uns in der Küche über den Weg und Eberhard spielt wieder mal den

Beleidigten. „Wieso ziehst du denn aus? Wir haben doch abgemacht, dass wir uns die Kosten hier so lange teilen wollen, bis wir einen Käufer für das Haus gefunden haben.

Ich verstehe dich wirklich nicht! Aber … dann beteiligst du dich auf jeden Fall auch nach deinem Auszug weiter an den Kosten, das ist dir ja wohl klar! Davor kannst du dich nicht drücken. Und außerdem: Du hast doch Geld, und nicht zu knapp! Und ich hätte eigentlich auch Anspruch darauf, dass weißt du hoffentlich?!“

Wieder einmal verschlägt es mir den Atem, ich kriege kaum Luft, fühle einen Druck auf der Brust. Ein paar Rücklagen durch das Erbe meiner Großeltern und noch einige aktuelle Einnahmen aus den Kundenverträgen meiner Firma nehmen mir wenigstens für den Augenblick die finanziellen Sorgen, das ist wahr. Ist ja auch so schon alles schwierig genug und zumindest fürs erste muss ich mir zum Glück keine Gedanken über Geld machen, wohl wahr. Aber jetzt kommt Eberhard allen Ernstes daher und erhebt einen Anspruch auf mein großelterliches Erbe?

„Nicht einen Cent wirst du von mir bekommen, das schwöre ich dir! Kannst es ja gerne versuchen“, drohe ich ihm und gehe dabei auf ihn zu, trete ganz nah an ihn heran, mein Blick voller Hass. In dieser Sekunde sieht er mir an, dass es besser ist zu schweigen und den Bogen nicht zu überspannen. Und ich weiß – und er weiß es auch! – dass dies nicht nur eine leere Drohung ist. Um jeden Cent meines Geldes werde ich kämpfen! Er ist der erste von uns beiden, der sich abwendet.

Mit einer solchen Forderung von ihm hatte ich nicht gerechnet. Eberhard war nie geldgierig gewesen, wirklich nicht. Seinen Ex-Frauen gegenüber hatte er sich eher unangebracht großzügig gezeigt. Nicht etwa aus einer spendablen Grundhaltung heraus oder weil er selbst genügend Geld zu verteilen gehabt hätte, sondern schlicht und einfach wegen seines schlechten Gewissens. Diesmal jedoch scheint ihm sein Gewissen offenbar nicht in die Quere zu kommen. Glaubt er tatsächlich, einen Anspruch auf meine Ersparnisse zu haben? Und das auch noch vor dem Hintergrund, dass ich von Beginn unserer Beziehung an ohnehin finanziell den Großteil unseres gemeinsamen Leben bestritten habe.

Wie so oft in diesen Wochen verstehe ich ihn nicht, habe ihn offenbar nie wirklich gekannt. Oder hatte ich nur nicht genauer hinsehen wollen? Ein Mensch verändert sich doch nicht einfach so sehr von heute auf morgen, da muss doch schon immer etwas Widerliches in seinem Charakter vorhanden gewesen sein?! Diesen Robotermann also habe ich tatsächlich einmal für den liebenswertesten und warmherzigsten Mann dieser Welt gehalten. Wo war er nur hin? Und wer war dieser Klon hier? Wie affig er aussieht, jetzt, wo er sich die Haare lang wachsen lässt, denke ich gehässig. Und immer diese affektierte Handbewegung, mit der er sich die Haare aus dem Gesicht streicht. Lächerlich!

Der verbale Kampf in der Küche geht aber noch weiter, denn eins muss ich ihm nun ja mal deutlich vor Augen führen: „Was haben wir denn eigentlich abgemacht, Eberhard? Es war dein Vorschlag, hier eine lockere WG zu spielen. Und es sollte einzig und allein deiner Bequemlichkeit dienen. Deine Vorteile liegen dabei doch auf der Hand! Für mich aber ist nur eines klar seit jener Nacht im Dezember: dass ich hier raus muss! Und zwar ganz schnell!“

Ich zittere am ganzen Körper vor Wut und Anstrengung. Und bevor er geht, in ein neues Leben mit einer wieder neuen Frau, gehe ich, und zwar bald. Klar wird es für ihn ab jetzt teurer werden: Steuerklassenwechsel, die Kosten meiner neuen Wohnung und meines neuen Lebens, all das wird bei den gemeinsamen Gesamtkosten gegengerechnet. Und so habe ich lediglich einige hundert Euro im Monat an ihn zu zahlen, das hatte mir mein Anwalt zügig durchkalkuliert. Für Eberhard aber ist die Rechnung deutlich höher ausgefallen – und genauso wünsche ich mir das! Seine neue Freiheit hat also ihren Preis, einen ziemlich hohen Preis sogar.

Ich hingegen könnte es auch gar nicht ertragen, von ihm zurückgelassen zu werden, in unserem Haus, das wir gemeinsam umgebaut und eingerichtet hatten. Könnte es nicht ertragen, einsam inmitten all der Erinnerungen zurückzubleiben, die Trennung nicht zu verschmerzen und ihm auch noch bei seinem Auszug zuzusehen. Alleine zurückbleiben, die Verantwortung für all das hier zu tragen – nein, das kommt für mich nicht infrage! Das ist mir eindeutig eine Nummer zu groß.

„Ich ertrage es nicht länger, mit dir unter einem Dach zu leben. Merkst du denn gar nicht, was du hier von mir verlangst und dass ich das nicht leisten kann?“, frage ich ihn, und wieder laufen Tränen über mein Gesicht. Ich schmecke den bitteren Hass in meinem Mund.

„Für mich ist das alles auch nicht einfach! Vor allem nervt dein ständiges Geheule, und zwar gewaltig!“, giftet er wütend zurück, verlässt die Küche, hastet in den Flur, telefoniert kurz und knapp – mit wem auch immer – und verlässt, wieder einmal, das Haus, das einst unser Refugium war.

Immer noch kann ich nicht verstehen, wie er unsere Beziehung einfach so aufgeben kann. Noch vor wenigen Wochen hatte er gesagt, dass er keine Trennung will, dass er hofft, dass uns ein Therapeut helfen kann, erneut zusammenzufinden, weil er unser Leben so sehr liebt und sich nicht trennen will. Und nun behandelt er mich wie eine Fremde, wie einen Feind. Was habe ich ihm eigentlich getan, dass er sich so verhält?

Warum hasst er mich nur so? Ich würde es so gerne verstehen.

Eine Antwort darauf werde ich jedoch niemals erhalten.

***

In den folgenden Tagen biete ich meine letzten Kräfte für die Vorbereitung des bevorstehenden Umzugs auf. Ich packe gemeinsam mit Gitte das Geschirr in Kisten und auch meine persönlichen Dinge zusammen. Gitte ist meine Freundin und es tut mir gut, dass sie jetzt bei mir ist. Ich bin entschlossen, das meiste zurückzulassen, will so wenig wie möglich mitnehmen von dem, das mich an die gemeinsame Zeit erinnert.

Ich kann schon in die neue Wohnung hinein, habe den Schlüssel bereits erhalten. Der Vermieter ist anwesend und in Plauderlaune, als ich zusammen mit Gitte Böden, Wände und Fenster vermesse. Ich überlasse Gitte den Smalltalk, sie kann das ohnehin so viel besser als ich. Der Vermieter muss ja nicht gleich sofort bemerken, dass er künftig eine verheulte, einsilbige und humorlose Frau im Haus wird wohnen haben. In vielen Ecken meiner neuen Wohnung herrscht noch das reine Chaos. Vom Vormieter stehen überall Sachen herum, die auf ihre Abholung warten, schmutzig ist es auch. Ich versuche pragmatisch zu sein und überlege, wie ich meine Möbel stellen werde. Es kostet mich aber fast unüberwindbare Anstrengungen, die notwendigen Dinge wie Teppiche, Gardinen und andere Einrichtungsdinge zu kaufen. Alleine schaffe ich es gar nicht, entweder also muss eine Freundin mit oder aber mein Vater samt seiner nervigen Claudette.

In den Konsumtempeln, von denen es in meinem neuen Wohnumfeld glücklicherweise einige gibt, treffe ich rasche Kaufentscheidungen. Im Grunde ist es mir egal, von welcher Qualität und Farbe die Dinge sind. Die Tage sind anstrengend und lang, aber wenigstens kann ich dem alten Zuhause auf diese Weise immer wieder, wenn auch nur für Stunden entfliehen.

Der Maler kann schon in die neuen Räume, der Teppichboden wird verlegt. Er ist hell und weich, aber nicht teuer – immer das schmelzende Budget im Blick. Aber ein Teppich muss sein, auch wenn mir jeder zu Laminat rät. Ich denke dabei an Ovambo, er liebt Teppiche. Und ich will, dass er es schön bequem hat in unserem neuen Heim. Und dann ist mir vor allem wichtig, dass hier alles vollkommen anders aussieht als in meiner alten Umgebung, unserem gemeinsamen Haus. Eberhard mochte keine Teppiche – für mich nun Grund genug, die Wohnung damit komplett auszulegen.

Seit Eberhard und ich das gemeinsame Haus vor fünf Jahren gekauft hatten, haben wir es ständig umgebaut: neue Außenanlagen angelegt, die Zimmer verändert, ein neues, edles Bad hier, ein neues, größeres Schlafzimmer dort, ein neues, stylisches Wohnzimmer. Jeden verdienten Cent haben wir in Baumärkte getragen, in Baustoffhandel und Einrichtungshäuser. Nun wären wir tatsächlich nahezu fertig mit dem ganzen Umbau gewesen, endlich nach so vielen Jahren. Wohl eine Ironie des Schicksals: Nur noch eine neue Flurtreppe hatte gefehlt – schickes Edelstahl mit integrierten Lämpchen am Boden hatten wir bereits ausgesucht –, dann hätten wir alles geschafft – und hätten fortan unser wunderschönes Traumhaus gemeinsam genießen können. Nun werden sich Fremde daran erfreuen. Bitter.

Heute geht dort eine kühle, offensichtlich überarbeitete Maklerin durch die schönen Räume, taxiert den Wert, formuliert Vor- und Nachteile der Immobilie und hat auch bereits den einen oder anderen potenziellen Interessenten im Kopf. Vielleicht kann sie sogar schon diese Woche einen Besichtigungstermin vereinbaren. Nur zu!

Ehrlich gesagt muss ich Eberhard sogar dafür bewundern, wie er das aushält und die Hausführungen durchsteht. Auch er hatte dieses Haus doch gewollt und geliebt, es als sein Zuhause empfunden. Hoffentlich geht es ihm richtig schlecht dabei, wenn er Fremde herumführen muss und ihnen unser ehemaliges Eigentum schmackhaft machen darf, denke ich gehässig. Wir haben bislang erst wenig vom Kredit getilgt, das Haus ist noch fast vollständig belastet. Bin mal gespannt, für welche Summe er bereit sein wird, es zu verkaufen. Glücklicherweise müssen wir beide einverstanden sein und dem Verkauf eines Tages gemeinsam zustimmen.

Viele Monate später wird mir die Maklerin in einem Gespräch berichten, dass mein

Mann sich während der Besichtigungen und auch während des späteren Verkaufs nicht besonders gut gehalten hat. „Ihr Mann wirkte, als stünde er total neben sich. Er sah katastrophal aus und redete oft vollständig unsinniges Zeug, sodass ich die Situation öfter mal retten musste. Sonst wären die Interessenten wohl kaum ein zweites Mal wiedergekommen und es wäre unter Umständen erst gar nicht zu einem

Verkaufsabschluss gekommen. Bei dem Notartermin mit den Käufern hat er sich fast um Kopf und Kragen geredet“, plauderte sie weiter.

Ich gebe zu, ich höre diese Worte gerne, wirklich gerne. Ja, es freut mich, und wie! Ganz offensichtlich ist auch er mit der Situation überfordert und es tut gut zu wissen, dass ich ihn durch meinen überraschenden vorzeitigen Auszug zumindest in diese unangenehme Situation bringen kann. Wie liebend gern, davon bin ich fest überzeugt, hätte er mir feige das Feld überlassen, wenn wir gemeinsam als ‚WG‘ den Hausverkauf abgewartet hätten!

Ich erinnere mich wieder an die Zeit, als wir vor fünf Jahren, so glücklich verliebt, begannen, Häuser zu besichtigen und uns vorstellten, darin zu leben. Immer waren wir uns einig gewesen, hatten immer denselben Geschmack. Wir wussten genau, was infrage kam und was nicht. Es waren schöne Wochen und wir hatten viel Spaß dabei. Es dauerte damals nicht lang, bis wir ‚unser‘ Haus tatsächlich gefunden hatten. Und natürlich hatten wir während dieser Zeit auch Objekte besichtigt, die kurzfristig frei geworden waren, weil sich ihre Besitzer getrennt hatten. ‚Scheidungshäuser‘ nannten wir solche Häuser damals. Und die Stimmung, sofern bei der Besichtigung beide Besitzer im Haus anwesend waren, war meist bedrückend. Schrecklich! Und es gab auch einige wirklich taktlose und blamable Szenen, deren Peinlichkeit die Verkäufer selbst aber offenbar überhaupt nicht bemerkten. Oder vielleicht war es ihnen ja auch einfach inzwischen egal, wenn sie unpassende Kommentare über einander abgaben, sich gegenseitig anblafften und sich wie Kinder vor den Augen Dritter stritten und blamierten. Wir ignorierten ein solches Verhalten damals gekonnt, lachten aber natürlich im Nachhinein schadenfroh darüber. Hochmut kommt ja bekanntlich vor dem Fall.

Nun befinde ich mich auf einmal in der gleichen Situation und mache selbst ebenfalls gar keine gute Figur dabei. Ich habe das Gefühl, wahnsinnig zu werden, kann die Situation kaum aushalten und will nur weg von hier, ehe ich mich vergesse. Ich habe mich überhaupt nicht im Griff, ganz genauso wie diese Besitzer der ‚Scheidungshäuser‘ damals, die ihre Emotionen auch nicht zügeln konnten. Ich bin dermaßen verwundet und voller Trauer, dass ich Eberhard in Gegenwart der Maklerin auf übelste Weise beschimpfe und beleidige. Ich finde gar kein Ende, versprühe Gift und Galle, könnte vor Hass und Verzweiflung über diese Situation platzen.

„Frau Ilkner, ich schlage vor, ich absolviere mit Ihrem Mann die Besichtigungen vielleicht besser alleine. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber es macht einfach keinen guten Eindruck und verschreckt vielleicht sogar den ein oder anderen Interessenten, wenn hier dermaßen gestritten wird“, belehrt und kritisiert mich die Maklerin – und führt mir dabei zugleich drastisch mein Verhalten vor Augen. Denn natürlich hat sie recht. Aber sie ist ja auch nicht in meiner Situation, sie kennt unsere Geschichte ja gar nicht. Und ich möchte mir nicht vorstellen, was Eberhard ihr dazu erzählt, sobald ich gegangen bin. Nachdem ich ihr auch noch die eine oder andere Frechheit entgegnet habe, verlasse ich jedoch endlich fluchtartig das Haus.

***

Unsere Bücher, CDs, Spiele und Eberhards umfangreiche Schallplattensammlung haben wir während der Umgestaltung des Wohnzimmers in einem freien Zimmer untergebracht, alles wartete zwischengelagert darauf, in einigen Wochen in schickes neues Mobiliar wieder ausgepackt und einsortiert zu werden. Vor einigen Wochen konnte ich ja noch nicht wissen, dass es besser gewesen wäre, bereits alles in ‚Er‘- und ‚Sie‘-Stapel aufzuteilen. Nun muss ich also unsere Habe auseinanderdividieren, in seine Sachen und meine Sachen. Stunde um Stunde bringe ich damit zu. Ich sortiere seine Reiseliteratur und meine Musik, überlege, wem dieser oder jener Bildband gehört. Ist diese CD ein Geschenk von mir? All das ist so anstrengend und so traurig. Wieder rinnen Tränen über meine Wangen, jedes Buch, das ich berühre, spricht Bände von vergangenen Tagen, bringt mich zurück an die Urlaubsorte, an denen ich es gelesen habe.

Zum bitteren Schluss liegen die Fotoalben vor mir, eines für jede Reise und jedes Jahr unserer gemeinsamen Zeit, alle besonders liebevoll gestaltet, beschriftet und mit kleinen Erinnerungen versehen. Ein ganz besonders schönes ist unser Hochzeitsalbum: unsere Trauung, die Feier und die Hochzeitsreise in Italien. Auf jedem Bild strahlen wir uns an, lachen in die Kamera, sind sicher, dass niemand dieses unglaubliche Glück, das wir uns so hart erkämpft hatten, zerstören kann. Warum auch? Schließlich hatten wir eine rosige Zukunft vor uns. Dass wir ein gutes Team waren, hatten die letzten gemeinsamen Jahre ja bereits bewiesen. Es ging uns gut und wir führten eine gnadenlos harmonische, intensive und liebende Beziehung. Stress war etwas, das lediglich von außen auf uns zukam. Und auch wenn Eberhards Ex-Frauen, seine Kinder und meine familiären Verpflichtungen viel Zeit und Nerven kosteten – wir beide schienen unantastbar.

Gerade mal ein Jahr zusammen, hatten wir bereits ein gemeinsames Haus in meiner Heimatstadt gekauft. Es gab viele Hürden, schließlich war Eberhard noch verheiratet, seine Frau reagierte ziemlich irrational und legte der Scheidung viele Steine in den Weg. Aber wir meisterten scheinbar alle Hürden, nur um letztendlich hier, inmitten der Scherben unseres früheren Glücks zu stranden.

In wenigen Wochen wird eben dieses wunderschöne Hochzeitsalbum in den Kaminflammen im Wohnzimmer meines guten Freundes aufgehen. Ich weiß genau, Zeugnisse dieser für mich vergangenen Zeit kann ich nicht mehr ertragen und werde auch nie wieder die Kraft aufbringen, diese Fotos anzuschauen. So what!

Während ich so auf dem Teppich sitze, inmitten dieser Erinnerungen, sehne ich mich zurück an all die Orte, die wir als Paar bereist haben, erinnere mich an Italien, an die raue Nord- oder Ostsee, so viele Orte und Länder, die wir in den gemeinsamen Jahren gesehen haben: Dänemark, Schweden, Ägypten, San Marino, Kanalinseln, Schweiz,

Belgien, Holland, Frankreich, und immer wieder Italien … Urlaube, verlängerte Wochenenden, Städtetrips.

Wir waren in den Anfangsjahren so gerne gemeinsam unterwegs. Ich liebte es, Hotelschnäppchen zu buchen, und Eberhard liebte es, entfernte neue Gegenden zu erkunden. Und jährlich kamen neue Reisen dazu. Die Erinnerungen daran laufen ab wie ein Film. Ich tauche noch einmal ein in die zärtlichen Zeiten voller Neugierde, Spaß und Gemeinsamkeiten, Stadtbummel, Entdeckungstouren, Erotik, Strände und Meer. Da klopft es plötzlich an der Zimmertür. „Kann ich dir helfen?“, fragt Eberhard leichthin. Und plötzlich sehe ich rot. Das Blut rauscht in meinen Ohren, ich ringe nach Atem, fühle den grenzenlosen Hass in meinen Eingeweiden, schmecke ihn förmlich auf der Zunge. Und in diesem Moment will ich ihn vernichten, so wie er mich vernichtet hat. „Wie kannst du da so seelenruhig herumstehen und mich so etwas fragen? Geht’s dir nicht schnell genug? Es ist widerwärtig, wie du mit mir umspringst, einfach widerwärtig!“ Ich bemerke es selbst: Ich kann nur noch hysterisch keifen, es ist so peinlich, so unwürdig. Dann verliere ich völlig die Fassung, schreie ihn an, beschimpfe ihn auf niedrigstem Niveau, kann nichts mehr erkennen außer hellen, flirrenden Schemen. Ein Atlas fliegt in seine Richtung. Einen Moment lang ist er fassungslos, bekommt es scheinbar mit der Angst zu tun angesichts der großen emotionalen Attacke auf seine Gelassenheit. Doch dann fängt er sich rasch wieder, lächelt kalt und beherrscht, nimmt sein Handy aus der Hosentasche, aktiviert die Kamera und hält sie in meine Richtung.

„Soll ich für die Internetwelt einmal festhalten, wie sich die Dame Geschäftsführerin hier so aufführt? Bestimmt ist das interessant für deine Kunden, wenn ich das hier ins Netz stelle!“

Seine Ironie und seine Boshaftigkeit lassen mich alles um mich herum vergessen. Ich stürze mich auf ihn, will ihn schlagen, ihn verletzen, ihn töten, ihn nicht länger erdulden müssen … Der ganze Schmerz der vergangenen Wochen bricht aus mir heraus. Ich möchte diesen Mann, dieses Ungeheuer verwunden, will, dass auch er diesen Schmerz fühlt, dass er leidet, wie auch ich gelitten habe in all den zurückliegenden Wochen.

Für einen kurzen Augenblick sieht es so aus, als würde die Situation eskalieren, mit ungewissem Ausgang. Aber er bringt sich schnell wieder unter Kontrolle, verhindert so Schlimmeres. Er wehrt meine Schläge ab, hält meine Hände fest, stößt mich weg. Er schüttelt fassungslos und angewidert den Kopf, läuft die Treppe herunter, wirft im Verlassen des Hauses seine Jacke über und ist, wieder einmal, verschwunden.

Er sieht nicht, wie ich niedersinke, beachtet nicht, wie er mich ein weiteres Mal völlig hilflos und weinend zurücklässt. Irgendwann rappele ich mich auf, packe apathisch und müde weiter, bis es dunkel wird.

***

Eine Woche später ist es endlich soweit. Die Möbelpacker klingeln ganz früh an diesem Morgen. Während der vergangenen Nacht habe ich kein Auge zugemacht, öffne ihnen erschöpft und mit schmerzendem Magen die Tür. Es dauert kaum länger als eine Stunde, bis alles im Möbelwagen verstaut ist.

Nun lasse ich mein altes Leben also endgültig hinter mir. Ich fliehe aus meiner gewohnten und vertrauten Umgebung, verliere für immer mein Zuhause. Tatsächlich auf den Tag genau vor fünf Jahren sind Eberhard und ich hier gemeinsam eingezogen. Das, was bis zu diesem letzten Moment noch mein Nest war, mein Heim, auf das ich so stolz war, ist von nun an Vergangenheit. Ich ziehe weiter, breche auf in eine ungewisse Zukunft. Es tut so weh – und trotzdem kann ich es kaum erwarten, die Tür hinter mir zu schließen. Es ist keine Kraft mehr da.

Einige Tage später werde ich noch einmal zurückkehren in dieses Haus, ich werde die letzten Kleinigkeiten mitnehmen und – ganz die gute Hausfrau – alles noch ein letztes Mal durchwischen, meinen Hausschlüssel an Eberhard übergeben. Wir gehen an diesem Tag tatsächlich friedlich auseinander. Ich bin entsetzt über die Leere des Hauses. Es wirkt riesig und irgendwie unheimlich. Offenbar ist es genau so traurig, wie ich es bin. Es wird viele, viele Monate dauern, ehe Eberhard frei sein wird, ehe das Haus verkauft ist. Ich gönne ihm diese Erfahrung der Leere und des Unbehagens. Ich gönne ihm jede einsame Minute, die er dort verbringen muss. Ich gönne ihm dies aus tiefstem Herzen.

Der Möbelwagen fährt voraus und ich mache mich auch auf den Weg. Meine Hände umschließen das Lenkrad so kräftig, als hätte ich Eberhard im Würgegriff. Mein Schal wird feucht von all meinen Tränen, die herunterfallen. Aus den Augenwinkeln nehme ich noch einmal den nahegelegenen Wald wahr. Wie oft sind wir hier spazieren gegangen! Hunderte von Spaziergängen in all den Jahren, die Hunde immer an unserer Seite. Ich suche auf dem Beifahrersitz nach einer Flasche Wasser, esse und trinke dieser Tage viel zu wenig, habe bereits mehrere Kilos verloren. Im Fußraum meines Autos entdecke ich den Prospekt eines Kaufhauses, das Kaffeevollautomaten anbietet. Er sollte eine Espressomaschine von mir zu Weihnachten bekommen, Heiligabend wollte ich ihn damit überraschen. Jetzt bin ich froh, dass ich dafür kein Geld mehr ausgegeben habe. Für einen sehr kurzen Moment reißt der Tränenfluss ab.

Es ist ein diesiger Wintertag, der letzte Tag im Januar. Es will gar nicht so richtig hell werden heute, bereits der Vormittag sieht aus, als würde es schon wieder dämmrig werden. Die Wiesen und Felder ringsum zeichnen sich vor dem grauen Himmel ab. Die Stimmung draußen passt perfekt zu mir und zu diesem Tag. Ich frage mich, wie Eberhard das leere Haus nach seiner Rückkehr heute Abend wohl empfindet. Kommt er alleine zurück? Friert er so wie ich? Bereut er gar? Fürchtet er sich vor der Leere? Nie wieder wird er meine Schritte hören oder Ovambos Bellen. Macht ihm das alles wirklich gar nichts aus? Ich habe keine Ahnung, wie es ihm geht und wie es in ihm aussieht. Aber irgendwie ahne ich es doch – und das Herz wird mir sehr schwer.

Ich schalte das Radio ein. „Geboren um zu leben“ von Unheilig, wieder einmal, wie so oft in dieser Zeit – und so passend. Und wieder fließen die Tränen …

Durch Schatten gehen

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