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5 Italien – der Anfang vom Ende

Nach fünf denk- und merkwürdigen Tagen in der Akutpsychiatrie, die ich überstanden habe, überwältigt mich auf einmal das Gefühl – euphorisch und trügerisch zugleich –, mich schon wieder deutlich besser zu fühlen. Ich bin sogar zuversichtlich, dass es mir gelingen wird, meinen neuen Weg zu finden. Woher ich diesen Optimismus nehme, weiß ich gar nicht. Aber, endlich wieder in Freiheit, bin ich bereit, mein Leben erneut in den Griff zu bekommen. Doch diese Entschlossenheit, diese vage Zuversicht fällt bereits nach wenigen Tagen von mir ab – und ich lande ein weiteres Mal dort, wo ich vor dem Klinikaufenthalt bereits gestanden habe.

Mit Frau Dr. Bilder aus der Klinikambulanz vereinbare ich, sie einmal in der Woche aufzusuchen und mit ihr meine Befindlichkeit und die aktuellen Ereignisse zu bereden. Sie wird mich erst einmal weiter krankschreiben und mir neue Medikamente verordnen. Es gibt eine große Vielzahl von Antidepressiva und jedes hat seine eigene Wirksamkeit, aber auch seine eigenen, nicht selten unangenehmen Nebenwirkungen. Wir müssen wohl einiges durchprobieren, bis ich eines finde, das ich vertrage und das ich auch akzeptieren kann. Benzodiazepine, die Beruhigungsmittel, die ich in der Klinik als Notfallmedikament bekommen habe und die mich so angenehm bedröhnt haben, werden nämlich direkt wieder abgesetzt, weil sie ein zu hohes Suchtpotenzial haben und außerdem bereits nach einigen Wochen mehr unangenehme als gewünschte Wirkungen zeigen.

Die regelmäßigen Konsultationen bei Frau Dr. Bilder nehme ich sehr gerne wahr. Sie ist eine außergewöhnlich warmherzige Ärztin und ich kaufe ihr ein wirkliches Interesse an mir und meiner Geschichte ab. Ich vertraue ihr und habe das gute Gefühl, in meiner Situation verstanden zu werden, nicht mehr ganz so allein damit zu sein.

Endlich, endlich habe ich Ovambo wieder. Dieses Mal hat ihn sein früheres Herrchen zu Gitte gebracht, dort kann ich ihn abends abholen. Eine Begegnung mit Eberhard ist und bleibt für mich zu diesem Zeitpunkt absolut unvorstellbar und so muss mein Hund durch die ‚Schleuse Gitte‘. Also können wir beide jetzt damit beginnen, uns in der neuen Wohnung einzuleben. Auf der Fahrt dorthin frage ich mich, was an meinen Empfindungen und meinem Zustand sich denn nun in den letzten Tagen verändert hat. Nicht viel, muss ich ehrlich und auch ein wenig enttäuscht feststellen. Aber zumindest habe ich nun immerhin eine Diagnose, mein fürchterlicher Zustand und mein schreckliches Erleben haben endlich einen Namen: Burnout und eine schwere Depression. Die neue Wohnung ist noch kein Zuhause, ich habe ja gar keines mehr. Vielleicht ist sie eine Übergangswohnung – mit dieser Vorstellung kann ich mich dann für den Moment arrangieren.

Ovambo ist mein Trost in dieser Zeit, meine Rettung. Er sorgt mit seinem verstehenden Blick dafür, dass ich jeden Morgen wieder aufstehe und dreimal am Tag einen Spaziergang mit ihm mache – gleichgültig, wie auch immer es in mir aussehen mag.

Es fällt mir schwer, die neue Umgebung in der mir immer noch fremden Stadt wirklich zu akzeptieren. Meine Spaziergänge führen mich durch eine an sich nette Wohnsiedlung mit vielen älteren, stilvollen Einfamilienhäusern und einem Neubaugebiet mit den typischen Häusern für junge Familien. Ich weine viel auf diesen einsamen Spaziergängen, kann den Anblick von Paaren und Familien kaum ertragen. Ich ignoriere tapfer die neugierigen und manchmal mitleidigen Blicke, die mein verheultes Gesicht auf sich zieht.

Viel essen kann ich immer noch nicht und so ist der wöchentliche Einkauf schnell erledigt. Manchmal kostet es mich Kraft und wirkliche Überwindung, aus dem Auto zu steigen und in den Supermarkt hineinzugehen. Zu viele Menschen um mich herum lösen in meiner momentanen Verfassung rasch Panik in mir aus, ein Gefühl, das mir bislang fremd war. Eberhard und ich hatten den Wocheneinkauf immer gemeinsam erledigt, meist freitagsabends, und waren auch darin ein eingespieltes Team. Jetzt aber, so ganz allein inmitten vieler Familien und Paare, fühle ich mich deplatziert und ausgeschlossen.

Ovambo läuft aufgeregt durch die Wohnung. Jeden Raum nimmt er schnuppernd in Besitz, ständig auf der Suche nach einem neuen Lieblingsplatz. Ich schaue in den Badezimmerspiegel, erkenne mich kaum wieder. Wer ist das bloß? Wer ist diese ausgemergelte und verhärmte Person mit den offensichtlich schon chronisch verquollenen, verweinten Augen? Ich lebe nicht mehr, existiere nur noch. Bin ich so eigentlich auf Dauer überlebensfähig?

Während Ovambo noch seinen Lieblingsplatz sucht, habe ich meinen bereits gefunden. Den größten Teil des Tages verbringe ich auf meiner kleinen Ledercouch im Wohnzimmer. Früher, in meinem alten Leben, stand sie in meinem großen Büro. Gäste, Pressevertreter, die für die örtliche Zeitung über meine Firma berichteten, Mitarbeiter und Kunden hatten darauf Platz genommen, wenn sie zu mir ins Homeoffice kamen, um Geschäftliches zu besprechen. Nun ist sie für mich Synonym für meine Auszeit vom Leben – es wird mein beschissenes Jahr auf der Couch werden.

Nachdem ich nun schon eine Woche nicht mehr am Briefkasten war, muss ich ihn endlich leeren, der Briefschlitz steht schon offen und ein paar Umschläge quellen bereits daraus hervor. Es sind so viele Briefe, Werbesendungen und jede Menge Geschäftspost. Na klar, meine Mitarbeiter schicken ihre Honorarforderungen, wollen für ihre Leistungen bezahlt werden. Im Gegensatz zu mir haben die ja alle noch ein Leben, das wie gewohnt weitergeht. Niemand ahnt etwas von meiner Katastrophe und den Dramen, die sich in meinem Leben gerade abspielen.

Die Scham über das Erlebte ist so groß, dass ich mit keinem darüber spreche. Fahrig öffne ich die Schreiben, mir fehlen aber Kraft, Interesse und Motivation, hier irgendwie tätig zu werden. Müde lege ich alles beiseite. Morgen, nehme ich mir vor, morgen kümmere ich mich darum. Dabei bleibt es dann allerdings auch, meistens.

Es klingelt an der Wohnungstür, ein lauter, fremder Ton. Mein Vater kommt die Treppe hoch. Er sieht die Abrechnungen auf meinem Schreibtisch, hält mir einen langweiligen Vortrag über meine Pflichten und verlangt, mich jetzt endlich mal um den Geschäftskram zu kümmern.

„Papa, was glaubst du eigentlich, wo ich gerade herkomme? Aus einem WellnessWochenende? Ich kann das hier nicht – und ich will es auch nicht!“ Wieder breche ich in Tränen aus. Wie ich es hasse, vor meinem Vater die Contenance zu verlieren!

Ich versuche mich zusammenzureißen. Nun hält er einen weiteren Monolog darüber, dass schließlich niemand etwas für meinen Zustand könne und ich gefälligst zusehen solle, meine Angelegenheiten künftig geregelt zu bekommen. Sein ganzes Leben hindurch selbstständig, und auch meistens sehr erfolgreich, war er immer ein Organisationstalent, hatte all seine Geschäfte stets im Griff. Von daher ist es für ihn ein Graus, dieses Chaos in meinem Büro zu sehen.

Hätte er mich ein wenig besser gekannt, hätte er sich eigentlich Sorgen machen müssen, denn auch für mich sind Disziplin und Ordnung wesentliche Charakterzüge und es ist alles anderer als typisch für mich, mir dies alles derart entgleiten zu lassen und diesem

Zustand mit absoluter Gleichgültigkeit zu begegnen. Doch er gibt keine Ruhe: „Als Verantwortliche für dein Institut hast du schließlich auch zu dieser Verantwortung zu stehen, da kannst du nicht einfach den Kopf in den Sand stecken. Sieh endlich zu, dass du dieses Chaos hier in den Griff bekommst!“, fährt er mich barsch an.

Natürlich hat er recht, irgendein Teil von mir weiß das ja auch. Aber ich finde einfach keinen Weg, wie und wo ich anfangen soll. Wie soll ich meinem Vater nur begreiflich machen, dass es mir unmöglich ist, mich an diesen Schreibtisch zu setzen und mit der Arbeit zu beginnen? Wo soll ich die Konzentration für Online-banking und

Abrechnungen hernehmen, für das Schalten von Werbung, für Statistiken? „Das ist keine Frage des sich Zusammenreißens, keine Frage des Wollens und Könnens! Es geht schlicht und einfach nicht. Da, wo einst Normalität in den Abläufen und ein gesunder Wille war, ist nun ein leeres Nichts an die Stelle getreten. Ich kann nicht und habe keine Ahnung, warum das so ist“, platzt es aus mir heraus.

„Gut Britt, offenbar brauchst du wirklich Hilfe!“, das spürt mein Vater nun auch. „Ich mache dir einen Vorschlag: Ich komme von nun an zweimal in der Woche vorbei und wir erledigen alles Laufende gemeinsam. Ich bleibe bei dir, ich helfe dir. Aber du machst dir nun bitte auch Gedanken, wie es künftig weitergehen soll mit mit deiner Firma, deinem Beruf, okay?!“

„Ja gerne, danke“, höre ich mich reflexartig sagen. Und ganz plötzlich weiß ich, was ich will. „Ich habe mir bereits Gedanken gemacht, Papa. Ich möchte das Unternehmen schnellstmöglich verkaufen. Kannst du mir dabei helfen?“ Nach dieser Aussage fühle ich mich unendlich erleichtert. Ich will einfach nur befreit sein von dem Druck, der Verantwortung, den Verpflichtungen und einer 60-Stunden-Woche. Ja, ich will endlich frei sein. Der Gedanke lässt mich nach langer Zeit endlich wieder einmal aufatmen.

Zu meiner Überraschung stimmt mein Vater sofort zu. Ich verstehe seine Reaktion zwar nicht, aber das ist egal. Gerechnet hatte ich mit deutlich mehr Gegenwind, mit langen Vorträgen darüber, dass ich im Moment nichts überstürzen solle, mir Zeit für eine Entscheidung nehmen müsse. Aber wenn es so einfach geht, umso besser. Das erspart mir eine weitere anstrengende Diskussion. Offenbar hat er sich wohl selbst schon Gedanken über diese Möglichkeit gemacht und bietet mir sofort an, sich um den Verkauf meines Unternehmens zu kümmern und alle Verhandlungen in meinem Namen zu führen. Natürlich geschieht dies nicht etwa aus rein väterlicher Sorge und Liebe heraus, sondern auf kühler Geschäftsbasis – und selbstverständlich verbunden mit einer saftigen Provision, wie er bald danach mit der Sprache herausrückt. Aber er will für mich tätig werden und alles organisieren – ich würde schon bald raus sein aus allem. Ein Ende der Verantwortung ist in Sicht.

Nachdem er wieder fort ist, verspüre ich eine unglaubliche Erleichterung in mir. Bald also wird alles vorbei sein: die Kundenkorrespondenz, die Abrechnungen, die Nachfragen, die Mails, die Kündigungen, die Vertragsverlängerungen, eben all das, was meinen Alltag über so viele Jahre ausgemacht und bestimmt hat. Das wird dann endlich der Vergangenheit angehören – und damit ein großes Kapitel meines Lebens abgeschlossen sein.

Überraschend schnell wird mein Vater aktiv, macht sich zahlreiche Geschäftskontakte zunutze, steht schon bald in Verhandlungen mit diversen Interessenten über den Verkauf meiner Geschäftsgebiete. Mein Unternehmen lief immer gut, ich hatte über all die Jahre meiner Selbstständigkeit viel Zeit und Engagement investiert und das hat sich rasch in guten Umsatzzahlen niedergeschlagen. Mein Name stand in der Branche für Qualität, für persönliche Betreuung und für ständige persönliche Präsenz, was sich glücklicherweise nun auszahlte. Gleich mehrere Interessenten wollen die Lizenzen und Gebiete erwerben, mein Vater, mit allen Wassern gewaschener Geschäftsmann, der er nun mal ist, treibt den Preis ganz schön in die Höhe, wie ich erleichtert erfahre. So habe ich alle Zeit der Welt zu entscheiden, wie es beruflich mit mir weitergehen soll. Ohne Probleme kann ich diese Gedanken einfach noch ein Jahr hinausschieben. Plötzlich verspüre ich Lust auf Urlaub.

Mittlerweile ist es März geworden. Wenn alles glatt läuft, hoffe ich, den Unternehmensverkauf in zwei bis drei Monaten unter Dach und Fach zu haben. Allerdings ist das alles für mich jetzt auch erst einmal wieder mit viel Arbeit verbunden. Die gesamte Abwicklung muss nun akribisch vorbereitet werden, Zahlen und Statistiken, Daten und Dateien werden demnächst den Besitzer wechseln. Das alles kostet mich viele Stunden am Schreibtisch. Doch die dafür notwendige Konzentration und Motivation sind eben nicht vorhanden. Der Wille, es zu schaffen und alles Nötige für die Abwicklung zu erledigen, fehlt mir ganz einfach. Oft verlasse ich mitten in irgendwelchen Datenübertragungen das Büro, breche laufende Vorgänge einfach abrupt ab und stecke den Kopf erneut in den Sand. Konkret bedeutet das: Schnell wieder ab auf die Couch, unter die Decke, einen alten Kitschfilm in den DVD Player einlegen – und abtauchen für die nächsten Stunden. Oder viel weinen. Oder viel schlafen.

Mein Unternehmen werde ich den Nachfolgern auf jeden Fall in einem mächtigen Chaos übergeben, so viel steht schon mal fest. Aber sie werden sich ja in der Branche auskennen und das alles schon wieder irgendwie geregelt und geordnet kriegen. Und wenn nicht – eigentlich ist mir das auch egal.

In den nächsten Tagen will es mir einfach nicht besser gehen. Deshalb dringt Dr. Bilder nun darauf, mir zügig eine Klinik, möglicherweise eine Privatklinik zu suchen, denn ihrer Meinung nach benötige ich unbedingt – und zwar auch sehr zeitnah – eine stationäre Therapie. Einen anderen Weg aus meiner Krise gibt es also offenbar wohl nicht. So recherchiere ich diverse Privatkliniken im Lande, zu meiner Überraschung gibt es mehr als genug davon. Für jede psychische Störung scheint eine eigene Fachklinik oder Fachabteilung mit speziellen Behandlungsplänen spezialisiert zu sein. Bereits die Angebotsvielfalt ermüdet mich und, wie nun bereits Gewohnheit, verschiebe ich die Entscheidung und weitere Planungen mal wieder auf die nächsten Tage. Setze mich aber doch gelegentlich an den PC, weil ich genau spüre, dass ich mich nun wirklich einer Behandlung unterziehen muss und es dazu derzeit auch keine Alternative mehr gibt. Allein jedenfalls bekomme ich das nicht mehr in den Griff.

Während die Tage an mir vorbeiziehen, versuche ich – einmal tapfer, dann wieder verzweifelt – heimisch zu werden in meiner neuen Wohnung und zumindest einen halbwegs normalen Tagesablauf zu bewältigen. Aber was ist schon normal in dem Gefühlszustand, in dem ich nun schon wochenlang verharre? Was ich noch bis vor kurzem zwar nicht mehr mit Leichtigkeit, aber doch stets diszipliniert erledigt habe, kann ich heute kaum mehr bewältigen. Lange vor meinem Zusammenbruch und vor der Trennung – heute schätze ich, bestimmt zwei oder drei Jahre zuvor – habe ich mich bereits überfordert gefühlt von meinem Alltag, ausgebrannt und abgestumpft. Aber ich habe dennoch all die vielen Aufgaben, mit denen ich konfrontiert war, bestmöglich erledigt und über leise angemeldete Zweifel hinweg, einfach immer weiter gemacht.

Wie so oft in den vergangenen Wochen frage ich mich, warum Eberhard nicht eingegriffen hat? Warum hat er meine Krankheit nicht erkannt, meine Wesensveränderung? Warum hat er mich in all den Jahren nicht einmal auf meine Persönlichkeitsveränderung angesprochen? Die muss er doch bemerkt haben! Wahrscheinlich war sie auch zu bemerken, nur ist er eben anders damit umgegangen, als ich es mir gewünscht hätte. Denn Gleichgültigkeit – das ist wohl das letzte, das man sich von seinem Partner wünscht. Ja, Eberhard hatte damit angefangen, mich zu kritisieren und rumzunörgeln, hat mehr als einmal bedauert, wie sehr sich unsere Beziehung verändert habe. Für ihn gab es inzwischen zu wenig Action, zu wenig Abenteuer, zu wenig Sex. Nie hat er mich offen dafür kritisiert, dafür war er wohl zu feige. Ich konnte es lediglich seinen spitzen Bemerkungen und verbalen Seitenhieben entnehmen, die er mir wie nebenbei zuwarf.

Ich erinnere mich wieder an jenen Abend in unserem letzten Italienurlaub, eineinhalb Jahre vor der Trennung. Ich hasste Italien, die Hitze, die ständigen Ausflüge, die vollen Strände, die lange Anfahrt, aber Eberhard liebte es. Unser Geschmack in punkto Reiseziele ging in den letzten Jahren deutlich auseinander. Vielleicht hatten wir ja auch vorher schon unterschiedliche Vorlieben und es schlichtweg nicht sehen wollen. Also beschlossen wir vor längerer Zeit, jährlich abwechselnd zu bestimmen, wohin es gehen sollte. Meine Wünsche variierten, ich wollte nach Frankreich, auf die Kanalinseln, an die Ostsee. Aber für Eberhard gab es stets nur das gleiche Reiseziel – und so fuhren wir also jedes zweite Jahr nach Italien.

In jenem Jahr waren wir nicht am Meer, sondern an einem See in der Nähe von Rom, dem Bolsenasee. Ein schickes Hotel und eine schöne, aber auch langweilige Umgebung war Programm.

Heute weiß ich, dass sich dort der Beginn vom Ende unserer Liebe anbahnte. Es kam zu Situationen und Szenen, die ich zwar im Alltag verdrängt habe, aber dennoch einfach nicht mehr vergessen kann. Und die auch meine Gefühle für Eberhard verändert haben. Hier machten sich auch die ersten Symptome meiner Burnout-Erkrankung deutlich bemerkbar. Ich konnte sie damals nicht dechiffrieren, habe sie nicht erkannt. Und es sollte lange dauern, bis ich verstehen konnte. Aber an jene heißen Tage im August kann ich mich selbst heute, viele Jahre danach, noch sehr klar und auch schmerzlich erinnern.

Eberhard war so glücklich, endlich wieder in seinem geliebten Italien zu sein. Er wollte ständig unterwegs sein, Sightseeing im ganz großen Stil, wie immer jede Minute seines Urlaubs auskosten. Wir waren in Rom, dann wieder inmitten von Olivenhainen, dann in vielen anderen Städten der Umgebung, am Meer und – eben einfach ständig unterwegs. Als ich nach ein paar Tagen das Gefühl hatte, keinen einzigen weiteren Schritt bei über 40 Grad mehr machen zu können, bat ich mir ein, zwei Tage am Pool zum Pausieren aus. Widerwillig stimmte er zu. Allerdings ging es mir am Pool auch nicht viel besser. Ich spürte, dass ich die Ruhe nicht genießen konnte, sondern eine unglaubliche innere Gereiztheit von mir Besitz ergriff. Ich konnte es kaum auf der unbequemen Liege aushalten. Die Bücher, die ich dabei hatte, interessierten mich nicht mehr und es gelang mir kaum eine Minute, mich auf den Inhalt zu konzentrieren. Auch die Versuche zu schlafen waren nicht von Erfolg gekrönt. Die Gedanken in meinem Kopf fuhren Achterbahn und ich dachte nur an die Arbeit, die mich nach unserer Rückkehr erwarten würde. Also war es keine gute Idee hierzubleiben. Aber unterwegs sein wollte ich auch nicht mehr. Ich fühlte mich so müde, so unruhig, so leer.

Eberhard bekam meine Unruhe mit und reagierte entsprechend genervt. „Was ist denn los mit dir?“, fragte er gereizt. Ihm ging es gut: Er schwamm im Pool, döste im Schatten vor sich hin oder las ein Buch. Er genoss sein Italien.

Ich spürte, dass ich weinen musste, antwortete ihm mit Unbehagen: „Ich glaube, es war doch keine so gute Idee, hier so herumzuliegen, ich kann mich partout nicht entspannen. Mir ist so heiß, ich fühle mich innerlich unruhig, irgendwie. Ja, eigentlich total gestresst.“ Um die hochkommenden Tränen zu überspielen, begann ich, mit ihm herumzualbern, fragte wieder und wieder wie ein Kind, wie lange wir denn noch hier so tatenlos herumliegen müssten. Seine genervte wie brutale Antwort kam postwendend: „Für jedes Mal Fragen bleiben wir noch eine Stunde länger hier!“

Vielleicht hätte ich ja einfach darüber lachen sollen, aber es gelang mir nicht. Ich fragte mich die ganze Zeit über, ob er überhaupt nicht bemerkt, wie schlecht es mir offenbar geht. Ärgerlich begann ich, unsere Beziehung zu hinterfragen. Was passte denn zwischen uns nicht mehr? Allerdings war mir zugleich klar, dass ich die im Moment wirklich Schwierige und Unzufriedene war. Mich überfiel Kälte, ein Frösteln. Ich dachte, dass dieser attraktive Mann, der vor mir im Pool seine Runden zog, doch mein Zuhause ist, der Mensch, der meinem Leben einen Sinn gibt, ein Garant für Verlässlichkeit, für meine Sicherheit und Stabilität. Dass ich das jemals verlieren könnte, stand für mich zum damaligen Zeitpunkt noch völlig außer Frage. Dennoch war ich enttäuscht, dass er meine schlechte Verfassung einfach ignorierte. Und ich spürte instinktiv, dass sich bald etwas würde ändern müssen für uns beide.

Während ich in der Hitze das Ende des Tages herbeisehnte, kam ich zu der Einsicht, dass es so ja auch nicht weitergehen konnte. Zum ersten Mal machte ich mir konkrete Gedanken, welche Alternativen es zu meinen stressigen Berufsalltag denn geben könnte. Ich habe eine gute Ausbildung, verfüge über Fachkompetenz – ich könnte mich ja durchaus von meinem Unternehmen trennen und etwas Neues wagen. Dieses Jahr hatte ich ziemlich große Gewinne erwirtschaftet, die Firma mit einem nicht unerheblichen Kundenstamm wäre bestimmt einiges wert, so ging es mir durch den Kopf. Auch das Ende unseres Umbaus im Haus war allmählich absehbar, also brauchten wir meine hohen Einnahmen auch nicht mehr unbedingt und ich könnte ja wirklich einen Gang runterschalten. Mehr Stunden in der Beratungsstelle zu arbeiten, dazu hätte ich wohl Lust. Und nebenbei könnte ich ja vielleicht noch als freie Beraterin oder als Coach Seminare und Fortbildungen anbieten. Das wäre doch deutlich entspannter für mich. Und zuvor könnte ich mir erst noch eine längere Auszeit nehmen, mich einfach erholen. Denn dass ich eine längere Erholungsphase wohl dringend benötigte, wurde mir in diesen Tagen gerade überdeutlich vor Augen geführt. Nichts konnte ich mehr so richtig genießen, hatte auch keine Kondition mehr. Und das Schlimmste war, dass nichts mehr mein Interesse so richtig weckte, ich mich an nichts mehr erfreuen konnte.

Eigentlich wurde mir bereits damals schon alles zu viel.

Dann, noch am gleichen Abend während des Abendessens im fast menschenleeren Speisesaal des Hotels, versuchte ich, Eberhard von meinen Gedanken und meiner schlechten Verfassung zu erzählen. Es war nicht leicht, denn ich hatte mir ja selbst gerade erst Gedanken dazu gemacht. Einen klaren Businessplan für die Zukunft konnte ich ihm also nicht präsentieren. Aber ich versuchte, ihm zu erklären, wie ich mich fühlte – und dass ich wohl dringend eine Auszeit brauchte. Erzählte ihm von meiner Abgeschlagenheit und von meinem Gefühl, ständig überfordert zu sein. Ich redete und redete – und dabei überkamen mich Tränen, machten mich blind.

Eberhard sah mich an, hörte mir wortlos zu, sagte aber auch danach nichts. Unglaublich, er schwieg einfach! Als ich ihm das vorwarf, meinte er nur, er wisse nicht, was er dazu sagen solle. „Was willst du denn jetzt machen, hast du darüber schon mal nachgedacht?“

Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und erzählte von meinem Gefühl, nicht mehr weiterzukönnen. „Mir fehlt total die Energie, ich weiß nur, dass ich bald irgendwas ändern muss.“ Als er immer noch nichts sagte, erzählte ich ihm von meiner Idee. „Ich würde die Firma gerne verkaufen, ich schaffe das alles nicht mehr. Ich könnte in der Beratungsstelle mehr Stunden machen und nebenbei noch Coaching und Beratung auf Honorarbasis anbieten. Wahrscheinlich würde ich weniger verdienen, aber ich hätte wieder mehr Zeit und mehr Ruhe für mich, für uns.“ Sein Schweigen daraufhin war für mich kaum auszuhalten. „Sag doch, was hältst du davon? Sag mir, was du denkst!“ Ich wusste, von seiner Antwort würde eine ganze Menge abhängen.

„Ich halte das für keinen guten Einfall“, meinte Eberhard kühl. „Die Firma läuft topp und die regelmäßigen hohen Umsätze sind doch eine hervorragende finanzielle Sicherheit für uns, die guten Einnahmen brauchen wir doch allein schon, um unseren Lebensstandard zu halten. Denk mal an die ganzen Renovierungen, die noch anstehen! Ich würde das nicht machen, nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Veränderungen in unserer momentanen Situation halte ich für unklug.“ Offenbar war das alles, was er dazu zu sagen hatte.

Nun gab es auch kein Halten mehr für mich, die Tränen rannen mir übers Gesicht, das zu einer Maske erstarrt war. Ich war so enttäuscht von ihm, von seiner Reaktion. Dass er keine Gedanken lesen konnte, nicht verstand, wie schlecht es mir damals ging, war die eine Sache. Aber nachdem ich ihm von meinem Zustand erzählt hatte, von meinen

Gefühlen und meiner Überforderung, hätte ich doch deutlich mehr Verständnis erwartet. Hätte er nicht überhaupt erschrocken sein müssen, dass er das so gar nicht bemerkt hat? Aber selbst meine Tränen, die er eigentlich sehr selten zu sehen bekam, erreichten ihn nicht. Hilflos wendete er den Blick von mir ab und schwieg wieder, während er mit der Stoffserviette in seiner Hand spielte. Ganz offenbar war er peinlich berührt von meiner Tränenflut und froh darüber, dass ich mit dem Rücken zum Speisesaal saß und das Personal und die anderen Gäste diesen Vorfall nicht bemerkten.

Er unternahm an jenem Abend keinerlei Versuch mehr, mich zu verstehen oder gar zu trösten, er änderte auch seine Meinung nicht. Er kam nie wieder auf das Thema zu sprechen. Nach dem Essen ließen wir uns an die Hotelbar einige Martinis mixen, saßen danach, in dieser lauen Sommernacht, mit unserem Drink in der Hand schweigend auf der Terrasse des Hotels. Ich hätte schreien können, schreien vor Verzweiflung, vor Wut und Enttäuschung. Aber wir schwiegen uns lediglich an, wie so oft in jener Zeit. Ich zählte die Tage bis zum Ende der Reise.

Für mich war das ein Wendepunkt, in unserer Beziehung. Ich habe Eberhard diese gefühllose und egoistische Reaktion nie wirklich verziehen und kann mich auch heute noch gut an die Demütigung jenes Abends erinnern. Aber wir sprachen nie wieder darüber, über die Situation nicht und über meinen Vorschlag auch nicht mehr. Ich brachte diesen Urlaub irgendwie hinter mich. Ich wusste, dass ich mich künftig nun noch mehr zusammennehmen müsste und mich, sobald ich wieder zu Hause wäre, noch mehr anstrengen würde, um alles hinzubekommen und die unausgesprochenen Ansprüche meines Mannes an mich zu erfüllen.

Dass ich nie wieder in meinem Leben nach Italien würde fahren müssen, konnte ich zum damaligen Zeitpunkt natürlich nicht wissen. Und dass es dieser Abend sein sollte, der – da bin ich mir heute sicher – unser schleichendes Ende eingeläutet hat, ahnten wir beide offenbar ebenfalls noch nicht.

***

Wieder zu Hause, machte ich weiter wie zuvor. Vermutlich intensivierte ich meine Anstrengungen sogar noch, um den Alltag zu bewältigen. Im Beruf war ich weiterhin auf der Erfolgsspur, hatte zufriedene Kunden und zudem die absurde Idee entwickelt, in den kommenden Monaten meine Firma zu vergrößern. Im meinem Unternehmen wie auch in der Beratungsstelle galt ich als kompetente Ansprechpartnerin, zerteilte mich, zerriss mich für alle Seiten. Und wenn mir Christin in der Beratungsstelle mal wieder noch einen weiteren Fall anbot, war es klar, dass ich selbstverständlich auch den übernehmen würde. Ein Nein hatte zu dieser Zeit in meinem Wortschatz keinen Platz. Ich überlegte sogar, vielleicht noch ein Fernstudium der Psychologie zu beginnen.

Meine Großmutter besuchte ich im Seniorenheim oder im Krankenhaus regelmäßig. Sie stand nun schon kurz vor ihrem 100. Geburtstag und zeigte deutliche Anzeichen von Demenz. Oft hatte ich keine Geduld mit ihr, schränkte die Besuche auch etwas ein, fuhr nicht mehr täglich, sondern nur noch alle zwei bis drei Tage zu ihr hin. Ich spürte in mir immer weniger. Der Schreibtischkalender war randvoll mit Terminen, die verschiedenen Aufgabengebiete markiert mit unterschiedlichen Farben. Und wenn ich nach zwölf oder vierzehn Stunden endlich Feierabend machen konnte, fühlte ich mich innerlich total leer. Nicht selten ging ich sofort ins Bett, schlief auf der Stelle ein – oder weinte, wenn ich alleine war, vor Ermüdung und Erschöpfung. Aber statt die Menge meiner Tätigkeiten endlich runterzufahren, suchte ich mir nur noch mehr Aufgaben, stellte mich immer neuen Herausforderungen.

Möglicherweise hätte ich meinen endgültigen Zusammenbrauch ja noch abfedern oder gar verhindern können, wenn ich damals bereits erkannt hätte, in was ich mich da hineingearbeitet hatte. Aber meine Anstrengungen nur ein wenig zu reduzieren, einmal einen Gang kürzer zu treten, hätte an meiner Situation grundsätzlich dann doch nichts mehr geändert, dafür war die Abwärtsspirale schon viel zu deutlich vorgezeichnet.

Natürlich hätte ich mein Unternehmen auch gegen Eberhards Willen verkaufen und mir eine mehrmonatige Auszeit, die ich so dringend brauchte, nehmen können. Ein Ferienhaus an der Ostsee mieten, mich mit den beiden Hunden für zwei oder drei Monate total ausklinken aus der Hektik und dem Stress. Lange schlafen, lange Spaziergänge, kein Leistungsdruck, keine Gedanken an die Zukunft verschwenden. Das hätte mich – vielleicht – damals noch einmal retten, die Katastrophe abwenden können.

Ein Therapeut, der sich mit dem Thema Burnout auskennt und weiß, dass zu einer

Veränderung nicht nur eine Auszeit, sondern auch eine vollständige Lebensumstellung gehört, hätte mir zur Seite stehen müssen. Und dann hätten wir uns an die Ursachenforschung begeben müssen. Wie kann es sein, dass viele Menschen ebenfalls sehr viel arbeiten – ich denke da zum Beispiel an Maya, meine langjährige Freundin – und nicht krank werden? Maya ist ebenfalls ein Workaholic, seit ich sie kenne – und das sind nun schon über zwanzig Jahre. Einser-Abitur, Einser-Psychologie-Studium, jahrelang gearbeitet, nebenher Karriere als freiberufliche Kommunikationspsychologin. Zugleich ist sie auch ein Familienmensch, durch und durch, hat neben ihrem Mann den Haushalt und ihre beiden Jungen im Griff und letztere erfolgreich auf das Leben vorbereitet. Wie schaffen andere Menschen all das, ohne krank zu werden? Woran erkennt man, welcher Antrieb aus einem gesunden Ehrgeiz resultiert und welcher aus einem krankhaften?

Nur einen Gang herunterschalten, dem Stress kurzfristig den Rücken kehren, ein wenig Entspannung suchen, reicht aber in der Regel nicht aus. Nach einer kurzen Auszeit verfallen viele Betroffene wieder in die alten Muster, machen da weiter, wo sie unmittelbar vor ihrem Zusammenbruch aufgehört haben. Wenn sich nicht grundsätzliche Einstellungen verändern, wesentliche Elemente im Leben dauerhaft überdacht und modifiziert werden, wird es künftig keine Lebensqualität mehr geben. Weil aber genau das so wahnsinnig schwierig und oft auch so schmerzhaft ist, gelingt es vielen Betroffenen nicht und sie scheitern immer wieder, bis zum endgültigen Zusammenbruch, der sie längerfristig oder gar dauerhaft aus der gewohnten Bahn wirft. Und in extremen Fällen ist es dann eben auch zu spät – und wenn kein Aus- oder Rückweg mehr erkennbar ist, endet die Erkrankung möglicherweise sogar im Suizid.

Aber all das waren Fachkenntnisse, die mir damals lediglich rudimentär bekannt waren. Einsichten für mich selbst daraus gewinnen oder gar Zusammenhänge begreifen – das konnte ich damals einfach noch nicht. Und so dachte ich schlichtweg, mit zunehmendem Erfolg glücklicher zu werden, endlich wieder den Stolz meines Mannes auf mich zu ziehen. Dabei arbeitete ich mich unaufhörlich weiter in die Krankheit hinein. Und zu alldem kam: Er war nicht stolz auf mich, sondern enttäuscht, dass ich so wenig Zeit für ihn hatte, auch kaum noch Energie für gemeinsame Unternehmungen. Alles, was außerhalb meiner Arbeitswelt lag, hielt ich inzwischen für völlige Zeitverschwendung.

Aber da ich die Signale meiner Seele ignorierte, meldete sich nun mein Körper zu Wort. Ich bekam schmerzhafte anhaltende Rückenschmerzen, fühlte oft einen schweren Druck auf der Brust, der mir das Durchatmen schwer machte. Ich kämpfte mit dauernder Müdigkeit, hatte zunehmend Probleme damit, mich auf irgendetwas zu konzentrieren. Mein Körper machte mir überdeutlich klar, was ich selbst nicht sehen wollte, schickte seine Alarmsignale, die ich einfach geflissentlich übersah. Ich stumpfte immer weiter ab. Doch trotzdem schien alles irgendwie erträglich: Schließlich hatte ich mein Zuhause, meine Hunde und, ja, meinen Mann an meiner Seite.

All die Erkenntnisse über diese Zusammenhänge reiften nur ganz langsam in mir und kamen erst viele Jahre später bei mir an. Ich hatte damals bereits nichts mehr gefühlt, nichts mehr gehofft, gedacht oder reflektiert. Ich war nur noch seelenlos vorwärtsmarschiert wie ein Soldat, der einen 24-Stunden Marsch in Regen, Schlamm und ohne Verpflegung durchzustehen hat. Ich funktionierte lediglich rein mechanisch, fühlte mich leer und ausgebrannt.

Der Erfolg, den ich suchte und auch erreichte, befriedigte mich schon längst nicht mehr. Ich war wie ein Junkie, wollte immer mehr Anerkennung und Erfolg, doch es gab keinen Genuss mehr. Der Burnout hatte mich über Jahre hinweg in eine Abwärtsspirale gezogen, agierte hinterhältig, schlich sich heimlich und hinterrücks wie ein Virus in mein Leben, vergiftete meine Seele ganz allmählich. Vielleicht hätte ich damals noch etwas verändern können, vielleicht hätte eine Therapie geholfen, Grundlegendes in meinem Leben und meiner Ehe zu ändern. Vielleicht hätte ich zusammen mit Eberhard nach Alternativen suchen können, einen deutlichen Schlussstrich unter all die Fehlentwicklungen ziehen müssen. Vielleicht wäre dann der verheerende Zusammenbruch und auch das Ende unserer gemeinsamen Zeit noch zu vermieden gewesen.

Aber es ist nun mal wie es ist, und so finde ich mich jeden Tag aufs Neue in dieser fremden Situation wieder und versuche tapfer, alleine in meinem neuen Leben an- und zurechtzukommen. Ich füge mich nach und nach ins Unvermeidliche, denn ich weiß: Einen Rückweg in mein altes Leben wird es für mich nicht mehr geben. Nach und nach richte ich mich ein, obwohl mir dazu absolut die Kraft fehlt. Aber die Wohnung braucht noch einiges und so komme ich um einen erneuten Einkauf nicht herum. Mein Vater und Claudette nehmen mich an einem Samstagmorgen gutgelaunt mit zum Shopping – für mich Horror pur.

Und dann ist sie auch schon wieder da, diese neue, nicht gekannte Panik, immer dann, wenn ich gezwungen bin, mich in der Öffentlichkeit zu bewegen oder ein fremdes großes Geschäft zu betreten. Ständig verfolgt mich das Gefühl, dass jeder mir ansehen müsse, wie elend mir zumute ist, wie verlassen ich bin und wie sehr ich versagt habe. Es kostet so viel Kraft, diesen Vormittag durchzustehen. Es fühlt sich so falsch an, all diese Dinge ohne Eberhard kaufen zu müssen. Ich scheitere derzeit bei jeder klitzekleinen Alltagshandlung. Einen Fachmarkt zu betreten und mir einen Staubsauger zu kaufen, kostet mich unglaublich viel Mut und Energie. Auch wenn mein Vater und Claudette mich nerven, ich weiß: Ohne sie hätte ich es nicht geschafft.

So will ich die Besorgungen auch heute einfach nur schnell hinter mich bringen. Die Verkäuferin ist erfreut, dass ich mich so rasch für eine Kaffeemaschine entscheiden kann. Dann kann sie ihr Glück kaum fassen, als ich sie bitte zu bleiben, da ich auch noch Mixer, Toaster, Wasserkocher, Staubsauger, eine elektrische Zahnbürste und ähnliche Artikel benötige. Claudette ist ziemlich anstrengend. Sie kommt nicht damit klar, dass der Wasserkocher, den ich mir ausgesucht habe, farblich nicht zum Toaster passt. Sie entwirft ein ziemlich gruseliges Szenario, wie es wohl aussehen wird, wenn beides auf der Arbeitsfläche in der Küche nebeneinander steht. „Nein, Britt, das geht doch so nicht, den Toaster kannst du dazu nicht nehmen, das ist doch ein ganz anderes Weiß, das beißt sich doch!“ Sie meint es tatsächlich so. Wenn es nicht so unglaublich traurig wäre, hätte ich jetzt sicherlich gelacht. Ich bin fassungslos über so viel Einfältigkeit und frage mich zum wiederholten Male, wie man nur so werden kann.

„Mensch Papa“, rede ich ihn stumm an und suche vergeblich seinen Blick, „was hast du doch für tolle Frauen in den vergangenen Jahren an deiner Seite gehabt! Warum nur bleibst du nun an diesem neurotischen und farblosen Hausmütterchen hängen?“

Für den Flachbildschirm müssen wir noch in ein anderes Geschäft, ich freue mich sogar über diese geplante Anschaffung. Eberhard hatte damals keinen neuen Fernseher gewollt, ihm reichte der alte durchaus. Also gab es auch keinen neuen. Ich kann gerade gar nicht verstehen, warum ich das seinerzeit eigentlich akzeptiert habe, wo ich ihn doch ohnehin selbst bezahlt hätte.

Unglaublich, wie sehr mich diese Einkaufstour ermüdet hat. Doch so richtig verwundert es mich auch nicht. Denn mittlerweile benötige ich zwei, drei Tage Vorlauf, bis es mir gelingt, einen Wäschekorb in den Keller zur Waschmaschine hinunterzutragen und diese dann anzustellen – vom späteren Ausräumen gar nicht zu reden. Solche Tätigkeiten, die ich früher wie nebenbei gemacht habe, kosten mich heute eine unglaubliche Willensanstrengung und durchaus auch mehrere Anläufe. Nicht selten steht ein Korb voller Wäsche für zwei Tage im Flur und starrt mich vorwurfsvoll an. Kochen, duschen, andere normale Alltagshandlungen werden nur noch ausgeführt, wenn es wirklich sein muss. Der Kühlschrank ist voll von ungesunden Schokoriegeln, die schon lange als mein Frühstück fungieren. Wenn mir mal nach etwas Herzhaftem zumute ist, mache ich mir einen Käsetoast. Mein Vater lädt mich alle paar Tage zum Frühstück ein, das muss reichen.

Die Zeit ist offenbar wirklich reif für einen erneuten stationären Aufenthalt. Ich spüre es, will es nun auch. So kann es nicht weitergehen. Und da sich mein Zustand auch nicht bessert, bin ich endlich auch bereit dazu. Ich werde schließlich sogar bei meiner Suche nach einer Klinik, die mir zusagt, fündig. Sie ist spezialisiert auf Burnout, Depressions- und Schmerzbehandlung. Mit Frau Dr. Bilder bespreche ich die Situation am nächsten Tag und sie rät mir dazu, mich sofort für eine mehrwöchige Behandlung dort anzumelden. Zwar beträgt die übliche Wartezeit auf einen Behandlungsplatz etwa vier bis sechs Wochen, aber Dr. Bilder gelingt es nach einem kurzen Anruf, mich gleich für die nächste Woche anzumelden. Die Krankenversicherung zeigt sich ebenfalls kooperativ, faxt mir bereits am nächsten Tag eine Kostenzusage für eine dreiwöchige Behandlung mit Option auf Verlängerung zu.

Doch was mache ich mit Ovambo? Wie soll er das ganze Hin und Her eigentlich verkraften? Ich habe ein schrecklich schlechtes Gewissen, aber ich muss in die Klinik, es gibt keine andere Option. Also was tun? Wieder findet eine Übergabe an Eberhard statt, gleiches Prozedere, wieder über Gitte. Diesmal lässt er mir allerdings sofort ausrichten, dass er sich aus terminlichen Gründen nicht die ganze Zeit um Ovambo kümmern könne, der Hund durchaus auch mal einige Tage in der Hundepension verbringen müsse. Da ich es nicht ändern kann, stimme ich widerwillig zu.

Ich schöpfe für einen kurzen Moment ein wenig Hoffnung bei der Vorstellung, dieses neue und improvisierte Leben schon wieder verlassen zu dürfen. Und wer weiß, vielleicht kann man mir dort ja wirklich helfen. Ich bin aufrichtig bereit, es zu versuchen. Chris, dem ich als Erstes davon berichte, dass ich in drei Tagen für einige Wochen in Bonn sein werde, ist nicht begeistert von der Idee, hat aber auch keinen besseren Vorschlag. Er wird genau zu der Zeit, in der ich in der Klinik sein werde mit einigen seiner Freunde nach Gran Canaria fliegen, um dort ein zweiwöchiges Besäufnis bei einem Kartenspielmarathon zu verbringen. Ich hatte mich schon die ganze Zeit über gefragt, wie ich die Zeit seines Urlaubs ohne seine Fürsorge zu Hause wohl überstehen würde – nun werde in der Klinik ja bestens versorgt und betreut sein.

Wir verabreden, jeden Abend miteinander zu telefonieren. Chris macht sich Sorgen um mich. Das bemerke ich daran, dass er immer öfter sehr ernst mit mir spricht, wo es doch sonst eigentlich seine Art ist, vieles ins Lächerliche zu ziehen und auch dann noch Witze zu machen, wenn niemand mehr darüber lachen kann. Er lässt mich offenbar nur ungern so lange allein. Mein Vater hingegen scheint erleichtert, dass er für eine Weile von der Verpflichtung, sich um mich kümmern zu müssen, entbunden ist. Er hält den Aufenthalt für eine gute Idee und wünscht mir alles Gute! Und er verspricht mir zum Abschied, den Verkauf der Firma so weit voranzutreiben, dass wir nach meiner Rückkehr alles endgültig abwickeln können.

Ich nehme meine Reisetasche und mache mich auf. Ich bin ängstlich, nervös, weiß nicht, was mich erwartet, habe ein komisches Gefühl, als ich an Bonn denke. Dort in der Nähe befindet sich die Klinik – und irgendwo in meiner Erinnerung taucht etwas auf, das aber keinen Raum bekommt und von meinem Bewusstsein rasch wieder verdrängt wird. Bonn …?

Was habe ich mir nur dabei gedacht? Bereits einen Tag später werde ich mir genau diese Frage stellen müssen, erneut darüber nachdenken, wo denn nur mein Verstand geblieben ist?

Durch Schatten gehen

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